Читать книгу Germanias Vermächtnis - Swen Ennullat - Страница 7
III
ОглавлениеTorben saß auf der Rückbank einer dunklen Mercedes Limousine. Julia, die ihre Augen geschlossen hatte, befand sich nicht einmal eine Armlänge entfernt und er hätte sie so gerne berührt. Aber soweit waren sie noch lange nicht.
Ihr Gespräch am gestrigen Abend hatte, nachdem sie ihm das Sterbedatum seiner Tante mitgeteilt hatte, nur noch einige Minuten gedauert. Sie hatte ihm lediglich noch eröffnet, dass sie hofften, heute Margot auf dem Friedhof zu stellen, falls sie an das Grab ihrer verstorbenen Geliebten zur Andacht kommen sollte. Danach hatte sie ihn mit Verweis auf ihre Jetlag-bedingte Müdigkeit allein in seinem Zimmer zurückgelassen.
Unter der Dusche waren seine Selbstzweifel zurückgekehrt. Doch er hatte auch so etwas wie einen Funken Hoffnung gespürt, eine Zuversicht seine Beziehung zu Julia betreffend. Er kannte sie schon seit seinem siebzehnten Lebensjahr. Vor zehn Jahren hatte er sich aus rein egoistischen Gründen von ihr getrennt. Heute wusste er, dass er damit vermutlich den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Aber vielleicht bekam er jetzt eine zweite Chance.
Als er wenig später mit der Hand das Kondenswasser vom Badezimmerspiegel wischte, um sich endlich wieder einmal zu rasieren, fühlte sich das beinahe wie ein kleiner Neuanfang an. Es war fast, als trennte er sich mit den Bartstoppeln von einem Teil seines alten Lebens. Unbewusst verzichtete er danach – das erste Mal seit Wochen – sogar auf seinen abendlichen Schlummertrunk und ging gleich zu Bett.
Er wurde unsanft aus seinen Gedanken gerissen. Levitt und Mosche kehrten zurück und stiegen ins Auto ein. Das Zuschlagen der Türen sorgte dafür, dass Julia ihre Augen wieder öffnete und sich aufrecht hinsetzte.
Levitt wandte sich ihnen zu: „Sehen Sie das dunkelgrüne Eisentor, auf der rechten Seite?“ Torben und Julia nickten. „Es ist der einzige Eingang zum Friedhof. Es wurde gerade aufgeschlossen. Der Friedhof hat jetzt bis 19 Uhr geöffnet. Also stellen Sie sich schon mal auf eine längere Wartezeit ein, und machen Sie es sich bequem. Hoffen wir, dass die Priesterinnen sentimentaler sind, als man ihnen auf den ersten Blick zutrauen würde. – Und Torben, Sie sind der Einzige von uns, der Margot kennt. Das heißt …“
„Ich weiß, was das heißt!“
Mit Torbens ruppiger Bemerkung endete auch das Gespräch. Offensichtlich war keinem von ihnen nach weiterem Reden zumute. Es war 8.03 Uhr morgens.
Während Torben sich gerade ausmalte, wie er Margot stellen und was er ihr sagen würde, vertrat sich Julia wenig später mit Mosche die Beine. Als Torben sie mit einigen Croissants sowie gefüllten Kaffeebechern zurückkehren sah und bemerkte, wie ungezwungen sich der junge Mossad-Agent mit ihr unterhielt, ja fast schon flirtete, und es sogar schaffte, sie zum Lachen zu bringen, spürte er erst, welch langer Weg noch vor ihnen lag. Julia und er waren weit davon entfernt, wieder unbefangen miteinander umzugehen.
Die Sonne kletterte langsam aber stetig immer höher und sorgte dafür, dass sich der Innenraum der Limousine zunehmend aufheizte, sodass sie bald alle Fenster öffneten, um zumindest etwas kühlenden Luftzug zu haben. Etwa ab 9 Uhr besuchten die ersten Menschen den Friedhof. Meist waren es ältere und vom Leben gebeugte Männer und Frauen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad kamen. Torben stellte sich jeden einzelnen von ihnen vor, wie sie anschließend an den Gräbern ihrer Lieben standen und im Stillen zu ihnen sprachen.
Gerade als seine Gedanken zu seiner Mutter abschweifen wollten, stieß ihn Julia leicht von der Seite an und zeigte auf einen ankommenden dunkelblauen Audi A6, der dreißig Meter von ihnen entfernt einparkte. Levitt und Mosche bemerkten ihn auch und Letzterer begann unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen.
Der Fahrer verließ kurz darauf den Wagen, öffnete eine der hinteren Türen und half einer Frau in einem dunkelgrauen Kostüm beim Aussteigen. Noch bevor sie ihr Gesicht sehen konnten, wusste Torben, dass es tatsächlich Margot war. Er sagte: „Ihr hattet Recht! Das ist sie!“
„Sind Sie sich vollkommen sicher, Torben? Vielleicht sollten wir sie näher herankommen lassen!“, zweifelte Levitt.
„Ich bin mir zu einhundert Prozent sicher! Das ist Meisterin Margot!“, antwortete er mit einem grimmigen Ton in seiner Stimme. „Und sie wird uns jetzt zum Orden führen!“
„Nicht so schnell! Sehen Sie, der Chauffeur begleitet sie auf den Friedhof!“, gab Mosche rasch zu bedenken.
Torbens Hand lag jedoch bereits auf dem Türöffner der Wagentür und er erwiderte: „Das ist mir egal! Ich spreche sie einfach an! Was will sie schon machen, mich am helllichten Tage erschießen und wegrennen? Sie wird mit mir reden müssen!“
„Dann sollten Sie wenigstens eine Schutzweste tragen! Wir haben welche im Kofferraum!“, forderte ihn Levitt auf.
Torbens Antwort bestand nur aus zwei Worten: „Zu spät!“ Noch während er diese aussprach, entriegelte er die Tür, trat auf die Straße und ließ Julia mit zwei derb fluchenden Mossad-Agenten hinter sich zurück.
Margot hielt einen Strauß weißer Dahlien in der Hand und betrat mit ihrem Fahrer, einem circa einen Meter neunzig großen, athletisch wirkenden Mann mit dunklem Teint und nach hinten gegeltem Haar, den Friedhof. Torbens Abstand zu ihr betrug weniger als dreißig Meter und er folgte ihr zügig, um die Entfernung nicht noch größer werden zu lassen. Als er sah, wie sie einen kleinen Weg auf der rechten Seite einschlug, der unter einigen alten und schattenspendenden Platanen hindurchführte, beschleunigte er seine Schritte noch mehr. Links und rechts des Pfades reihten sich moderne Grabsteine genauso wie verwitterte Putten und brüchige Steinkreuze, aber nichts davon konnte jetzt sein Interesse wecken oder ablenken. Er wollte nur noch eines: Margot stellen und dazu zwingen, ihm seine Fragen zu beantworten. Und je näher er diesem Ziel kam, umso mehr Adrenalin strömte durch seine Adern.
Das Knirschen des Sandes unter seinen Füßen, das seinen schnellen Schritt verriet, erregte wenig später die Aufmerksamkeit von Margots Begleiter. Er drehte sich zu ihm um, aber Torben war bereits zu nah und drängte einfach an ihm vorbei. Bevor der Leibwächter reagieren oder etwas sagen konnte, umrundete er auch Margot und stellte sich der sichtlich überraschten Priesterin in den Weg und begrüßte sie mit einem: „So schnell sieht man sich wieder!“
Der Bodyguard wollte Margot sofort von Torben wegziehen, aber seine Schutzperson überwand sehr schnell ihren ersten Schock, erhob die Hand und sagte: „Schon gut, Tim! Ich kenne diesen Mann!“
Der so Angesprochene schien trotzdem unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Er musterte Torben offen feindselig und antwortete: „Madam, wollen Sie wirklich mit ihm reden? Ich könnte …“
„Nein, nein, es ist schon gut! Es ist ein alter Bekannter, den ich lange nicht gesehen habe. Ich war nur etwas überrascht, ihn hier anzutreffen. Wir werden ein Stück gemeinsam gehen, um uns ungestört zu unterhalten. Sie können uns ja mit etwas Abstand folgen.“ Widerwillig nickte Tim und zog sich einige Meter zurück. Aus den Augenwinkeln heraus sah Torben, wie er aus der Innentasche seines Jacketts ein Handy zog und eine Nummer wählte.
Margot ergriff Torbens Arm und zog ihn weg. Sie sagte mit einem Seufzen: „Zwar wüsste ich gerne, wie Sie mich gefunden haben, aber für die Beantwortung dieser Frage wird keine Zeit bleiben.“ Sie deutete mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung ihres Kopfes in Tims Richtung und sprach weiter: „Er wird die anderen informieren. Wir müssen uns also beeilen.“
Während des Gehens musterte sie von der Seite kurz sein Gesicht. „Das erinnert mich an unsere letzte Begegnung. Offenbar haben wir nie viel Zeit für unsere Gespräche.“ Sie lächelte. „Es ist schön, dass Sie noch am Leben sind!“
„Das habe ich nicht dem Orden zu verdanken!“, knurrte Torben wenig charmant zurück. Die fast schon liebenswürdige Reaktion seiner Kontrahentin irritierte ihn, sorgte jedoch dafür, dass sich seine Nerven etwas beruhigten und seine Anspannung von ihm abfiel. Zumindest war sie bereit, mit ihm zu sprechen.
Derweil nickte Margot und führte ihn weiter. „Ich kann Sie verstehen. Dann lassen Sie es mich so formulieren: Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal begegnen würden, aber ich freue mich umso mehr, Sie zu sehen!“
Wie zur Bekräftigung ihrer Aussage spürte Torben, wie sich ihr Händedruck auf seinem Arm kurz verstärkte.
„Sie freuen sich? Tatsächlich? Das ist gut, denn Sie werden mir eine Menge Fragen beantworten müssen!“
„Sie wissen, dass ich das nicht kann!“
Torben blieb stehen und zwang Margot dadurch, das Gleiche zu tun. „Hören Sie endlich auf, an diesem Punkt waren wir doch bereits einmal! Seitdem habe ich eine Menge selbst herausbekommen! Ich weiß zum Beispiel von der Flucht der schwangeren Eva Braun aus dem eingeschlossenen Berlin! Mein Großvater hat dieses Entkommen erst möglich gemacht, nicht wahr? Ich habe eine Vermutung und möchte wissen, ob sie der Wahrheit entspricht!“ Er machte eine Pause, bevor er mit gedämpfter Stimme fragte: „Also, Meisterin Rema, die mit aller Macht meinen Tod wollte, bevor sie in diesem Bunker in Thüringen umkam, war sie die gemeinsame Tochter von Eva Braun und Adolf Hitler?“
Margot ließ sich mit ihrer Antwort Zeit. Torben wollte gerade noch eindringlicher nachfragen, als sie seine Vermutung doch noch mit einem kurzen Kopfnicken bestätigte und leise ergänzte: „Das werden Sie aber nie beweisen können!“
„Wieder falsch! Sie werden es bezeugen! Mit Ihrer Aussage bringe ich den Orden zu Fall und jeden, der an dem Tod meiner Mutter und von Michael Anteil trägt! Man wird Sie alle verhaften!“, triumphierte Torben.
„Glauben Sie wirklich, Sie könnten dem Orden drohen oder ihn gar zerschlagen? Haben Sie immer noch nichts über Die Gemeinschaft gelernt?“
„Die Gemeinschaft? So nennen Sie sich also?“
Margot nickte erneut. „Einige wenige, zu denen ich selbst zähle, sprechen meist nur von Der Gemeinschaft. Andere nennen den Orden auch Die Hüterinnen oder Die Bewahrerinnen. Letztendlich haben wir viele Namen.“ Sie setzte erneut zum Weiterlaufen an und zog ihn wieder mit sich.
Torben wusste bereits, dass Margots Gemeinschaft von einem zwölfköpfigen Ältestenrat namens Die Oberen geführt wurde, dem die Meisterin aufgrund ihrer herausragenden Stellung selbst angehörte.
Er ging weiter und bemerkte, dass der hinter ihnen befindliche Tim zwar nicht mehr telefonierte, sie aber keinen Moment aus den Augen ließ. Torben würde also weiterhin ganz genau aufpassen müssen, was um ihn herum passierte. Verstärkung, sollte sie denn gerufen worden sein, wäre aber sicherlich nicht innerhalb von wenigen Minuten hier. Außerdem gäbe es dann noch Levitt und Mosche, die ihm sicherlich zu Hilfe eilen würden.
Und so ging er langsam mit der Meisterin, als wären sie enge Verwandte oder gute Bekannte, die sich bei einem schweren Gang gegenseitig stützten, durch die schmale Allee in Richtung einer kleinen, vom Sonnenlicht hell erleuchteten Lichtung, die von einer Ginsterhecke umgeben wurde. Als sie die Wiese betraten, blieb die Meisterin nach einigen Schritten stehen und legte vorsichtig die Dahlien ab. Sie senkte kurz den Kopf und flüsterte: „Hilde, ich bin hier und ich habe deinen Neffen mitgebracht!“
Torben zögerte. Hier war also die Asche seiner Tante beigesetzt worden. Er war etwas durcheinander und wusste in diesem Moment nicht, was er sagen sollte. Obwohl er damit hätte rechnen müssen, in genau so eine Situation zu geraten, fehlten ihm schlichtweg die Worte.
Dafür setzte Margot das Gespräch fort: „Ich wusste, dass ein gewisses Risiko bestand, heute hier zu erscheinen. Aber in den letzten acht Jahren war ich an jedem ihrer Todestage hier und nichts in der Welt hätte mich davon abhalten können, auch heute herzukommen.“
Ein Windstoß fuhr ihr durch die Haare, und sie schloss kurz die Augen, als verbinde sie dies mit einer alten Erinnerung.
Als sie Torben wieder ansah, lächelte sie und erzählte weiter: „Sie müssen wissen, Hilde und ich, wir liebten beide die Nordsee. Dieser regelmäßige Wechsel von Ebbe und Flut, diese unbändige Kraft; Zeiträume, in denen man Dinge sehen kann, die kurz darauf wieder unter der Oberfläche für alle Blicke verborgen sind.
Es war wie mit uns. Gefühle, die wir sonst vor aller Welt versteckten, konnten wir hier zumindest teilweise ausleben. Wir haben unsere schönsten gemeinsamen Stunden an diesem Ort verbracht.“
Margot blinzelte kurz in die Sonne, bevor sie weitersprach: „Auf Meldorf sind wir eher zufällig gestoßen. Der Orden war gerade nach dem Krieg sehr stark im Norden der Republik, besonders in der Region um Neustadt in Holstein. Die Kureinrichtungen boten sich regelrecht dafür an, dass die Anhänger der Gemeinschaft dort arbeiten und untertauchen konnten. Eine Zeitlang lebten wir auch dort. Alle Freunde und Bekannte, die wir damals hatten, zog es in ihrer Freizeit natürlich an die nahegelegene Ostseeküste, Sie wissen schon, zum Baden und Faulenzen an die langen Sandstrände.
Von unserer Liebesbeziehung durfte natürlich keiner etwas wissen. Das hätte man im Orden nie geduldet und uns unverzüglich voneinander getrennt. Offiziell war Hilde mein Leben lang immer nur meine Schwester und Assistentin, obwohl manche sicherlich etwas ahnten. Grundsätzlich waren wir aber sehr vorsichtig. Wir trafen uns manchmal sogar mit Männern oder flirteten unter aller Augen mit Geschäftspartnern.
Um uns wenigstens einmal unbeobachtet und ungezwungen bewegen zu können, fuhren wir eines Tages aus einer Laune heraus einfach Richtung Westen, weit weg von der Ostsee und dem Korsett, das uns einzwängte. Nach einhundert Kilometern fühlten wir uns relativ sicher, nicht zufällig auf einen unserer Freunde zu treffen. Wir fanden uns in Meldorf wieder und sahen uns das alte Marienkloster an. Wahrscheinlich haben wir uns sofort in die Ruhe und vor allem die Abgeschiedenheit des Ortes verliebt. Im Laufe der Jahre kamen wir immer wieder hierher. Es war nur selbstverständlich, Hilde hier zur letzten Ruhe zu betten.“
Etwas gefiel Margot nicht an dem Dahlienstrauß, und so bückte sie sich und ordnete die Blumen neu.
Zufrieden mit dem Ergebnis war wieder Zeit, das Gespräch mit ihrem Begleiter fortzusetzen. „Wissen Sie, Torben, an der Küste werden sie manchmal auf sogenannte Friedhöfe der Namenlosen stoßen, alte Begräbnisstätten für Menschen, die bei Sturm durch das aufgewühlte Wasser von Bord ihrer Schiffe gerissen und tot an Land gespült wurden. Wenn man die Leichen fand, setzten die Küstenbewohner sie zwar bei, ihre Namen blieben aber in der Regel für alle Zeiten unbekannt.
Hilde hat sich manchmal mit diesen armen Seelen verglichen. Sie war von ihrer wahren Familie getrennt, ohne Hoffnung auf Rückkehr. Nach dem Tod meiner Mutter wusste außer mir niemand mehr, wie sie wirklich hieß oder woher sie stammte. Dieser Umstand bedrückte sie sehr. Nur deshalb habe ich sie hier anonym beerdigen lassen. Ich wollte nicht, dass auf ihrem Grabstein bis in alle Ewigkeit eine Lüge steht. Es reicht schon, dass sie ihren richtigen Namen in dieser Welt nicht tragen konnte.“
Margot stöhnte auf, und Torben sah das Schimmern in ihren Augen. Sie fing sich jedoch rasch, streckte ihren Rücken durch und sagte: „Genug davon! Deshalb sind Sie nicht hier! – Also Torben, was wollen Sie wissen? Für mich ist es jetzt sowieso vorbei und ich werde vermutlich bald vor meine Schöpferin treten.“
Torben hatten Margots Worte, als sie von seiner Tante gesprochen hatte, tiefer bewegt, als sie vielleicht vermuten würde. Ihre Trauer war – genauso wie seine eigene über den Verlust seiner Mutter – aufrichtig und in ihrer Stimme hatten Liebe und Wärme geklungen. Er fühlte sich ihr fast verbunden. Sie beide hatten Menschen geliebt, die zur selben Familie gehörten.
Er musste sich daher regelrecht zwingen, erneut seine Fragen zu stellen. Aber nach einem kurzen Räuspern begann er endlich, zum ursprünglichen Thema zurückzukehren: „Rema war Eva Brauns Tochter und hat den Orden quasi geführt, richtig?“
„Grundsätzlich kann ich Ihnen zustimmen, der Orden wird aber nicht von einer Einzelperson beherrscht.“
„Gut, dann formuliere ich es anders: Sie haben damals angedeutet, dass eine der Meisterinnen alle anderen gegen mich aufgebracht hat. War das Rema?“, präzisierte Torben seine Frage.
„Ja, das stimmt! Die meisten von uns sehen uns nicht in der Tradition von Racheengeln und bevorzugen, wie Ihnen sicherlich nicht verborgen geblieben ist, eine Form des Agierens, die keinerlei Aufsehen erregt!“
„Also war letztendlich Rema für das Töten verantwortlich – Konrad Reiher, Michael, meine Mutter und alle anderen? Sie hat Nicole beauftragt?“
Margot nickte.
„Dann ist es vorbei!“, resümierte er erleichtert, wenn auch etwas ungläubig.
Dieses Mal schüttelte die Meisterin allerdings den Kopf und sagte: „Ich bedauere, ganz das Gegenteil scheint der Fall zu sein.“
„Wie meinen Sie das? Rema ist tot, alle anderen Mitglieder des Ordens wollten die Gewalteskalation nicht! Das haben Sie doch eben gesagt!“
„Ich sprach nur von den Ältesten. Wobei das Wort Älteste nur die Stellung, nicht das Lebensalter meint. Aber ja, es stimmt, wir lehnen gewaltsame Lösungen grundsätzlich ab, sehen sie meist nur als letzten Ausweg. Ich habe Ihnen aber in Bad Mergentheim auch erzählt, dass etwas in Gang gesetzt wurde, dass niemand mehr aufhalten oder verhindern kann, eine Entwicklung, die durch Remas Tod nur noch beschleunigt wurde!“
„Wie meinen Sie das?“ Torbens Beunruhigung wuchs wieder.
„Remas Nachfolge ist bereits geregelt. Sie hatte eine Tochter, die seit Jahren auf diese Rolle vorbereitet wurde. Ihr Name ist Riva. Sie hat jetzt die Führung des Ordens übernommen. Und auch sie ist von Rache beseelt!“
Torbens Magen verkrampfte sich. Hinter ihm klingelte ein Handy. Es gehörte Tim, der offenbar einen Anruf bekam. Torben konnte dem aber im Moment keine weitere Beachtung schenken und hakte stattdessen bei der Meisterin nach: „Also rüstet Riva, das war doch ihr Name, jetzt zu einer Art Gegenschlag? Will sie meinen Tod? Wird sie auch Julia und den Professor jagen oder die Familien unserer Freunde?“
Margot schüttelte energisch den Kopf: „Nichts dergleichen! Sie haben es immer noch nicht verstanden! Den Orden zeichnen zwei Prinzipien aus. Das erste besteht darin, unauffällig im Hintergrund zu bleiben, im Verborgenen zu agieren. Und das zweite ist, alles für eine Herrschaftsform, ein staatliches Machtgefüge, zu tun, das unseren Interessen dient und sie gleichzeitig schützt. Bei beiden Zielen spielen Sie und Ihre Freunde keine Rolle!“
„Soll das heißen, ich bin Ihnen egal?“ Torben war verwirrt.
„So würde ich das nicht ausdrücken. Riva werden Sie nicht gleichgültig sein. Aber sie stellt Sie vorerst hinter andere, wichtigere Entwicklungen zurück.“
„Oh, wie großzügig!“, bemerkte Torben sarkastisch und fragte Margot: „Und was verdrängt den Wunsch, mich tot zu sehen?“
„Ganz einfach“, antwortete die Meisterin und taxierte fest seinen Blick, „die Aussicht auf ein neuerliches Erstarken unserer Macht, in einer Form, die keines von den jetzt lebenden Mitgliedern je gekannt hat.“
„Was soll das nun wieder heißen?“, tadelte Torben. „Sie sprechen in Rätseln!“
Margot zeigte ein geheimnisvolles Lächeln und antwortete: „Ich rede von der Einleitung eines politischen Umsturzes! – Da wir nach der ganzen Aufregung um Ihre Person und den Ereignissen im Leinawald in Thüringen vermutlich kein wirkliches Geheimnis mehr sind, ist es für uns an der Zeit, gemeinsam mit unseren Verbündeten für unsere Sache aktiv zu werden!“
„Reden Sie von einer Revolution? In Deutschland?“ Torben zweifelte.
„Ich rede von einer Verschiebung der Macht!“, antwortete Margot und ergänzte: „Wie Sie wissen, haben wir germanische Wurzeln. Deutschland gilt dadurch natürlich unser besonderes Interesse. Es geht aber über die derzeitigen exakten Staatsgrenzen hinaus.“
„Langsam, langsam! Bevor wir zu den Staatsgrenzen kommen, bleiben wir bitte zuerst bei den Verbündeten! Wer sollen die sein?“ „Ganz einfach, Menschen und Organisationen, die ebenso wie wir im Verborgenen ihre Wunden geleckt haben und langsam wieder erstarkt sind!
Eine dieser Gruppen haben wir ganz besonders an uns gebunden, denn sie wird mittlerweile von Rivas Zwillingsbruder, Ruben, geführt! – Sie haben richtig gehört, Rema hatte zwei Kinder, Zwillinge! Beide sind die direkten Nachkommen Adolf Hitlers! Sie sind genetisch nahezu identisch, gezeugt von einem extra dafür ausgewählten deutschen Mann und geboren von einer germanischen Priesterin! Sagt Ihnen das Lebensborn-Projekt etwas?“
Torben schüttelte kurz den Kopf.
„Nein? – Egal!“, Margot winkte ab. „Was würden Sie sagen, wenn diese Kinder vielleicht kurz davor stehen, wieder die Macht in Deutschland zu übernehmen?“
„Dann würde ich sagen, wir sollten schnellstens aus der Sonne gehen! Ich glaube, Sie halluzinieren von imperialen Großreichsphantasien! Und Ihr gesamter Orden anscheinend auch!“
Als Antwort auf seine Bemerkung schenkte ihm die Meisterin nur ein mildes Lächeln. Plötzlich verengten sich ihre Augen, und sie starrte irgendjemanden oder irgendetwas über Torben hinweg an. Ihr Mund öffnete sich und sie rief: „Tim, nein …“
Torben spürte den Luftzug des Projektils im gleichen Moment als er den Knall des Schusses hörte. Die Kugel schlug in Margots Oberkörper ein und riss sie abrupt von ihm weg. Als er sah, wie sie leblos zu Boden stürzte und dabei die Dahlien unter sich begrub, drehte er sich wie in Trance zu dem Schützen um. Er konnte erkennen, wie Tim die Pistole in seine Richtung schwenkte. Gelähmt vor Angst und unfähig zu reagieren, sah Torben sein Leben an seinem inneren Auge in einem Sekundenbruchteil buchstäblich vorbeiziehen: eine lachende, vielleicht achtzehnjährige Julia, seine Mutter beim Kuchenbacken, ein Schulausflug in einen Tierpark, Camping mit seinen Eltern, Freddy, sein kleiner, schwarzer Kater, den er als Siebenjähriger sein Eigen nannte, und einige Momentaufnahmen mehr.
Zu seiner großen Überraschung brach aber nicht er getroffen zusammen, sondern Tim wurde, bevor er die Waffe erneut abfeuern konnte, regelrecht in die Ginsterhecke am Wegesrand geschleudert. Plötzlich sah Torben Levitt und Mosche vor sich und begriff, dass sie ihrer kleinen Gruppe nicht nur unentdeckt gefolgt waren, sie hatten zielgerichtet das Feuer erwidert und dadurch sein Leben erneut gerettet.
Noch immer war er aber wie erstarrt und hatte den Eindruck, dass er das ganze Geschehen als Zuschauer und körperloses Wesen außerhalb seines Leibes verfolgte. Er sah zu, wie Mosche angerannt kam, sofort Tims Knöchel packte und den Körper aus der Hecke zog, um kurz darauf in Richtung seines Kollegen den Kopf zu schütteln. Er sah auch, wie Levitt danach seine Waffe wegsteckte, die er bis dahin noch immer im Anschlag gehabt hatte, und auf Torben zuging. Er baute sich vor ihm auf, fasste seine Schultern und fragte betont ruhig: „Torben, hören Sie mich? Sind Sie verletzt?“
Das sorgte endlich dafür, dass der sich aus seiner Starre löste und den Kopf schüttelte. „Nein … Ich glaube nicht …“
„Gut!“ Levitts Stimme verlor ihren angenehmen Klang. Er ließ ihn los. „Und genau für diese Fälle verlange ich von Ihnen, dass Sie eine Schutzweste tragen! Haben Sie das endlich begriffen? Das nächste Mal tun Sie das, was ich Ihnen sage! Verstanden?“
Torben stieß zwar ein kehliges „Ja, ja“ aus, beachtete aber den Mossad-Agenten nicht weiter, sondern wandte sich Margot zu. Mosche kniete schon bei ihr und öffnete ihr Blouson. Ein sich schnell auf ihrem Bauch ausbreitender dunkelroter Fleck und ihre weiße Gesichtsfarbe ließen nichts Gutes verheißen. Als Torben ihre Hand ergriff, merkte er förmlich, wie das Leben langsam aus ihrem Körper entwich. Suchend wandte er sich an Mosche, aber dieser schüttelte nur mitfühlend mit dem Kopf. – Oh Gott, wie er dieses Kopfschütteln hasste! – Hinter sich hörte er, wie Levitt mittlerweile telefonierte und jemandem am anderen Ende der Leitung die Art der Verletzung beschrieb. Torben ahnte jedoch insgeheim längst, dass der Rettungsdienst zu spät eintreffen würde.
Als er Margot genauer ansah, gewann er den Eindruck, als lächelte sie. Es war verrückt, aber fast schien es, als wäre sie zufrieden. Ihre Lippen formten offenbar Wörter und er rückte näher an sie heran, um sie zu hören. Als er sie immer noch nicht verstehen konnte, beugte er seinen Kopf soweit über ihr Gesicht, dass sein linkes Ohr schon fast ihren Mund berührte. Erst jetzt vernahm er ihre leise, zerbrechliche Stimme. „ … alles gut mein Junge … bin bei Hilde … bester Ort zu … will auch hier …“
Das Sprechen zog ihr noch schneller die Kraft aus dem Körper. Torben gestand sich ein, dass dies wahrscheinlich die letzten Augenblicke in Margots Leben waren, und ob nun Angehörige des Ordens oder nicht, sie sollte friedvoll einschlafen, einen würdigen Tod finden. Er legte ihr die Hand auf die Brust und hielt sie gleichzeitig fest. „Alles ist gut! Ich werde dafür sorgen, dass Sie auch hier beerdigt werden, sodass Sie neben Hilde liegen. Sie werden für immer zusammen sein.“
Als Margot das hörte, schloss sie kurz ihre Augen und deutete ein Nicken an, als Zeichen, dass sie verstand.
Ihr Gesicht wirkte zunehmend fahler, aber plötzlich bewegte sie erneut ihre Lippen. Torben versuchte abermals, die Wörter zu verstehen, aber es waren nur noch wenige Silben, die sie ihm als Vermächtnis hinterließ, bevor sie in das nächste Leben hinüberglitt.