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Mein kleines Herz

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Nach meinem Anruf benötigt der Krankenwagen eine ganze beschissene Stunde.

In den entsetzlich langen 60 Minuten beginnen Doris und ich einen Wettbewerb – einen Starrwettbewerb. Die alte Frau rührt sich keinen Zentimeter. Ihre wachen Augen beobachten mich und ich suche Antworten in ihnen, die sie mir verwehrt. Warum hast du mich angegriffen, Doris? Warum nur?

Ihre Augen bereiten mir Übelkeit. Diesen Ausdruck kenne ich nur zu gut.

Stirb, Julie Mond. Stirb.

Der Krankenwagen trifft ein und meine Laune könnte nicht schlechter sein.

Ich erzähle den Sanitätern selbstverständlich kein einziges Wort von dem Vorfall. Meine Geschichte klingt ganz einfach: Nichtsahnend trete ich aus dem Haus und sehe diese alte Frau am Gartenzaun gelehnt. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen und da ich eine gute Bürgerin bin, wähle ich den Notruf. Ende des Märchens.

Wer sollte mir auch irgendetwas anderes glauben? Doris ist so dünn und runzelig wie ein verdorrtes Blatt. Wer sollte annehmen, dass diese Frau mich angegriffen hat?

Sie schieben Doris an mir vorbei. Ihre klaren blauen Augen sind noch immer weit geöffnet und darin sehe ich es. Die Antwort. Dort, wo einst die Liebe ihr Wesen füllte, ist heute nichts mehr. Nichts mehr? Nein, in ihr lauert etwas Tiefes, etwas Großes ... Ich kann es nicht begreifen, aber es erfüllt mich mit einem zuvor nie gekannten Grauen, und das ist kein gutes Zeichen.

Das ist noch nicht das Ende.

Doris knurrt, als ich ihren Blick erwidere, und gibt gurgelnde Laute von sich. Sie schmatzt und sabbert und ihre Zähne schlagen mit einem entsetzlichen Klacken aufeinander. Tränen verschleiern meine Sicht. Doris, du bist einer der guten Menschen. Das hast du nicht verdient.

Ein Sanitäter kommt in meine Richtung. Unter seinem Arm sehe ich einen Verbandskoffer und hoffe, dass er für jemand anderen bestimmt ist. Das Glück ist heute nicht auf meiner Seite. Es muss an dem Kleid liegen, mir bringt es einfach kein Glück.

„Zeigen Sie mir Ihr Gesicht“, sagt er und ich runzle genervt die Stirn.

Ich schaue mir Menschen selten genau an, denn ich vergesse ihre Gesichter und ihre Namen ohnehin. Aber diesen Mann betrachte ich genau, denn seine Stimme lässt mich aufhorchen. Sie ist tief, warm und trifft die Mitte meines kleinen Herzens. Ich gestehe es sofort und ohne Umschweife – dieser Mann ist umwerfend. Er hat schwarzes, gelocktes Haar, einen dunklen Bartschimmer von einem Ohr zum anderen, stille braune Augen und fröhliche Lachfalten. Doch die Äußerlichkeiten beeindrucken mich wenig. Es ist die Art, wie er den Koffer absetzt, wie seine großen haarigen Hände über die rote Hose streichen und wie er sein Haar rauft, während er Doris verstohlen hinterherschaut. Er spürt sie auch, die kalte Hand im Nacken. Die Ahnung, dass etwas Dunkles über uns schwebt.

Träum weiter, Julie. Dieser Mann ist eine Nummer zu groß für dich. Keine Chance.

„Es ist nichts“, erwidere ich, aber der Koffer ist bereits geöffnet und ich nehme den beißenden Geruch von Desinfektionsmittel wahr.

Mit verbissener Ernsthaftigkeit säubert er die Kratzer auf meiner rechten Wange. Seine Bewegungen sind routiniert. Wie vielen Menschen hat er mit seinen rettenden Händen das Blut vom Gesicht gewischt? Es brennt, aber ich verziehe keine Miene. Mein Blick ist auf das Haus geheftet und ich frage mich, was mich als Nächstes erwartet. Wenn Jules doch nur hier wäre ...

„Es ist ein sehr schönes Haus.“

Er folgt meinem Blick und während er den Kopf von mir abgewandt hat, nutze ich die Gelegenheit und schaue auf sein Hemd. Sein Vor- und Nachname ist auf den Stoff gestickt. Hat er eine Frau? War sie es, die sich die Mühe gemacht hat? Er trägt keinen Ring, aber die Erfahrung hat mich gelehrt, dass ein Ring selten etwas bedeutet.

Georgios Chatidakis.

„Ja, das war es.“

Von außen sehen viele Dinge schön und perfekt aus, aber im Inneren wohnt etwas, von denen die Menschen nichts wissen wollen. Seit dem Vorfall mit Doris fange ich an, wie die meisten Menschen zu denken, und möchte so wenig wie möglich mit ihr zu tun haben, aber das unbestimmte Gefühl lässt mich nicht los, dass ich Teil von etwas geworden bin, dass mich tiefer und tiefer hinabzieht.

„War? Gehörte es Ihnen? Entschuldigen Sie bitte, ich möchte nicht zu neugierig erscheinen.“

Sein Interesse macht mich misstrauisch. Wann macht mich das Verhalten von anderen Mitmenschen eigentlich nicht misstrauisch?

„Es ist schon in Ordnung. Das Haus gehört meinem Bruder und mir. Wir haben es geerbt. Unsere Eltern sind verstorben und ich bin hier ...“

Ja, warum bin hier? Diese Frage stelle ich mir die ganze Zeit. Seit ich zurückgekehrt bin, habe ich nur Ärger am Hals. Glassplitter in Hand und Fuß und ein aufgekratztes, blutiges Gesicht.

„Ich bin hier, um alte Erinnerungen aufleben zu lassen. Es ist 15 Jahre her, seit ich das Haus das letzte Mal gesehen habe. Mein Bruder und ich sind uns einig, wir lassen es abreißen.“

Es ist die Wahrheit. Ich erinnere mich nur ungern, wie Jules mir vom Tod unserer Eltern berichtete. Ich befand mich zu der Zeit in Seattle, als mich sein Anruf aus heiterem Himmel erreichte:

„Willkommen zurück im Leben, Schwesterherz. Unsere Alten sind tot.“

„Wann?“

„Heute Morgen.“

Pause.

„Julie, bist du noch dran?“

„Ja ... Ja, ich bin noch dran. Wie ist es passiert?“

„Um es kurz zu machen: eine geile, teure Karre, defekte Bremsen, ein herumstehender Baum und – BÄÄÄÄM – ein perfekter Tag.“

„Wo bist du?“

„Was soll ich dir antworten? Dort, wo ich niemals alleine wegkomme.“

„Ich mache mich auf den Weg.“

Ich liebe meinen Bruder, und nur aus diesem Grund hinterfrage ich niemals die Aussage, wie unsere Eltern gestorben sind. Niemals.

„Das tut mir sehr leid. Mein Beileid“, antwortet Georgios und ich frage mich im ersten Moment, warum.

„Danke“, antworte ich, als ich erkenne, dass er es aufrichtig meint.

Wir schweigen und selbst dieser Augenblick fühlt sich angenehm an.

Geräuschvoll schlägt Georgios den Verbandskoffer zu und ich bin ein wenig enttäuscht, dass die Behandlung vorbei ist. Denn das bedeutet auch, dass unser Gespräch endet. Ich sollte mich nicht wundern. So läuft es doch immer ab.

„Was sind Ihre Pläne für heute Abend?“

Seine Frage trifft mich unerwartet und ich finde keine Antwort. Wie ein Idiot stehe ich vor ihm und gaffe ihn aus zusammengekniffenen Augen an.

Toll, Julie Mond. Weiter so, wenn du einen Mann beeindrucken möchtest.

„Verzeihen Sie“, er lächelt verlegen und sieht weg. „Mir ist nur aufgefallen, dass Sie ein schönes Kleid anhaben, ich meine ... Wir sind in Cherryhill. Ich frage mich, wo man hier etwas trinken gehen könnte. Ich wurde erst kürzlich hierher versetzt und habe noch nicht viel sehen können. Es ist keine Großstadt, aber na ja ...“

Georgios hört seinen Namen und dankbar, dass der Kollege ihn aus der peinlichen Situation rettet, nimmt er seinen Koffer und eilt, etwas zu schnell für meinen Geschmack, zurück zum Rettungswagen.

„Baker’s Pub“, rufe ich ihm hastig hinterher.

„Wie bitte?“

Er dreht sich um und hinter ihm sehe ich Doris auf einer Bahre liegen. Sie stemmt sich mit aller Kraft gegen die Fesseln, die ihr aus Sicherheitsgründen angelegt worden sind und ihr Kopf schlägt knurrend von einer Seite zur anderen. Ihre Laute bereiten mir eine Gänsehaut.

„Fahr nicht ins Krankenhaus. Bleib hier“, möchte ich sagen, aber stattdessen antworte ich: „Baker‘s Pub. Das ist der richtige Ort für einen Drink.“

Georgios nickt und steigt in den Wagen. Sein Kollege schlägt die Tür zu, steigt auf den Fahrersitz und startet den Motor.

Es wird nicht lange dauern, da werde ich Georgios vergessen. Ich vergesse Doris, das Haus und Cherryhill. Ich vergesse die ganze beschissene Welt.

Meine Planung für den heutigen Abend steht fest. Baker’s Pub öffnet in einer Stunde. Ich mache mich sofort auf den Weg, trinke so viele Shots, bis mein kleines Herz das Träumen aufgibt und setze mich in den nächsten Zug in Richtung Irgendwo.

Die kleine Stimme im Kopf sagt mir, dass ich Georgios niemals wiedersehen werde und sie lacht mich aus, dass ich es überhaupt in Erwägung gezogen habe. Er hat sich nicht

einmal die Mühe gemacht, mich nach meinem Namen zu fragen

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