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Herr K.

Seit ich vor Jahren fortzog aus Leipzig, blieb eine Ortsbindung hartnäckig bestehen. Trotz der Überfülle an Kontakten von Neunzehnhundertneunundachtzig an, bei der Erstürmung der Staatssicherheit, am Runden Tisch, in mitbegründeten Initiativen,1 erinnerte ich doch meistens eher die endlosen Streifzüge durch die Stadt, die Suche nach Raum für den inneren Zustand von Verlorenheit und Lebenswillen davor. Nach der Hoffnung auf »Gerechtigkeit«, den Kämpfen vor dem Umbruch und mitten in ihm hat alles längst veränderte Farben angenommen. So dunkel die Straßen vor Neunzehnhundertneunundachtzig dalagen, so grell und heiß danach, im Rennen hinter der neuen, unberechenbaren Formung her. Leipzig ist eine von Kreativität gesättigte Stadt geworden, manche sprechen von melancholischen Graustufen früher, wünschen einander inneren Frieden mit der Vergangenheit, distanzieren sich von »Schwarz-Weiß«. Die Vergangenheit sei auch Leben gewesen. Auch hält fest, dass sie zugleich Nicht-Leben war, denke ich dann, und ebenso, dass ich von Schwarz-Weiß nichts erinnere. Die Wahrnehmung vieler Menschen in meiner Umgebung wie auch meine eigene war ganz im Gegenteil so überwach, dass sie einen ständig beschäftigte, eine Art Pointillismus des Lebenkönnens oder nicht, Fülle im Trauma, Überfülle, die sich bis heute von allein nicht löst.

Das Geflecht von Straßen und abgelegenen Winkeln also, etwas Lösendes, außen, das Vergiftungen aufsog wie medizinische Kohle. Kaum bin ich wieder hier, beginnt es erneut. Ich sehe mich gewichtlos aus dem Hotelfenster hinüber zum gegenüberliegenden Dachfirst springen, in die Perspektive hineinlaufen, auf Brachen, verwilderte Parks, Seeufer zu. Orte, nicht Menschen? Lieber Fotografieren, um auf diese Art etwas zu ergründen, durch eine Farbkombination, eine Ansicht, und etwas rätselhaft Bleibendes plötzlich oder doch verstehen. Vielleicht verbirgt dieser Bewegungsdrang auch einen Untergrund an Zweifeln, ob sich ein wirklich freies Verhältnis zur res publica, zwischen Einzelnem und Staat, entwickelt hat, Fragen, Nachsinnen, und beinahe wäre es bei dieser Ortsträumerei geblieben.

Doch es kam anders. Die Topographie füllt sich noch einmal mit Menschen.

Die Wohnblöcke von Leipzig-Volkmarsdorf sind heute frisch wirkende Vierstöcker. In einem von ihnen wohnt Herr K. Noch an der Wohnungstür, vor jeder Frage, mit der ich beginnen könnte, hält mich sein intensiv strahlender Gesichtsausdruck zurück, die glückliche Art, mit der er sagt: »Ich habe mich so gefreut, dass sie wieder da ist!«

Ein älterer Mann, hager, in Jeans und Polohemd. Der Händedruck warm. Eine vielleicht schon tagelange, nervöse Freude ist in ihm, er blickt erregt.

Wir kennen uns nicht. Ich bin auf der Suche nach einem jungen Mädchen, dessen Spur sich im Markkleeberg der Neunzehnhundertsechzigerjahre verliert. Gestoßen bin ich auf sie bei Recherchen zu widerständigem Verhalten auf dem Land in den frühen Jahren der DDR. Im Leipziger Telefonbuch fand sich der seltene Nachname gerade ein Mal, deutschlandweit überhaupt nicht. Ich rief an. Ja. Er habe eine Tochter, mit genau dem Vor- und Nachnamen, bestätigte Herr K. am Apparat. Er sprach langsam. Schwieg. Sagte dann, ich könne kommen.

Eine junge Frau, die ihre Immobilie an den Staat verlor im Zuge der entstehenden Landwirtschaftsausstellung Agra, ohne dass sie davon wusste. Enteignungen für die Gartenbauausstellung trafen auch andere Besitzer, doch hier lag etwas Rätselhaftes, denn niemand aus der Familie antwortete je auf die Suchaktion der Verwaltung. 1961. Die brennende Atmosphäre vor dem Mauerbau. Ein Jahr zuvor werden letzte bäuerliche Betriebe zum Eintritt in die LPG genötigt. In der seelischen Not, nicht länger Herr über die seit Generationen vererbten Höfe zu sein, flüchten viele nach Westen, begehen Selbstmord. Das Ende einzelbäuerlichen Wirtschaftens leitet eine tiefgreifende Veränderung des gesamten Landlebens ein. Großviehanlagen und Offenställe entstehen, Ställe und Scheunen werden abgerissen, Gewerke verlieren ihre Wirkungsfelder. Was war der Familie widerfahren? Ahnten sie den Mauerbau voraus, ließen ihr Grundstück bewusst zurück? Ich wollte ans Licht bringen, was in dem berückenden Parkland südlich von Leipzig versteckt lag.

Herr K. hört zu. Die junge Grundstücksbesitzerin in den Akten von 1961 heißt Petra. Damals war sie achtzehn Jahre alt, der Vater besaß einen Laden, ein Eckgeschäft für Alltagsdinge, über dem verwittert noch »Kolonialwaren« zu lesen ist.

»Meine Tochter ist erst Neunzehnsechzig, Einundsechzig geboren«, sagt er.

»Eine Verwandte? Schwester? Schwägerin? Hat jemand auf dem Grundstück gewohnt, es besessen?«

Er verneint, mit einer langsamen Kopfbewegung.

Woran rühre ich? Ich bin hergerannt, so schnell es ging, um einem Mädchen von damals nachzujagen und mit ihr der Zeit um 1960. Herr K. hat die Namensgleichheit herausgehört, er glaubt, dass es seine Tochter plötzlich »wieder« gäbe. Vor- und Nachname beider Frauen sind identisch. Doch sie selbst?

Wo seine Tochter denn war oder sei. Was heiße »wieder da«?, frage ich.

»Das Jugendamt hat sie mir weggenommen. Damals. Als ich ins Rosental kam, in das Heim, nach der Arbeit, war sie fort.«

Auch er ist erschrocken.

Ein Blindgänger aus der Vergangenheit, den es in die Gegenwart schleudert. Das, worum es hier geht, ist kein Missverständnis, bei dem man sich entschuldigt und wieder geht, um anderswo weiterzusuchen.

Er stimmt zu, dass ich ihm Fragen stelle nach der Geschichte hinter dem gesuchten Namen, aber dann sagen wir wieder nichts. Die Wohnung wird still, weil die Gegenstände zu lärmen aufhören und sich in den Hintergrund zurückziehen. Verschwinden.

Seine Tochter sei die Jüngste von dreien, höre ich ihn sagen. Und sie sei weg. Seit damals.

Er unterbricht sich. Es tue ihm leid, wenn ich umsonst gekommen bin.

»Nein«, sage ich, »nein.«

Da ist es schon anwesend, das zweite Mädchen. Sein Kind.

»Eine kleine, niedliche Person, die mir in die Arme flog.«

Wieder sieht er mich an, lächelt.

Soll ich gehen? Ihm Zeit geben? Ein Stück seines Lebens ist hereingekommen, mit mir.

Er beginnt zu antworten, bejaht, verneint. Sinnt nach, den Blick nach innen gezogen. »Ja, immer in Leipzig, immer hier gelebt. Habe ich. Nur meine Mutter ging fort. Nachdem der Vater aus der Gefangenschaft des Zweiten Weltkrieges zurückkam, wurden die Eltern geschieden. Meine Mutter ließ mich zurück und ging nach Westdeutschland; anfangs schickte sie ein paar Geschenkpäckchen von dort, ließ dann aber nie wieder von sich hören. Später wollte der Vater einmal, dass ich sie ausfindig mache, aber: Weißt du, die Frau hat sich nie um mich gekümmert, warum ich?, habe ich ihm geantwortet.« Er zuckt die Schulter. »Ich hab mich daran gewöhnt. Für sie bin ich höchstwahrscheinlich gestorben.«

Er blieb beim Vater, der erneut heiratete, eine Frau, die er, der Stiefsohn, geliebt habe, wie er sagt. Bis zu dessen Tod 2005 blieben sie verbunden. Ende der Neunzehnhundertfünfzigerjahre absolvierte er eine Landwirtschaftslehre in Markkleeberg, das berühmt war für seine Eriken und Azaleen und deren Exportziffern. Er kam herum, lernte. »Kuhstall, Schweinestall, Feld, Rüben verzogen, alles was anlag, alle Tod und Teufel. Pferdeliebhaber war ich, ich hab ständig die Pferde geritten und rein und raus, jeden Tag. Damals haben wir eine Lehre gekriegt, so wie wir fertig waren mit der Schule. Heute …!«

»Heute?«

»Hören Sie auf.«

Es klingt enttäuscht, wie seit langem. Nicht so sehr von Einzelheiten, eher in etwas Wesentlichem.

Also kennt er die Agra. Ich erzähle ihm, was ich weiß über die junge Grundstücksbesitzerin, die ich suche, welchen Hergang ihrer Geschichte die aufgefundenen Archivdokumente zu Immobilienbewegungen in der Gartenstadt Markkleeberg zusammensetzten. Ihr Aufenthaltsort ist zu dieser Zeit offiziell unbekannt, doch ihr Flurstück inmitten vieler Moorbeetgärtnereien grenzt an die Landwirtschafts- und Gartenbauaustellung. Zu deren 10. Jubiläum soll unter anderem eine große Tierschau veranstaltet und die gesamte Spitze südlich des Tierschaugeländes aufgekauft werden, ihr Flurstück inbegriffen. Doch sie wie auch ihre Eltern bleiben unauffindbar. Ein Pächter zahlt statt der Pacht Grundsteuer an die Stadt. Er weiß nichts. Vermutlich sei die Besitzerin nach Westdeutschland gegangen.

Eine Großmutter soll noch hier leben. Sie wird schriftlich aufgefordert, umgehend eine Vollmacht für den zu erzwingenden Grundstücksverkauf zu beschaffen. Niemand antwortet.

Es eilt. Zum »Abwesenheitspfleger« der Angelegenheit der jungen Petra wird der Sektionsleiter der Ausstellungsverwaltung. In einem durchgesetzten Kaufakt vertritt er gleichzeitig die Interessen der Agra und nunmehr auch die der Gegenpartei, der Besitzerin, gebilligt vom Jugendamt. Notfalls solle das Aufbaugesetz in Anspruch genommen werden, steht vermerkt. Im April 1961 ist der Kauf abgeschlossen und von der Abteilung Volksbildung, der die »Jugendhilfe« unterstellt ist, vormundschaftlich genehmigt. Etwas Geld wird als »Kaufpreis« beim Notariat hinterlegt. Das Grundbuchblatt der Eigentümerin ist geschlossen.

Ein Verwaltungschef, der per Federstrich zum Jugendpfleger wird. Ein Grundstück, mit Genehmigung des Jugendamtes verkauft. Innerhalb von drei Monaten gehört es der Agra.

So fing meine Suche an. Ich wollte die Eigentümerin finden, mit ihr darüber sprechen.

Herr K. hört ausdruckslos zu. Denkt er an seine Lehre zur selben Zeit dort? Er war da, die Vorgänge der frühen Agra-Jahre waren Alltag für ihn.

Wir sprechen über das Gelände der ehemaligen Landwirtschaftsausstellung. Von ihren Skulpturen und rätselhaften Rudimenten geht eine einnehmende, wenn nicht einsaugende Atmosphäre aus. Verfall und grüner Triumph. Einem Areal unberührter Stellen, die noch immer nicht bis ins Letzte verplant und zweckbestimmt sind, entsprechen ähnlich viele Leerstellen in der historischen Aufarbeitung. Die Geschichte der Agra ist verbunden mit Zwangskollektivierung und Kohleabbau. »Gemeinsam stellten sich alteingesessene Bauern und Neubauern den volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten der Landabgabe für die Braunkohlengewinnung; gemeinsam gingen sie den nicht einfachen Weg der sozialistischen Umgestaltung. So entstand 1952 die erste Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft LPG ›Rosa Luxemburg‹ ...«2 1990 wurde diese Darstellung veröffentlicht. Stellten sie sich oder wurden sie, nachweislich, gezwungen? Im Archiv stieß ich auf wütende Proteste aus der Bevölkerung gegen unmöglich zu erreichende Erntesolle, auf unverblümte Beschimpfungen und Ablehnung der regierenden Kommunisten, anonym und mit Namen und Adresse.

Der Ort selbst, heute: eine ausgeschürfte und inzwischen neugestaltete Landschaft, in der Parks, Kanäle und Wasserarme, barocke Einschlüsse, von der Zeit scheinbar Verschontes, umso stärker berühren.

Herr K. ist bewegt von Bildern seiner Jugend. Eine lebhafte, vielleicht als frei empfundene Zeit. Lebenshoffnung. Körperlich frei, Bewegung, Natur, Tiere. Menschen.

»Und die Menschen damals?«

»Die Menschen?«

»Wie waren sie?«

Er lässt eine der Pausen, nach denen er zurückkehrt zu einem leise wegwerfenden Ton.

»Sie waren ... interessierter! Das!«

»Woran?«

»Interessierter.«

Am Leben? Aneinander? Es scheint eine Erfahrung aus langem Erleben zu sein, die sich irgendwann von selbst versteht.

Aber um all das geht es plötzlich nicht. Nicht um »sozialistisches Eigentum« an Immobilien, sondern an einem Kind. Der weiße Fleck ist hier.

»Sie war weg. Als ich hinkam, war sie weg.«

Das springt hin und her zwischen ihm und mir. Es ist März, doch in den Nachmittag kommt etwas wie verlangsamende Herbstschwere.

Nach der Lehre heiratete er, das Paar bekam drei Töchter, Silke, Steffi, Petra. »Alle ein Jahr auseinander, Petra war die Jüngste.« Doch die Ehe hielt nicht, er und seine Frau ließen sich scheiden, er verlor die Kinder, die zunächst zu ihrer Mutter kamen. Mutter, ja, doch sie war jung, sie schaffte es nicht, nach der Trennung zurechtzukommen. Vorübergehend kamen die beiden älteren Töchter in ein Heim in Altenburg, durften dann zurück zu ihrer Mutter.

»Ich hatte niemanden damals«, sagt er, »die Kinder wurden mir hinterm Rücken abgekapselt, ich lebte drei Jahre lang ganz allein. Nach einer Zeit bekam ich Silke zurück für eine Weile. Heute sind die beiden Großen erwachsen und weggezogen, doch ich bin in Kontakt mit ihnen. Nur die Kleine ... Mit drei Jahren ... Sie kam erst ins Heim, sollte zurückkommen, doch dann war sie plötzlich fort.«

»Was heißt fort?«

»Weg. Ja!«

Irgendwann in der Zeit nach der Scheidung sei er unvermittelt ins Jugendamt bestellt worden. Er wusste nicht weshalb, nein. Bei Nichterscheinen wurde ihm mit der Polizei gedroht.

»Plötzlich? Völlig überraschend?«

»Auf jeden Fall! Das hatte ich mir nicht träumen lassen! Ich weiß nicht, wer das war, wer das in die Wege geleitet hat, bis heute nicht. Es ging alles so schnell, dabei bin ich überhaupt nicht zum Überlegen gekommen. Das Ganze passierte an einem Vormittag. Ich kam in ein Einzelzimmer. Eine Angestellte war da, den Namen kann ich Ihnen sagen, ich habe ihn behalten. Eine sehr Große, Stämmige. Die Frau war eine Strafe. Sobald man etwas sagte, hieß es: Wenn Sie nicht ruhig sind, sperren wir Sie ein. Da gab es kein Gespräch. Sie hat den Zettel hingepackt und gesagt: Ihre Tochter ist zur Adoption freigegeben. Unterschreiben Sie.«

»Und vorher?«

»Nichts. Die haben mir nichts zukommen lassen, denen war das wurscht, was mit mir war.«

Ich frage, was er unterschrieben habe.

»Die Frau vom Jugendamt saß da und legte mir das hin, und ich musste unterschreiben. Es war halb verdeckt. Sie setzen nur den Namen drunter, hier! Entweder Sie unterschreiben oder Sie gehen ins Gefängnis. Das war das Einzige, was ich denken konnte. Gefängnis.«

Methoden von Jugendämtern, die zu Unterschriftsleistungen führten, nicht nur in diesem Fall. »Ich war so fertig und hatte solche Angst, dass ich alles machte, was er wollte. Er legte einen Brief hin, gab mir einen Kugelschreiber und diktierte«, berichtete die Mutter eines angeschossenen und infolgedessen ertrunkenen dreiundzwanzigjährigen Flüchtlings an der Berliner Sektorengrenze, der die Unterschrift sogar unter die Genehmigung einer sofortigen Einäscherung abgepresst wurde.3

»Ich hab gesagt: Ich habe jetzt mein Todesurteil unterschrieben. Das weiß ich noch.«

»Und die Frau?«

»Und die Frau: Ja, Sie können gehen. Das hat sich erledigt.«

Ich bin beschäftigt mit dem, was sich für das Amt »erledigt« hatte. Mit der Eile, der brutalen Selbstverständlichkeit. Der Überrumpelung.

»Das war eine schlaflose Nacht danach, der Kopf wie ein Hubschrauber, es hörte nicht auf. Was heißt eine? Es ging immer so weiter. Danach hat sich keiner mehr Gedanken darum gemacht. Das war die DDR. Nach Neunundachtzig haben sie die Frau rausgeschmissen.

Die Kleine kam zuerst in ein Kinderheim, drei war sie da. Am Straßenbahnende Rosental, dann links, eine Villa. Sie hing mir am Herzen. Ich habe sie noch jeden Tag besucht, nach der Arbeit bin ich hingefahren, die kannten mich dort schon. Es war sauber, sie waren höflich, es war nicht abgeschottet. Soweit. Aber ...«

»Hat Ihnen niemand geholfen? Beigestanden?«

Das Wort, höre ich selbst, mag hinpassen, wo immer es will, doch gewiss nicht zu der damaligen Situation.

Sofort sieht er mich mitleidig an.

»Das war so. Margot Honecker. Das werden Sie doch wissen. Die war die Schlimmste. Damals brauchte bloß einer sagen, gucken Sie mal dorthin, und die kamen vom Jugendamt, so war das.«

»Die gnadenlose Staatsgouvernante« und ihr Ministerium für Volksbildung waren für das System von zentraler Bedeutung und rangierten gleich hinter der Staatssicherheit, urteilte Uwe Hillmer.4 Der Schrecken, den ihr Wirken verbreitete, führte dazu, dass fast jeder ihren Namen kannte. Zusammen mit dem Zentralen Jugendhilfeausschuss beherrschte sie die Volksbildung von 1963 bis 1989: zehn Personen, die sie jeweils persönlich berief, mit denen auch die rechtsverbindlichen Richtlinien für die Jugend»hilfe« geschmiedet wurden. Unter ihnen Eberhard Mannschatz, Leiter der zentralen Abteilung Jugendhilfe und Heimerziehung, von dem zu sprechen sein wird.

»Wie sie aussah? Ich weiß, wie: Eine kleine, niedliche Person. Ganz kurze Haare, braun, wie meine. Wenn ich kam, war das Erste, die Arme vor – und gedrückt.

Sie war glücklich, wenn ich kam. Auszustehen hatte sie soweit erst mal nichts, es waren viele dort. Ich ging hin, immer wieder. Aber auf einmal war sie fort.«

Hinbestellt, gezwungen. Unterschrieben.

Ein kleiner Plastikhund mit Wackelkopf steht auf dem Tisch. Ich tippe ihn an. Aus einem Billigladen in Reudnitz, sagt Herr K.

Angeblich »nicht ausreichende Sozialität« oder »Asozialität« Einzelner war für den Staat unter Umständen schnell zur Hand. Eine Dunkelzone, bei der es um anderes ging als es scheint: nicht um Überforderung von Eltern durch Haushalt und ihre Beziehungen im Alltag, nicht um Schwäche von Menschen, die Unterstützung brauchten und nicht erhielten. Dem Staat ermöglichte dieser Vorwurf, Grundrechte und Pflichten zu verletzen, unliebsame Personen einzuschüchtern, ohne rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Zwang, Erpressung, Anschnauzen, Belügen, dabei Gleichgültigkeit, kalt. Versagen praktizierte der Staat.

Er hinterließ Menschen, deren Lebensbeschädigung und Beraubung keinen Lärm hervorruft, die auf Menschenrechte nicht hoffen konnten, auch wenn diese offenkundig auf ihrer Seite waren. Ein Merkmal von Sozialismus: Die schwer überwindliche Entfernung des Einzelnen zu dem, was einem Menschen zustand.

Jahrzehntelang ist Herr K. damit allein geblieben. Ist niemals, fünf, zehn, fünfzehn Jahre nach Ende der DDR, jemand zu ihm gekommen?

»Nein.«

Ein schlechter Lebensstart, problematische, doch nicht unbedingt »asoziale« familiäre Bedingungen, die schmerzliche Benachteiligung, nicht bei den eigenen Eltern oder einem Teil von beiden aufgewachsen zu sein, diese Not ist vom sozialistischen Staat weit seltener als behauptet durchbrochen worden. Paul Ingendaay schreibt von »sogenannten Asozialen«, die in die Mühlen des Terrors nach 1933 gerieten und die »für die Historiker und Gedenkverbände ohnehin selten eine Rolle gespielt« haben.5 Was er für die Epoche des Nationalsozialismus konstatierte, fand in der DDR eine Fortsetzung in autoritären Vertretern von Staat oder Verwaltung, deren Macht, anstelle des vom Volk beauftragten Dienstes, lähmte und in chronische Beunruhigung versetzte.

»Ich hatte Angst vor der Polizei. Das war das Einzige, was ich denken konnte. Die Frau kam mir vor wie von der Stasi. Ich habe mir das hinterher überlegt. Sie war sich sicher, dass ich unterschreiben würde, ihr Gehabe war genau so. Abfällig bis zum Letzten, die ganze Zeit über. Ich fühlte mich wie ein Stück Müll.«

Eine Diktatur, die jene verschreckte, für die sie angeblich arbeitete und »kämpfte«. Trotzdem. Seine Unterschrift. Unterschrieben, und ein Kind dahin und weg?

»Das Gefängnis«, wiederholt er nach einer Weile.

Unruhe ist ihm anzumerken. Vielleicht sehen wir uns wieder, denke ich, vielleicht kann ich später noch einmal danach fragen.

»Es tut mir leid, dass ich Ihnen bei dem, was Sie suchen, nun nicht helfen kann«, sagt er noch einmal freundlich.

Es spiele keine Rolle, verglichen mit dem, was ihm geschehen ist, erwidere ich. Ihm geschehen, seiner Tochter.

»Das Jugendamt hätte Ihnen helfen müssen.«

»Die haben gar nicht gewartet«, antwortet er, »ob sich das mal wieder ändert und wir einen Weg finden mit den Kindern. Weg! Ich hab dann viel getrunken, bin abgerutscht, weil ich so eine Wut auf das Jugendamt hatte, das war schlimm. Später erst habe ich mir langsam wieder eine Familie aufgebaut.«

Die Tür zum Balkon steht auf. Draußen die breite Straße zwischen sanierten Wohnblöcken, licht, hier und da alte, belassene Laubbäume. Hinterher werde ich das fotografieren. Ich muss. Ich darf es nicht vergessen, denke ich, und: Warum? Warum muss ich ewig fotografieren, was ich doch kenne?

Das früher düstere Areal des Rabet-Volksparks zwischen den Leipziger Stadtteilen Neuschönefeld und Volkmarsdorf ist umgestaltet. Grundstücke und Straßen wurden entwidmet, Tausende Bäume angepflanzt. Kletterschiffe, Treffpunkte mit grellbunt gesprayten Fassaden. Im Wind zittern junge Baumkronen. In den Neunzehnhundertachtzigerjahren lief ich regelmäßig durch das Viertel, zu alleinstehenden Rentnern und Sterbenden und betreute sie nebenberuflich im Wechsel mit der Gemeindeschwester. Beharrliche, widersprüchliche Erfahrungen. Erschrockene Anspannung, ständige Sorge, dazu etwas Unbestimmtes, vielleicht weil es eine Arbeit fast ohne institutionellen Rahmen war. Mensch. Und Mensch. Sonst nichts. Mein Roman darüber durfte nicht erscheinen, erst 2009.6 Manchmal, wenn ich von den »Betreute« genannten Alten in ihren halbdunklen Wohnungen kam, war ich grundlos froh. Sie waren nur für den Moment versorgt, sie konnten morgen sterben oder in derselben Nacht, das Zusammensein hatte aber dennoch die Kraft, dass ich stärker durch die Straßen ging. Durch diese Straßen. Da draußen. Vor dem Fenster.

Herr K. arbeitete nach der Anstellung im Gartenbau fast das ganze Leben in der Leipziger Wollkämmerei, sagt er, bis er nach Neunzehnhundertneunundachtzig erfuhr, dass er nicht mehr gebraucht würde. Heute fährt er Werbung aus, um etwas dazu zu verdienen. Das Austragen mit dem schweren Wagen war eine Umstellung, manchmal steckte er die Werbung bei jedem Mieter ein, ohne zu wissen, wer inzwischen ausgezogen war, dann fehlte das am Ende. Er muss ziemlich weite Strecken abfahren. Vor kurzem ist er bei einem Zusammenstoß voll über das Fahrrad gestürzt und hat sich dabei das Knie zerstört.

»Ich musste mich da erst reingewöhnen«, sagt er.

Auf die Frage, ob er und seine erste Frau es hätten schaffen können mit den Kindern, schweigt er eine Weile.

»Man hätte es versuchen können. Wir wollten sie nicht weggeben ins Heim.«

Er ist gefasst und dennoch angespannt, als könnte das Kind, das Mädchen, im nächsten Moment zur Tür hereinkommen.

»Eine Chance hätte es gegeben, aber wir hatten ja gar keine. Die haben gesagt: Weg. Und weg ist weg.«

»Und heute? Nach so vielen Jahren, was wäre möglich?«

Er muss lachen, leise.

»Das waren schlechte Zeiten, die muss man untern Teppich kehren. Manchmal kommt noch ein kurzer Blitz, aber mehr ist es nicht. Wenn ich es mir überlege, wollten die mit uns keine Arbeit haben. Sie haben uns weggetan, wie ... Abfall. Für die waren wir Abfall.«

Verschwunden

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