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Barrieren. Neurasthenie

Im Archiv

Kindesentzug. Zwangsadoptionen, sage ich am Archivschalter des Sächsischen Staatsarchivs in Leipzig-Paunsdorf und bitte um Findbücher und Karteien. Kindeswegnahme, wiederhole ich, sobald ich für eine Woche oder länger nach Leipzig fahre, und frage nach Akten im Zusammenhang mit Heimen in der DDR. Am Telefon, im persönlichen Gespräch.

Herr K. hat mir eine Vollmacht für Recherchen gegeben. Die Aussicht, Klarheit in ein solches Gewebe aus Schmerz und gesellschaftlicher Verursachung zu bringen, ist gering, der Antrag, Heimeinweisungs- und Adoptionsakten einsehen zu können, wird in jedem oder beinahe jedem Fall zurückgewiesen. Andere Bereiche sind einzubeziehen. Welche? Und bei all dem: Habe ich etwas aufgerissen, das erneut zu verfolgen Herr K. innerlich womöglich nicht die Kraft, den Willen hat?

Zögern bei den Archivarinnen. Man muss sehen. Weiß es nicht. Sofort überhaupt nicht. Ich dränge. Auch bestellte Akten zum Thema politischer Widerstand auf dem Land kommen nicht, bereits eingesehene gehen zu schnell zurück. Schließlich kommen einige Stapel auf einem Wagen angerollt, den ich in den kühlgrauen Lesesaal fahre.

»Adoptionssachen« könne ich nicht einsehen, teilt mir eine Archivarin später mit. Aber das habe Zeit, entscheidet sie, überlegt es sich jedoch sofort darauf anders. Sie wolle das klären, sagt sie und wählt eine Nummer am Diensttelefon. Die Worte, die sie durchgibt, klingen kryptisch: »Sie ist jetzt da!« »Sie« bin ich? Der Angerufene erscheint umgehend, tritt nah an mich heran. Ein hochaufgeschossener Mann, der seinen Namen nicht nennt.

»Ja?«, fragt er in übertrieben straffem Ton.

Ich reiche ihm die Recherchevollmacht von Herrn K. Die bleibe gleich da, sagt er und legt sie in ein Fach. Er solle sie kopieren, verlange ich, weil ich sie weiterhin brauche. Erneut beugt er sich über den Text, wiederholt, er werde sie dabehalten.

Alle blicken mich an. Ich blicke zurück.

Bevor ich abends gehe, wird die Vollmacht kopiert.

Ob mir Aktenkopien zum Thema Widerstand auf dem Land erlaubt werden, sei ungewiss, erfahre ich zwischendurch, wahrscheinlich nicht. Weshalb? Achselzucken. Es versetzt mich in Spannung. Ich schreibe mit, bis das Handgelenk taub wird, dreißig A4-Seiten, will gehen, fange wieder an. Über Menschen, die in der Nachkriegszeit abgeholt wurden, weil sie ein angeblich gefährliches Buch ihrer kleinen Leihbücherei nicht gemeldet hatten, über die Angst von Neubauern um die unberechenbare Ölfrucht und vor unerreichbarem Abgabesoll. Über ihr Scheitern, den Hass auf die, die kurz nach dem Krieg schon wieder alles hatten. Ich lese, vergesse die Querelen, ärgere mich, dass das Archiv nicht bis in die Nacht geöffnet hat.

Bevor ich gehe, gebe ich eine Bestellliste für Kopien ab. Ob sie genehmigt wird, kann niemand sagen.

Die Abendsonne färbt die alten Fassaden im Nordosten der Stadt warmgelb. Ich fahre über brüchige Straßenbahngleise auf Schönefeld zu, einen von Gärten und Grünanlagen durchsetzten Stadtteil, in dem ich lange gelebt habe. Er erinnert mich wieder an die Landwirtschaftsausstellung in Markkleeberg. Vor Jahren begegnete ich dort einer Frau, Ingeborg Wegener, die wie Herr K. eine Gärtnerlehre in der Agra absolviert hatte. Sie kam aus Schleswig zu Besuch in ihre Heimatstadt Markkleeberg und erzählte aufgewühlt. Ihr Vater, ein gefragter Sprengmeister, hatte sich nach 1945 selbstständig gemacht, als »Kind eines Kapitalistenschweins« durfte sie deshalb trotz bester Zeugnisse nicht das Abitur ablegen. Im Alter von dreizehn Jahren blieb ihr die Wahl zwischen Schmiedelehre und Gartenbauschule. Mit anderen Lehrlingen schleppte sie Erde in Tragen, Gießkannen, die nicht abgesetzt werden durften, und wenn doch, taten sie es hinter einer Biegung, in Angst vor dem Chef. Er ließ sie im Akkord sechs Wochen lang Kies auf Pferdewagen laden, bis zum Umfallen, er ließ sie bei zwanzig Grad minus Komposthaufen umsetzen, damit keiner von ihnen herumstand. Sie wechselten die Scheiben der Gewächshäuser aus und schnitten aus alten Fenstern Wasserschenkel zurecht. Im Akkord gruben sie mehrjährigen Rasen um, damit sie ein paar Pfennige verdienten. Es war so anstrengend, dass sie sich fragte, wieso sie überhaupt noch lebe.

Weitere Gespräche im Archiv über Kindesentzug und Adoptionen. Ich sage, an welche Quellen ich denke, darf Findbücher zu Bezirks- und Kreistagen einsehen. Erste Akten kommen, »wo etwas sein könnte«.

Erneut bittet mich der hochgewachsene Unbekannte zu einem Gespräch. Die Tochter von Herrn K. befinde sich nicht unter den Adoptierten in der Findkartei, teilt er mit, ich selbst dürfe diese, wie auch die Korrespondenz des Amtes, jedoch nicht lesen, weil mir dann auch andere Namen Adoptierter bekannt würden. Inzwischen allerdings habe ich das Findbuch mit den Namen selbst durchgesehen, eine Mitarbeiterin hat es vor kurzem herausgesucht und mir kurz überlassen.

Sein Ton bleibt unmotiviert verweisend, entmutigt mich aber nicht. Nach 1989 sind Dokumentenfluten und Archivalien durcheinandergestürzt, -geflattert, an andere Orte getragen worden, doch auch oder gerade solche Konvolute können ergiebig sein, unverhofft, weniger kontrolliert als streng bewachte Sammlungen vorher, die einzusehen keine Chance bestand. Bestellen, bestellen, bestellen. Ich verlasse mich auf meine lebenslange Erfahrung mit dem Alltag in der DDR, eine flexible, nicht leicht zu erschütternde Kraft. Ausdauer. Langer Atem.

Akten kommen. Nachlässe aus dem Alltag von SED und Jugendhilfe. Protokolle, Einschätzungen von Personen und Berufsgruppen, Heimkindern, Eltern, alles außerhalb der Staatssicherheit – »alle Macht«, die vom »Volke« ausgehen sollte.

Nach München, wo ich seit Jahren lebe, wird mir brieflich mitgeteilt, dass ich keine Aktenkopien erhalte. Ich protestiere, nenne meine Buchveröffentlichungen. Sie seien ihnen bekannt, wird mir lapidar mitgeteilt, oder vielsagend? Es zieht sich hin. Schließlich soll ich schriftlich versichern, dass ich die Gebühr für Kopien, falls ich welche erhalten sollte, auch zahlen werde. Das ist an den Haaren herbeigezogen, diffamierend, doch ich gebe sie.

Die Verantwortliche für den Datenschutz legt mir nahe, von Anfang an alle Namen zu anonymisieren im Hinblick auf spätere Veröffentlichungen.

»Sie sagten, Funktionsträger können genannt werden.«

Sie atmet unterdrückt.

»Es könnte jemand fragen. Hinterher.« Sie wollen doch kein Risiko, sagt ihr Blick.

Ohne Risiko geht gar nichts, sagt meiner.

Tags zuvor gab mir die Archivleiterin hilfreiche Hinweise zu den Stichworten Jugendamt und Adoption, doch auch sie vibrierte vor Unruhe. Weshalb? Kommt hierher denn nie jemand mit Themen der Aufarbeitung?

»Wir wollen Sie doch nicht behindern.«

»Die eine Akte müsste ich noch mal durchsehen«, sage ich.

»Die kriegen Sie nicht!«

»Aber ich hatte sie bereits, warum dann nicht?«

»Eben. Deshalb!«

»Ich brauche sie noch einmal.«

»Die kriegen Sie nicht.«

Ebenso das Findbuch Notariate.

»Das bekommen Sie nicht!«, bekräftigt eine Mitarbeiterin, »das gehört auch nicht zu Ihrem Thema!«

Bei Grundstücken, Haus, Hof, Geld reagiert man wie auf Stromstöße. Alle sind übernervös. Eine Archivarin erzählt mir auf der Treppe, dass Entlassungen bevorstünden, »Einsparungen«. Sie ist erregt. Wenn sie als Absolventin im Westen angefangen hätte, wäre sie jetzt, nach siebzehn Jahren, schon unkündbar. Hier zittere sie.

»Das haben wir aber gar nicht gern.«

Der Hochgewachsene beugt sich von hinten über meine Schulter, blickt auf meine Notizen.

Ich fahre herum, fragend. Er wird verlegen.

»Einzelne Karteikarten sollten nicht aus dem Kasten herausgenommen werden. Das alles ... Wir möchten ...« Mitten im Satz geht er aus dem Raum.

Sind alle überfordert, wenn jemand nicht von einer Institution kommt oder nicht nur seinen Familienstammbaum komplettieren will?

Draußen auf dem Parkplatz ist es heiß und hell. Aus dem Auto schlägt mir Gluthitze entgegen. Das Mineralwasser hat die Stunden über nahe an der Kochstufe gesimmert. Ich verbrenne mir den Mund.

Dann wieder der meistens leere Leseraum, die Fläche der zusammengerückten Tische, Konzentrationsmöglichkeit. Die Archivbenutzung ist kostenlos. Das Stadtarchiv erhebt Benutzungsgebühren von zwanzig Euro am ersten und für jeden folgenden Tag erneut fünf. Das ist viel, wie könnte beispielsweise ein Arbeitsloser dabei seinem Diktaturschicksal auf den Grund gehen? Von Barrieren psychischer Art ganz zu schweigen.

Bevor ich gehe, frage ich eine Mitarbeiterin nach dem damaligen Kinderheim am Rosental, von dem Herr K. sprach. Sie kannte es, stellt sich heraus. Ecke Leibnizstraße, Richtung Zoo. Mit der Straßenbahn durchs Rosental, nahe der katholischen Kirche, rechts eine Verkehrsinsel, dann die Villa. Dort, erzählt sie lebhaft, ging es streng zu, manchmal hart, oder brutal, unterkühlt jedenfalls. Die Insassen mussten anziehen, was es gab, keine Herzlichkeit, strenge Arbeitserziehung. Sie selbst ging mit Kindern dieses Heims in eine Klasse in der 143. Schule »Walter Ulbricht«. Tischtennisspielen war erlaubt. Jeder Klassenlehrer stellte seine Schülerinnen und Schüler selbst zusammen, er wechselte nicht bis zur achten Klasse. »Da haben sie sich Mühe gegeben. Schlimm war, dass sie das Sozialistische so sehr durchgedrückt haben.«

In diesem Heim ist Petra, die Kleine von Herrn K., wahrscheinlich gewesen. Kurz bevor sie »weg« war.

»Die Heimkinder treffen sich heute noch. Niemand von ihnen ist arbeitslos.«

Verschwunden

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