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Unter Druck und am Rand der Verzweiflung

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Also, wie genau gehen wir vor? Wie bringen wir diesen Prozess nun in Gang? Wie funktioniert das mit der Selbstfürsorge?

Mit den bereits angesprochenen Imperativen »Entspann dich!«, »Leb im Moment!« oder eben »Liebe dich selbst!« klappt’s schon mal nicht – bei mir zumindest. Selbst ein gut gemeintes »Atme mal tief durch!« bewirkt bei mir eher das Gegenteil. Irgendwie logisch, denn dieser Satz ist ja erst mal nicht mehr als eine plumpe Aufforderung. Und plumpe Aufforderungen können dafür sorgen, dass wir entweder verkrampfen oder in eine Art Trotzhaltung verfallen – so wie ich bei all den Schnörkelschriftlebensweisheiten.

Es ist furchtbar frustrierend, dass häufig so getan wird, als wäre das persönliche Wohlergehen bloß einen einzigen, korrekt durchgeführten Atemzug entfernt – oder aber etwas, das ich ganz easy konsumieren kann –, wenn ich nur bereit dazu bin, in mich zu »investieren«. Dann ist das alles ein Kinderspiel! Ich muss nur diese App runterladen/diesen Podcast hören/diese Coaching-Session buchen/diesen Newsletter abonnieren/an diesem Seminar teilnehmen/dieses Onlineprogramm mitmachen/in dieses Retreat fahren/xyz – egal was es auch ist, euphorisch beworben wird es in jedem Fall von strahlenden, zumeist normschönen Menschen, die mir versprechen, dass es mit ihrer einzigartigen Methode endlich auch mir gelingen wird, mich mehr zu spüren. Natürlich klingt das verlockend! Mich selbst mehr spüren, aber klar, warum nicht? Mich mehr lieben, mehr in meine Kraft kommen, mehr Zeit haben, mehr Leichtigkeit, mehr Energie, mehr Fülle, mehr Produktivität, mehr Positivität, mehr, mehr, mehr!

Kein Wunder ist es bei all diesen Versprechen gleich doppelt entmutigend, wenn ich dann tatsächlich eine dieser angepriesenen Methoden oder Techniken ausprobiere – mich zum Yogakurs anmelde, eine bestimmte Morgenroutine entwickle, ein Dankbarkeitstagebuch beginne, meine Ersparnisse für eine spirituelle Heilung, ätherische Öle, Edelsteine oder sonst was raushaue – und es ausgerechnet bei mir – ups! – doch nicht funktioniert. Oder ich nach dem ersten Hoch in ein noch tieferes Tief falle als zuvor. Die Enttäuschung über mein scheinbares Versagen wird das Gefühl, dass ich das Problem bin, dass mit mir etwas nicht stimmt, logischerweise verstärken. Ich allein bin meines Glückes Schmied*in? Tja, dann habe ich wohl leider Pech gehabt, denn offensichtlich beherrsche ich das Schmiedehandwerk nicht.

Die Sache ist die: Es mag ja sein, dass für Person XY wahrhaftig diese ungeheure Veränderung losgetreten wurde, weil sie an ebenjenem Seminar teilgenommen oder eine Ernährungsumstellung gemacht hat – aber das macht die Methode noch lange nicht allgemeingültig. Selbst wenn eine gewisse kausale Verknüpfung besteht, heißt das nicht, dass ein Ansatz für alle Menschen gleichermaßen funktioniert oder zugänglich ist. Wir haben nicht alle dieselben Ressourcen zur Verfügung. Wir können uns nicht alle mal eben so ein Sabbatical, zwei Wochen Yogaurlaub am Indischen Ozean oder dieses Supercoaching leisten, und auch keinen Saunatag im Harz.

Außerdem machen und haben wir nicht alle dieselben Erfahrungen. Wir sind – Überraschung! – alle vollkommen unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichsten Voraussetzungen sowie Lebensrealitäten. Und während für manche von uns dieses allseits beworbene Mehr (wovon auch immer) genau der richtige Ansatz sein mag, so ist es für andere vielleicht eher an der Zeit für weniger. Weniger Stress beispielsweise oder weniger Input. Weniger Termine – statt eines zusätzlichen Termins auf der sowieso schon zu langen To-do-Liste, selbst wenn es sich dabei um den Yogakurs handelt.

Fest steht jedenfalls: Um uns besser zu fühlen, Veränderungen zu bewirken, so ganz allgemein »positiver« zu sein – dafür gibt es weder ein Patentrezept, noch ist es eine Frage des Mindsets oder etwas, für das wir uns bloß zu entscheiden brauchen. Solche Behauptungen sind nicht nur unwahr, sondern obendrein ziemlich gefährlich, schädlich, ja geradezu toxisch – womit wir bei der sogenannten toxischen Positivität angekommen sind.

Keine Frage, es kann durchaus hilfreich sein, nicht immer vom Schlimmsten auszugehen. Es ist nicht automatisch eine giftige Angelegenheit, sich auch mal auf das zu besinnen, was gut ist. In der Regel neigen wir ja dazu, eher auf Kritik anzuspringen als auf Lob oder das berüchtigte Haar in der Suppe zu finden. Jedoch löst der reine Fokus auf das, was wir für gut halten, nicht automatisch in Wohlgefallen auf, was einfach unübersehbar schlecht ist.

Mit dieser toxischen Art der Positivität geht allzu häufig das Phänomen einher, das eigentlich Unübersehbare aber eben doch zu übersehen, und zwar ziemlich bewusst. Die Rede ist vom Spiritual Bypassing – spirituelles Umgehen also. Das bedeutet, sich selbst und allen anderen die pure Glückseligkeit vorzugaukeln, damit man sich weder mit sich selbst noch mit Problemen jedweder Art auseinandersetzen muss; sich mantraartig »Alles ist gut« zuzuflüstern, besonders dann, wenn’s mal kompliziert wird. Mit dem Auto unterwegs einen Stau zu umfahren, ist ja durchaus clever, aber auf dieselbe Art vor Schwierigkeiten, Problemen und Tatsachen wegzulaufen, sie entweder komplett zu verdrängen oder sie zu verklären, ist absolut keine empfehlenswerte Strategie – besonders nicht auf lange Sicht. Nein, ich hab keine psychische Erkrankung, nein, es gibt keine Gewalt gegen Frauen, nein, ich sehe keine Hautfarben, alles ist gut, alles geschieht aus einem guten Grund, das Universum wird schon seine Pläne für mich haben, bleib mir weg mit deinen negativen Energien, denn nur die sind gefährlich.

Eng damit verknüpft ist auch spirituelles Gaslighting – im Prinzip eine Art Manipulation, zuletzt ganz groß zu beobachten im Umgang mit der Coronapandemie und dem darauffolgenden Lockdown. Ich sage nur: »Die Krise als Chance!« Und nicht nur Krisen, sondern auch traumatische Erlebnisse, Unglücke, schlechte Erfahrungen und Schicksalsschläge werden uns gern mal als Chance, Geschenk oder gar als Voraussetzung oder Grundlage für persönliches Wachstum verkauft. Puh, ähm, nein. Einfach nein. Sicher ist es möglich, dass ich aus einer schlechten Erfahrung etwas lerne, einer beschissenen Situation vielleicht sogar etwas Positives abgewinnen kann. Oder mich im Anschluss stärker fühle, weil ich sie durchgestanden habe. Eine Krise ist aber nicht automatisch eine Chance. Außerdem sind, wie bereits erwähnt, Erfahrungen extrem unterschiedlich – und der Umgang mit ihnen ebenfalls. Nicht jede*r möchte, kann und muss aus einer traumatischen Erfahrung etwas Gutes ziehen oder daran wachsen – manchmal ist es schlicht und ergreifend genug zu überleben. Und wenn man damit beschäftigt ist, setzt es eine*n natürlich unter enormen Druck, wenn zusätzlich auch noch gefordert wird, man möge dieses Geschenk des Universums doch bitte auch angemessen wertschätzen.

»Aber, aber, so eine Opferhaltung bringt dich doch nicht w-e-i-t-e-r!« Nun. Unter bestimmten Umständen ist es möglich, dass wir uns tatsächlich in einer Opferhaltung eingerichtet haben – weil wir uns mit bestimmten Gedanken und Geschichten überidentifizieren, ob unseren ganz eigenen oder solchen, die uns etwa von unserer Herkunftsfamilie vermittelt wurden. Dazu später mehr. Spielen bei diesem Opferstatus aber strukturelle Diskriminierung, Marginalisierung oder etwa Gewalterfahrungen eine Rolle, dann sind von Diskriminierung und/oder Gewalt betroffene Personen schlicht und ergreifend Opfer. Sie machen sich nicht dazu, auch dann nicht, wenn sie diesen Status benennen – im Gegenteil, denn indem sie das tun, schaffen sie eine Grundlage für Veränderung. (Es ist jedoch keine Voraussetzung, sich mit dem Begriff »Opfer« zu identifizieren – manche Menschen tun das nicht, und das ist völlig in Ordnung.)

Auch hier gilt: Nein, »Fülle«, »Lebensfreude« und »Leichtigkeit« sind nicht einfach bloß eine Frage der Einstellung. Und sich »aus der Komfortzone« herauszutrauen, mag möglich sein, wenn für sämtliche Grundbedürfnisse gesorgt ist und man sich generell sicher fühlt – für Menschen, die aber zum Beispiel ein Trauma mit sich herumtragen, ist das nicht mal eben so machbar. Denn sie ziehen sich in diese »Komfortzone« nicht ohne Grund oder aus reiner Bequemlichkeit zurück, sondern um zu überleben.

Bei all diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten, Lebenssituationen und Erfahrungen ist es aber auch wichtig anzumerken, dass selbst ein Dasein mit den allermeisten Privilegien, finanzieller Sicherheit oder einem bestimmten Beziehungsstatus nicht automatisch bedeutet, dass eine Person zufrieden oder glücklich ist.

Was macht denn nun also glücklich? Oder eher – warum jagen wir diesem Glück so krampfhaft hinterher? Klar, es gibt hin und wieder Umstände, Begegnungen, Erlebnisse, Momente und Dinge, die uns glücklich machen – und zweifelsohne ist es ziemlich beschissen, wenn man so etwas über längere Zeit nicht erlebt hat –, aber es gibt nichts, wirklich nichts auf der Welt, das dafür sorgen könnte, dass wir fortan nur noch und ausschließlich und bis in alle Ewigkeit glücklich sind, kein Leid mehr erleben und keinen Verletzungen oder schmerzhaften Erfahrungen mehr ausgesetzt sind. Es dauerhaft komfortabel und bequem zu haben, ist nicht unser natürlicher Status – das ist einfach nicht vorgesehen für das menschliche Dasein.

Das bedeutet im Umkehrschluss aber nicht, dass wir alle ordentlich leiden sollen, solange wir leben, oder dass so etwas wie ein Gefühl von Leichtigkeit oder Gelassenheit gar nicht existiert. Denn das tut es! Und es hat – mehr als dass es an unsere Umgebung oder bestimmte Umstände gebunden ist – tatsächlich viel mehr mit so einer Art innerer Orientierung zu tun. Damit, dass wir uns selbst erlauben zu sein, zu existieren. Diese Gelassenheit ist nicht gleichbedeutend mit pausenlos guter Laune, sondern meint in erster Linie, dass es uns möglich ist, durch die ganze große Vielfalt menschlicher Gefühle zu navigieren, ohne dabei irgendwo verloren zu gehen.

Wie kriegen wir das nun aber hin? Muss ich, um mich in meiner Mitte zu verankern, nicht doch auf die »Alles ist gut«-Taktik zurückgreifen? Oder mir unentwegt das Mantra »Ich bin genug« vorsagen? Hm, lass uns genau hier loslegen:

Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!

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