Читать книгу Handbuch Hamburger Polizei- und Ordnungsrecht für Studium und Praxis - Sven Eisenmenger - Страница 48
g) Einzelerläuterungen aa) Tatbestandsvoraussetzungen (1) Öffentliche Sicherheit oder Ordnung
Оглавление117
„Öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ – das sind die beiden Schutzgüter sowohl in der Generalklausel des § 3 Abs. 1 SOG und in der Generalklausel für Verordnungen, § 1 SOG, als auch bei einigen „besonderen Maßnahmen“ ausdrücklich216 und konkludent immer dort, wo keine bestimmten Schutzgüter genannt werden, aber von „Gefahrenabwehr“ o. Ä. die Rede ist.217
118
Durch die „besonderen Maßnahmen“ oder Standardbefugnisse werden dagegen meist nur ganz bestimmte, besonders hochrangige Güter geschützt. Dann heißt es dort stattdessen etwa „Leib oder Leben“218, „Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder Sachen von bedeutendem Wert“219, „zur Verhütung von Straftaten“220, oder es geht um „Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten von erheblicher Bedeutung“221.
119
„Öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ sind auch die beiden Schutzgüter einiger Maßnahmen der Datenerhebung und -weiterverarbeitung durch die Vollzugspolizei im PolDVG, soweit diese Befugnisse auf die „Erfüllung einer bestimmen polizeilichen Aufgabe“222 verweisen oder selbst bestimmte Schutzgüter gar nicht nennen und allein von „Gefahr“223 o. Ä. sprechen.
120
Der Schutz der öffentlichen Sicherheit umfasst und fordert die Durchsetzung der in der objektiven Rechtsordnung normierten Verhaltenspflichten, der verfassungsmäßigen Ordnung, den Schutz der Rechtsgüter und Rechte des Einzelnen, den Schutz von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Hoheitsträger.224
121
Zur objektiven Rechtsordnung zählt die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, die verfassungsmäßig erlassen worden sind und in Geltung stehen. Sie meint also das gesamte geschriebene objektive Recht.225 Umfasst sind daher insbesondere Straf- und Ordnungswidrigkeitsbestimmungen, woraus sich die ordnungsbehördliche und vollzugspolizeiliche Aufgabe der Verhütung und vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ergibt. Umfasst sind aber auch nicht strafbewehrte, öffentlich-rechtliche Gebots- und Verbotsnormen. Insoweit dient die Generalklausel der Durchsetzung spezialgesetzlicher Verhaltenspflichten, für die das Spezialgesetz selbst keine Durchsetzungsermächtigung enthält. Durch Auslegung ermittelbare Schutzzwecke von Gesetzen und Verordnungen sind ebenfalls von dem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst.226
122
Bestandteil der öffentlichen Sicherheit ist auch die Unversehrtheit der verfassungsmäßigen Ordnung.227
123
Mit dem Schutz der Rechtsgüter und Rechte des Einzelnen dient die öffentliche Sicherheit auch dem Individualrechtsschutz. Gemeint sind hierbei Rechtsgüter, wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Ehre und Besitz. Diese wichtigen Individualrechtsgüter sind zugleich grundgesetzlich geschützt und damit bereits als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung vom Schutzgut der öffentlichen Sicherheit erfasst. Zugleich werden diese Rechtsgüter durch die objektive Rechtsordnung, insbesondere hier durch das Strafrecht, geschützt.228
124
Der polizeiliche Schutz rein privater Rechte erfolgt gem. § 3 Abs. 3 SOG nur subsidiär. Die private Rechtsverfolgung und Streitschlichtung obliegt gemäß § 3 Abs. 3 SOG grundsätzlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit.
125
Unabhängig von dieser Regelung ergibt sich die Subsidiarität aus der Beschränkung des Schutzgutes auf die „öffentliche“ Sicherheit und aus dem verfassungsrechtlichen Gewaltenteilungsprinzip.229 Aus dieser Subsidiarität folgt, dass der Bürger seine zivilrechtlichen Forderungen selbst einklagen oder sichern muss. Er kann die Polizei hierfür grundsätzlich nicht instrumentalisieren.
Rein private Rechte in diesem Sinne sind nur solche, die allein im Privatrecht begründet sind, z. B. privatrechtliche Forderungen aus einem Kauf- oder Mietvertrag. Nicht nur rein privates Recht, sondern auch die objektive Rechtsordnung ist betroffen, wenn die Verletzung zivilrechtlicher Normen bereits durch das Strafrecht oder öffentliches Recht sanktioniert wird.230 Dies ist z. B. beim Verstoß gegen die Unterhaltspflicht der Fall, § 170 StGB, oder beim Parken vor einer privaten Grundstückseinfahrt, §§ 12 Abs. 3 Nr. 3, 49 Abs. 1 Nr. 12 StVO.231
126
Lediglich ausnahmsweise, d. h. subsidiär, ist es auch Aufgabe der Polizei, rein private Recht zu sichern: Dies ist der Fall, wenn eine gerichtliche Rechtsdurchsetzung nicht rechtzeitig möglich ist und ohne Hilfe der Polizei bzw. Ordnungsverwaltung die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert würde, § 3 Abs. 3 SOG.232
So kommen polizeiliche Maßnahmen zur Sicherung der privaten Rechtsverfolgung in Betracht, wenn der Anspruchsgegner unbekannt ist. Hier kann z. B. eine Identitätsfeststellung zur Ermittlung des Halters eines Fahrzeuges zur Geltendmachung von Abschleppkosten wegen rechtswidrigen Parkens in einer Grundstückseinfahrt vorgenommen werden.
127
Nicht einheitlich beantwortet werden kann die Frage, ob die Polizei- und Ordnungsbehörden auch die Aufgabe haben, den Bürger vor Selbstschädigung zu schützen. Bejaht werden kann dies für den Fall einer ungewollten oder unbewussten Selbstschädigung. Die bewusste, autonom verantwortete Selbstgefährdung, z. B. durch das Betreiben gefährlicher Sportarten oder eine Selbstschädigung durch übermäßigen Nikotin- oder Alkoholgenuss, hingegen ist durch die Allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt.233
Keine bloße Selbstgefährdung ist anzunehmen, wenn zugleich auch Dritte mitgefährdet werden.234 Z. B. beim Badengehen in stürmischer und damit gefährlicher See, wenn Rettungsschwimmer regelmäßig tätig werden müssen und damit auch gefährdet werden.235 Nach einer bisher herrschenden Ansicht sollte das eigene Leben dagegen der Verfügungsgewalt des Einzelnen gänzlich entzogen sein, sodass die Polizei- oder Ordnungsbehörde zur Verhinderung eines Suizids einschreiten kann. Überwiegend wurde mit einer Schutzpflicht des Staates für das Leben als höchstes Schutzgut (aus Art. 2 Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1, Abs. 3 GG) argumentiert. Nach der neuesten Rechtsprechung des BVerfG umfasst das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, jedoch auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben.236 Bei einem erkennbar überlegten Selbsttötungsentschluss scheidet ein Einschreiten daher aus. Ein Einschreiten kommt aber immer dann noch in Betracht, wenn nicht mit einer vollständigen Freiverantwortlichkeit zu rechnen ist.237 Eine psychische Ausnahmesituation dürfte in vielen Fällen des Suizids anzunehmen sein.238 Dann wäre außerdem die Ingewahrsamnahme nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 SOG tatbestandsmäßig.
128
Mit dem Schutz von Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und sonstiger Hoheitsträger erhält die öffentliche Sicherheit eine gemeinschaftsbezogene Dimension.239 Einrichtungen und Veranstaltungen von Hoheitsträgern werden auch dann geschützt, wenn kein Verstoß gegen Rechtsnormen vorliegt.
Beispiele für staatliche Einrichtungen und Veranstaltungen sind Obdachlosenheime, Kasernen, der Bundestag, der sog. „Zapfenstreich“, das Treffen der Staats- und Regierungschefs auf dem G20-Gipfel in Hamburg 2017 usw.
129
Damit die grundgesetzlich garantierten Freiheiten, über die geschriebene objektive Rechtsordnung hinaus, nicht übermäßig eingeschränkt oder gar ausgehöhlt werden, ist das Schutzgut der Integrität staatlicher Einrichtungen und Veranstaltungen sehr zurückhaltend zu handhaben.240
Meist wird der Schutz aber bereits durch vorhandene Rechtsvorschriften gewährleistet sein, etwa durch den Tatbestand des Friedens- und Hochverrats, §§ 80 ff. StGB, des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte, § 113 StGB, des Hausfriedensbruchs, § 123 StGB, oder der Nötigung gem. § 240 StGB bei der Behinderung der Aufgabenerfüllung von Behörden.241
130
Unter der öffentlichen Ordnung versteht man all jene „ungeschriebenen Regeln“, deren Befolgung nach den „jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen“ als „unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben“ der innerhalb einer bestimmten Gegend lebenden Menschen angesehen wird (ungeschriebenes sozialethisches Minimum).242
131
Anders als beim Begriff der öffentlichen Sicherheit ist die Verfassungsmäßigkeit des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung umstritten.243 In einigen Bundesländern wird auf dieses Tatbestandsmerkmal in der Generalklausel inzwischen sogar ganz verzichtet.244 Zum einen wird betont, dass die Verhaltenspflichten der Bürger anders als noch im vorletzten Jahrhundert inzwischen derart ausdifferenziert parlamentarisch geregelt sind (Verrechtlichung), dass für ungeschriebene Verhaltensregeln kaum noch Raum bleibt.245 Gem. BVerfG fordert auch das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 GG (Gewaltenteilung), dass die Legislative ihre „vornehmste Aufgabe“ selbst wahrnimmt, nämlich „jede Ordnung eines Lebensbereichs durch Sätze objektiven Rechts“ auf eine Willensentschließung der vom Volke bestellten Gesetzgebungsorgane zurückzuführen und dabei „unter Abwägung der verschiedenen, unter Umständen widerstreitenden Interessen über die von der Verfassung offen gelassenen Fragen des Zusammenlebens zu entscheiden“.246 Daneben bleibt in Hamburg – wie in den meisten Bundesländern – dem Senat noch die Möglichkeit, mit Gefahrenabwehrverordnungen schnell auf neue Gefahren zu reagieren, § 1 SOG (dazu B. I.1.a.).247 Dabei ergibt sich die Notwendigkeit, die Gefahrensituation in einen abstrakt und generell formulierten Tatbestand zu fassen (dazu unten B. I.2.d.aa.2.).
Beispiele:
Alkoholkonsumverbote auf Plätzen, Verbote gegen das sog. Cornern im Schanzenviertel, Verkaufsverbote, Ausgehbeschränkungen u. Ä. während der Corona-Pandemie usw.
132
Die in der Rechtsprechung bisher unter die öffentliche Ordnung subsumierten Fälle lassen sich regelmäßig bereits über den Rückgriff auf die „öffentliche Sicherheit“ lösen. Ein Auffangtatbestand, wie die öffentliche Ordnung, erscheint deshalb überflüssig.248 Denjenigen, die die „öffentliche Ordnung“ als nötigen Auffangtatbestand für neuartige Gefahrensituationen als notwendig erachten, kann entgegnet werden, dass auch unbekannte Gefahren für Rechtsgüter (Leben, Gesundheit, Persönlichkeitsrecht usw.) bereits von der objektiven Rechtsordnung abgedeckt sind.249
Beispiele:
Ein Rückgriff auf die öffentliche Ordnung ist für den Fall der Obdachlosigkeit gar nicht notwendig, weil Leben und Gesundheit bedroht sind.250 Bei Spielen, die die Tötung von Menschen simulieren, ist die Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 GG als Teil der öffentlichen Sicherheit (objektive Rechtsordnung) betroffen.251 Im Fall der offenen Drogenszene handelt es sich um Kriminalität nach dem BtmG. Auch wird u. U. auf Spielplätzen die Gesundheit spielender Kinder durch infizierte, weggeworfene Einmalspritzen bedroht.252 Maßnahmen können hier auf § 12 b Abs. 2 SOG gestützt werden.
133
Zu Recht wird von den Kritikern des Begriffs der öffentlichen Ordnung auch darauf hingewiesen, dass sich in einer pluralistischen Gesellschaft immer weniger verbindliche gemeinsame Moralstandards identifizieren lassen.253 Daneben stellt sich hier auch vielfach das Problem eines Schutzes der Betroffenen „gegen sich selbst“.
Beispiele:
So wurde eine Live Peep-Show 1981 vom BVerwG als Verstoß gegen die guten Sitten angesehen.254 Eine Veranstaltung, bei der Kleinwüchsige durch kräftige Männer aus dem Publikum möglichst weit geworfen werden sollen, wurde u. a. unter Rückgriff auf die öffentliche Ordnung untersagt.255
134
Eine sehr restriktive Auslegung des Schutzgutes „öffentliche Ordnung“ ist wegen Art. 5 und Art. 8 GG im Versammlungsrecht bei der Untersagung von Demonstrationen nach § 15 VersG256 geboten. Das BVerfG hat den Begriff der öffentlichen Ordnung im Versammlungsrecht nochmals konkretisiert:257
„Für den Begriff der öffentlichen Ordnung ist demgegenüber kennzeichnend, dass er auf ungeschriebene Regeln verweist, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertegehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird (…).“
135
Durch die Einbindung des „Wertegehalts des Grundgesetzes“ in die Definition durch das BVerfG ist der Rückgriff auf die öffentliche Ordnung sehr eingeschränkt worden.258