Читать книгу Das Geheimnis des alten Tagebuchs - Sylvia Weill - Страница 5

1. Kapitel

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Als ich Darkhaven das erste Mal sah, stand ich an der Bootsanlegestelle von Readingsworth. Die Sonne ging gerade unter, und so konnte ich Darkhaven nur in einem feinen Dunst sehen. Es schien mir wie ein Blick auf eine andere Welt. Nicht weit von der Küste entfernt lag eine kleine Felseninsel im Meer, auf deren höchstem Punkt schon die Normannen eine befestigte Burg gebaut hatten. Darkhaven.

Ich weiß noch genau, dass in zwei Fenstern Licht zu sehen war und ich mich fragte, was wohl gerade dort vor sich ging. Der Gedanke machte mir ein wenig Angst. Instinktiv zog ich meinen warmen Umhang fester um die Schultern und setzte mir die Kapuze auf, weil mich leicht fröstelte.

Was würde mich dort drüben erwarten? Wie oft hatte ich mir diese Frage schon gestellt, seit ich in York alles hinter mir gelassen und mich auf den Weg nach Devon gemacht hatte?

So weit nach Süden war ich noch nie gekommen und um ehrlich zu sein, war es die erste große Reise in meinem zweiundzwanzigjährigen Leben.

Seit ein paar Jahren gab es die Eisenbahn in England, und ich muss sagen, es war zwar eine anstrengende Reise, aber allemal besser als die mit Postkutschen, die immer noch fuhren und die ich zur Genüge kennengelernt hatte bei Fahrten in die Umgebung.

Darkhaven ist zu Fuß nur bei Ebbe über einen schmalen Damm zu erreichen, meistens aber werden die Menschen mit einem Boot übergesetzt.

Dazu war es aber heute Abend bereits zu spät, sodass man mir ein Zimmer in einer Pension direkt gegenüber der Bootsanlegestelle reserviert hatte.

Darauf war ich schriftlich vorbereitet worden. Morgen früh würde zur ausgemachten Stunde ein Boot auf mich warten und mich zu meiner neuen Heimat bringen.

Warum machte mich dieser Gedanke nicht froh? Es ist alles noch zu aufregend und neu für mich, versuchte ich mich selbst zu beruhigen.

Erst jetzt bemerkte ich, dass der Umhang und mein langes Kleid den nassen Sand am Strand berührten und davon wahrscheinlich schmutzig werden würden. Also raffte ich sie leicht und ging wieder auf die befestigte Straße.

Ich wollte aber noch nicht in die Pension zurückgehen, wo Mrs Pandergast sicherlich schon auf mich wartete, um mir das Dinner zu servieren. Sie war wohl der Ansicht, dass es nicht schicklich für ein so junges Ding wie mich war, solch eine lange Reise allein zu machen und dann auch noch abends ohne Begleitung vor die Tür zu gehen. Am liebsten hätte sie mich wohl noch höchstselbst in mein Zimmer gebracht, um sicherzugehen, dass ich auch wirklich in mein Bett ging und dort auch verblieb.

Ich wollte die Seeluft noch ein bisschen genießen. Dabei schweifte mein Blick immer wieder hinüber nach Darkhaven, das langsam, aber sicher im Abenddunst verschwand. Die Lichter, die vor Kurzem noch so deutlich erkennbar gewesen waren, sah ich kaum noch.

Fühlte man sich auf so einer kleinen Insel nicht eingesperrt? Darüber hatte ich noch überhaupt nicht nachgedacht. Aber diese Überlegung war sowieso ein einziger Luxus, denn ich hatte ja keine Wahl. Ich war nun auf mich allein gestellt und würde mich auf Darkhaven bewähren müssen.

Zu Tante Etheldreda wollte ich auf gar keinen Fall. Sie lebte in London, hatte sich der Bewegung um Miss Nightingale angeschlossen und war sehr eigen. Auf meiner Reise hatte ich eine Nacht bei ihr verbracht und war gelinde gesagt froh gewesen, als ich am nächsten Tag weiterreisen konnte.

Jetzt kam ein kühler Wind von der See her, und mir wurde wirklich ziemlich kalt. Also machte ich mich seufzend auf den Weg zu Mrs Pandergast, die mich sofort an ihren üppigen Busen drückte und begann, mir das Dinner aufzutischen.

Obwohl ich nicht hungrig war, langte ich zu, da es wider Erwarten gut schmeckte und ich die liebe Frau nicht enttäuschen wollte. Als sie mir Kaffee brachte, fragte ich: „Kennen Sie die Leute von Darkhaven?“

Sie zuckte beinahe unmerklich zusammen, und ein Hauch von Unbehagen schien sie zu überkommen. „Kaum“, murmelte sie und verschwand in der Küche.

Ich dachte mir nichts dabei und ging dann in mein Zimmer, jetzt doch müde von der Reise. Aber ich konnte nicht einschlafen. War es das ungewohnte Geräusch der Wellen, die direkt auf mein Fenster zuzurollen schienen? Oder war es meine ganze Lebenssituation, über die ich jede Nacht seit dem Tod meines Vaters nachdachte? Ich wälzte mich hin und her und kam innerlich nicht zur Ruhe. Natürlich war ich auch angespannt wegen des morgigen Tages. Was würde er mir bringen? Ich kannte ja niemanden auf Darkhaven. Was wäre, wenn ich dort nicht bleiben konnte?

Ein Leben bei Tante Etheldreda mit ständigen Versammlungen ihrer Genossinnen, um Protestaktionen zu planen und durchzuführen, immer haarscharf am Gefängnis vorbei? Diese Aussicht beunruhigte mich. Außerdem machte mir London Angst. Allerdings hätte ich unsere junge Queen Victoria wirklich gern einmal von Nahem gesehen.

Ich stand auf, entzündete die Kerze auf dem Nachttisch und begann, in der Bibel meines Vaters zu lesen, die ich als einzigen Gegenstand aus dem Pfarrhaus mitgenommen hatte. Bald legte ich sie aber wieder aus den Händen.

Und wie jede Nacht kamen die Tränen. Ich konnte sie nicht stoppen. Wie sehr ich an meinem Vater gehangen hatte, wurde mir erst nach seinem Tod richtig bewusst.

Mein Leben im Pfarrhaus war sehr behütet gewesen. Das ganze Dorf war wie eine große Familie. Alle liebten meinen Vater. Seine Gottesdienste waren immer sehr gut besucht, und wir waren jeden Sonntag bei einer anderen Familie zum Lunch eingeladen.

Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie bekam die Schwindsucht, und dann ging alles ganz schnell. Eigentlich erinnere ich mich gar nicht mehr so richtig an sie. Von Geburt an war ich der Liebling meines Vaters. Vielleicht, weil meine Eltern schon zwei Kinder verloren hatten.

Nach dem Tod seiner Frau beschloss mein Vater, dass er nun lange genug die Pflichten eines Ehemanns erfüllt hatte und kümmerte sich fortan nur noch um mich. Daran fand auch niemand etwas auszusetzen, obwohl einige Frauen im Dorf sich insgeheim bestimmt Hoffnungen gemacht hatten.

Seine Haushälterin, Mrs Stevens, hatte sowieso einen Narren an mir gefressen – und so vermisste ich nichts. Erst als mein Vater krank wurde, musste ich erkennen, dass er ein alter Mann geworden war. Es ging ihm zusehends schlechter, ohne dass die Ärzte richtig sagen konnten, was ihm fehlte. Er litt oft unter unsagbaren Schmerzen.

So musste die Kirche von England schließlich seine Nachfolge regeln – und ich wurde innerhalb von wenigen Monaten erwachsen. Im Pfarrhaus konnte ich nicht bleiben. Vaters Nachfolger, der junge Reverend Smith, war noch unverheiratet. Es hätte sich also nicht geschickt, wenn wir unter einem Dach gelebt hätten.

Bei einem seiner letzten Besuche war ich mit Reverend Smith spazieren gegangen, und er machte Andeutungen darüber, dass wir ja vielleicht heiraten könnten. So wäre allen geholfen. Aber für mich kam das nicht infrage. Ich fand ihn nett, aber sehr unbeholfen und konventionell. Außerdem stand mir zu dieser Zeit der Sinn nach allem, aber nicht nach einer Heirat.

So waren mein Vater und ich ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich nach seinem Tod zu seiner Schwester Etheldreda nach London ziehen würde. Sie war auch sofort einverstanden und freute sich auf ein neues Mitglied in Miss Nightingales Truppe.

Und dann kam wenige Wochen vor Vaters Tod ein Brief von Lord Rollo Cunningham. Er hatte meinen Vater vor vielen Jahren kennengelernt, und Vater hatte ihm wohl damals aus einer ziemlich misslichen Lage geholfen.

Jetzt hatte Lord Cunningham sich an ihn erinnert und schrieb, dass seine Frau vor einiger Zeit gestorben sei, man nun dringend eine Gouvernante für seine sechsjährige Tochter Viola finden müsse, und ob er ihm nicht weiterhelfen könne. Dabei erkundigte er sich natürlich auch nach dem Befinden meines Vaters und drückte nochmals seine Dankbarkeit aus.

Mein Vater sah dies als ein Zeichen des Himmels an. Er hätte mich zwar bei Tante Etheldreda wohlversorgt gewusst, aber er missbilligte ihr Engagement bei Miss Nightingale zutiefst. Dass sie sich für Arme und Kranke einsetzte, hielt er ja noch für christlich, aber dass sie sich darauf vorbereitete, mit Miss Nightingale in den Krimkrieg zu ziehen, verurteilte er auf das Schärfste. So etwas schickte sich nicht für eine Dame ihres Standes.

Wir besprachen also das Für und Wider und schließlich antwortete er Lord Cunningham und schlug mich für diesen Posten vor. Da ich bereits in der kleinen Dorfschule unterrichtet hatte, schien es uns beiden passend. Komischerweise erzählte er mir nicht viel über Lord Cunningham, der höchstens zehn Jahre älter sein konnte als ich. Es war irgendwie nicht wichtig. Ebenso erfuhr ich nicht, worin Vaters Hilfe damals bestanden hatte. Ich fragte auch nicht.

Mein Vater verfiel mit jedem Tag mehr, und ich war nur noch mit seiner Pflege beschäftigt.

Eine Woche vor seinem Tod kam die Antwort von Lord Cunningham, in der er sich sehr erfreut über Vaters Vorschlag zeigte und diesen gern annahm. Zudem gab er genaue Anweisungen für die Reise nach Darkhaven zwei Monate später und legte eine Eisenbahnfahrkarte bei. So fügte es sich, dass ich nach der Beerdigung meines Vaters noch genügend Zeit hatte, um alles Notwendige zu regeln.

Es war mir nicht leichtgefallen, York zu verlassen. Besonders der Abschied von Mrs Stevens war sehr schwer. Auch deshalb kommen mir jede Nacht die Tränen. Sie liebte mich wie ein eigenes Kind und für mich war sie eine Art Mutterersatz gewesen. Ich nahm mir vor, ihr gleich nach meiner Ankunft zu schreiben.

Und jetzt saß ich hier in diesem fremden Ort und kam mir vor wie Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies. Aber mein Vater hatte mir beigebracht, immer nach vorn zu schauen. Und damit war ich bisher ganz gut durchs Leben gekommen.

Also löschte ich die Kerze, sprach ein kurzes Gebet und schlief dann auch endlich in Mrs Pandergasts gemütlichem Bett ein.

Das Geheimnis des alten Tagebuchs

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