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Warum dieses Buch 2020 – puh, oder?

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Ganz egal, in welcher Situation du diesen Satz von dir gibst – mit hundertprozentiger Sicherheit wird er auf allergrößtes Verständnis stoßen – auch wenn 2021 bislang nicht wirklich ein Upgrade darstellt. Jedenfalls: Keine Ahnung, wie es dir ging, aber ich hatte damals im Vorhinein irgendwie ein ganz gutes Gefühl für das Jahr 2020. Und dann passierte, nun ja, 2020. Die zerstörerischen Waldbrände in Australien. Der rassistische Anschlag in Hanau, bei dem neun Personen ermordet wurden. Geflüchtete Menschen, die in überfüllten Camps unter absolut katastrophalen Bedingungen an den Außengrenzen der Europäischen Union zum Ausharren gezwungen sind. COVID-19, eine globale Pandemie, die – Stand April 2021 – mehr als drei Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Lockdown und Kontaktbeschränkungen als Gegenmaßnahmen und damit einhergehend Kurzarbeit, Veranstaltungsverbote und Existenzängste, so viele Existenzängste – und dazu auch gleich noch das Ausbleiben angemessener Hilfen, etwa für Selbstständige und Künstler*innen. Großdemonstrationen von Verschwörungsideolog*innen und Nazis. Die gewaltsame Ermordung von George Floyd und Breonna Taylor in den USA. Die absolute Notwendigkeit der Black-Lives-Matter-Demonstrationen, parallel dazu noch weiter zunehmende Polizeigewalt, Ausnahmezustand in diversen US-amerikanischen Städten, und nicht nur dort. Belarus. Polen. Die Explosion im Hafen von Beirut. Der Krieg um Bergkarabach. Islamistischer Terror in Frankreich, in Dresden, in Wien. Waldbrände in den USA. Die Präsidentschaftswahl in den USA. Das Erdbeben in der Ägäis.

Also nicht dass vorher alles super gewesen wäre – nicht einmal annähernd. Auch 2019 und zuvor hatten wir schon ein riesiges Problem mit strukturellem Rassismus, Antisemitismus und rechtem Terror. Auch vorher schon gab es Klimakatastrophen verschiedenster Art. Auch vorher schon lebten wir in einer zutiefst ungerechten, patriarchalen, hetero- und cisnormativen, klassistischen und ableistischen Gesellschaft. Oh, und da wäre ja noch die Sache mit dem Kapitalismus.

Das Jahr 2020 hat wie ein Brennglas verschärft und vergrößert, was zuvor schon im Argen lag: die soziale Ungleichheit, die sich unter anderem im Bildungssystem bemerkbar macht. Die Problematik traditioneller Rollenbilder und der Geringschätzung von Sorgearbeit, die immensen Herausforderungen, mit denen Alleinerziehende zu kämpfen haben. Die Bedingungen, unter denen Pflegekräfte arbeiten müssen oder Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Angriffe auf feministische Errungenschaften wie etwa das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Die Folgen von Fake News und der ungehinderten Verbreitung von Verschwörungserzählungen. Weiße1 Privilegien und verinnerlichter sowie institutioneller Rassismus. Die analogen Folgen von Hass im Netz und digitaler Gewalt. Antidemokratische und faschistische Tendenzen weltweit, sowohl innerhalb der Gesellschaft als auch in der Politik. Und nein, leider ist es nicht so, als würde ein Jahreswechsel allein etwas daran ändern: Auch 2021 sind wir noch mit alldem konfrontiert.

Warum um Himmels willen also ein Buch über Selbstfürsorge, gerade jetzt? Wo es doch im vergangenen Jahr ohnehin schon so viele Forderungen gegeben hat, wie man sich bitte zu fühlen und zu verhalten hat. Nach dem Motto: Begreife die Krise als Chance! Nutze den Lockdown als längst überfällige Pause, in der du endlich mal abschalten kannst! Oder nein, besser wäre, du lernst eine neue Sprache. Oder baust endlich körperliche Fitness auf. Oder schreibst ein Buch! Oder du entwickelst dich persönlich weiter und tauchst am Ende als dein Höheres Selbst auf! Oder tust endlich genau das, was du seit zig Jahren schon aufschiebst. Außerdem sollst du bei alldem natürlich total gelassen bleiben – auch mit drei Kindern im Homeoffice, auch als Teil einer Risikogruppe, auch in Kurzarbeit oder nach dem Verlust deines Jobs. Auf jeden Fall aber sollst du auch spenden – für deine zwangsweise geschlossenen Lieblingsrestaurants, deine Lieblingskünstler*innen, denen die Bühne fehlt, und für die Seenotrettung. Und oh! Du sollst definitiv auch demonstrieren! Dich gegen Rassismus einsetzen, auch gegen deinen eigenen. Dich äußern! Stellung beziehen! Jetzt umso lauter sein, wenn du wirklich etwas verändern willst!

Es gab immer wieder Momente und Phasen, in denen ich mich gefragt habe, was ich mir eigentlich einbilde. Ein Buch über Self-Care. Jetzt. Ernsthaft? Was soll das bringen? Und wem soll das etwas nützen? Wer bin ich überhaupt, mir anzumaßen, über dieses Thema zu schreiben?

Ich hatte viel Angst und Wut und Ungewissheit in mir, habe gehadert und gezweifelt und zwischendurch alles weit weggeschoben. Aber letztlich habe ich dann doch wieder das Dokument auf meinem Laptop geöffnet. In mein Notizbuch geschaut. Und festgestellt: Gerade weil alles so ungeheuer verstärkt und superlativ ist, weil die Umstände so dermaßen ungünstig sind, ist auch Selbstfürsorge umso relevanter geworden. Jetzt erst recht – denn Selbstfürsorge, radikale Selbstfürsorge, ist nötig, um zu überleben, dabei nicht durchzudrehen und auch weiterhin dafür kämpfen zu können, dass sich etwas verändert. Weil gesellschaftlicher Wandel nur dann stattfinden kann, wenn wir lernen, auf möglichst nachhaltige Weise auch für uns selbst zu sorgen.

Dieses Buch ist kein Glücksversprechen, keine Schritt-für-Schritt-Anleitung und kein Ersatz für ärztliche oder psychotherapeutische Behandlung. Ich möchte dir keine neuartige Wundermethode präsentieren, dank der es dir nie wieder schlecht gehen wird, und ich will dich auch nicht mit »Mach immer das!«- und »Tu niemals dies!«-Ratschlägen bevormunden.

Ich bin keine Ärztin, ich bin weder Expertin für mentale Gesundheit noch Achtsamkeitscoach – sondern in erster Linie eine Person, die selbst nach Wegen sucht, um innerhalb unserer Gesellschaft mit all diesen strukturellen Ungerechtigkeiten zu existieren, und zwar auf eine feministische und solidarische Art. In den vergangenen Jahren habe ich viel recherchiert, gelesen und ausprobiert, ich habe eine ganze Menge dazu- und mich selbst besser kennengelernt (und bin noch immer dabei). Und ich bin eben auch Autorin. Schreiben ist die für mich beste Art zu reflektieren, festzuhalten, mir Dinge zu erklären und mich anderen mitzuteilen – und genau das möchte ich mit diesem Buch tun: etwas teilen, in der Hoffnung, dass es dich vielleicht inspiriert.

Meine Perspektive ist die einer weißen, bisexuellen cis2 Frau, die ohne körperliche Beeinträchtigung lebt – ich bin also in vielerlei Hinsicht privilegiert. Obgleich ich auch bestimmte Diskriminierungserfahrungen mache und kenne, bin ich nicht von strukturellem Rassismus, Transfeindlichkeit oder Ableismus betroffen und möchte mir dementsprechend nicht anmaßen, darüber zu schreiben oder so zu tun, als wüsste ich, wie sich das anfühlt. Allerdings will ich auch nicht den Eindruck erwecken, dass die Selbstfürsorge, um die es mir geht, etwas Exklusives für Menschen mit bestimmten Privilegien sei – so ist es nämlich ganz und gar nicht. Es geht mir um eine radikale, ermächtigende Art der Selbstfürsorge, die so zugänglich wie möglich ist und von der nicht bloß du und ich als Individuen profitieren, sondern letztlich wir alle als Kollektiv.


Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!

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