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Freundinnen

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Am nächsten Tag rief ich meine Freundin Anika an. Ich fühlte mich bis aufs Äußerste strapaziert und die Ausweglosigkeit faulte in mir, wie ein zu lange liegengelassener Apfel. Anika meldete sich wie immer und als sie mich hörte, brachte sie auch wie immer ihre Freude zum Ausdruck. »Gesundes neues Jahr, meine Liebe!«, säuselte sie in den Hörer und ich wünschte ihr das auch, natürlich im Eilzugtempo. Alles dauerte mir zu lange, auf meiner Zunge lag ein gallebitterer Geschmack, meine geschundene Eitelkeit blähte sich auf und drohte zu platzen. »Dass alles besser wird als im letzten Jahr und du gesünder wirst …« bla, bla, bla. Anika schien heute guter Dinge zu sein. »Ja, danke, meine Liebe«, säuselte ich zurück und verschluckte die garstigen Worte, die meine Kehle hochkrochen (»Halt endlich deinen Mund, lass die Floskeln sein und tröste mich. Sofort! Sonst komme ich auf dein Amt und erwürge dich!«) Doch dann sprudelte es aus mir heraus. Mein ganzes Elend spritzte regelrecht durch die Löcher des Telefonhörers. Anika war auf Arbeit, aber zu meinem Glück an diesem Tag allein im Zimmer. So konnte ich meinem Kummer freien Lauf lassen. Anika schwankte nicht zwischen Lachen und Bedauern, sie entschied sich für beides: Sie lachte und bedauerte mich, sie stimmte mir zu und wies mich zurecht. Ach, ich liebte sie an diesem Tag ganz besonders. Nun fand ich es gar nicht mehr schlecht, dass sie so guter Dinge war. »Hör zu, meine Liebe.« Oh ja, ich sperrte meine Ohren auf.

Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. »Du bist endlich erwachsen geworden!«, sagte Anika schlicht und ergreifend. Sekundenlang war es still in der Leitung. »Hallo, Sonne?« Anikas warme Stimme drang endlich durch mich hindurch. »Erwachsen«, wiederholte ich mit brüchiger Stimme und versuchte, das Wort langsam zu wiederholen. »Ja, klar. Mensch, du warst früher viel zu dünn! Manchen Frauen steht es einfach nicht, so dünn zu sein und du gehörtest definitiv dazu. Dein Gesicht war zu spitz und du hast manchmal ausgesehen, als würdest du dich auf Dauermagerkurs befinden! Jeder, der dich sah, musste den Impuls bekommen haben, dich umgehend und ohne jegliche Verzögerung mit einem fetten Essen versorgen zu müssen!« (Was? Mich hat nie jemand zum Essen eingeladen, sie müssen beim Impuls abgestorben sein oder Anika spinnt.) »Du bist verheiratet und kommst eben in die Jahre. Gut so, glaub mir!« Och nee, dachte ich. »In die Jahre also …« Wie konnte Anika das so schonungslos formulieren? In die Jahre, betagt, nicht mehr ganz jung, verbraucht, ausgedörrt, verkommen … Was? Und wieso war ich damals zu dünn? Ich fand mich gut so, hatte mich wohlgefühlt. Ich ging in den Laden und kaufte mir, was mir gefiel, ohne kaschieren zu müssen und das alles in der wundervollen, phantastischen, anmutigen und gesellschaftstauglichen Konfektionsgröße 38 (und in meinen besten Zeiten sogar 36). »Außerdem hattest Du vor einem Jahr die Operation, das spielt bestimmt auch noch eine Rolle.« Anika war immer schon die Vernünftige und Erwachsene, deshalb mochte ich sie auch so sehr. Sie war die Realistin, ich der Emotionsbolzen. Sie analysierte die Dinge so, als ob sie eine Matheaufgabe lösen würde. Aber manchmal nervte es mich einfach. (Sie hatte doch nicht etwa Recht?).

»Anika, jetzt muss ich mir alles neu kaufen und in dieser Größe gibt es nichts Flottes!« »Ich habe diese Konfektionsgröße auch und laufe nicht nackt durch die Gegend! Du wirst nicht sterben, sondern dich neu einstellen. Das ist alles, ganz einfach.« Ganz einfach also? Einfach? Anika war der mütterliche Typ und seit ich sie kannte, trug sie den gleichen Stil, nichts anderes. Sie hatte leicht reden. Aber ich konnte auch nicht zu ihr sagen: »He, meine Liebe. Deine Klamotten sehen nach Oma aus und so will ich nicht rumlaufen!« Ich war nie eine, die nahestehenden Menschen ohne Nachzudenken auf den Schlips trat. Als hätte sie meine Gedanken gehört, meinte Anika plötzlich, offensichtlich selbst erstaunt über ihre gute Idee: »Es gibt Läden, da kannst du flotte Klamotten einkaufen, auch in dieser Größe, glaub mir!« Punkt. Ausgestanden. In mir flackerte ein Licht, das Licht der Hoffnung. (Juhu, ich musste nicht aussehen wie eine Oma, juhu, ich musste nicht hungern und ewig Kalorien zählen, mir womöglich eine Waage kaufen oder Sport machen.)

Etwas zuversichtlicher hakte ich nach: »Und die Schlüpfer?« Ja, Schlüpfer nannte ich sie, denn Slip war ein viel zu zarter Ausdruck für diese Stoffbeutel mit drei Löchern. »Ach, Mädel!« Anika seufzte. »Hast du schon mal von den Pants gehört? Die sehen flott aus, die gibt es auch mit Spitze oder eben ganz einfach. Du bist sowieso dem Stringtanga-Alter entwachsen!« Ent… was? Entwachsen? Wie unverblümt sich Anika wieder ausdrückte, wie verteufelt nüchtern sie immer war. (Rausgewachsen, aus den Nähten geplatzt, in die Breite gegangen, ausladend, unförmig, pummelig, dickbäuchig!) Mir fielen so viele Synonyme zu entwachsen ein und Anika plapperte inzwischen munter weiter, von ihren eigenen Ideen regelrecht inspiriert. »Hotpants gibt es sogar, da ist dein Bäuchlein eingepackt.« Bäuchlein nannte sie das also, eine Verniedlichung der zu Fleisch und Fett gewordenen (einst schlankwüchsigen) Erscheinung. »Und es sieht trotzdem hübsch verpackt aus. Du musst dich damit nicht schämen!« Ich hörte nur hübsch verpackt und dachte an meine frühere Begründung, warum ich regelmäßig das Sonnenstudio aufsuchte: »Brauner Speck sieht besser aus als weißer« und alle lachten über diese Aussage. Nun ja, sie werden wohl gelacht haben, weil ich das sagte, obwohl ich aussah, als könne ich mich hinter einem Zaunpfahl umziehen und beim Duschen von Strahl zu Strahl springen. Schließlich mochte ich Anika und ihre Art. Ich wusste genau, dass ich dringend nachdenken musste und dafür brauchte ich Zeit und Ruhe.

Ich musste meine gesamte Kleidung im Kopf neu gestalten und mich dann aufmachen, um die XXL-Läden zu stürmen. Ich kannte einen Laden, der hieß: »Fülle in Hülle«. Immer, wenn ich früher daran vorüberfuhr, bedauerte ich die Frauen, die dort einkaufen gingen. »Oh Anika, danke, dass du mir wieder zugehört hast!« Anika lachte und sagte: »Du bist mir Eine! Gerne immer wieder, meine Liebe!«

Ja, ich war Eine, und was für Eine … Ich war seit Tagen eine – eine unausstehliche, alternde Diva und alles andere als eine liebe. Ich brannte und ich war aggressiv. Vielleicht wurde ich schon wie meine Mutter? Ich kam mir vor, als würde ich auf einem Pulverfass sitzen, in dem sich die andere Mitte meines Lebens befand (gealtert, faltig, zerfressen von Bitterkeit und folglich auch unsexy … und nicht zu vergessen: mit einem Sparbuch unter dem Kopfkissen, in dem ich jeden Monat die Verbesserung der Qualität des Holzes für meine Kiste verfolgen konnte).

Ab 40 wird's eng!

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