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Wozu Selbstfürsorge?

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Der Begriff »Selbstfürsorge« ruft in der Regel ein riesiges Spektrum an Reaktionen hervor: Von entnervtem Augenrollen über wutschnaubendes Kopfschütteln bis hin zu verklärtem Lächeln ist alles dabei. Selbstfürsorge gilt, genauso wie Selbstliebe – ein weiteres Buzzword –, als egoistisch, narzisstisch, als realitätsfernes Erste-Welt-Problem, als überflüssiger Quatsch oder esoterischer Humbug. Auch ich habe lange Zeit bei dem Wort entnervt die Augen verdreht – denn ganz ehrlich, es mag ja vieles geben, das ich noch lernen kann und muss, aber ich werd’s ja wohl gerade noch so hinkriegen, mich um mich selbst zu kümmern. Schaut doch her, ich bin immerhin sehr lebendig, offensichtlich kann ich atmen, also hört mir auf mit diesem Achtsamkeits-Blabla.

Ich hielt Self-Care für unpolitisch, unsolidarisch, antifeministisch und obendrein für ziemlich gefährlich. Ich meine: Es gibt Dinge, die lassen sich nicht mal eben wegatmen oder durch die richtige Meditationstechnik in etwas Positives transformieren. Und mit einer Gesichtsmaske, egal wie klärend sie sein mag, werde ich auch nicht das Patriarchat abwaschen.

Wenn ich mir selbst etwas Gutes tun wollte, gönnte ich mir eine riesige Pizza, ganze Tafeln Schokolade, Zigaretten in rauen Mengen und Alkohol. Mich nach einer stressigen Woche, einer ätzenden Onlinediskussion oder schlechten Nachrichten mit meinen Freund*innen zu betrinken, war meine favorisierte Bewältigungsstrategie, meine sichere Bank, und außerdem machten es alle anderen doch genauso. Ich nahm hin und kokettierte sogar damit, dass ich manchmal so sehr im Schreiben oder in Arbeit versunken war, dass ich – hahaha! – vergaß zu trinken und zu essen. Mir irgendwann hangry und zittrig Falafel zu bestellen, war eher die Regel als die Ausnahme, und oftmals war das dann auch das erste und einzige Mal, dass ich an diesem Tag die Wohnung verließ.

Auch wenn ich vorher schon viel Zeit am Smartphone, auf Facebook, Twitter und Instagram verbracht habe – als ich selbst anfing, mich auf Social Media zu politischen und feministischen Themen zu äußern, erreichte das noch mal ein völlig anderes Level. Es passierte ja auch ständig was Neues! Hier ein Skandal, da schon wieder eine Endlosdiskussion, dort eine Horrornachricht. Und dazu immer der Druck, mich möglichst schnell und allumfassend zu äußern und zu positionieren, dem Hass und den Trollen etwas entgegenzusetzen, meine Stimme und meine Privilegien bestmöglich einzusetzen. Ich las, so viel ich konnte; meist mehrere Bücher gleichzeitig und dazu sämtliche auffindbaren Blogposts und Artikel über Misogynie, Queerfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Ableismus. Ich tauschte mich zu all diesen Themen aus, mit Kolleg*innen, Freund*innen, mit meinem Partner oder mit fremden Menschen im Internet. Waren wir uns uneinig, wurde es laut und emotional. Waren wir uns einig, wurde es ebenfalls laut und emotional – wegen all der Uneinig- und Ungerechtigkeiten, denen wir sonst so begegneten.

Irgendwann – zu der Zeit arbeitete ich eigentlich gerade an meinem zweiten Roman – fragte ich mich, ob ich überhaupt noch schreiben sollte. Ich war sowieso oft viel zu fahrig, durcheinander und abgelenkt dazu, kam nicht so richtig in einen Fluss. Der größte Faktor war aber, dass ich nicht mehr wusste, warum ich überhaupt schrieb. Was und wem das etwas bringen sollte. Selbst meine aktivistischen Tätigkeiten brachten ja nicht sonderlich viel. Klar, vielleicht erreichte ich eine kleine Anzahl an Leuten, aber am großen Ganzen änderte ich leider: nichts. Gar nichts.

Kurz nach den rassistischen Angriffen auf People of Color in Chemnitz im Jahr 2018 saß ich, weit entfernt vom Ort des Geschehens, im Rahmen eines Aufenthaltsstipendiums an einem Schreibtisch in Schleswig-Holstein, vor dem Fenster ein schöner Spätsommertag, und checkte im Minutentakt soziale Medien und Nachrichten. Dabei kam ich mir total blöd vor. Gab es nicht viel Wichtigeres für mich zu tun, als hier zu sitzen und – erfolglos – zu versuchen zu schreiben? Die verdammte Demokratie verteidigen zum Beispiel, mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln? Jeder Versuch, mich auf mein Manuskript zu fokussieren, fühlte sich an wie ein Augenverschließen, ein bewusstes Wegschauen, und alles, was ich schrieb, kam mir nichtig und unbedeutend vor.

Wann immer ich in dieser Zeit über Begriffe wie Achtsamkeit oder Selbstfürsorge stolperte, konnte ich nicht anders, als zynisch zu werden. Ja, genau, die richtige Morgenroutine wird es ganz bestimmt richten. Und was soll ich? Ach so, einfach ein bisschen dankbarer sein, na klar, fuck you.

Mir ging es nicht gut. Ich wollte irgendwas verändern, verbessern, aber ich wusste einfach nicht so genau, was – und vor allem, wie. Also machte ich zunächst einfach weiter wie bisher. Ich schrieb voller Zweifel und mit einem miesen Gefühl im Bauch meinen Roman fertig. Heulte regelmäßig Freund*innen übers Telefon voll. Hatte Angst und fühlte mich permanent ausgelaugt. Kaufte mir zur Beruhigung Lavendelöl und hasste mich selbst dafür noch ein bisschen mehr, so eine bist du jetzt, oh mein Gott, Lavendelöl. Ich versuchte trotzdem, mich so viel wie möglich online zu äußern, auf die Perspektiven und Inhalte marginalisierter Personen aufmerksam zu machen. Ich führte weiter Diskussionen und wunderte mich regelmäßig über Kopf- und Bauchschmerzen, bis mir auffiel, dass ich zu wenig gegessen oder kaum Wasser getrunken hatte. Und zur Belohnung für das ganze Leid gab es dann und wann Alkohol, Prost, auf dass die Welt wirklich bald untergeht, denn ganz ehrlich, das wäre vermutlich für alle das Beste!

Im Kontrast zu diesem Nihilismus klingt alles rund ums Thema Selbstfürsorge so ein bisschen – ich weiß auch nicht, ignorant und irgendwie uncool. Und da ist so viel Imperativ! »Liebe dich selbst!«, »Sei gut zu dir!«, »Sei dankbar!«, »Sei achtsam bei jedem Bissen Mittagessen!«, »Zieh dich warm genug an!«. Ja, Mama. Ich konnte nichts dagegen tun, bei bevormundenden Sätzen auf Motivationspostkarten sträubte sich in mir einfach irgendwas. Und nichts in mir hatte sonderlich Bock, sich von pathetischen Sprüchen in pinkfarbenen Büchlein diktieren zu lassen, wie ich mich zu fühlen und zu verhalten habe. Dem Ganzen haftet so was Verzweifeltes an. Letzte Hoffnung: Schnörkelschrift. Wie schon gesagt – mein Lavendelöl-Kauf sorgte primär dafür, dass ich mich selbst noch mehr hasste und als lächerlich empfand. So schwach war ich also, dass ich so etwas nötig hatte! Als Nächstes würde ich dann bestimmt die Engel zu Hilfe rufen.

Von meiner grundsätzlichen Abneigung gegenüber aufgezwungener Lebensfreude mal abgesehen verstand (und verstehe!) ich mich selbst ja schließlich auch als Feministin. Als Person mit einer politischen Haltung, die mit der gesellschaftlichen Gesamtsituation nicht einverstanden ist. Der es trotz all der sie umgebenden Hoffnungslosigkeit wichtig ist, dass sich etwas verändert. Und irgendwie brachte mich das zur Annahme, dass es vielleicht ja auch ganz einfach dazugehörte, dass ich mich schlecht fühlte. Ja, gut möglich, dass ich einfach immer ein bisschen verzweifelt und ängstlich und wütend zu sein hatte, um überhaupt weiterkämpfen zu können! Vielleicht war genau das der Motor. Es muss mir schlecht gehen, damit ich meine Lage und die Zustände um mich herum stetig verbessern kann. Oder anders: Bloß aufgrund meiner Existenz habe ich halt einfach nicht das Recht dazu, mich gut oder auch nur okay zu fühlen. Und wenn es gerade mal nicht um mich selbst geht, sondern um Menschen, die weniger privilegiert sind als ich – nun ja, dann wird es noch komplizierter, denn streng genommen habe ich da das Gefühl, mich nicht beschweren, nicht leiden zu dürfen, da es mir doch vergleichsweise echt okay geht. Genauso wenig darf ich mich aber glücklich oder okay fühlen, weil es anderen eben vergleichsweise viel schlimmer geht.

Und schließlich will ich doch solidarisch sein, eine Verbündete im Kampf gegen Diskriminierung, Unterdrückung und strukturelle Gewalt! Ich will die Probleme ansprechen, die Zustände hinterfragen, ich will doch etwas beitragen, zumindest ein winziges bisschen dafür sorgen, dass die Welt ein sicherer Ort für alle wird. Und das passt eben nicht zusammen mit so wohliger Me-Time in Schnörkelschrift, richtig? Solange sich das nicht alle Menschen herausnehmen können, steht es logischerweise auch mir nicht zu.

Es müssen also zuerst mal mindestens Patriarchat, Rassismus und Kapitalismus zerschlagen werden. Relativ viel zu tun, bevor ich mich offiziell besser fühlen darf. Relativ viel Belastung auch auf so einem einzigen Paar Schultern, oder? Ich fühlte mich ein bisschen wie in Die unendliche Geschichte, als dem Krieger Atréju – der noch ein Kind ist – gesagt wird, dass nur er allein die Kindliche Kaiserin und das ganze Land Phantásien retten kann – und muss, weil sonst nämlich alle sterben, und – ach ja! – leider gibt es weder Tipps noch irgendwelche Anhaltspunkte, wie er am besten an die Sache rangeht, bloß all seine Waffen abgeben muss er zuvor.3 Na, versuch nach einer solchen Aufgabenstellung doch mal, in Ruhe und ohne Schuldgefühle einen Tee zu trinken.

Um das gleich wieder aufzulösen, große Überraschung: Ich bin nicht Atréju! Und du auch nicht. Niemand ist Atréju. Diese Tatsache stellt überhaupt nicht infrage, dass wir uns natürlich weiterhin dafür einsetzen müssen, dass sich etwas verändert in unserer Gesellschaft und auf der Welt – womöglich lauter und stärker und mehr als je zuvor. Aber wir können und dürfen uns derweil auch um uns selbst kümmern. Ganz ehrlich, ich finde, wir müssen sogar – auch und gerade, um solidarisch mit anderen sein zu können.

Was mich angeht, ist es definitiv nicht so, dass ich eines Morgens aufgewacht bin und dachte: Mensch, vielleicht ist das alles ja doch kein Unsinn, ab heute geht’s los mit Self-Care, von nun an schenk ich mir Liebe, ein Lächeln und ein selbst gekochtes Mittagessen! Vielmehr bin ich schleichend in einen Prozess hineingeraten, von dem ich gar nicht mehr genau sagen kann, wie und wann er losgetreten wurde. Vielleicht während eines Gesprächs, vielleicht hab ich etwas gelesen, vielleicht bin ich zufällig auf etwas gestoßen, was ich in dem Moment gebraucht habe. Ein Anstoß, ein Schubser in die richtige Richtung. Es ist auch nicht so, dass ich jetzt alles fest im Griff habe – nicht einmal annähernd. Ich wurde weder erleuchtet, noch atme ich goldenes Licht, und ich befinde mich auch nicht in einem grinsenden Dauerzustand der Freude und Leichtigkeit – unter anderem weil es diesen Dauerzustand überhaupt gar nicht gibt.

Ich habe aber zum Beispiel verstanden, dass ich nicht nur nicht Atréju bin, sondern dass das auch niemand von mir verlangt. Dass es nicht meine Aufgabe ist, die ganze Welt zu stabilisieren – aber dass ich dennoch einen Teil dazu beitragen kann, indem ich zunächst mich selbst stabilisiere, um dann wiederum anderen bei diesem ganzen Stabilisierungsprozess helfen zu können. Noch mal kurz zurück zu Die unendliche Geschichte: Am Ende ist ja auch Atréju nicht allein. Nie allein gewesen! Die ganze Zeit über war da eben auch Bastian. Aber: Hätte Bastian Atréju in seiner durch und durch beschissenen Lage ausschließlich bemitleidet und sich seinetwegen bloß schlecht gefühlt – Phantásien wäre untergegangen! Glücklicherweise hat Bastian aber rechtzeitig gecheckt, dass er sich bloß einen neuen Namen für die Kindliche Kaiserin auszudenken braucht, um Atréju zu helfen und Phantásien zu retten.

So einfach ist es natürlich in der Realität nicht, aber ich will sagen: Es ist keine Solidarität, wenn wir uns schlecht fühlen, weil es anderen schlecht(er) geht. Es ist nicht konstruktiv und ändert exakt nichts am Unrecht in dieser Welt, wenn wir uns bloß in unseren Schmerz und Kummer über dieses Unrecht hineinsteigern – so verständlich das Verlangen danach manchmal auch sein mag, bei all der vermeintlichen Macht- und Hoffnungslosigkeit, die uns ständig vermittelt wird. Bei allem, was Tag für Tag so geschieht. Wenn du deswegen aber meinst, dich nicht um dich selbst kümmern und keine Freude mehr empfinden zu dürfen oder es nicht verdient zu haben, dich besser zu fühlen – dann gibt das all dem Unrecht, all dem Schlimmen, das ja ohnehin bereits existiert, bloß noch mehr Raum und noch mehr Macht. Nämlich die Macht über dich. Und das wiederum raubt dir die Hoffnung und hält dich letztlich davon ab, aktiv zu werden, dich mit anderen zu verbünden und tatsächlich Veränderung anzustoßen.

Nicht falsch verstehen: Es ist natürlich vollkommen nachvollziehbar, sich angesichts aller Tatsachen und Katastrophen dieser Welt hin und wieder hoffnungslos zu fühlen, verzweifelt und wütend zu sein. All diese Gefühle haben ihre Daseinsberechtigung (mehr dazu übrigens im entsprechenden Kapitel) und sollten auch tatsächlich gefühlt werden.

Es ist total verständlich, dass es dich fassungslos und traurig macht, wenn dir eine Person, die weniger privilegiert ist als du, von Diskriminierungs- oder Gewalterfahrungen erzählt – aber es hilft niemandem weiter, wenn du dich als Folge davon von deiner Fassungslosigkeit beherrschen lässt. Denn die Person, die sich dir anvertraut hat, soll ja nicht auch noch zusätzlich die Aufgabe bekommen, deine Emotionen zu verarbeiten. Ich habe das ein paarmal erlebt, wenn Menschen von Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichtet haben. Besonders cis Männer sind dann oft bestürzt und fassungslos. Anteilnahme ist natürlich erst mal schön und meist auch gut gemeint, es ist aber schlichtweg keine Solidarität, so sehr in Empörung zu versinken, dass sich daraufhin der Fokus verschiebt – und es auf einmal darum geht, diejenigen zu trösten, von denen sich eigentlich Unterstützung gewünscht wurde.

Darum geht es im Übrigen auch, wenn gesagt wird, dass Rassismus das Problem weißer Menschen ist – denn genau das ist es! Menschen mit weißen Privilegien müssen Verantwortung übernehmen und diese Arbeit erledigen. Es reicht nicht aus, sich über rassistische Polizeigewalt zu empören oder Rechtsextremismus ganz furchtbar zu finden – es gilt, sich mit dem eigenen, verinnerlichten Rassismus auseinanderzusetzen und ihn zu verlernen. Natürlich muss Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zugehört werden, aber es kann und darf nicht ihre Aufgabe sein, permanent weiße Tränen wegzuwischen – auch dann nicht, wenn es vermeintlich antirassistische Tränen sind, denn »natürlich bin ich auch gegen Nazis!«. Mit dieser Einstellung lässt sich sicherlich arbeiten, aber sie allein genügt einfach nicht, und sie macht noch keine Solidarität. Oder wie es Beth Pickens so treffend formuliert: »Anger isn’t action and misery isn’t solidarity.«4 (»Wut ist keine Handlung, und Elend ist keine Solidarität.«)

Solidarisch ist es zuzuhören, ernst zu nehmen, bereit zu sein, dazuzulernen und an dir selbst zu arbeiten. Nicht nur zu zeigen, dass du da bist, sondern tatsächlich da zu sein. Zu fragen: »Was brauchst du? Was kann ich tun, um dich zu unterstützen?« Und stell dir vor – solidarisch und für andere da sein kannst du auf die nachhaltigste und beste Art und Weise, wenn du nicht selbst schon am Ende deiner Kräfte angekommen bist. Wenn du zwischendurch innehältst und dir selbst genau diese Fragen stellst: »Was brauche ich? Was kann ich tun, um mich zu unterstützen?« Und dich hin und wieder daran erinnerst, dass du nicht und niemals allein dafür verantwortlich bist, die Welt zu retten.

Wie schlagen wir nun die Brücke – inwiefern ist Selbstfürsorge eine feministische Praxis? Oder wie genau sieht eine feministische Perspektive darauf aus? Natürlich ist es nicht ganz so einfach, dass du bloß möglichst schnell eine bestimmte Anzahl Schaumbäder zu nehmen brauchst, und schon leben wir im güldenen Zeitalter der Gleichberechtigung. Und wie gesagt, auch die wirksamste Gesichtsmaske wird nicht sämtliche Probleme und alles Unrecht dieser Welt abschälen. Nicht alles, was sich als selbstfürsorglich beschreiben lässt, ist per se feministisch oder ganz automatisch politischer Aktivismus. Nicht alles bewirkt sogleich gesellschaftlichen Wandel.

Aber es liegt eben durchaus eine nicht zu verachtende Menge an Macht darin, dich losgelöst von der kapitalistischen Wellness-Industrie mit dir selbst auseinanderzusetzen. Dich mit deinen Bedürfnissen zu befassen. Dich um dich selbst zu kümmern. Das bedeutet nämlich in erster Linie, dass du dir selbst Raum zugestehst, der dir von der Gesellschaft nicht unbedingt auf dem Silbertablett serviert wird. Schon ihn dir einfach zu nehmen, kann eine Form von Protest sein. Kann feministische Praxis sein. Kann antikapitalistische Praxis sein. Kann eine Routine werden, die dich Kraft tanken, durchatmen und bei dir ankommen lässt; die dir ermöglicht, mehr und mehr Vertrauen zu dir selbst zu fassen. Dir diesen Raum zuzugestehen, kann ein Aufbrechen von Glaubenssätzen und Mustern bewirken, die seit Jahrzehnten, Generation für Generation, weitervererbt worden sind – und die immer dafür gesorgt haben, die Bedürfnisse anderer ganz selbstverständlich über die eigenen zu stellen.

Um dir diesen Raum zu nehmen, musst du nicht warten, bis die Welt eine bessere ist. Genauso wenig musst du warten, bis sich dein womöglich eher negatives Selbstbild in pure Liebe und Dankbarkeit verwandelt hat. Du musst nicht schon vorher an einem gewissen Punkt angekommen sein, dich nicht erst selbst heiraten oder so was – es reicht schon, wenn du einfach erfahren möchtest, wie es sich anfühlt, dir diesen Raum zu nehmen. Es reicht, wenn du bereit bist auszuprobieren, dir selbst und auch deinem Körper mit etwas Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen. Wenn du dich wahrzunehmen versuchst, ohne sofort zu bewerten. Allein dadurch schaffst du einen selbstbestimmten Gegenentwurf zu äußeren Bewertungen, machst einen ersten Schritt in Richtung all dessen, was dir die Gesellschaft mit ihren festgesetzten Regeln und Normen womöglich nicht zuzugestehen bereit ist. Auf diese Weise übst du, dir selbst Wertschätzung entgegenzubringen, die an keinerlei Bedingungen geknüpft ist – und das allein ist inhärent feministisch.

Klar, das allein schützt leider nicht vor Diskriminierung, und es befreit auch nicht von bereits gemachten Erfahrungen – aber es ermöglicht dir zu üben, dich für wichtig genug zu halten, um Zeit in dich und dein Wohlergehen zu investieren – und zwar unabhängig davon, wie »produktiv« du gemessen an den absurden Standards der Leistungsgesellschaft gerade sein magst. Es bedeutet, dich mit dir selbst auseinanderzusetzen – und dich dadurch auch besser kennenzulernen. Und wenn du dich selbst und damit deine Kräfte besser einzuschätzen weißt, dann kannst du dich auch einfacher abgrenzen. Es fällt dir leichter, »Nein« zu sagen. Du ermächtigst dich selbst mehr und mehr dazu, mit deiner Energie hauszuhalten, eigene Entscheidungen zu treffen und die berühmten Zügel selbst in der Hand zu halten. Und das nicht etwa im Sinne von Kontrolle, indem du alle »negativen« Gefühle ausschaltest, nein, es geht vielmehr darum, dass du nicht von deinen Gefühlen beherrscht wirst, ihnen nicht ausgeliefert bist. Dass du herausfindest, wie du dich selbst in sämtlichen Lagen am besten unterstützen kannst. Selbstverständlich nicht zu dem Zweck, dass du möglichst schnell wieder »funktionierst« und »einsatzbereit« bist, nicht im Sinne einer »Optimierung« oder um dein altes, vermeintlich fehlerhaftes Ich hinter dir zu lassen. Und eben auch nicht, um dich nie wieder schlecht zu fühlen, um nie wieder müde zu sein und fortan nur noch voller good vibes aus dem Bett zu springen – es geht zunächst einmal darum, einfach müde sein zu dürfen, ohne dich selbst dafür zu verurteilen oder zu hassen. Aber eben auch darum, dass es dir besser geht und gehen darf – was wiederum eine Voraussetzung dafür ist, auf nachhaltige Weise für dich und andere einzustehen und dich längerfristig für etwas einzusetzen.

Das ist im Übrigen keine neue Idee: In den 1960er-Jahren begannen Wissenschaftler*innen, denjenigen eine selbstfürsorgliche Praxis zu empfehlen, die beruflich immer wieder mit Schmerz und traumatischen Ereignissen konfrontiert sind, beispielsweise Ersthelfer*innen, Feuerwehrleute oder Sozialarbeiter*innen. Zur selben Zeit betonten Schwarze Aktivist*innen des afroamerikanischen Civil Rights Movement das politische Potenzial von radikaler Self-Care – etwa im Hinblick darauf, dass von Rassismus sowie Armut betroffene Menschen einen wesentlich schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung hatten (und noch immer haben). Anhaltende Unterdrückung und Diskriminierung wirken sich direkt auf die mentale wie physische Gesundheit aus – weshalb es bereits eine Form von Widerstand darstellt, sich um genau diese zu kümmern. So betrachteten es auch führende Aktivist*innen der Black Panther Party wie etwa Ericka Huggins, die in den 1970ern mit Meditation und Yoga begonnen hat. Auch die Bürgerrechtlerin Angela Davis, selbst eine Zeit lang Black Panther-Mitglied, berichtet in einem AFROPUNK-Interview von 2018, dass sie während der Zeit ihrer Inhaftierung anfing, Yoga zu praktizieren.5

Für Menschen, die von Diskriminierung und struktureller Gewalt betroffen sind, geht es also darum, die eigene Widerstandsfähigkeit zu bewahren und zu stärken – und letztlich auch ums Überleben. Beziehungsweise um die Selbsterhaltung, wie es die Schwarze lesbische Feministin Audre Lorde im Epilog zu ihrem erstmals 1988 veröffentlichten Essay »A Burst of Light« geschrieben hat: »Caring for myself is not self-indulgence, it is self-preservation, and that is an act of political warfare.«6 (»Mich um mich selbst zu kümmern, ist kein Luxus, es ist Selbsterhaltung, und das ist ein politischer Kampfakt.«)

Die Art der Selbstfürsorge, um die es mir geht, lässt sich als progressiv beschreiben. Als subversiv im Sinne von: revolutionär. Als radikal im Sinne von: von Grund auf, umfassend, ganzheitlich. Und gemeint ist damit in erster Linie wahrscheinlich kaum etwas von all dem, was uns üblicherweise so als Self-Care oder Wellness verkauft wird. Nicht falsch verstehen – wenn du möchtest, kannst du natürlich all diese Schaumbäder nehmen, Peelingmasken auftragen, Räucherstäbchen anzünden und dazu noch autogenes Training machen. Nur: Es ist möglich, dass du all das tust – und dich immer noch selbst hasst dabei. Du kannst sogar für mehrere Wochen in ein Retreat fahren – und währenddessen die ganze Zeit über unglücklich sein. Selbstfürsorge ist nicht automatisch Selbstliebe – jedoch kann sie ein Ausgangspunkt auf dem Weg hin zu mehr Selbstliebe sein. Viele der gängigen Self-Care-Praktiken lassen sich als Werkzeuge begreifen, als eine Einladung: Es ist nicht das Schaumbad, der Spaziergang, die Tasse Tee an sich, die dafür sorgt, dass du dich besser fühlst – aber all das kann durchaus eine Übung darin sein, dir eine Pause zuzugestehen. Dich gut zu behandeln. Freundlich mit dir umzugehen. Und Zeit mit dir selbst zu verbringen. Mehr als um die Handlung selbst geht es also um ein Versprechen, eine Verpflichtung dir selbst und deinen Bedürfnissen gegenüber – sogar wenn du noch nicht ganz sicher bist, was deine Bedürfnisse denn konkret sind.

In jedem Fall soll radikale Selbstfürsorge nicht bloß ein Pflaster sein, nicht bloß für oberflächliche und kurzzeitige Verbesserung sorgen. Es geht hierbei um mehr als reine Symptombekämpfung – und das ist zugleich der größte Vorteil als auch das größte Problem. Es ist das, was uns die meiste Angst einjagen kann, denn wenn wir nicht bloß Symptome bekämpfen und oberflächlich agieren, dann müssen wir an die Ursachen ran. An die Wurzel. An unser Innerstes, möglicherweise. Das ist nicht immer angenehm, nicht unbedingt ein Spaziergang, im Gegenteil. Es kann kräftezehrend, furchteinflößend und schmerzhaft sein, es birgt gewisse Risiken – und es dauert. Es dauert ewig, im wahrsten Sinne des Wortes: Es ist ein nicht linearer und niemals endender Prozess. Aber einer, der sich trotzdem oder vielleicht sogar genau deswegen lohnt. Versprochen.

Radikale Selbstfürsorge. Jetzt!

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