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2. Kapitel

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Am nächsten Morgen wartete ein üppiges Frühstück auf mich. Meine Zimmerwirtin hatte sich alle erdenkliche Mühe gegeben, mich zu verwöhnen. Aber ich war so aufgeregt, dass ich nicht viel essen konnte. Sie schien es achselzuckend zu verstehen.

Ich packte meinen Koffer, verabschiedete mich von Mrs Pandergast und ging langsam zu der Bootsanlegestelle, wo ich abgeholt werden sollte. Natürlich war ich wie immer zu früh. Das scheint mir in die Wiege gelegt worden zu sein. Ich sagte mir dann immer: „Na ja, besser zu früh als zu spät“, und vertrieb mir die Zeit. Das fiel mir an diesem Morgen aber schwer, denn meine Anspannung stieg.

Es war noch dunstig, die Sonne war hinter einer dicken Wolkenschicht verborgen, und man konnte Darkhaven wie am Abend zuvor nur im Nebel erkennen.

Wieder zweifelte ich, ob es richtig war, was ich vorhatte. War dieses Abenteuer nicht ein wenig zu groß für mich geraten? Andererseits war es gang und gäbe, dass sich junge Mädchen aus besserem Haus als Gouvernanten verdingten, wenn es finanzielle Engpässe in der Familie gab oder, wie in meinem Fall, man keine Familie mehr hatte. Der andere Weg wäre eine lukrative Heirat gewesen, aber das kam für mich überhaupt nicht infrage. Lieber wäre ich in ein Kloster für höhere Töchter gegangen. Aber ich fasste Mut, drückte mein Kreuz durch und fragte mich, was mir denn schon passieren könne.

Also ging ich auf und ab, immer darauf bedacht, dass mein Kleid und mein Umhang nicht den feuchten Sand aufnahmen – und sah immer wieder hinüber nach Darkhaven.

Endlich meinte ich, in der Ferne einen Punkt ausmachen zu können, der sich ganz langsam näherte. Tatsächlich war es das von mir erwartete Boot.

Wieder sah ich mich um, ob noch andere Personen nach Darkhaven übersetzen wollten, aber ich stand allein hier.

Nach einer Ewigkeit landete das kleine Boot genau vor mir. Ein alter mürrischer Mann nickte mir nur kurz zu, packte meinen Koffer, warf ihn in das Boot und setzte sich wieder auf seine Bank, bereit abzulegen. Ich war verwirrt und wusste kurzzeitig nicht, wie ich mich verhalten sollte, sprang dann aber kurz entschlossen in das Boot und setzte mich ihm gegenüber.

Vor mir lag Darkhaven.

Er sah mich nicht an und sprach kein einziges Wort, ruderte nur ganz gemächlich, so als täte er das schon hundert Jahre lang. Ich fand das sehr beklemmend, denn ich hätte mich gern mit ihm unterhalten, um mich darauf vorzubereiten, was gleich auf mich zukommen würde. So aber kam ich mir vor wie in Charons Boot auf dem Styx, das mich in die Unterwelt brachte. Panisch erinnerte ich mich, dass jeder Reisende laut dieser Sage Charon eine Münze für die Überfahrt geben musste. Verstohlen betrachtete ich meinen Fährmann und überlegte, ob er das wohl auch von mir erwartete, aber ich kam zu dem Schluss, dass er ein Angestellter von Lord Cunningham sein musste.

So näherte ich mich also Darkhaven – und wäre am liebsten wieder umgekehrt, so unheimlich war mir alles am helllichten Tag.

Die Überfahrt erschien mir ewig lang, aber schließlich kamen wir drüben an. Es war ebenfalls eine sehr schlichte Bootsanlegestelle, von der aus eine Steintreppe steil nach oben führte. Mein Fährmann nahm meinen Koffer, stellte ihn an Land ab, drehte sich wortlos um und ruderte wieder hinaus.

„Jetzt also beginnt der Ernst des Lebens, Annabelle“, sagte ich mir, nahm meinen Koffer und machte mich an den Aufstieg.

Dass die Treppe so lang und steil war, hatte ich nicht erwartet. Seit meiner Kindheit litt ich an Höhenangst. Hätte ich mich in diesem Moment umgedreht, ich hätte sicherlich einen Schrei losgelassen.

Stattdessen konzentrierte ich mich auf die Möwen, die links und rechts von der Treppe ihre Nester hatten und munter um meinen Kopf herumflogen. Dabei machten sie einen höllischen Lärm, der mich ein wenig ablenkte.

Oben angekommen sah ich ein altes Burgtor in der Mauer, das offen stand und hinter dem ein breiter Weg noch weiter nach oben führte.

Ich war ganz schön aus der Puste, als ich endlich oben auf dem Burghof ankam.

Schon von unten hatte ich gesehen, dass es sich um eine beeindruckende Burganlage handelte, die die Normannen vor langer Zeit erbaut hatten. Von hier aus hatten sie den gesamten Schiffsverkehr kontrollieren und Zölle erheben können. Das hatte mir mein Vater erzählt. Er hatte Lord Cunningham damals auf seine Burg begleitet. Warum nur hatte er mir davon erst auf seinem Sterbebett erzählt? Aber für solche Gedanken hatte ich jetzt keine Zeit.

Auf dem Hof war niemand außer mir, also sah ich mich unschlüssig um und ging dann auf den Haupteingang zu.

In diesem Moment kam die Sonne raus und blendete mich mit ihrem Strahlen. Als ich wieder sehen konnte, stand mir eine schüchterne Dienstmagd gegenüber.

„Miss Burton? Ich bin Daisy. Willkommen auf Darkhaven. Bitte kommen Sie herein.“

Ich nickte und folgte ihr. Drinnen musste ich erst einmal meinen Koffer abstellen, so sehr beeindruckte mich die Größe dieser Halle.

Links und rechts von mir gingen verschiedene Zimmer ab und vor mir führte eine große Treppe hinauf zu einer Galerie. Ein riesiger Leuchter hing von der Decke, und alles lag im Halbdunkel. Ein paar alte verzierte Truhen und Ritterrüstungen konnte ich ausmachen. Beim Blick hinauf zur Galerie sah ich am Kopfende der Treppe das riesige Bild einer wunderschönen Frau.

„Bitte kommen Sie zuerst mit in die Küche, Miss Burton. Da wartet eine gute Tasse Tee auf Sie. Mrs Dunners, die Haushälterin, kommt dann gleich.“

Die Küche erwies sich als ein Traum. In der Mitte standen mehrere große Kohleherde, über denen Töpfe und Pfannen hingen, und an den Wänden standen alte Eichenschränke, denen man ihr Alter ansah. Das Schönste war jedoch ein riesengroßer uralter Eichentisch, der am Fenster stand. Drum herum standen Bänke. Hier also aß das Gesinde, wie es in Herrenhäusern üblich war.

Ich setzte mich und sah erst jetzt eine beleibte ältere Frau, die sich an einem der Abwaschbecken zu schaffen machte.

„Das ist Mrs Pimrose, unsere Köchin“, sagte Daisy. Ich nickte ihr zu, und sie nickte geistesabwesend zurück. Offensichtlich wusste sie, wer ich war.

Daisy stellte mir eine Tasse dampfenden Tees mit Milch und Zucker hin und verschwand wieder.

Nach der Überfahrt durch den Dunst und dem langen Aufstieg war mir so klamm, dass mir der Tee guttat.

Hier fühlte ich mich gleich wohl, obwohl Mrs Pimrose weiter ihre Pfannen schrubbte und mich nicht beachtete. Im Pfarrhaus hatte ich auch immer am liebsten in der Küche gesessen und Tee getrunken.

Plötzlich strich mir etwas um die Füße. Erschrocken zog ich meine Beine weg. Ein unwilliges Maunzen setzte mich sogleich ins Bild. Eine wunderschöne grau getigerte Katze begrüßte mich.

Ich beugte mich zu ihr hinunter und streichelte sie. „Wenigstens du scheinst mich wirklich willkommen zu heißen“, dachte ich.

„Mr Tom, du hast hier nichts verloren, verschwinde!“, meldete sich Mrs Pimrose mit einer tiefen, voluminösen Stimme.

Am liebsten hätte ich protestiert, aber der Kater schien sie zu verstehen und trollte sich durch die offene Tür hinaus.

„Der weiß genau, dass er hier nicht reindarf“, schimpfte sie weiter. „Aber er versucht es doch immer wieder, das alte Schlitzohr. Weil ihm hier immer jemand etwas zusteckt“, murrte sie grimmig und rückte der nächsten Pfanne zu Leibe.

Ich hatte meinen Tee noch nicht ganz ausgetrunken, da hörte ich Schritte auf die Küche zukommen. Schritte, an denen ich gleich erkannte, dass ich die Person, die mit diesen Schritten auf mich zukam, nicht mögen würde.

Manchmal ist das wie ein sechster Sinn. Ich hatte diese Erfahrung schon ein paar Mal in meinem Leben gemacht.

Ich erblickte eine schlanke, ältere, ganz in Grau gekleidete Hausdame, die ihr Haar unter einer Haube streng nach hinten frisiert hatte, sich kerzengerade hielt und der man ansah, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen war.

„Wahrscheinlich kennt sie die Bibel auswendig“, schoss es mir durch den Kopf, und ich musste mir ein Grinsen verkneifen.

„Ich bin Mrs Dunners“, stellte sie sich mit einer harten, bellenden Stimme vor. Dann gab sie mir die Hand, was ich nicht erwartet hätte. „Folgen Sie mir bitte.“

Ich warf noch einen Blick auf Mrs Pimrose, deren Gesichtsausdruck ich aber nicht deuten konnte.

Wir gingen zurück in die Halle und stiegen die große Treppe hinauf. Dabei konnte ich gar nicht anders, als die ganze Zeit das wirklich sehr große Bild anzustarren, dem wir uns mit jeder genommenen Stufe weiter näherten. Darauf war die schönste Frau zu sehen, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Sie war jung, hatte die dunklen Haare hochgesteckt, trug ein bezauberndes Kleid und dezenten, aber wahrscheinlich sündhaft teuren Schmuck.

Mit einem rätselhaften Blick sah sie dem Besucher entgegen. Sie blendete mit ihrer Schönheit, ich mochte sie jedoch nicht. Aber wahrscheinlich sieht das jede Frau erst einmal so, die nicht mit einer ähnlichen Schönheit gesegnet ist. Wer sie wohl war? Ich traute mich nicht, Mrs Dunners zu fragen. Sie hatte die ganze Zeit, die sie einen Schritt vor mir herlief, kein weiteres Wort zu mir gesagt. Irgendwie schüchterte sie mich ein. Vielleicht wegen des großen Altersunterschiedes, aber vielleicht auch wegen der Härte, die sie ausstrahlte.

Sie würdigte das Bild mit keinem Blick, wohl deshalb, weil sie häufig am Tag daran vorbeiging. Außerdem konnte ich mir kaum ein gegensätzlicheres Paar vorstellen als die junge Frau auf dem Bild und Mrs Dunners. Ich nahm mir vor, die Identität der schönen Dame später zu klären.

Oben gingen einige Gänge ab, die wohl in die verschiedenen Flügel der Burg führten. Wir bogen in einen davon ein, der sich sehr lang und ein wenig düster vor uns auftat. An den Wänden hingen Bilder, die mich aber nicht weiter interessierten.

Fast am Ende des Gangs stoppte Mrs Dunners und öffnete mit einem Schlüssel ihres riesigen Schlüsselbunds, der an ihrem Gürtel hing, eine Tür.

Ich betrat das schönste Zimmer, das ich in meinem bisherigen Leben jemals gesehen hatte.

Ein großes Himmelbett stand an der Wand, Holztruhen und ein großer Schrank schufen die Atmosphäre eines herrschaftlichen Raumes. Am meisten aber der große Kamin. Große Fenster aus Bleiglas ließen das Licht ungehindert einfallen. Und noch bevor ich hindurchsah, wusste ich, dass ich von hier aus das Meer sehen konnte. An der linken Fensterseite war ein Erker mit Sitzbank eingebaut. Man konnte dort also sitzen und aufs Meer hinaussehen oder einer Handarbeit nachgehen.

Mrs Dunners musste wohl meinen verzückten Gesichtsausdruck bemerkt haben: „Seine Lordschaft hat angeordnet, dass Sie in diesem Zimmer untergebracht werden. Es liegt direkt neben dem von Miss Viola.“

An dem kaum wahrnehmbaren Unterton in ihrer Stimme bemerkte ich, dass sie selbst mit dieser Entscheidung überhaupt nicht einverstanden war. Und ich konnte sie sogar verstehen. Dies war nicht das Zimmer für eine Gouvernante, sondern der Raum für ein Mitglied der Familie.

„Seine Lordschaft bat mich, ihn zu entschuldigen, er ist im Moment nicht auf Darkhaven. Wir erwarten ihn erst in der nächsten Woche zurück. Er hat aber angeordnet, dass es Ihnen an nichts fehlen soll.“ Sie sah mich mit einem unergründlichen Blick an.

„Miss Viola werden Sie dann beim Lunch kennenlernen. Ich schicke Daisy, damit sie den Kamin anzündet und Ihnen beim Auspacken hilft.“

Dabei warf sie einen nicht zu deutenden Blick auf meinen Koffer und verschwand.

Aber sie konnte mir die unbändige Freude über diesen wunderschönen Raum nicht nehmen. Damit hatte ich nun überhaupt nicht gerechnet. Ich war ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass ich ein besseres Zimmer im Dienstbotentrakt zugewiesen bekommen würde, so wie es sich für eine Gouvernante schickte.

Ich ging zum Fenster und tatsächlich sah ich das Meer von hier. Es musste also der nördliche Flügel der Burg sein, in dem ich mich befand.

Eines der Fenster ließ sich öffnen, und ich hörte, wie sich die Brandung an den Felsen unter mir brach. Ich atmete tief ein.

Dann wandte ich mich wieder dem Raum zu. Ich setzte mich auf das Bett und stellte erfreut fest, dass es schön hart war. Ich hasse weiche Matratzen.

Erst jetzt nahm ich die Gobelins an den Wänden wahr und nahm mir vor, sie später eingehend zu studieren.

Neben dem Schrank an der Fensterseite sah ich eine unauffällige Tür. Ich öffnete sie und sah einen angebauten Abtritt, der wohl genau über den Felsen befand. „Wie praktisch“, sagte ich zu mir selbst. So etwas kannte ich gar nicht. Ich war es gewohnt, erst den Hof zu überqueren, um zum Abtritt zu kommen. Ich würde also nachts nicht durch diese düsteren Gänge schleichen müssen.

In der Ecke hing ein großer Spiegel, neben dem ein Waschtisch stand.

„Was für ein Luxus“, dachte ich. Als ich hineinsah, musste ich unwillkürlich an die Dame auf dem Bild denken. Ich musste lachen. Im Dorf galt ich gemeinhin als Schönheit, aber was war das gegen die überirdische Schönheit auf dem Bild? Ich hatte wie sie langes dunkles Haar und dunkelblaue Augen, aber was war das gegen ihre grünen Katzenaugen?

Eigentlich mochte ich mich im Spiegel immer gern anschauen, aber nachdem ich sie gesehen hatte, fühlte ich mich wie ein graues, langweiliges Mäuschen. Und meine Kleidung machte mich ja auch tatsächlich dazu.

Geld für teure Kleidung hatte es im Pfarrhaus nie gegeben. Und mein Vater hätte das auch nicht geduldet. Er hasste jede Form von Luxus und Tändelei. Beten und arbeiten, das war seine Lebensdevise. So wie ich angezogen war, konnte ich vielleicht noch ein wenig neben Mrs Dunners punkten, aber ganz sicher nicht neben der Dame auf dem Bild.

Daisy riss mich aus diesen müßigen Überlegungen.

Sie hatte schüchtern angeklopft und betrat den Raum. Wortlos machte sie sich daran, das Feuer im Kamin zu entzünden. Es gelang ihr aber nicht, und ich sah, dass sie sich dabei sehr ungeschickt anstellte. Da ich im Pfarrhaus beinah jeden Tag den Kamin in dem kleinen Wohnzimmer angezündet hatte, kam ich ihr zu Hilfe, und bald knisterte ein munteres Feuer vor sich hin.

„Danke“, flüsterte sie.

„Kommst du aus Readingsworth?“, fragte ich sie.

„Ja.“ Sie nickte schüchtern.

„Ach, dann kennst du ja bestimmt Mrs Pandergast?“

Sie sah mich überrascht an. „Ja. Sie ist meine Tante.“

Ich lachte. „Ich habe letzte Nacht in ihrer Pension übernachtet.“

Sie lächelte zum ersten Mal, seit ich sie kennengelernt hatte. So viel jünger als ich konnte sie nicht sein.

„Brauchen Sie meine Hilfe beim Auspacken?“

Ich wollte schon verneinen, denn die paar Sachen aus dem Koffer konnte ich spielend allein in den Schrank hängen, aber dann wäre sie sofort wieder verschwunden. Also nickte ich und wies auf den Koffer, den ich auf das Bett gestellt hatte.

Sie machte sich an die Arbeit.

„Wie lange bist du denn schon hier?“

„Ein halbes Jahr. Für meine Tante war es selbstverständlich, dass ich in Stellung gehen würde. Und seine Lordschaft war sehr freundlich.“

Jetzt konnte ich meine Neugier nicht mehr bezwingen. „Daisy, wer ist die Dame auf dem Bild in der Halle?“

Sie sah mich mit großen Augen an, aus denen ich nichts lesen konnte.

„Das ist Lady Cunningham. Sie ist vor sechs Monaten gestorben.“

Ich hatte mir so was fast gedacht.

Daisy verließ mich wieder, und ich setzte mich vor den Kamin. Ich war dankbar dafür, dass er brannte, denn obwohl es Frühling war, fröstelte mich leicht. Diese Kälte herrschte in alten Burgen ja immer. Wahrscheinlich muss man auch im Hochsommer ein Kaminfeuer anzünden.

Daisy hatte die Tür nur angelehnt. Plötzlich bewegte sie sich leicht und jemand kam herein.

Ich wollte schon aufstehen, als ich erleichtert feststellte, dass es Mr Tom war. Mit einem Satz sprang er auf meinen Schoß und rollte sich zusammen, als hätte er das schon immer so getan. Ich begann, ihn zu streicheln und hing meinen Gedanken nach. Ab und zu hörte ich ein Knarzen im Gebälk oder der Wind pfiff um die Zinnen, obwohl draußen die Sonne schien. Mr Tom schnurrte selig.

So bemerkte ich nicht, wie die Zeit verstrich.

Fast war ich über Mr Tom eingenickt, als es zaghaft klopfte und Daisy ihren Kopf zur Tür hereinsteckte.

„Ich komme, Sie zum Lunch abzuholen, Miss“, sagte sie und bemerkte erst dann Mr Tom. „Was machst du denn hier, du Rumtreiber? Na, lass dich bloß nicht von Mrs Dunners erwischen.“

Ich musste lachen und ging so, wie ich war, mit ihr. Der Herr des Hauses war ja nicht anwesend, und da ich die Gouvernante war, gehörte ich eigentlich zum Personal.

Früher hatte ich schon oft von dem zwiespältigen Schicksal vieler meiner „Leidensgenossinnen“ gehört, die in einem Herrenhaus unterrichteten und nicht richtig zur Familie, aber auch nicht richtig zum Hauspersonal zählten. Manche aßen am Tisch der Familie, manche beim Personal in der Küche und andere in ihrem Zimmer, zusammen mit den Kindern.

Aber ich machte mir über meinen Status hier keine Gedanken, denn jetzt würde ich meine Schutzbefohlene, die kleine Viola, kennenlernen.

Also folgte ich Daisy auf dem mir nun schon bekannten Weg durch den dunklen Gang und die Halle in die Küche.

Am Tisch saßen mehrere Personen, die meisten wohl Dienstmägde unterschiedlichen Alters, aber wohl auch der Stallmeister und sogar mein Fährmann saßen dort – und er sprach auch jetzt kein Wort.

Als sie mich wahrnahmen, verstummte das fröhliche Stimmengewirr, das ich schon von der Halle aus gehört hatte.

Daisy sagte nur: „Das ist Miss Burton“, und setzte sich an ihren Platz.

Ich lächelte allen zu und war etwas unschlüssig, wohin ich mich setzen sollte.

Da packte mich jemand energisch an der Schulter: „Na, Kindchen, dann setzen Sie sich mal hierher zu mir. Ich hoffe, Sie mögen das Essen von der alten Pimrose.“

In diesem Moment schien das Eis fürs Erste gebrochen. Mrs Pimrose war wohl die Autorität, auf die alle hörten.

Dankbar sah ich sie an. Alle anderen nahmen ihre Unterhaltungen wieder auf.

Es roch herrlich, und erst jetzt bemerkte ich, dass ich wirklich hungrig war.

Mrs Pimrose legte mir so viel auf, dass ich es kaum schaffen würde. Aber um sie nicht zu verärgern, langte ich kräftig zu. Das Essen schmeckte ausgezeichnet, was ich ihr auch mindestens nach jedem dritten Bissen sagte. Es schien sie glücklich zu machen.

Erst als sie einen Apple Pie zum Nachtisch servierte, bemerkte ich, dass Mrs Dunners und Viola nicht anwesend waren. Ich fragte das Mädchen, das neben mir saß, nach ihnen. Erstaunt sah sie mich an: „Mrs Dunners isst nie mit uns. Immer nur in ihrem Zimmer.“ Wortlos schien sie nachzuschieben: „Dem Himmel sei’s getrommelt und gepfiffen!“

„Und Viola?“

„Die fühlt sich heute wieder mal nicht wohl und ist im Bett geblieben. Ich schau gleich mal nach ihr.“

Mrs Pimrose mischte sich mit ihrer dunklen Stimme ein: „Seit ihre Mutter von uns gegangen ist, kränkelt sie nur noch, das arme Ding. Wurde Zeit, dass Sie gekommen sind, Miss. So kann das doch nicht weitergehen. Nichts von dem, was ich ihr hochbringen lasse, rührt sie an. Sie will immer nur Milchreis. Aber ich bitte Sie, davon kann sie doch nicht wachsen. Außerdem fehlt ihr die frische Luft. Ach, es ist ein Elend!“

Damit stand sie auf und trommelte ihre Gehilfinnen für den Abwasch zusammen.

Gleichzeitig erhoben sich fast alle vom Tisch, um wieder ihrer Arbeit nachzugehen.

Ich fragte das Mädchen, das neben mir gesessen hatte, wie ihr Name ist.

„Na, Mary“, gab sie zurück.

„Mary, darf ich dich begleiten, wenn du zu Miss Viola raufgehst?“

Sie sah mich an, als sei sie so eine Frage nicht gewohnt.

„Selbstverständlich. Sie sind doch jetzt ihre Gouvernante.“

Also machte ich mich mit ihr auf zu Lady Cunningham.

Wir gingen bis zu dem Zimmer neben meinem. Mary öffnete leise die Tür.

Ich trat mit ihr ein. Sofort schlug mir eine Welle sehr trockener Hitze entgegen. Im Kamin brannte ein starkes Feuer. Ich bekam kaum Luft.

Der Raum war zwar auf den ersten Blick ein Kinderzimmer, aber es war viel zu aufgeräumt. Alles befand sich ordentlich an seinem Platz.

In einer Ecke stand ein Kinderbett, auf das Mary zuging.

Dort lag schlafend das reizendste Mädchen, das ich bisher gesehen hatte. Langes blondes, lockiges Haar, seidige dunkle Wimpern und ein sehr unschuldiger Ausdruck auf seinem Gesicht.

Wir hatten es wohl doch geweckt, denn es schlug die Augen auf. Fast musste ich einen kleinen Aufschrei unterdrücken. Ich sah in die gleichen grünen Katzenaugen wie auf dem Bild seiner Mutter.

„Hallo, Miss Viola. Schau mal, wen ich dir mitgebracht habe.“ Mary trat etwas zur Seite, sodass Viola mich sehen konnte. Sie schaute mich einfach nur an, mit ausdruckslosen Augen.

„Seltsames Kind“, dachte ich.

„Hallo. Ich bin Miss Burton, deine neue Gouvernante.“

Jetzt wurde sein Blick neugieriger.

„Guten Tag, Miss.“ Dabei streckte Viola mir die Hand entgegen.

Erstaunt nahm ich sie und musste feststellen, dass sie sehr kalt war. Und schon ließ sie mich wieder los.

„Möchtest du etwas essen?“, fragte Mary wie jemand, der die Antwort schon kannte.

„Nein. Ich habe keinen Hunger.“

Mary zuckte nur mit den Schultern und verschwand.

Ich setzte mich in den Lehnstuhl neben dem Bett und sah mich im Raum um.

„Schön hast du es hier.“

„Ja, finden Sie?“, erwiderte Viola tonlos. Dabei schob sie die Decke weg und setzte sich auf den Bettrand. Erst dann sah ich, wie dünn und zerbrechlich sie war. Am liebsten hätte ich sie in den Arm genommen und fest gedrückt, um dann gleich mit ihr zu Mrs Pimrose zu gehen, damit die sie aufpäppeln konnte. Aber das musste wohl noch warten.

Sie sah einfach nur vor sich hin und wippte mit den Beinen.

„Kennen Sie meinen Vater?“, fragte sie nach einer Weile.

„Nein, noch nicht. Er kommt wohl erst nächste Woche zurück.“

„Ja. Und er bringt mir ein ganz großes Geschenk mit. Das macht er immer. Bringt Ihr Vater Ihnen auch Geschenke mit, Miss?“

Diese Frage traf mich mitten ins Herz. Oft war mein Vater nicht fort gewesen, aber wenn, dann hatte er mir immer eine Kleinigkeit mitgebracht. Manches davon habe ich noch lange Zeit aufgehoben. Mir stiegen Tränen in die Augen. Plötzlich vermisste ich ihn sehr.

Viola schien davon nichts zu bemerken, erwartete wohl auch keine Antwort.

„Ja, das hat er.“

Sie sah mich wieder nur an.

In diesem Moment wurde die Tür resolut geöffnet, und Mrs Dunners trat ein.

Sofort ging mit Viola eine Veränderung vor sich. Sie drückte ihr Kreuz durch, rutschte vom Bett und ging hinüber zu einem Stuhl, auf dem ihre Kleidungsstücke akkurat lagen.

Mrs Dunners ging zu ihr und half ihr in das Kleidchen und die Schuhe. Dabei fiel kein Wort. Dann nahm sie sie bei der Hand und zog sie mit sich.

Viola warf mir noch einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte. Und dann war ich allein im Kinderzimmer, völlig überrumpelt.

So saß ich noch eine ganze Weile, bis ich diesen Auftritt verarbeitet hatte, und ging schließlich hinüber in mein Zimmer.

Ich legte mich auf das Bett und fiel sogleich in einen leichten Mittagsschlaf. Daran war wohl Mrs Pimroses gutes Essen schuld.

Das Geheimnis des alten Tagebuchs

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