Читать книгу Das Geheimnis des alten Tagebuchs - Sylvia Weill - Страница 10
6. Kapitel
ОглавлениеAls ich die große Treppe hinaufging, sah ich mir zum ersten Mal seit Tagen wieder das Bild von Lady Cunningham an. Wenn man sich an etwas sattgesehen hat, schaut man nicht mehr hin. So war es mir mit dem Bild ergangen, das mich in den ersten Tagen meines Aufenthalts so fasziniert hatte. Morgen würde ich den Mann kennenlernen, mit dem sie verheiratet gewesen war. Hatte sie ihn geliebt?
In der düsteren Schattenwelt des Gaslichts glaubte ich ein leichtes Grinsen auf ihrem Gesicht zu erkennen, so als wollte sie mich verhöhnen.
Schnell lief ich in den Gang, der zu meinem Zimmer führte. Hier war es noch dunkler, weil nur zwei Gaslichter den ganzen Gang notdürftig erhellten. Zum ersten Mal fürchtete ich mich ein wenig. Aber wovor? Vor den Geistern der Burg oder vor den Menschen, die hier lebten?
Als ich mein Zimmer betreten wollte, fiel mir ein, dass ich Viola versprochen hatte, noch nach ihr zu sehen, sobald ich zurück war. Also ging ich eine Tür weiter und öffnete sie leise.
Wieder kam mir eine unnatürliche Wärme entgegen, die von dem heftig lodernden Kamin im Zimmer herrührte. Ob das für das Kind so gesund war?
Die Dielen knarrten, als ich auf ihr Bett zuging – und davon wurde sie wohl wach. Verschlafen sah sie mich an.
„Daddy ist zurück“, flüsterte sie. „Ich habe ihn so lieb!“
Ich strich ihr über ihre Haare, und sie schlief gleich wieder fest ein.
Wenn sie ihren Vater so liebhatte, musste er ein guter Mensch sein. Das beruhigte mich etwas.
Trotzdem schlief ich in dieser Nacht sehr unruhig. Der wunderschöne Nachmittag mit Lord Archibald war vergessen. Jetzt war ich schon so lange hier auf Darkhaven und würde erst morgen den Hausherrn kennenlernen. Bislang hatte ich mich hier sehr wohlgefühlt. Wie würde es nach dem morgigen Tag sein?
Als ich beim Frühstück in der Küche saß, kam Mary auf mich zu und teilte mir mit, dass Lord Cunningham mich danach zu sprechen wünsche. Sie beschrieb mir, wo sich sein Zimmer befand. Es lag direkt neben der Bibliothek. Bisher hatte ich es nicht betreten.
Ich stand auf und machte mich auf den Weg.
Es war schon immer so gewesen, dass ich Dinge, die erledigt werden mussten, möglichst schnell hinter mich bringen wollte.
Mrs Pimrose lächelte mir aufmunternd zu. Was bedeutete diese Mimik?
Ich klopfte an die Tür.
„Herein“, sagte eine tiefe, feste Stimme.
Ich öffnete die Tür und trat ein.
Auch hier brannte, obwohl es schon Sommer war, ein Feuer im Kamin. Ob dies wohl in den nächsten Monaten entbehrlich sein würde?
Ich zwang mich, zu dem Mann hinter dem großen Schreibtisch zu sehen. Im selben Moment stand er auf und kam auf mich zu. „Miss Burton.“
Mir stockte der Atem. Dies war der attraktivste Mann, den ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Er war groß, breitschultrig, mit langem schwarzem Haar und Augen so blau wie Kornblumen.
Er gab mir die Hand und deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch. Steif setzte ich mich.
Ich fragte mich, was ich eigentlich erwartet hatte. Jedenfalls nicht das. Er war das Gegenteil von seinem Bruder. Nichts an ihm wirkte weich und verführerisch. Auch seine Stimme klang hart, und er schien das Befehlen gewohnt zu sein.
Und noch etwas bemerkte ich, ehe er viel gesagt hatte: Dieser Mann war so verschlossen und distanziert, dass er niemanden an sich heranließ. Außer vielleicht Viola.
„Ich freue mich, dass wir uns endlich kennenlernen“, sagte er in einem ruhigen Plauderton. „Mein Beileid zum Tod Ihres Vaters.“
Ich brachte nur ein leichtes Nicken zustande. Warum schüchterte er mich nur so ein?
„Viola erzählte mir von Ihrem Unterricht und von dem Besuch im Garten. Ich freue mich, dass Sie ihr Herz gewinnen konnten.“
Erstaunt sah ich ihn an. „So weit würde ich noch nicht gehen.“
„Oh, ich denke, das können Sie. Ich kenne meine Tochter.“
Langsam bekam ich wieder Gewalt über mich und erinnerte mich an meine Mission hier. „Mylord, ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie in mich gesetzt haben. Ich hoffe, ich kann es rechtfertigen. Es gäbe natürlich bezüglich Viola einiges zu besprechen.“
„Ach, das kann noch warten. Ich werde erst einmal länger hier sein. Haben Sie sich denn schon gut auf Darkhaven eingelebt?“
Jetzt wurde ich vorsichtig, denn er hatte ganz bestimmt schon Mrs Dunners gefragt, wie ich mich hier so machte.
„Oh danke. Ich denke schon. Es ist ein besonderer Platz hier, und ich bin froh, dass ich einen so liebenswürdigen Schützling habe. Und Ihr Bruder hat mir auch in letzter Zeit sehr geholfen, mich hier gut einzuleben.“
„Mein Bruder, ah ja.“ Seine Stimme klang reservierter und seine Miene verdüsterte sich. „Gut, Miss Burton, das wäre zunächst einmal alles. Wir reden später weiter über Ihre Pläne mit Viola.“
Dann widmete er sich wieder seinen Dokumenten und schien mich schlagartig vergessen zu haben.
Ich ging unsicher zur Tür.
„Mylord“, flüsterte ich und schloss die Tür hinter mir.
Das also war die erste Begegnung mit dem Herrn von Darkhaven. In mir kochten unterschiedliche Gefühle hoch, die ich nicht ordnen konnte. Am meisten aber ärgerte mich seine Arroganz, die mir erst jetzt richtig bewusst wurde. Oder hielt ich es nur für Arroganz? Ich wusste es nicht und verfluchte in diesem Moment meine Unwissenheit, was Männer anbelangt.
Wie anders war da doch Lord Archibald? Er besaß keine Spur von Arroganz, war die Liebenswürdigkeit in Person. Außerdem war er offen und zugänglich, nicht so verschlossen und kalt wie sein Bruder.
Und doch verstand ich jetzt, warum eine so atemberaubend schöne Frau wie Lady Cunningham seine Frau geworden war.
Viola hatte sich von ihrer Unpässlichkeit schnell erholt, und wir konnten den Unterricht wiederaufnehmen. Seit ihr Vater zurückgekehrt war, schien sie mir etwas selbstbewusster geworden zu sein.
Auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin, bezogen wir die Biologie vermehrt in unsere Unterrichtsstunden mit ein. Für den praktischen Teil mussten wir dann natürlich in den Garten gehen. An manchen Tagen konnte sie es kaum erwarten und zerrte mich fast ins Freie. Aber ich ließ sie gewähren, denn mir wurde schnell klar, dass nicht allein die praktische Umsetzung des Gelernten ihr so wichtig war, sondern mehr die kleinen Kätzchen. Sie konnte nicht genug von ihnen bekommen und rief sie immer wieder bei ihren Namen. Sie gehorchten ihr sogar, stellte ich erstaunt fest. Immer wieder kam Viola zu mir gelaufen und berichtete mir mit leuchtenden Augen, was Tic, Tric und Trill alles angestellt hatten. Ich hörte es mir sehr interessiert an und freute mich mit ihr. Irgendwie musste ich es schaffen, dass sie dieses Vergnügen auch mit anderen Kindern in ihrem Alter teilen konnte.
An einem der nächsten Tage wurde ich gleich zweimal Zeuge von Gesprächen, die nicht für meine Ohren bestimmt waren.
Viola machte ihren Mittagsschlaf, und ich wollte kurz Lizzy besuchen, als ich am Ende des oberen Gangs leise Stimmen hörte. Eigentlich ist es nicht meine Art zu lauschen, aber ich blieb unwillkürlich stehen, als ich die Stimmen deutlicher hörte.
Es waren Mrs Dunners und Lord Archibald, die sich fast flüsternd unterhielten.
„Er ist wütend, dass ich mit ihr zusammen war“, sagte er.
„Das war doch klar. Wir kennen ihn doch. Hoffentlich wird sie nicht zum Problem“, flüsterte Mrs Dunners.
Eigentlich wollte ich unschuldig um die Ecke biegen und so tun, als hätte ich nichts gehört, aber jetzt drückte ich mich neben einen der Schränke, sodass mich niemand bemerken konnte, der kurz in den Gang gesehen hätte.
„Sie wird langsam ungeduldig und fragt ständig, wann sie kommen kann“, sagte Mrs Dunners mit einer Stimme, die ich an ihr noch nicht kannte. Wie viele Facetten hatte diese Frau eigentlich?
„Ich fürchte, wir müssen unsere Pläne ändern. Ich kenne ihn zu gut.“ Das war Lord Archibald mit einer Kälte in der Stimme, dass ich fast seinen Bruder heraushören konnte.
Dann entfernten sie sich.
Ich war über dieses mehr oder weniger unfreiwillig gehörte Gespräch so verstört, dass ich den Besuch bei Lizzy verschob und in mein Zimmer zurückging. Erst in meinem Erker fühlte ich mich wieder etwas sicherer.
Was hatten diese rätselhaften Worte wohl zu bedeuten? Hatten sie am Ende etwas mit mir zu tun? Diesen Gedanken schob ich jedoch gleich wieder weit von mir.
Vielmehr kam ich nicht damit klar, dass ich diese beiden Menschen plötzlich in einem ganz anderen Licht sehen musste. Mrs Dunners, kalt und dominierend, die jedem zeigte, dass sie niemanden mochte, sprach mit Lord Archibald in einer Vertrautheit, als wäre sie seine Mutter. Und Lord Archibalds Stimme hatte so hart und berechnend geklungen, wie es so gar nicht zu dem Archibald passte, den ich kennengelernt hatte. Sie schienen etwas gegen Lord Cunningham im Schilde zu führen. Oder wer war mit „er“ gemeint?
Plötzlich fiel mir Mrs Pimrose ein, deren eigenartige Reaktion auf die Frage nach Lord Archibald ich schon fast vergessen hatte.
Was geschah da nur um mich herum, was ich nicht verstand und was mir Angst machte? In diesem Moment sehnte ich mich nach dem Pfarrhaus zurück, wo ich immer zu meinem Vater laufen konnte, wenn ich etwas nicht verstand. Sein Urteil über Menschen war nie vernichtend ausgefallen. Bei jedem hatte er versucht, noch etwas Positives zu finden. Und auch Mrs Stevens hatte mir die Welt erklärt, wenn auch oft etwas drastischer als mein Vater.
Hier konnte ich niemanden fragen. Vielleicht Mrs Pimrose, aber so gut kannten wir uns auch noch nicht. Vielleicht sollte ich es trotzdem versuchen.
Plötzlich fühlte ich mich in diesem alten Gemäuer unendlich einsam und verlassen.
Als ich nach dem Nachmittagsunterricht in die Küche zu Mrs Pimrose ging, hörte ich schon von Weitem einen lautstarken Streit. Die Tür zum Zimmer von Lord Cunningham war nur angelehnt, und es bestand kein Zweifel daran, wer sich dort so laut stritt, dass es noch Lizzy im Pferdestall hören musste. Es waren die beiden Brüder.
Hier und da in der großen Halle standen Dienstboten und sahen sich entweder ratlos oder aber verängstigt an. Ich blickte wohl eher ratlos.
Und worum es ging, war auch unmissverständlich zu verstehen. Geld war der Grund des Streits.
Lord Archibald hatte seinen Bruder wohl um Geld gebeten – und dieser hatte es abgelehnt. Lord Cunningham machte seinem Bruder gerade bittere Vorwürfe über dessen leichtfertigen Umgang mit Geld. Auch von Spielschulden war die Rede und dass er jetzt den Geldhahn ein für alle Mal zudrehen würde. Lord Archibald müsse endlich lernen, mit Geld sparsamer umzugehen. Darauf brach dieser in wüste Beschimpfungen aus, die mir die Schamesröte ins Gesicht trieben. Solche Worte aus dem Mund des sanftmütigen und liebenswerten Lord Archibald? Ich war schockiert.
Im nächsten Moment flog die Tür auf, jeder der Umstehenden sprang instinktiv beiseite, so auch ich, und Lord Archibald stampfte mit wutverzerrtem Gesicht aus dem Raum und lief auf den Burghof hinaus.
Wir sahen uns verständnislos an, bis sich die Erstarrung langsam löste und jeder wieder seiner Wege ging.
Hatte ich mich am Ende in Lord Archibald getäuscht, und gab er mir gegenüber nur vor, so nett und so jungenhaft zu sein? Aber wenn das so war, warum sollte er sich dann die Mühe machen? Ich war nur ein unbedeutendes Mitglied des Haushalts. Oder brachte sein Bruder ihn mit seiner Kälte so weit, dass er die Fassung verlor? Ich neigte zu dieser Erklärung, er tat mir schon wieder leid.
Ich ging zu Mrs Pimrose und setzte mich wortlos an den Küchentisch. Sie war gerade dabei, für uns Tee zu kochen. Da sie nichts sagte, ging ich davon aus, dass sie mein Aufgewühltsein bemerkt hatte.
Nachdem sie mir eine Tasse Earl Grey eingeschenkt und ich Milch und Zucker hineingegeben hatte, sagte sie: „Ich hab es bis hierher gehört. So geht das oft zwischen den beiden.“
Ich sah sie an. Was wusste sie, was ich nicht wusste?
„Wie kann Lord Cunningham ihn nur so weit bringen?“, sagte ich verständnislos.
Wieder kam ihr „Pff“ und ihr großer Busen wogte vor Entrüstung. „Kindchen, Sie gehören jetzt zu diesem Haushalt und deshalb sage ich Ihnen was.“ Sie beugte sich zu mir, um mir zuzuflüstern: „Lord Archibald ist nicht der, der er zu sein vorgibt.“ Dazu nickte sie bedeutsam.
Gerade als sie weitersprechen wollte, ertönte ein schneidendes: „Mrs Pimrose!“
Erschrocken fuhren wir beide zusammen. Mrs Dunners stand hinter uns und hatte wohl mitbekommen, worum es ging.
„Wollten Sie nicht die Lammkoteletts für das Dinner vorbereiten? Die Minzsoße sehe ich auch noch nicht.“
Mrs Dunners warf mir einen unergründlichen Blick zu, drehte sich um und verließ die Küche. Damit war der Moment der Vertrautheit zwischen Mrs Pimrose und mir verflogen.