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Niemals Hobbycamperin

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In den nächsten Tagen wurde es ruhiger in mir. Ich hatte nämlich eine phänomenale Entscheidung getroffen. Wenn ich schon so rasant und unvorbereitet in die Phase des Klimakteriums, mit fast 45 Jahren unsanft aus der Mädchenwelt herausgerissen, regelrecht gestoßen wurde, dann musste ich dies mit Würde tun: stumm und duldsam. Ich brauchte nun kein neues Tuch, keine hübschen Stiefeletten für den nächsten Frühling, sondern ganz eindeutig Tuniken und Ponchos, unter denen ich all das verstecken konnte, was mir meine letzte mädchenhafte Würde zu rauben beabsichtigte. Auch meine Brüste beschlossen, ein Eigenleben zu entwickeln. Das stelle Frau sich vor: Es ist ja noch zu verkraften, von zwei lieblichen Tennisbällen zu zwei voluminösen Ballons zu wechseln. Doch ich dachte auch an meine süßen, mir im Laufe der Jahre ans Herz gewachsenen Stringtangas. Wenn ich die jetzt anprobierte, quollen links und rechts vom Spitzendreieck des Tangas einige unansehnliche Berge hervor (zumal der Sitz des Tangas inzwischen äußerst unausgeglichen wirkte). Ich hätte mein Augenlicht gern noch behalten (mein Mann sicher auch), dachte an meine Erziehung und an meine Mutter, die fast täglich zu sagen pflegte: »Du musst dich immer so anziehen, dass du dich niemals schämen musst, falls du dich mal ausziehen musst.« Also, um das vorweg richtigzustellen: Sie meinte, wenn mir mal was passierte und der Arzt packte mich aus, sollte er keinen Schreck bekommen oder womöglich selbst in einen komatösen Zustand gelangen.

Es hieß also einkaufen zu gehen. Ich überlegte, welche Riesenzelte ich jetzt käuflich erwerben würde. Da man mir meine immense, neue Konfektionsgröße nicht ansah, musste ich bei den Verkäuferinnen mit gnadenlosen Geschichten aufwarten. Die Gedanken an meine Mutter kamen mir gerade recht. Diese Frau, die mit 75 Jahren immer noch aussehen wollte, als würde sie sich bei Heidi Klums »Topmodel« bewerben wollen, sich ihr ganzes Leben lang mit Diäten quälte und auch von anderen verlangte, sich mit den Schönsten der Schönen zu messen, dieser Frau wollte ich jetzt eins auswischen. Das Beste an dieser kleinen Rache, die sich nur in meinem Bewusstsein abspielte, war: Sie würde nie davon erfahren.

Mein erster Einkauf gestaltete sich folgendermaßen: Der Laden sah erst einmal ganz normal aus. Ich schwänzelte zwischen den Kleiderkarussells hin und her, sah mir gedankenverloren einige Oberteile an und versuchte, mich auf den eigentlichen Zweck des Einkaufes zu konzentrieren. Ich musste mich an den Geruch in dem Laden gewöhnen, mich einfühlen und einstellen. Es war wie immer, wenn ich einkaufen ging. Doch dieses Mal stand ich unter extremer Spannung. Diese negierte ich mit aufrechtem Gang, vorgestrecktem Kinn und nach hinten geworfenem Haar, denn ich spürte die aufmerksamen Blicke der Verkäuferin auf der anderen Seite des Ladens auf mir.

Ich berührte die Sachen, ohne sie wahrzunehmen. Mein Blick war vernebelt. Dann nahmen Büstenhalter hinter mir meine Aufmerksamkeit in Anspruch und meine Augen wurden klarer. Schwarze, rote, weiße, orange Büstenhalter belebten mich ganz plötzlich. Sicheren Schrittes ging ich darauf zu und zitterte innerlich vor Aufregung. Ich berührte den Stoff des roten Büstenhalters, der ziemlich groß aussah und atmete tief ein. Dann sah ich auf das Etikett: 90 Doppel D und das veranlasste mich, den BH näher unter die Lupe zu nehmen. Ich nahm ihn samt Bügel von der Stange und traute meinen Augen nicht. Die Träger waren mindestens drei Zentimeter breit und auch der hintere Bereich des Doppelrundzeltes war alles andere als zierlich gestaltet. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich erinnerte mich an meine früheren BHs, deren Träger höchstens einen Zentimeter breit waren, zart mit Spitze versehen. Manche hatten sogar nur Spaghettiträger, waren am Büstenteil mit Stickereien, Schleifchen oder Spitze verziert.

Bevor ich den Schreck überhaupt verdauen konnte, kam die Verkäuferin auf mich zu. »Kann ich Ihnen helfen?«, sprach sie, freundlich lächelnd, die mir verhasste Standardfrage der Verkäufer aus. (Verdammt noch mal, mir ist nicht mehr zu helfen!) »Äh, ja«, stotterte ich und versuchte, mich zu sammeln. »Ich suche einen Slip für meine Mutter. Die liegt gerade im Krankenhaus.« So sprach ich meinen ersten, vor dem Spiegel einstudierten Satz, der überzeugend wirken sollte. Die hübsche, geschickt geschminkte Verkäuferin (ihre Mutter war sicher Verkäuferin bei Douglas) sah mich mitleidig an. Dieser Blick gefiel mir, gerade in meiner Situation. Ich fand das gar nicht so übel. So bemitleidete sie mich für etwas, was sie gar nicht wusste – eine tolle Sache. »Welche Größe hat ihre Mutter denn?« »44 bis 46«, brachte ich unwillig hervor und versuchte, gelangweilt auszusehen. »Ich zeige Ihnen gleich mal einige Slips«, meinte sie hochmotiviert und wies in die Ecke des Ladens. Dann kam das absolut Unvermeidbare. Ich folgte ihr wie in Trance, ahnend, welche Hürden es nun zu überwinden galt, zu einem Wühltisch, in dem sich die mir jahrzehntelang verhassten »Baumwollzelte«, wie ich sie stets überheblich zu nennen pflegte, befanden. Ich war der vollen Überzeugung, dass ich niemals, wirklich niemals (nicht einmal mit 70 Jahren) solche Dinger tragen würde! Sie sahen tatsächlich nicht einmal im Entferntesten einem Slip ähnlich und ich zweifelte daran, im richtigen Geschäft zu sein. (Vielleicht hatte ich mich in einen Laden für Hobbycamper verirrt? Ich hasste Campen, schon immer. Zu viel Chaos, zu wenige Rituale.) »Schauen Sie, hier gibt es viele Varianten: Die hohe Variante«, fuhr die Verkäuferin in einem Ton fort, als ob ich mich zwischen einem Zwei- oder Vierpfundbrot entscheiden müsste. Die niedrige Variante, die sie mir dann zeigte, war schon enorm hoch für mich. Also gestikulierte ich mimikreich, dass meine Mutter wohl doch eine recht moderne Frau sei und ich sie lieber noch einmal fragen würde. Wie ein Feger verließ ich den »Hobbycamper« und verschwand für den Rest des Tages in meinem Taschentuch.

Rückblick: »Was ist mit dir los?«, hatte Mutter vor drei Monaten gefragt, als ich sie das letzte Mal sah. »Was konkret meinst du?«, entgegnete ich, obwohl ich wusste, dass ich mir diese Frage hätte sparen können. »Na, wenn du schon krank bist, musst du dich nicht auch noch vollfressen und solche körperlichen Ausmaße erreichen!«, plärrte sie mich an und ihre Stimme überschlug sich hysterisch. Sie fragte nicht, wie es mir ging. Sie fragte nicht, ob ich die Medikamente vertrug, welche Spuren diese Chemiekeulen in meinem Körper hinterließen. Sie besuchte mich nie im Krankenhaus. Sie fragte nichts, was eine Mutter fragen sollte. Seit ich denken konnte, befand sie sich in dieser Nahrungssklaverei und hinterließ in mir nichts anderes als Essstörungen. Fünfzehn Jahre kotzte ich mir fast die Seele aus dem Leib, um dünn zu sein und arbeitete mich krank, um ihr und den anderen Leistungssüchtigen der Familie zu genügen. Als ich dann dünn war, fühlte ich mich leichter, aber auch meines Glaubens an mich selbst beraubt. Eines Tages machte mir ein Arzt klar, dass ich sterben würde, wenn ich nicht in eine Klinik ginge. Ich hatte keine Lust auf Gevatter Tod, zumal ich ihm schon einmal begegnet war. Es war keine sonderlich angenehme Begegnung. Ich wollte leben – und vor allem lebendig sein.

»Zieh einen kurzen Rock an«, hatte mir Mutter vor der Feier zu ihrem 60. Geburtstag befohlen. »Und trag endlich mal Farben!«, gackerte sie weiter. Ich zog einen Rock an, trug rot (ich hasste rot!) und zupfte den ganzen Abend an meiner Kleidung herum. Das war nicht ich! Ich trug damals gern Hosen, kleidete mich lieber schlicht und eher unauffällig. In einem dieser Momente, als ich meinen Rock zu richten versuchte, fauchte mich Mutter an: »Was machst du denn da? Das ist ja furchtbar!« »Nächstes Mal ziehe ich an, was ich will!«, giftete ich mutig zurück und fühlte wieder jene Wut in mir aufsteigen, die ich aus den letzten Jahren kannte. Wer war diese Frau, die mich so attackierte? Ich, die sich sonst immer so ergeben und liebeshungrig verhielt, rollte mich ein, wurde unantastbar und nicht zu durchdringen; für einen Bruchteil meines Lebens fühlte ich mich unverletzlich. Die Krankheit, die mich vor einem Jahr eingeholt hatte, empfand ich als Strafe dafür, dass ich bis vor 15 Jahren mit meinem Leben spielte und dem Tod die Gelegenheit gab, mich als Opfer ins Auge zu fassen. Doch wieder ließ ich mich nicht von ihm einschüchtern. Er war noch viel träger als ich.

Ab 40 wird's eng!

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