Читать книгу Home sweet Julie - Susanne Sievert - Страница 6
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ОглавлениеRobs Besuch kann ich nur eine gute Sache abgewinnen. Vor Wut stürme ich in das Haus, ohne auch nur einen Gedanken an meine Ängste zu verschwenden. Die Vorstellung, dass sich meine Ankunft herumspricht, bereitet mir weitaus mehr Sorgen, als Erinnerungen und Gespenster in den alten Wänden.
Fluchend werfe ich meinen Rucksack zu Boden und schleudere den Schlüssel in die hinterste Ecke.
Verflucht! Ich hätte niemals hierherkommen dürfen! Welcher Teufel hat mich nur geritten?
Mein Atem beruhigt sich und ich beginne, meine Umgebung wahrzunehmen. Die Wände sind so weiß wie ich sie in Erinnerung habe. Der hölzerne Boden ist erst vor Kurzem abgeschliffen worden und frisch versiegelt und lackiert. Es riecht neu und wunderbar. An den Wänden hängen die selbstgemalten Blumenbilder meiner Mutter. Die Jahre haben nichts an ihrer Abscheulichkeit geändert. Langweilig und leblos. So wie dieses Haus.
Zu meiner Linken finde ich das große Wohnzimmer mit hohen sauberen Fenstern, einer weißen, edlen Couch in der Mitte des Raumes und einem Glastisch, der nie mit Kinderhänden in Berührung gekommen ist. Ein Bücherregal, das von der Decke bis zum Boden reicht, erdrückt den Raum. Unser Vater war Schriftsteller und man findet nur seine Werke in dem Regal. Bescheidenheit gehörte nicht zu seinen vorrangigen Charaktereigenschaften. Vor dem Kamin liegt ein sündhaft teurer persischer Teppich. Angeblich stammt er aus Kerman und soll einer der teuersten Teppiche der Welt sein. Viele halten das für ein Gerücht, aber ich weiß, dass es stimmt.
In meinen Gedanken höre ich die keifende Stimme unserer Mutter: „Gnade euch Gott, wenn ihr auch nur einen Fuß in das Wohnzimmer setzt! Finde ich auch nur einen Fingerabdruck von euch, wisst ihr ganz genau, was die Strafe dafür ist!“
Die Erinnerung an ihre durchdringende Stimme lässt mich unwillkürlich zur Treppe schauen. Dort oben befinden sich das Elternschlafzimmer, ein Badezimmer und zwei kleine, nebeneinanderliegende Kinderzimmer mit Blick auf den See. Ich kenne jeden Winkel des Hauses besser, als ich es mir eingestehe und doch erinnere ich mich nicht an mein Kinderzimmer.
Mit einem knarrenden Geräusch schwingt die kleine Tür unten an der Treppe auf und mit dem Windhauch spüre ich eine kalte Hand am Hals, die mich vor Entsetzen gegen die Haustür drückt. Ich schreie wie ein kleines Mädchen und glotze mit weit aufgerissen Augen auf die winzige Tür, die mir einen kleinen Raum unter der Treppe zeigt. Ich bin erstarrt und erwarte jeden Moment, dass ein Geist aus dem kleinen Raum schwebt, doch es ist nur die kalte Angst, die mich in ihren Fängen hat.
Nein, Mama, ich werde lieb sein. Nein, bitte nicht. Bitte nicht!
Mein Gesicht ist heiß und nass, nass von Tränen. Mein Kopf fällt schwer auf meine Brust und ich blicke auf meine Stiefel. Großer Gott, ich habe vergessen, sie abzuputzen! Ich muss sie doch ausziehen. Wo ist nur die Bürste? Handfeger, Schaufel ... Ein Lappen, hier muss doch irgendwo ein Lappen sein!
Mit zitternden Knien laufe ich rechts durch das Esszimmer direkt in die Küche. Hektisch zerre ich an den Schränken und suche verzweifelt nach einer Bürste oder einem Lappen, bis ein merkwürdiger Geruch mich in die reale Welt zurückholt.
Was zur Hölle ist das? Großer Gott, was ist das nur für ein Gestank?
Aus dem Schrank hole ich ein Glas und stelle den Wasserhahn an. Schweiß steht auf meiner Stirn. Wie kann dieses verdammte Haus nur so viel Macht über mich besitzen? Hier bleibe ich nur so lange wie nötig, das steht fest.
Ich trinke einen Schluck kalten Wassers und ziehe mir einen Stuhl heran. Meine Nase prickelt noch immer von diesem Gestank und erst, als ich mich hinsetze, die Beine auf den Tisch lege und auf die keifende Stimme in meinen Gedanken pfeife, sehe ich, woher dieser Geruch stammt.
In einem Schwall spucke ich das Wasser aus, huste und lache gleichzeitig. Tränen der Angst mischen sich mit Tränen der Freude.
Mein Bruder ist vor mir hier gewesen und hat in seinem eigenen Stil eine Nachricht für mich hinterlassen. In großen braunen Buchstaben steht an der sonst so blütenreinen weißen Wand: „Willkommen im Haus des Schreckens, Schwesterherz.“
Jules ... Warum hast du nicht auf mich gewartet?
Neben dem Kühlschrank steht für gewöhnlich der Wasser- und Futternapf für Stella, einen lockigen weißen Königspudel. Jules und ich hassten den Köter aus tiefstem Herzen. Er war seiner Rasse entsprechend der König des Hauses und wurde auch so behandelt. An meinem 15. Geburtstag starb das Vieh, ein Trauertag für meine Eltern, der schönste Geburtstag für mich.
Nach seinem Tod kursierten in der Nachbarschaft Gerüchte, dass ihn ein brauner Pontiac Firebird in schneller Fahrt erwischt hätte. Nach Nachfragen der Polizei, die meine Eltern tatsächlich alarmiert hatten, konnte sich niemand an Details erinnern und somit erstarb das Gerücht. Ich halte mich mit meiner Aussage bis heute zurück. Es interessiert ohnehin niemanden mehr und mit dem Teufel verscherzt man es sich nur ungern.
Fakt ist: Unsere Eltern kauften sich keinen neuen Hund, ließen aber Stellas Futternapf an Ort und Stelle.
Ich halte mir die Hand vor Mund und Nase. Stellas Näpfe wurden nicht bewegt, aber gefüllt. Gefüllt mit Jules’ Darminhalt, wie ich an seiner einfallsreichen Nachricht erkennen kann. Es ist so widerlich und ordinär, dass ich mich vor Lachen krümme. Es ist niemand im Haus und ich kann so laut lachen, wie es mir gefällt. Jules hat recht, wir sind frei und können mit Fäkalien Dinge an die Wand schreiben, wenn uns der Sinn danach steht.
Mit seiner Nachricht hat Jules den Fluch von mir genommen und das beklemmende Gefühl verlässt mich. Obwohl mein Bruder ganze sieben Jahre jünger ist als ich, ist er immer derjenige gewesen, der mich beschützen wollte, mich mit seinem speziellen Humor aufmunterte und mir neue Hoffnung gab, wenn ich vor Schmerzen nur noch einen Ausweg sah.
Verdammt, wie sehr ich ihn vermisse. Gerade jetzt, da ich alleine in diesem Haus stehe, brauche ich seine Unterstützung mehr denn je.
Doch alles ist halb so schlimm, wenn im verbotenen Schrank des Vaters eine Flasche Dalmore 62 auf dich wartet. Unsere Eltern werden sich in ihrem muffigen Grab umdrehen, sobald ich die sündhaft teure Flasche öffne. Ein Grund mehr, die Scheibe der Vitrine einzuschlagen.
Mit der Flasche in der einen Hand und dem Rucksack in der anderen wage ich die ersten Schritte hinauf in das Obergeschoss und betrete das Bad. Es ist so sauber, als hätte die Putzfrau es gerade gereinigt, was womöglich auch so ist. Niemand hat ihren Dienst abbestellt und da sie meine Eltern selten persönlich im Haus angetroffen hat, ist es ihr vermutlich noch nicht aufgefallen. Ihre Augen möchte ich gerne sehen, wenn das Haus des Schreckens abgerissen wird und sie vor den Resten ihres Arbeitsplatzes steht.
Fröhlich pfeifend ziehe ich mich aus, nehme einen kräftigen Schluck aus der Flasche und stelle mich unter die heiße Dusche. Meine Hand brennt von den Splittern der Glasvitrine, doch das bemerke ich kaum. Das Wasser spült das Blut und das Glas fort und zum ersten Mal seit Wochen fühle ich eine angenehme Entspannung. Ich dusche lange und ausgiebig, schließe die Augen und frage mich, wo Jules sein könnte und warum er nicht auf mich gewartet hat. Sind wir noch nicht bereit für ein Wiedersehen? Vor fünf Jahren bin ich gegangen und wir waren zum ersten Mal voneinander getrennt. Ob er noch wütend auf mich ist?
Natürlich, denn ich habe ihn im Stich gelassen. Vor 15 Jahren sind wir gemeinsam aus dieser Hölle geflohen und nach zehn Jahren bin ich einfach ohne Jules weitergezogen. An seinem 18. Geburtstag. Ist es denn so verwerflich ein eigenes Leben führen zu wollen? Abstand, zur Vergangenheit zu nehmen? Nein, sicher nicht. Doch wenn ich zurückblicke, was hat die Suche nach Freiheit, Liebe und Glück ergeben? Die bittere Erkenntnis, dass ich ohne Jules verloren bin. Ich bin seine große Schwester, seine Beschützerin. Ohne ihn bin ich nur Julie und das ist nichts.
Mit einem Seufzer stelle ich das Wasser ab, steige aus der Dusche und greife nach einem Handtuch. Vor dem Spiegel stecke ich meine roten Haare hoch und ertappe mich, wie ich mein Spiegelbild betrachte. Normalerweise versuche ich, das zu vermeiden, denn das Gesicht im Spiegel ist eine Fremde, die mich ängstigt. Die Gesichtszüge sind viel zu hart, die grünen Augen kalt, die Nase zu groß und krumm und wo andere Menschen Lachfalten haben, habe ich eingemeißelte Wutfalten. Ich lache selten und wenn, muss das recht seltsam aussehen. Die Wut bestimmt mein Leben. Es ist kein Wunder, dass die Menschen meine Nähe meiden. Ich habe mich für ein einsames Leben entschieden und es war eine gute Entscheidung. So sage ich es mir jeden Tag. Der einzige Mensch, der mich verstehen kann, ist Jules. Aber er ist nicht da.
Sofort greife ich nach dem köstlichen Dalmore 62, genieße die Leichtigkeit des Alkohols und zünde mir im Bad eine Zigarette an.
Unglaublich, ich rauche tatsächlich im Badezimmer meiner Eltern!
Das große Fenster steht offen und ich kann direkt in den Garten sehen. Es ist Anfang April und die Kirschbäume stehen in voller Blüte. Der Rasen sieht frisch gemäht aus und ich frage mich, ob meine Mutter vor ihrem Tod noch die Rosen gedüngt hat. Sie liebte ihre Rosen ebenso sehr wie den dämlichen Köter und verbrachte viel Zeit im Garten. Als Kind habe ich sie häufig vom Fenster aus beobachtet und mich gefragt, ob sie es je bemerken würde, wenn ich eines Tages einfach verschwände. Später habe ich dann erfahren, dass sie es sehr wohl bemerkte. Volle drei Wochen. Danach ging das Leben einfach weiter, bis zu dem Tag, an dem sich Vaters Auto um einen Baum wickelte.
Aus dem Fenster blickend und rauchend hänge ich meinen Gedanken nach, bis ich einen Schatten hinter den Bäumen entdecke. Ich trete näher an das Fenster und kneife die Augen zusammen. Was ist das? Eine Katze oder ein Hund? Nein, dafür war der Schatten zu groß. Vom Badezimmer aus kann ich niemanden erkennen. Es ist ruhig und so schließe ich kurzerhand das Fenster, greife nach der Flasche und genehmige mir einen kräftigen Schluck.
Alkohol, immer dieser Alkohol ... Er gibt mir ohnehin nicht die Antworten, die ich brauche, die Zeiten sind vorbei. Meine Eltern sind tot. Ich wickle mir ein Handtuch um und lasse die Flasche im Badezimmer stehen.
Rechts von mir im Flur liegt das Elternschlafzimmer. Die Tür ist einen Spalt geöffnet und das Sonnenlicht scheint mir zuzuflüstern: Komm her, schau doch mal rein.
Tatsächlich wage ich mich an die Tür, lege die Hand auf das Holz und halte einen Moment den Atem an. Jules und ich durften in unserer Kindheit unter keinen Umständen das Schlafzimmer betreten. Niemals. Selbst wenn wir nachts einen Albraum hatten, wurden wir zurück ins Bett getragen. Häufig waren unsere Zimmer abgeschlossen und wir entgingen den Schlägen, nicht aber der Einsamkeit.
Mein Herz pocht und ich beiße mir auf die Lippe. Soll ich es wagen? Wenn nicht jetzt, wann dann?, flüstert eine andere Stimme und ich nicke zustimmend. Was soll mir auch großartig geschehen? Das Haus gehört mir ab heute ganz allein.
Also öffne ich die Tür, trete einen Schritt in das Zimmer und bleibe enttäuscht stehen. Statt dem Kabinett des Schreckens sehe ich ein ganz normales Schlafzimmer mit einem großen weißen Bett in der Mitte des Raumes, einem recht hübschen Schminktisch am Fenster und einem Kleiderschrank, der den meisten PLatz in Anspruch nimmt. Ich schaue um die Ecke und entdecke zusätzlich einen begehbaren Kleiderschrank mit zahlreichen Schuhen, von denen ich mit einen Blick sagen kann, dass dort ein halbes Vermögen verstaubt. Entzückt klatsche ich in die Hände und wage einen weiteren Schritt hinein.
Unter meinen Füßen höre ich ein Knirschen und im nächsten Augenblick spüre ich ein Brennen unter meiner rechten Fußsohle.
„Scheiße“, brülle ich vor Schmerzen und falle rückwärts auf meinen Hintern.
Glasscherben, überall liegen Glasscherben! Mein Fuß blutet und innerlich verfluche ich Jules, der wieder vor mir da gewesen ist. Er hat wieder eine eindeutige Nachricht für mich hinterlassen, indem er alle eingerahmten Fotos von den Wänden gerissen und in seinem Wahn auf dem Boden zerbrochen hat. Ich dumme Kuh musste natürlich, geblendet von den Schuhen, direkt hineinlaufen.
Mit zusammengebissenen Zähnen ziehe ich eine große, dreieckige Scherbe und viele kleine Splitter aus meinem Fuß. Der weiße Teppich ist mit meinem Blut beschmutzt. Da wird die Putzfrau ganz sicher große Augen machen.
Was hast du dir nur dabei gedacht, Jules?
Als ich das erste Foto in die Hand nehme, wird es mir klar. Alle zerstreuten Fotos auf dem Boden zeigen unsere Familie. Mein Vater trägt auf jedem Bild einen teuren Anzug, ein strahlend weißes Hemd und eine perfekt sitzende Krawatte. Meine Mutter hingegen hat sich in ihr schönstes Kleid geworfen und ihre Haare glänzen in die Kamera. Auf jedem Bild stehen sie hinter Jules und mir. Die Hand meines Vaters ruht auf der Schulter von Jules und die Hand meiner Mutter auf meiner. Wir lächeln glücklich in die Kamera und halten einen Moment fest, den es niemals gegeben hat. Die Termine beim Fotografen hatte ich völlig vergessen.
Wir haben diese Bilder nie zu Gesicht bekommen, und dabei hingen sie ganz in unserer Nähe, im Schlafzimmer, in ihrem privaten Bereich.
Ich spüre einen seltsamen Stich in der Brust. Zuerst denke ich, dass es die Wut ist, Zorn auf meine Eltern, auf ihr Versagen und ihre Ablehnung. Dann bemerke die Tränen, die meine Wangen hinablaufen, und ein kleiner, böser Gedanke schleicht sich in mein Herz, der mir die Luft zum Atmen raubt.
„Ihr konntet uns nicht ertragen und doch schmückt ihr die Wände mit unseren Gesichtern ... Warum habt ihr uns nicht geliebt? Sind wir so abscheulich, dass man uns nicht lieben kann?“
Mit einem humpelnden Bein setze ich mich auf das weiche Bett und halte noch immer ein Foto von uns in der Hand. Ich bin müde. Seufzend lege ich mich auf das Bett meiner Eltern, kuschle mich in die weiche Bettdecke und rieche am gewaschenen Stoff. Ein Hauch von Rose, ein Hauch Zitrone. So roch meine Mutter und eine weit entfernte Erinnerung streift mein Gedächtnis. Sie hält mich fest, drückt mich an sich. Ist es wirklich geschehen oder nur ein Wunschgedanke? Egal. Mit dem Foto in der Hand schlafe ich leise weinend ein.
Mama ... Papa ...