Читать книгу Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat - Страница 10
VI
ОглавлениеDie Erste, die Torben und Julia freudig begrüßte, war Gertrud, der kleine Chihuahua des Professors, der ihnen schwanzwedelnd und laut kläffend entgegeneilte.
Torben schien dabei ihr besonderer Liebling zu sein, denn nachdem sie kurz seine Schuhe beschnüffelt hatte, zwackte sie ihn ein paar Mal in die Waden. Die offensichtliche Aufforderung zum Spielen war wegen ihrer kleinen, spitzen Zähne allerdings nicht ganz so spaßig, und Torben sah sich genötigt, den kleinen Racker auf den Arm zu nehmen, um sich dem Stöckchen werfen oder Herumtollen zu entziehen. Julia fand Gertrud natürlich sofort „herzallerliebst“ und kündigte an, sie selbst behalten zu wollen.
Das Bellen des kleinen Hundes, das die Ankunft von Fremden ankündigte, hatte längst die Aufmerksamkeit von einem guten Dutzend junger Leute erregt, die auf der kleinen Ausgrabungsstätte zwischen den riesigen Laubbäumen unterhalb der Burgruine arbeiteten. Neugierig geworden und den Anlass als willkommene Pause nutzend, klopften sie den Dreck von ihren Knien, kurzen Hosen und T-Shirts ab und blickten in ihre Richtung.
Levitt war anscheinend schon einmal hier gewesen, denn zielsicher schritt er, die interessierten Blicke ignorierend, auf ein etwas abseits im Schatten stehendes Wohnmobil zu, nicht ohne zuvor Torben und Julia zu bedeuten, ihm zu folgen.
Unter dem Vorzelt standen ein paar Klappstühle, halbvolle Getränkekisten und zwei Tische, die mit Kaffeebechern, Notizen und etlichen – historisch anmutenden – Karten, Luftbildaufnahmen und Büchern bedeckt waren. An der Tür des Campers angekommen, schlug Levitt mit der Faust zwei Mal kräftig gegen das Blech und sorgte so dafür, dass der Bewohner der Behausung kurz darauf seinen Kopf ins Freie steckte.
Es war dann auch Professor Meinert, der sie ähnlich herzlich wie sein kleiner Hund begrüßte. Nachdem er die beiden Stufen zu ihnen regelrecht heruntergesprungen war, um zuallererst Julia an sich zu reißen und innig zu drücken, wandte er sich Torben zu, ignorierte dessen ausgestreckte Hand und sagte: „Mein junger Freund, es ist so schön, Sie wieder zu sehen! Ich habe mir solche Sorgen um Sie gemacht! Nun kommen Sie her und umarmen Sie Ihren väterlichen Freund!“
Torben kam der Aufforderung gerne nach und hielt den mehr als siebzig Jahre alten Mann für einen Moment in seinen Armen. Er spürte, dass trotz des Lebensstils seines Besitzers der Körper noch immer kräftig – wenn auch im Bereich des Bauches wohl zu kräftig – war. Bei einem Pferd würde man sagen, es stehe gut im Futter und bräuchte dringend Bewegung. Der Professor trug sein Übergewicht aber mit Würde. Es passte zu ihm und der Lebensfreude, die er ausstrahlte.
Professor Meinert forderte sie sogleich auf, ihm ins Wohnmobil zu folgen, das trotz der Nachmittagshitze noch angenehm temperiert war.
Im Innenraum dominierten Beigetöne und durch die großen Fenster wirkte das Fahrzeug hell und freundlich. Einige der auch hier herumliegenden, handschriftlichen Aufzeichnungen und Folianten warf der Professor kurzerhand in die Spüle und mehrere Tablettenpackungen landeten achtlos in einer Schublade, um für seine Gäste ausreichend Platz zu schaffen. Fünf Erwachsene gleichzeitig aufzunehmen, stellte für das Wohnmobil nämlich eine größere Herausforderung dar. Und so presste sich wenig später Torben gemeinsam mit Julia, Levitt und dem Professor in die enge Sitzbank neben der Kochnische. Mosche hatte inzwischen die Aufgabe übernommen, Gertrud zu verwöhnen, und setzte sich mit ihr auf die Liegefläche eines der schmalen Betten, wo er trotzdem noch bedeutend mehr Platz als die anderen hatte. Torben schien die Enge aber wenig zu stören, nicht nur, weil es ein guter Vorwand war, sich an Julia zu schmiegen, sondern auch, da er sich so sehr freute, den Professor wiederzusehen.
„Zuallererst George, was um aller Welt machen Sie hier?“ Während er fragte, deutete Torben mit einer Hand durch die Fenster nach draußen.
Professor Meinert lachte: „Sie wollen wissen, was ich schon wieder in Thüringen suche?“
Torben nickte. Ihr Weg hatte sie tatsächlich erneut in das ostdeutsche Bundesland geführt. Als ihm Levitt das angekündigt hatte, glaubte er für einen kurzen Moment, dass der Professor vielleicht versuchen würde, doch noch in den ausgebrannten Bunker im Leinawald vorzudringen, in dem damals Meisterin Rema ums Leben gekommen war. Hier irrte er jedoch gewaltig, denn der Eingang zum Bunker war nicht nur längst verschlossen, sie befanden sich mittlerweile mehr als hundert Kilometer östlicher in einer kleinen Talsohle am Fuße der Burg Gleichen, einer mittelalterlichen Burgruine bei Wandersleben südöstlich von Gotha. Gemeinsam mit den wenige Kilometer entfernten Burganlagen Veste Wachsenburg bei Holzhausen und der Mühlburg bei Mühlberg gab sie einem bekannten mittelalterlichen Burgenensemble seinen Namen. Die sogenannten Drei Gleichen ragten aus dem Hügelland des Thüringer Beckens nicht nur weit sichtbar heraus, sie schienen auch die Spitzen eines riesigen Dreiecks zu bilden.
„Genauso wie Sie, mein Freund“, sprach der Professor inzwischen weiter, „brauchte ich nach unseren letzten Erlebnissen – sagen wir einmal – etwas Ablenkung. Und da uns ja die Behörden aus Gründen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zum Stillschweigen verpflichtet haben, was nicht heißt“, er flüsterte den nächsten Teil des Satzes, „dass ich nicht trotzdem alles aufschreibe, um es vielleicht später einmal zu veröffentlichen, habe ich unseren Freund Levitt um eine kleine Gefälligkeit gebeten.“
„Kleine Gefälligkeit ist gut!“, warf der Mossad-Agent daraufhin ein. „Ich musste einen erbitterten Kampf mit dem deutschen Verwaltungsapparat führen.“
„Aus dem Sie als strahlender Sieger hervorgegangen sind!“, erwiderte der Professor anerkennend und wieder mit lauterer Stimme. „Denn normalerweise benötigt man mehrere Jahre, nicht einige Wochen, um die erforderlichen Erlaubnisse und behördlichen Genehmigungen für archäologische Ausgrabungen in Deutschland zu erhalten. Von der Frage der Finanzierung will ich gar nicht sprechen. Vielen Dank nochmals!“
Just in diesem Moment ging die Tür des Wohnmobils auf und eine schlanke junge Frau in kurzer Khaki-Hose und eng anliegendem T-Shirt kam herein. Ihr Erscheinen sorgte dafür, dass Mosche wieder sein mittlerweile berühmtes strahlend-weißes Lächeln zeigte, das jeden dafür verantwortlichen Zahnarzt mit Stolz erfüllt hätte, sich aufrecht hinsetzte und Gertrud für ihn augenblicklich uninteressant wurde.
Eine ähnlich freudige Erregung ergriff den Professor und er sagte: „Ah, da bist du ja! – Darf ich vorstellen, Annabell Siewert, meine Tochter! – Anna, das sind meine Freunde, von denen ich dir erzählt habe – Julia Hartwig, Torben Trebesius, Simon Levitt und Mosche Shalev.“
Mit einem freundlichen „Hallo“ nickte sie jedem kurz zu und setzte sich dann neben den nun noch breiter grinsenden Mosche auf das Bett. Torben schätzte sie auf Mitte zwanzig. Der Professor musste sehr spät Vater geworden sein. Sie trug ihre blonden Haare modisch kurz und hatte eine kleine Stupsnase, auf der sich etliche Sommersprossen abzeichneten, mit denen sie irgendwie frech wirkte. Sie war Torben sofort sympathisch.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben, George. Und dann noch eine so hübsche!“, wandte er sich dem Professor augenzwinkernd zu, was ihm erneut von Julia einen kleinen Stoß in die Nierengegend einbrachte.
„Ich stamme aus seiner dritten Ehe. Meine Mutter und er …“
Weiter kam Annabell nicht, denn ihr Vater unterbrach sie: „Ach, wen interessiert das schon. Wo war ich vorhin? – Ach ja, mein kleines Ausgrabungsvorhaben.“
„Unser kleines Ausgrabungsvorhaben!“, verbesserte ihn seine Tochter sanft.
„Ja, ja, natürlich unsere Expedition. Du hast ja Recht. – Sie müssen wissen, Anna ist das schwarze Schaf der Familie und hat darauf bestanden, in die Fußstapfen ihres Vaters zu treten. Allerdings interessiert sie sich mehr für das Mittelalter.“
Anna präzisierte: „Frühmittelalter, um genau zu sein.“
„Von mir aus auch Frühmittelalter!“ Der Professor konnte es augenscheinlich überhaupt nicht leiden, ständig unterbrochen zu werden, und bedachte seine Tochter mit einem tadelnden Blick. Sie ignorierte dieses Zeichen jedoch und sprach längst weiter: „Man kann sagen, dass das Frühmittelalter im späten 6. Jahrhundert mit dem Ende der Völkerwanderung beginnt. Es ist von der Christianisierung und dem Aufstieg und Fall des Frankenreichs geprägt. Sie werden es vermutlich mit den Adelsgeschlechtern der Merowinger und Karolinger verbinden. Es endet etwa Anfang des 10. Jahrhunderts.“
„Danke, Annabell!“ Die Stimme des Professors klang mittlerweile etwas gereizt. Ein Lächeln seiner Tochter ließ den alten Mann aber schnell wieder dahinschmelzen und sein aufkeimender Unmut verflog. Torben vermutete, dass sie ganz genau wusste, wie weit sie bei ihrem Vater gehen konnte, ohne dass er tatsächlich böse auf sie wurde.
Julia schien an der Szene viel Spaß zu haben und hakte beim Professor nach: „Und was machen Vater und Tochter hier gemeinsam in dieser Einöde?“
Diesmal gelang es dem Professor tatsächlich, vor seiner Tochter zu antworten, denn er erklärte schnell: „Ganz einfach, wir suchen die Heilige Lanze! – Sie brauchen gar nicht so ungläubig zu schauen. – Erinnern Sie sich bitte! Als wir in Wien waren und nach einem weiteren Hinweis auf den Orden dieser elenden Priesterinnen gesucht haben, wurde uns zwar die Heilige Lanze mitsamt dem Reichskreuz, in dem sie früher transportiert wurde, vorgelegt, gleichzeitig haben wir jedoch auch erfahren, dass es sich dabei nur um eine Nachahmung handelte. Laut metallurgischen Untersuchungen konnte die in der Hofburg ausgestellte Lanze erst im 8. Jahrhundert angefertigt worden sein. Im Übrigen ist sie ja die Spitze einer karolingischen Flügellanze ohne Schaft, wie sie im Frühmittelalter bis etwa 1200 verwendet wurde. Verstehen Sie? Im Frühmittelalter!“
„Dann suchen Sie die Originallanze?“ Torbens Überraschung war nicht gespielt. „Und Sie vermuten sie hier?“
„Ganz recht, mein Freund! Was ich nicht wusste war, dass sich Anna schon während ihres Studiums intensiv mit diesem Thema beschäftigt hatte. Als ich von unserem letzten Abenteuer zurückkehrte und ihr verbotenerweise davon berichtete, wurde sie sofort hellhörig. Sie konnte mich davon überzeugen, dass das Originalrelikt wahrscheinlich hier verloren ging. Die Zeit war günstig, die Behörden, unter Zuhilfenahme von dem guten Levitt hier, um einen Gefallen zu bitten. Und so haben wir vor zwei Wochen mit etwas mehr als einem Dutzend Freunden, Studenten und wissenschaftlichen Hilfskräften angefangen, im Dreck zu wühlen.
Sie haben bestimmt die anderen zwei Burgen auf ihrer Anreise gesehen. Gemeinsam mit der Burg Gleichen, an deren Fuß wir uns gerade befinden, wurden alle zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert errichtet. Sie waren aber immer in der Hand unterschiedlicher Besitzer. Der Begriff, die Drei Gleichen, soll im Übrigen auf den Einschlag eines einzigen Kugelblitzes im Jahre 1231 zurückgehen, der alle drei Burgen gleichzeitig in Brand gesetzt haben soll.
Aber zurück zur eigentlichen Frage: Die Heilige Lanze begleitete als kaiserliches Insigne den jeweiligen Monarchen nicht nur auf Reisen, sondern gerade auf Kriegszügen, da sie dem Besitzer den Erfolg in der Schlacht sichern sollte. Ein unversöhnlicher Gegner von Kaiser Heinrich dem Vierten war der Markgraf Ekbert von Meißen der Zweite, der sich als Führer der sächsischen Adelsopposition 1088 zum Gegenkönig ausrufen ließ. Heinrich der Vierte ging deswegen gegen ihn vor und stellte ihn noch im selben Jahr mit seinen Truppen hier in der gerade neu errichteten Burg Gleichen, oder damals Gliche, was im Keltischen so viel wie Fels bedeutet.
Die Belagerung, die auch die Mühlburg umfasste, dauerte achtzehn Wochen und endete erst am Weihnachtsabend, als Ekbert der Zweite überraschend einen Ausfall mit seinen Männern machte und dadurch den Belagerungsring sprengte. Bei diesem Ausbruch kamen der Erzbischof von Köln namens Siegwin sowie Burkhard und Otto von Regensburg, die damaligen Bischöfe von Lausanne, ums Leben. Das ist insoweit von Bedeutung, weil in der historischen Überlieferung der Bischof von Lausanne das Amt des Lanzenträgers inne gehabt haben soll. Zwar teilten sich zu diesem Zeitpunkt offensichtlich zwei Brüder das Amt, da sie aber beide fielen und in dem Durcheinander der Schlacht und der anschließenden Flucht der kaiserlichen Truppen niemand an die Heilige Lanze dachte, vermuten wir, dass sie möglicherweise tatsächlich noch hier zu finden ist.
Denken Sie nur einmal, wie es hier ausgesehen haben muss: Der von der langen Belagerung aufgewühlte, sicherlich feuchte, vermutlich sogar schlammige Boden, in dem alles in der Dunkelheit hätte unbemerkt einsinken können. – Wäre die Lanze entdeckt worden, hätte Ekbert sie gewiss in seinem Sinne instrumentalisiert. Das blieb aber aus, und so tauchte erst Jahrzehnte später ein Duplikat wieder auf.“
Torben nickte anerkennend und sagte: „Das klingt wirklich außerordentlich spannend. Ich traue mich gar nicht, Ihnen zu sagen, warum wir eigentlich hergekommen sind.“
„Warum sollten Sie schon hier sein?“ Der Professor winkte ab. „Das ist doch offensichtlich! Sie haben zwei Agenten des Mossad im Schlepptau. Das sagt doch alles! Es geht wieder los! Sie haben sich endlich dazu entschlossen, den Orden zur Strecke zu bringen und ihn für seine Taten sühnen zu lassen. Und da Sie zu mir kommen, wird anscheinend mein helles Köpfchen gebraucht. – Nicht, dass Sie keines hätten, meine Liebe.“ Er tätschelte zärtlich Julias Unterarm, was diese mit einem kurzen Lidschlag beantwortete. „Um die Sache abzukürzen, Sie können auf mich zählen!“
„Vielen Dank für das Angebot, Professor“, antwortete Torben und ergänzte: „Das können wir aber nicht annehmen. Zwar hatten wir ursprünglich vor, Sie darum zu bitten, aber Ihre Anwesenheit wird hier gebraucht. Sie leiten eine Ausgrabung …“
„Die erst durch Einflussnahme des israelischen Staates ermöglicht wurde“, schaltete sich Levitt kurz in das Gespräch ein.
„Na, na, mein eiskalter Freund“, der Professor wandte sich dem Agenten zu, „Sie wollen mir doch nicht drohen?“
„Das würde mir nie in den Sinn kommen.“
„Braucht es auch nicht!“ Professor Meinert schlug mit der geballten Faust kurz auf den Tisch, der darunter gefährlich ächzte, und verkündete: „Die Lanze kann warten! Das tut sie ja schon seit Jahrhunderten! Natürlich bin ich wieder mit von der Partie.“
„Und ich auch!“ verkündete Anna mit fester Stimme.
Der Professor sah, wie Torben Widerspruch äußern wollte, hob deswegen kurz die Hand und bemerkte in seine Richtung: „Vergessen Sie es! Wenn sie sich einmal etwas in ihren hübschen Dickkopf gesetzt hat, kann sie niemand mehr davon abbringen. Das können Sie mir glauben! Ich weiß gar nicht, von wem sie diese Eigenschaft geerbt hat.“ Er grinste. „Außerdem habe ich ihr die ganze Geschichte erzählt. Sie stand selbst bis vor kurzem unter Polizeischutz, als der Orden die Leben unserer Familien bedrohte. So oder so wissen die Priesterinnen von ihrer Existenz. Lieber habe ich sie bei mir, als sie irgendwo ungeschützt in der Wildnis zu wissen. Außerdem kann sie uns helfen, wenn das Gedächtnis eines alten Mannes versagt. – Also, was haben Sie für mich?“