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Der Beginn vom schaurigen Ende
meiner Spätpubertät

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Es war ein Tag wie jeder andere, so glaubte ich jedenfalls. Ich stand am Morgen auf und bereitete meinem achtjährigen Sohn Julian das Frühstück zu. Mein Mann Harry rief, wie jeden Morgen, den Kleinen: »Hey! Mach hin, es geht gleich los!« und lief im Korridor hin und her, um alle seine Utensilien einzusammeln. Ich gab meinem Mann ein Küsschen und auch Julian, der mich mit seinen wachen, lustigen Augen ansah und versuchte, seinen monströsen Schulranzen auf den kleinen Rücken zu wuchten. Ich schloss die Tür und sah am Küchenfenster, wie das Auto davonfuhr. Es war alles wie immer. Heute ging es mir gut und ich beschloss, den Tag nicht mit lästigen Hausarbeiten zu vergeuden, sondern ihn einzig und allein mir zu widmen. »Ich mache meine Haare schön, creme mich ein, zupfe meine Augenbrauen, ziehe mich mal etwas besser an als sonst und fahre ins Einkaufszentrum, um endlich nach meinen Traumschuhen für das nächste Frühjahr zu schauen. Diesen Monat muss ich mir unbedingt wieder etwas gönnen«, sprach ich selbst mir zu, als ob ich mich vergewissern müsste, dass ich das Recht dazu hatte.

Ich sprang unter die Dusche, wusch meine Haare, cremte mich ein und spann einen Faden beschwingter Gedanken. Ein neues Tuch könnte ich auch mal wieder gebrauchen. Ich wusste, dass ich mindestens 20 Tücher besaß und doch nur ungefähr acht davon trug, war aber der absoluten Überzeugung, dass ich das nächste Tuch ganz besonders lieben würde. Es war also alles wie immer.

Im Schlafzimmer war ich bereit für diesen wundervollen Tag, an dem ich mich nach monatelanger Krankheit wie neu geboren fühlte. Die Sonne blinzelte etwas schüchtern durch die Vorhänge hindurch. Es war ein milder Winter, der mich trotzdem – wie immer – etwas schläfrig und düster stimmte. Ich warf meinen Bademantel von mir und begann, meinen Kleiderschrank nach geeigneter Garderobe zu durchstöbern: schwarz, braun, grün, schwarz, schwarz, weiß, weiß, dunkelrot, schwarz, schwarz, schwarz. Wieder wurde mir bewusst, wie eintönig meine Kleidung war. Ich entschloss mich, mich jetzt nicht weiter zu quälen und wählte ein weißes Oberteil im Babydoll-Schnitt. Die Monate während meiner Erkrankung trug ich meistens »bessere« Jogginghosen. Mehr brauchte ich in dieser Zeit nicht. Ich führte beinahe das Leben einer Einsiedlerin. Nicht, dass ich es so wollte, nein, ich wurde dazu gezwungen. Es gab Wochen, da glaubte ich, die anderen Menschen da draußen würden mein Leben mit leben. Wie sie lachten, wie sie sich bewegten, wie sie die Frechheit hatten, einfach gesund zu sein! Damit war jetzt Schluss. Der Krankheit hatte ich gezeigt, wo es langging und dass ich keine Frau war, die man einfach so mit Fieberattacken, Lungenentzündungen, Nierenbeckenentzündungen und sonstigen Immunschwächen malträtieren konnte. Das war mein Leben und ich beschloss, es mir zurückzuholen.

Die Hose, die ich für diesen Tag tragen wollte, war keine Jeans, sondern die einzige und wundervollste schwarze Baumwollhose, die ich jemals besessen hatte. Euphorisch wählte ich in Gedanken mein Schuhwerk aus: schwarze Stiefeletten mit kleinen Absätzen. Ich war sowieso meistens größer als die anderen Frauen, trug also selten oder nie hohe Absätze. Zufrieden wollte ich nun die Anprobe starten. Ich streifte vorsichtig das weiße Oberteil über meinen Kopf, was sich als schwierig erwies, denn ich hatte vergessen, den Handtuchturban vom Kopf zu nehmen. Unbeirrt und geduldig fädelte ich meinen Kopf durch die Öffnung des Oberteiles. Irgendetwas stimmte plötzlich nicht. Das Teil umspielte nicht meinen Körper, wie es das getan hatte, als ich es kaufte, sondern klebte regelrecht an meinem Busen, dem Bauch und den Hüften. Ich hatte das Gefühl, es würde mich zerquetschen. Instinktiv wollte ich dieser Tatsache aus dem Weg gehen. »Es ist eingelaufen«, redete ich mir ein. Es war wirklich schwer, sich selbst so großartig zu belügen. Vor allem hinkte diese Lüge, da ich das Teil nie gewaschen hatte.

Die Hose lag vor mir. Ich bewegte mich nun betont grazil, schließlich war ich schlank und geschmeidig. Also konnte ich mich auch so bewegen. Ich summte vor mich hin und zog die Hose über meine Schenkel. »Es ist alles so eigenartig heute«, dachte ich. »Na ja, ich bin frisch eingecremt, da will der Stoff auf der Haut nicht so gleiten«, beruhigte ich mich sogleich. Die Hose erfuhr nun ihre größte Herausforderung, seit sie in meinem Besitz war. So kämpfte sie sich über meine Schenkel, hielt inne und wies meinem Hintern an, sich schlängelnd zu bewegen, damit sie sich über die Hüften arbeiten konnte. Mein Hintern gehorchte ohne Widerstand und die Hose erreichte mit Mühe und Not mit ihrem Bund meine Taille, bahnte sich tapfer den Weg über den Bauch. »Los, es geht! Gib dir Mühe! So schlimm wird es nicht!« Es war nicht die Hose, die mit mir sprach. Das war auch gar nicht nötig, denn meine Finger versuchten, den Knopf in den dafür vorgesehenen Schlitz zu schieben, was ihnen nicht gelang. Meine Hände befahlen meinem Bauch, sich zurückzuziehen. Dieser gehorchte mit Murren und Knurren. Dazu machte ich auch gleich einige Atemübungen. Ich hielt die Luft an. ›Von wegen, ich habe Asthma! Das ist Unsinn. Wie gut das geht und wie flach sich jetzt mein Bauch anfühlt, wunderbar. Oh, das ist toll!‹ Der Knopf fand in den Schlitz. Es vergingen wenige Sekunden, die mir endlos erschienen.

Mir wurde schwindlig, alles drehte sich um mich herum, meine Bronchien signalisierten, dass sie dringend nach dieser gehaltvollen Luft aus der hübschen blauen Spraydose verlangen. Diesem Verlangen gab ich widerstandslos nach, denn die Dose lag auf meinem Nachtschrank. Schnell atmete ich wieder ruhig und fühlte mich alarmiert. Das Alarmsignal kam jedoch nicht aus meinem Brustkorb, sondern tief aus meiner Frauen- (Mädchen-?) Seele.

Langsam bewegte sich mein Kopf in Richtung Spiegel. Da war es, das Gefühl, der Boden unter meinen Füßen würde sich bewegen. In meinem Kopf drehte es sich, alles um mich verschwand im Nirgendwo oder wirkte zerbrochen. Fühlte sich so vielleicht ein Erdbeben an? Im Spiegel begegnete mir etwas, was so ähnlich aussah wie eine Presswurst. Mein Busen quoll aus dem hübsch und zierlich aus feiner Spitze genähten Brustteil regelrecht hervor. Die Naht unter dem Brustteil verschwand im Rückenbereich in einer Fettwulst. Meine schon immer gebärfreudigen, doch bisher wunderbar weiblichen Hüften gebärdeten sich, inklusive des fleischig anmutenden Bauches, als Kampffeld und … und … Hiiiiiiiiiilfe! Ich drehte mich hin und her, doch der Spiegel blieb gnadenlos. Die Erkenntnis ereilte mich mit einer Wucht, die mich umhaute: Ich bin fett!

Erschöpft sank ich auf das Bett nieder, beugte meinen Oberkörper nach vorn und legte mein Gesicht in die Hände. Jetzt nur nichts mehr sehen! Dunkelheit, ich brauchte Dunkelheit, ganz eindeutig. »Warum habe ich dieses Elend nicht schon früher bemerkt? Warum sehe ich es erst heute? Ich bin doch nicht über Nacht, so ganz urplötzlich, fett geworden?« Sofort überlegte ich krampfhaft, was ich gestern gegessen hatte: Ein doppeltes Weizenbrötchen mit Honig (warum nicht Vollkorn, du dumme Pute?), eine Hühnersuppe (hm, ganz okay), ein Stück Kuchen (ist doch nicht wahr, oder? Buchstabiere das Wort K u c h e n!). Sei vernünftig, sei realistisch, es gab Tage, da hast du mehr gegessen, viel mehr, ganz viel mehr. Ich konstatierte: Das ist also der Grund! Du verfressene Kuh! Selbstzerfleischend beschimpfte ich mich mit allen Ausdrücken, die mir einfielen und rannte dabei mindestens zehn Mal ums Bett. Meine nassen Haare peitschten, wie zur Bestätigung meiner Hässlichkeit, an meine Wangen. Ich berührte sie kurz. Blöde Haare! Ach, wie liebte ich sie sonst, wie wurde ich beneidet um diese dicken, kastanienbraunen Haare. Ich setzte mich auf die Bettkante, jetzt noch mehr erschöpft. Haare, Haare, ja! Und mein Gesicht, klar! Die Rettung! Ja, ich war ein der Sonne zugewandtes Geschöpf (so glaubte ich jedenfalls immer), und so kam ich zu dem Entschluss aufzustehen und meiner Rettung entgegenzulaufen, mich selbst aus dem Schlamm zu ziehen und mich wieder zu mögen. Fahrig glättete ich das Babydoll-Oberteil, welches sich eigentlich durch den prallen Sitz auf meinem Körper als faltenlos entpuppte. Erleichtert bei dem Gedanken, dass ich ja im Bad nur mein Gesicht zu sehen bekam, lief ich mit energischen Schritten zum Waschtisch.

Ach, das Licht war noch aus. Mein Mann hatte am Spiegel eine Lampe angebracht, damit »Frau sich besser sah beim Schminken«, wie er sagte. Ich knipste das Licht an. Guter Dinge und mit dem noch ungebrochenem Willen, die Vernichtung meiner Schönheit vor einigen Minuten zu vergessen und Lügen zu strafen, öffnete ich die Augen. Es begann langsam, dieses Drama, aber es war nicht aufzuhalten. Erst sah ich meine einst großen, haselnussfarbenen Augen in einem Schattengebilde versinken. Das wiederum war umgeben von Krähenfüßen und einer durchdringenden, unübersehbaren Kraftlosigkeit. Dann sah ich hinab zu meiner Nase mit den zwei unterschiedlich großen Nasenlöchern, die mich bisher noch nie gestört hatten – bis heute. Heute war irgendwie alles anders, heute war ein Tag des Schreckens. Wurde meine Nase nicht immer größer und unförmiger? Ich sah eine Frau der Frauen vor meinem geistigen Auge, wie sie mir scheinbar zu tausenden täglich begegneten: nichtssagend, vom Leben geprägt, mit ausgeweinten Augen und lebensverschnupfter Nase. Doch das war noch immer nicht genug. Mein Blick wanderte weiter hinab, in der Erwartung, einen schönen, vollen und sinnlichen Mund zu erspähen. Jetzt kam der Schock. ›Oh, gleich falle ich um!‹, dachte ich noch. Ich fiel natürlich nicht, sondern blickte mit weit aufgerissenen Augen in dieses unverschämte Glas hinein. In Sekundenschnelle dachte ich an den Spiegel, damals bei Douglas, den die dick geschminkte Verkäuferin mir vorhielt, um mir ungerührt zu demonstrieren, dass meine Haut mitnichten so toll aussah, wie ich glaubte, und in der mir jede kleinste Unreinheit wie eine wuchtige Anhäufung einer schlammigen Masse erschien. Jener Spiegel, der mir klar machte, dass das teuerste Make-up noch nicht ausreichte, um wieder ansehnlich zu werden und meine eigene Abscheu zu überwinden.

Nun tat mir dieses Elend mein eigener Spiegel an, was für Desaster! Meine Mundwinkel fielen herab. Neben ihnen sah ich tiefe Kerben, die von Bitterkeit und Schmerz zeugten. »Ich habe schon einen Mund wie die Angela!«, rief ich aus und dieser Satz schallte durchs Bad. Warum musste mein Mann auch solch ein riesiges Bad bauen, mit einer solchen Akustik? Kein Mensch hatte so ein großes Bad. Mist, es ist doch alles Mist! Was soll ich denn mit der fremden Frau dort im Spiegel anfangen?

Wieder überrollte mich die nächste Erkenntnis wie ein Feuerball: Ich bin alt!

Der Tag war gelaufen. Nichts war wie sonst. Mein Lieblingstuch war immer noch das bordeauxrote, das ich mir zum meinem 44. Geburtstag gekauft hatte. Ich werde nie wieder einkaufen. Nie wieder! In meiner Größe gibt es doch nur Säcke. Ich kann doch nicht als Sack mein weiteres Leben fristen! Was machte man mit einem Sack? Man schmiss ihn in den Müll, erst recht, wenn er so alt und schwer war! Wer weiß, ob ich überhaupt jemals in diesem Leben noch einmal auf die Straße gehen werde?

Niemand wird mich ansehen können. Sie werden davonlaufen, werden sich ekeln oder über mich lachen, sie werden mich zu Ernährungsberatern schicken, zu jenen Leuten, die ich bisher in meinem jugendlichen Leichtsinn für völlig überflüssig hielt. Oder noch schlimmer: Sie werden mich fragen, ob ich mir schon Gedanken gemacht hätte, für meine Beerdigung zu sparen, so wie das eben alte Leute tun, um ihren Kindern nach dem Tod nicht zur Last zu fallen … Ich bin ja so was von am Ende! Mein Leben ist vorüber, alt, hässlich und zerknautscht wie ich bin.

Ab 40 wird's eng!

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