Читать книгу Das Geheimnis des alten Tagebuchs - Sylvia Weill - Страница 8

4. Kapitel

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Ich pflegte den Nachmittagstee bei Mrs Pimrose in der Küche zu trinken.

Sie schien mich in ihr großes Herz geschlossen zu haben und war einem kleinen Schwätzchen nie abgeneigt, selbst wenn sie schon mit der Zubereitung des Dinners begonnen hatte.

Meistens waren die Dienstmädchen ebenfalls in der Küche beschäftigt, sodass wir nur über Belanglosigkeiten reden konnten. Aber auch das wurde mir zur lieben Gewohnheit. Es erinnerte mich daran, dass ich im Pfarrhaus den Tee am Nachmittag immer mit Mrs Stevens getrunken hatte und mein Vater manchmal dazugekommen war. Das waren sehr vertraute Minuten, an die ich immer zurückdenken werde.

An einem der nächsten Tage, das Wetter war nicht besonders gut, sodass ich nicht in den Garten gehen konnte, ergab es sich, dass ich mit Mrs Pimrose allein in der Küche saß.

Zuerst sprachen wir über Viola, die in Mrs Pimroses Augen wohl erste Fortschritte machte. Ich wollte die Gunst der Stunde nutzen und sie nach Lady Cunningham fragen, das hatte ich mir schon lange vorgenommen. Denn ich war noch immer fasziniert von dem großen Bild, an dem ich mehrmals am Tag vorbeilief. Jedes Mal machte ich mir Gedanken darüber, wie sie auf die Menschen auf Darkhaven gewirkt haben mochte. Und natürlich interessierte mich auch, wie ihre Ehe mit Lord Cunningham gewesen war. War es die große Liebe oder eine Vernunftehe gewesen? Ich wusste ja rein gar nichts.

Also fragte ich Mrs Pimrose beiläufig, ob sie ihre Ladyschaft sehr gemocht habe und über ihren Tod sehr traurig gewesen sei.

Sofort ging eine Veränderung mit ihr vor. Es war nicht sehr auffällig und jemand anderes hätte es vielleicht nicht bemerkt, aber es irritierte mich.

„Sie war eine sehr schöne Frau und hat Leben hierhergebracht“, sagte sie ausweichend. „Es gab rauschende Feste, jedermann hat sie bewundert und Lord Cunningham um seine strahlende Frau beneidet. Und diese wundervollen Kleider … Jede Woche erschien sie in einem neuen sündteuren Kleid.“ Ihrem Tonfall nach zu schließen war es wohl keine große Zuneigung gewesen. Ich traute mich jedoch nicht weiterzufragen.

Nachdem Mrs Pimrose sich kurz umgeschaut hatte, flüsterte sie: „Und dann die vielen Besucher. Besonders der jüngere Bruder seiner Lordschaft war ja ständig hier. Damals musste ich schuften, das ging auf keine Kuhhaut.“ Sie seufzte geistesabwesend. „Hier unten tauchte sie natürlich nie auf. Das erledigte alles die Dunners, so wie heute. Eigentlich habe ich die Lady kaum gekannt.“

Sie schenkte mir noch einmal Tee ein. Wir mochten beide Earl Grey, und dank irgendwelcher Quellen hatte sie einen ausgezeichneten aufgetrieben, den sie angeblich nur mit mir trank. Der Duft war einfach verführerisch.

„Wie ist sie denn eigentlich gestorben?“, fragte ich so leichthin wie möglich.

Mrs Pimrose sah mich mit einem Blick an, den ich noch nicht von ihr kannte. Ich las in ihren Augen so etwas wie eine Warnung. Leise raunte sie: „Sie fiel vom Pferd und brach sich das Genick, als sie mit Lord Archibald ausgeritten war.“

„Wer ist Lord Archibald?“, fragte ich tonlos.

„Na, der Bruder seiner Lordschaft“, sagte sie nun wieder in normalem Ton.

Sie trank ihre Tasse leer und machte Anstalten aufzustehen, was bei ihrer Leibesfülle nicht so einfach zu sein schien. Sie drehte sich noch einmal zu mir um: „Kindchen, es ist manchmal besser, nicht zu viele Fragen zu stellen. Und daran halten Sie sich besser.“ Jetzt war sie wieder so resolut wie immer.

Ich muss jedoch gestehen, dass mich dieses Gespräch mit ihr noch neugieriger machte, als ich es vorher schon gewesen war.

Das war schon im Pfarrhaus ein ständiger Punkt des Tadels seitens meines Vaters. „Das hat dich nicht zu interessieren“, bekam ich häufig zu hören. Dann interessierte es mich erst recht, und ich forschte nach. Mrs Stevens hatte darüber oft genug nur den Kopf geschüttelt.

Später sollte ich erfahren, dass eine junge Frau wie ich zu große Neugier an den Rand des Abgrunds führen kann.

Viola war mir ein Rätsel. Was ging nur in diesem Kind vor? In unserem Dorf in York hatte ich viele unterschiedliche Kinder kennengelernt, aber keines wie Viola.

Sie war eigentlich kein Kind mehr, wenn ich es recht überlege. Im Grunde war sie eher eine kleine Erwachsene. Aber wen sollte das gewundert haben? Es gab ja keine gleichaltrigen Kinder, mit denen sie hätte spielen können. Daisy und Mary waren viel älter und behandelten sie auch nicht wirklich wie ein Kind. Mit den anderen Dienstmädchen oder den Stalljungen hatte sie kaum Kontakt. Und bei Mrs Dunners konnte sie ganz sicher kein verspieltes Kind sein. Das Einzige, was die Hausdame verlangte, war Unterwerfung, und Viola schien Angst vor ihr zu haben.

Aber wer in dieser Burg hatte eigentlich keine Angst vor Mrs Dunners? Sogar Mrs Pimrose sprach von ihr nur mit Respekt und die wenigen Male, die ich sie zusammen sah, wirkte auch sie eingeschüchtert.

Ab und zu sah ich Viola mit Mr Tom spielen. Und wenn sie mich nicht bemerkte, verhielt sie sich dann wirklich wie ein Kind von sechs Jahren. Das rührte jedes Mal mein Herz.

Eigentlich wollte ich viel mehr Zeit mit ihr verbringen, sie lehnte aber alles ab, was sich außerhalb des Schulzimmers abspielen sollte.

Ich machte mir viele Gedanken darüber, was ich tun könnte, kam aber zu keinem Ergebnis. Also beschloss ich, einfach abzuwarten. Sie würde schon auf mich zukommen, da war ich mir sicher.

Ich begann, ihr von dem Garten zu erzählen und was ich dort alles erlebte. Sie hörte es sich mit großen Augen an, fragte auch besonders nach den Schmetterlingen, lehnte es aber weiterhin ab, mich dorthin zu begleiten.

Schnell hatte ich begriffen, dass ich sie nicht drängen durfte. Dann sprach sie einfach nicht mehr und sah aus dem Fenster. Ihre wohlerzogene Höflichkeit verlor sie jedoch nie. So fanden wir beide in den ersten Wochen, die ich auf Darkhaven verbrachte, eine zaghafte Regelmäßigkeit in unserem Umgang. Sie beobachtete mich weiterhin, und ich gab mir Mühe, sie nicht zu bedrängen. Ich versuchte, Mrs Pimrose nach Violas Verhältnis zu ihrer Mutter auszufragen, erhielt aber keine befriedigenden Antworten. Vielleicht wusste sie darüber auch wirklich zu wenig. Aber ich hatte eher den Verdacht, dass sie es mir nicht sagen wollte.

Und dann geschah etwas Unvorhersehbares.

An einem Tag, an dem wegen der Ebbe der Damm nach Readingsworth frei dalag, stürmte ein Reiter auf die Insel zu. Ich war zufällig gerade im Burghof, weil ich Mr Brown wegen eines eventuellen Ausritts befragt hatte. Ich war fasziniert von dem Anblick des Reiters, der da im Galopp auf die Burg zuritt.

Dann blieb mir kurzzeitig das Herz stehen, denn ich vermutete, dass dies Lord Cunningham sein müsse.

Auf der Insel angekommen war der Reiter nicht mehr zu sehen. Ich wollte schon wieder in die Burg gehen, als er plötzlich den breiten Weg hochkam. Es musste also außer der Treppe noch einen Weg für die Pferde geben. Der war mir bei meiner Ankunft nicht aufgefallen.

Der Reiter hielt direkt vor mir an und sprang vom Pferd. Sofort kam Bewegung in den Burghof. Mr Brown stürzte mit einem Stalljungen herbei.

„Willkommen, Lord Archibald. Schön, Sie zu sehen!“

„Ganz meinerseits, Mr Brown. Es ist doch immer wieder ein Erlebnis, bei Ebbe nach Darkhaven zu reiten.“

Ich muss gestehen, ich mochte ihn sofort. Er hatte etwas Gewinnendes an sich, so einen leichtfüßigen Charme, der jeden gleich für ihn einnahm.

„Und wen haben wir denn hier?“ Damit wandte er sich zu mir.

„Das ist Miss Burton, die neue Gouvernante von Miss Viola“, sagte Mr Brown und wandte sich mit dem Pferd des Lords ab.

Lord Archibald lachte ein sehr anziehendes fröhliches Lachen. „Miss Burton.“

Mir blieb gar nichts anderes übrig, als zurückzulächeln.

Da fiel mir auf, dass ich, seit ich hier war, noch kein einziges Mal wirklich gelacht hatte.

Im Pfarrhaus gab es früher ständig was zu lachen. Oft bezeichnete mich mein Vater sogar als albern, was er mir aber nachsichtig verzieh.

In diesem Moment erschien Mrs Dunners in der Tür.

Als sie Lord Archibald sah, ging eine deutliche Veränderung mit ihr vor. Ihr Gesicht begann regelrecht zu leuchten. So hatte ich sie noch nie gesehen.

„Lord Archibald. Ich habe gar nicht mit Ihnen gerechnet. Wie schön, dass Sie da sind!“

Er nahm sie in den Arm, hob sie hoch und drehte sich ein paarmal mit ihr.

„Aber Lord Archibald“, sagte sie gespielt tadelnd.

Ich musste mir jedoch ein Grinsen verkneifen, denn es war ihr peinlich, dass ich diese Szene so hautnah beobachten konnte.

Am nächsten Tag ging ich am Nachmittag nach dem Unterricht wieder in den Garten und setzte mich auf meine Lieblingsbank in den Schatten. Es war ein ungewöhnlich warmer, sonniger Frühsommertag. In der Ferne sah ich Mr Osborn arbeiten.

Zwar hatte ich mir ein Buch mitgenommen, um zu lesen, aber meine Gedanken schweiften ständig ab. Ich lauschte wieder hingerissen dem Zirpen der Grillen, hörte die Bienen um mich herumfliegen, und die Vögel in den Bäumen freuten sich ebenfalls über diesen schönen Tag.

„Wie herrlich“, dachte ich. „Warum kann die Welt nicht immer so sein?“

Ich sog die warme Luft tief ein.

Dann hörte ich ganz in meiner Nähe ein Schnurren und hohe Fieptöne.

Neugierig drehte ich mich um und sah unter einem Baum, wie eine Katzenmutter ihre Jungen säugte.

Ich war entzückt. Am liebsten wäre ich hingegangen, wollte sie aber nicht stören, also blieb ich auf meiner Bank sitzen.

„Mr Tom, Mr Tom“, dachte ich vergnügt. Er war also schon Vater geworden. Das würde ich Mrs Pimrose erzählen.

Ich versuchte also wieder zu lesen, konnte mich aber noch immer nicht konzentrieren.

Nach einer Weile musste ich wohl ein wenig eingenickt sein.

Etwas kitzelte mich im Nacken. Zunächst bemerkte ich es gar nicht richtig. Dann fuhr ich sachte mit der Hand darüber. Es wollte aber nicht aufhören. Also drehte ich mich um, um zu sehen, ob ein kleiner Zweig vielleicht der Verursacher war.

Plötzlich ertönte ein fröhliches Lachen.

„Erwischt“, rief Lord Archibald, tänzelte um die Bank herum und ließ sich dann neben mir nieder.

Ich konnte ihm jedoch nicht böse sein, obwohl er mir einen mächtigen Schreck eingejagt hatte.

Als er neben mir saß, fing er zu plaudern an, so als würden wir uns schon hundert Jahre kennen. Das fand ich sehr sympathisch. Solche Menschen habe ich schon immer gemocht.

„Sie sehen bezaubernd aus mit diesem Haarband“, flüsterte er.

Verschämt drehte ich meinen Kopf zur anderen Seite und tat so, also beobachtete ich die Katzen, damit er nicht sah, dass ich rot wurde.

„Wie kommen Sie denn voran mit Vivi?“, fragte er, nun wieder in einem ganz normalen Plauderton.

So hatte Viola in meiner Anwesenheit noch nie jemand genannt. Ich fand es aber sofort sehr passend und nahm mir vor, sie später einmal, wenn ich ihr Vertrauen gewonnen haben würde, auch so zu nennen.

Also schilderte ich Lord Archibald die Schwierigkeiten, die ich mit Violas Verschlossenheit hatte.

Er hörte sich alles sehr interessiert an und stellte hier und da eine Frage.

So ertappte ich mich dabei, wie ich ihm schon viel mehr erzählte, als ich eigentlich wollte.

„Geben Sie ihr Zeit“, riet er mir. „Der Verlust ihrer Mutter war tragisch, und sie hat sich von dem Schock bestimmt noch nicht erholt. Aber sie ist herzensgut und bestimmt froh, dass Sie sich so um sie kümmern. Außerdem hat sie ja keine Spielkameraden.“

„Das habe ich mir auch schon überlegt!“, entfuhr es mir.

Und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, neben einer verwandten Seele zu sitzen. Das fühlte sich sehr gut an. Ab da habe ich wohl nur noch gelächelt. Ob er das bemerkte?

Wahrscheinlich hatte er viel Erfahrung mit Frauen.

Irgendwann riss ich mich aus meiner Beseeltheit heraus und machte mir klar, dass ich hier die Gouvernante war und kein Mitglied der Familie.

„Wann kommt denn Ihr Bruder endlich heim?“, fragte ich ihn. „Ich kenne ihn noch gar nicht.“

Erstaunt sah er mich an. „Oh!“ Für einen Moment blieb ihm die Sprache weg.

Darüber musste ich nun wieder lachen. Und er stimmte sofort ein.

„Mrs Dunners erwähnte etwas davon, dass der alte Langweiler wohl in den nächsten Tagen zurück ist.“ Er sah mich von der Seite an. „Von mir aus kann er sich ruhig noch Zeit lassen.“

Damit stand er auf, küsste mir ein wenig übertrieben spöttisch die Hand und verschwand.

„Wie hatte er das wohl gemeint?“, ging es mir noch eine ganze Weile durch den Kopf.

Abends in meinem Zimmer setzte ich mich wie immer in den Erker, um auf das Meer hinauszusehen. Trotz der Wärme draußen hatte Daisy ein Feuer im Kamin gemacht, wofür ich dankbar war.

Immer noch musste ich an den Nachmittag mit Lord Archibald denken.

Seine dunkelbraunen Locken umrahmten ein ebenmäßiges, schönes Gesicht, das fast etwas Mädchenhaftes hatte. Seine dunklen Augen hatten etwas Verführerisches. Und seine schlanke, athletische Figur strahlte fast etwas Beschützendes aus.

Am meisten aber faszinierte mich diese federleichte, unbekümmerte Art, wie er mit Menschen umging. Jeder mochte ihn sofort, jedenfalls glaubte ich das zu diesem Zeitpunkt felsenfest.

Gleichzeitig aber wurde mir bewusst, dass ich keinerlei Erfahrungen mit Jungen gemacht hatte, von Männern einmal ganz zu schweigen. Lord Archibald konnte nur ein paar Jahre älter sein als ich.

Dieser Mann war mir ein Rätsel. Was würde wohl mein Vater dazu sagen? Vor Schaumschlägern hatte er mich immer gewarnt. Nur konnte ich Lord Archibald dazu nun wirklich nicht zählen.

Ein paarmal war ich mit Eric ausgegangen, dem Sohn des Dorfschmieds. Er hatte rote Haare und war sehr kräftig. Leider war er auch sehr schüchtern, sodass eigentlich nur ich die ganze Zeit redete, wenn wir uns trafen. Dabei dachte ich mir aber nichts.

Einmal hatte er mir, als er mich zum Pfarrhaus zurückgebracht hatte, einen Kuss auf die Wange gedrückt und war dann weggerannt. Das hatte in mir Gefühle ausgelöst, die ich noch nicht gekannt hatte.

Leider wurde mein Vater dann immer kränker, sodass ich kein weiteres Mal mit Eric ausgegangen bin.

Ob Lord Archibald mich hübsch fand? Ich hatte mich noch nie ernsthaft gefragt, ob mich ein Mann wohl hübsch finden würde.

Im Pfarrhaus galt Eitelkeit als die größte Todsünde. Also bekam ich dazu keine Gelegenheit. Von so einem Kleid, wie es Lady Cunningham auf dem Bild trug, hätte ich nicht zu träumen gewagt. Ich besaß ein graues, ein schwarzes und ein dunkelgrünes Kleid. Damit hatte es sich.

Nur mit Haarbändern konnte ich ein wenig experimentieren. Deshalb hatte ich mir zwar ab und zu einen tadelnden Blick meines Vaters eingefangen, aber er hatte nichts dazu gesagt.

Ich ging hinüber zu dem Waschtisch und sah zweifelnd in den Spiegel.

Meine dunklen Haare hatte ich schon immer gemocht und war stolz darauf. Tja, das Gesicht, ich weiß nicht.

Im Dorf war ich die Schönheit. Aber mit wem hätte ich mich vergleichen können? Vielleicht noch mit Elsie Sommers.

Aber sie galt als leichtes Mädchen und war somit kein Maßstab für mich.

Und immer wieder schob sich das Bild von Lady Cunningham zwischen den Spiegel und mein Gesicht.

Ich seufzte und begann, mich für die Nachtruhe vorzubereiten.

Nachts wachte ich von gewaltigen Donnerschlägen auf. Unten hörte ich die Brandung toben, dass es in meinen Ohren nur so rauschte. Dann zuckten grelle Blitze durch die Nacht.

Die Burg konnte das nicht erschüttern.

Ich hatte noch nie Angst vor Gewittern gehabt, selbst als Kind nicht. Ich ging dann einfach zu meinen Eltern ins Bett. Da fühlte ich mich so geborgen, dass ich immer gleich wieder einschlief, egal, wie die Naturgewalten draußen tobten.

Ich bemerkte plötzlich, dass sich meine Tür bewegte. Ich dachte schon, dass ich sie nicht richtig geschlossen hatte, da sah ich beim nächsten Blitz Viola vorsichtig in den Raum kommen. Als kurz nach dem Blitz wieder ein gewaltiger Donner krachte, kam sie zu meinem Bett gelaufen, kroch unter die Bettdecke und legte ihre Arme um mich.

Vor Rührung hielt ich sie ganz fest. Sie hatte also Angst vor Gewitter wie fast jedes Kind.

Ich streichelte ihr über den Kopf und sprach beruhigend auf sie ein. Das schien zu wirken, denn schon bald schlief sie fest, obwohl das Gewitter noch eine ganze Weile wütete.

Zum Glück war das Bett breit genug für eine ganze Familie, so konnte ich dann auch wieder einschlafen.

Ich träumte von Lord Archibald und seinem unbeschwerten Lachen.

Als ich morgens aufwachte, war Viola verschwunden. Aber das machte mir nichts aus. Ein weiteres Stück Eis zwischen uns war gebrochen.

Etwas später im Unterrichtszimmer saß sie schon auf ihrem Platz in der Schulbank und hielt ihren Blick gesenkt.

„Guten Morgen, Miss Burton“, begrüßte sie mich so wie immer, sah aber nicht auf.

„Guten Morgen, Viola“, grüßte auch ich wie jeden Morgen.

Ich konnte einfach nicht anders, als ihr kurz über das Haar zu streichen. „Schön, dass du heute Nacht zu mir gekommen bist. Ich fürchte mich nämlich bei Gewitter auch.“ Das stimmte zwar nicht so ganz, aber es schien mir in diesem Moment angebracht.

„Wirklich?“ Jetzt sah sie mich mit großen Augen an.

„Ja. Als ich so alt war wie du, bin ich immer sofort zu meinem Papa ins Bett gekrochen.“

„Das darf ich nicht. Mein Papa hat sein Zimmer auch viel zu weit weg von mir. Im Gang habe ich nämlich am meisten Angst!“

Ich nickte bestätigend. Denn das kam mir auch so vor. Jedes Mal, wenn ich allein durch die düsteren Gänge musste, sobald die Sonne untergegangen war, befiel mich eine Befangenheit, die ich so nicht kannte. Es knarrte und knisterte dauernd von irgendwoher und jeden Moment schien ein Geist um die Ecke zu kommen. Was war ich dann jedes Mal froh, dass ich einen Abtritt am Zimmer hatte und nicht raus auf den Gang musste, auch wenn dort immer ein schwaches Gaslicht brannte.

Nachts hatte ich auch Angst, mich zu verlaufen. Tagsüber fand ich den Weg in mein Zimmer ohne Probleme, obwohl ich mich noch immer konzentrieren musste. Aber nachts erschienen mir alle Gänge, die von der Galerie abgingen, so gleich zu sein. Und ich kannte beileibe noch nicht alle Teile der Burg.

„Bitte sagen Sie nichts Mrs Dunners, Miss. Sie schimpft sonst mit mir.“ Zaghaft sah sie mich wieder an.

„Keine Sorge, ich werde ihr nicht erzählen, dass du mich vor dem Gewitter beschützt hast.“ Sie lächelte mich zum ersten Mal dankbar an.

„Also hat sie Angst vor Mrs Dunners“, registrierte ich. Ich tat den Gedanken dann aber wieder ab, denn wer hatte keine Angst vor Mrs Dunners? Selbst mir nötigte sie eine gehörige Portion Respekt ab.

Wir begannen also mit dem Unterricht. Viola schien mir gegenüber tatsächlich etwas aufgeschlossener und nicht mehr so förmlich zu sein. Ab und zu lachte sie sogar, was es bisher noch nicht gegeben hatte. Ich war sehr erleichtert.

Erst jetzt merkte ich, wie mich ihre bisherige Verschlossenheit doch irritiert hatte. Gleichzeitig beglückwünschte ich mich im Stillen, dass ich einfach abgewartet hatte. Dies schien jetzt Früchte zu tragen. Jedenfalls hoffte ich das. Hier war doch einiges anders als im Dorf in York.

Als der Unterricht am Nachmittag vorbei war, erwartete ich Mrs Dunners, die Viola immer abholte. Irgendetwas schien sie aber aufgehalten zu haben.

Also packte ich die Gelegenheit beim Schopfe.

„Sag mal, Viola. Kennst du den Garten hinter der Burg?“

„Ja, meine Mama war mal mit mir dort.“ Sie sagte es in einem ganz normalen Tonfall.

„Hat es dir dort gefallen?“

„Ja. Ich durfte ein paar Blumen pflücken. Mama saß mit Onkel Archie auf der Bank.“

Das irritierte mich. So weit war ich noch gar nicht gegangen in der kurzen Zeit, die ich Lord Archibald jetzt kannte, nämlich ihn mit ihrer Ladyschaft in Verbindung zu bringen.

„Was müssen die beiden für ein schönes Paar abgegeben haben“, dachte ich und bemerkte einen Anflug von Eifersucht, der mich sehr erstaunte, denn das kannte ich nicht. Was geschah da mit mir? Ich hörte Viola nicht mehr zu, die weiter von ihrem Erlebnis im Garten berichtete.

Als sie schwieg, kam ich zurück in die Realität.

„Äh, Viola, magst du kleine Kätzchen?“

„Ganz arg“, rief sie. „Früher hatte ich mal eins. Aber ich durfte es dann doch nicht behalten. Mrs Dunners hat es verboten. Aber Mr Tom darf ich manchmal in der Küche streicheln.“

Wieder musste ich ihr über den Kopf streichen. Ich konnte einfach nicht anders, so verletzlich erschien sie mir plötzlich.

„Im Garten liegt eine Katzenmama mit ihren kleinen Kätzchen. Magst du mit mir kommen und sie besuchen?“

„Mrs Dunners hat mir das doch aber verboten“, seufzte sie. Wahrscheinlich hatte sie sich schon darauf gefreut, mit den Kätzchen zu spielen.

„Was hat sie dir verboten?“, fragte ich verblüfft.

„Na, in den Garten zu gehen. Sie sagt, da wäre es zu gefährlich für mich.“

Damit konnte ich nicht so richtig etwas anfangen, nahm mir aber vor, mit Mrs Dunners darüber zu sprechen.

„Aber ich bin doch bei dir. Außerdem bin ich deine Gouvernante und kann es dir erlauben. Wollen wir gehen?“

Sie zögerte kurz, doch dann überwog wohl die kindliche Neugier ihre Angst vor Mrs Dunners, und sie nickte.

Auf dem Gang wollte ich die Halle ansteuern, doch Viola nahm meine Hand und führte mich einen Seitengang entlang, den ich bisher nicht wahrgenommen hatte. Hier gingen wir eine kleine Treppe hinunter und wieder einen Gang entlang, der völlig anders aussah als der Gang, von dem unsere Zimmer abgingen. Kurz darauf standen wir im Burghof vor dem offen stehenden Tor zum Garten.

Plötzlich kam mir die Burg größer vor, als ich bisher dachte. Was, wenn ich mich einmal in diesen vielen Gängen verlaufen würde? Aber Viola schien sie ja alle zu kennen, also schüttelte ich diesen düsteren Gedanken schnell wieder ab.

Zum Glück sah ich Mary aus dem Waschhaus kommen. Ich rief ihr zu, dass ich mit Viola in den Garten ginge und sie es bitte Mrs Dunners sagen solle. Sie nickte auf ihre geistesabwesende Art.

Es war an diesem Tag nicht so warm wie die Male zuvor, als ich in diesem Paradies gesessen hatte, besonders als Lord Archibald kam.

Von der See her wehte ein Wind, aber es war immer noch mild genug, um sich hier im Garten aufzuhalten.

Viola hatte meine Hand nicht mehr losgelassen, was mich rührte.

„Wo ist die Katze denn?“, fragte sie.

„Dort hinten unter dem Baum war sie gestern.“ Ich wies auf die große Eiche, unter der ich immer saß.

Wir schlenderten also in die Richtung. Plötzlich sprang Mr Tom aus dem Gebüsch und kam auf uns zu. Er strich Viola um die Beine, und sie bückte sich zu ihm hinunter, um ihn zu streicheln. Das war eine so vertraute Geste, dass es mein Herz rührte.

Ich sah es mir eine Weile an und überlegte, was dieses Kind wohl schon alles erlebt haben musste.

Vorsichtig sagte ich: „Na, wenn der Vater schon hier ist, kann die Mama nicht weit sein.“

Erstaunt sah mich Viola an und hörte auf, Mr Tom zu streicheln.

„Ist er der Vater der kleinen Kätzchen?“

Ich musste lachen. „Das nehme ich an. Oder gibt es hier noch andere Kater?“

„Ich weiß nicht.“ Sie wandte sich wieder Mr Tom zu und fragte ihn: „Bist du der Daddy von den Kätzchen, die Miss Burton entdeckt hat?“

Er schnurrte noch lauter, und das war wohl die Bestätigung. Damit hatte er dann auch genug von uns und schoss davon.

Die Katze mit den Jungen lag tatsächlich genau auf dem Fleck unter der Eiche, an dem ich sie entdeckt hatte. Die kleinen Kätzchen spielten um sie herum, balgten sich oder tapsten in die Umgebung, um dann aber immer schnell zur Mutter zurückzuspringen.

„Oh, sehen Sie doch“, jauchzte Viola und ließ sich vor ihnen nieder.

Und als die Kleinen gleich ohne Scheu zu ihr kamen, war sie plötzlich wie umgewandelt. Sie begann, mit ihnen zu spielen, nahm sie hoch, setzte sie wieder ab, immer ein anderes, und konnte gar nicht genug von ihnen bekommen. Die Katzenmutter schien das alles gelassen hinzunehmen, so als wäre Viola jeden Tag bei ihr.

So muss ein Kind von sechs Jahren sein, dachte ich zufrieden und setzte mich auf meine Bank.

Das Schauspiel ging eine ganze Weile so. Viola schien mich vergessen zu haben. Sie ging vollkommen in ihrem Spiel auf. Ich konnte meinen Blick nicht von dieser Szene lassen.

Nach einer Weile drehte sie sich plötzlich um und schrie: „Onkel Archie!“, stand auf und rannte Lord Archibald entgegen, der langsam auf uns zukam.

Er ging in die Hocke und breitete seine Arme aus, in die sich Viola begeistert fallen ließ.

„Schau mal, die kleinen Kätzchen, Miss Burton hat sie entdeckt und wollte sie mir unbedingt zeigen.“ Sie zog ihn zu den Kleinen, und er musste sie alle auf die Hand nehmen und mit ihr überlegen, welcher Name passend wäre. Er schien genauso begeistert bei der Sache zu sein wie sie.

Das versetzte mir wieder einen Stich ins Herz, aber anders als noch vorhin bei Viola.

Ich bemerkte zum ersten Mal, was für ein attraktiver Mann Lord Archibald war und wie anziehend er auf mich wirkte. Das wiederum verstörte mich zutiefst.

Davon hatte ich schon gehört und auch in Liebesromanen gelesen, die ich im Pfarrhaus heimlich las, nachdem ich Elsie beknien musste, sie mir zu leihen. Aber dass mir das selbst passierte. Was sollte ich mit diesen Gefühlen nur anfangen?

„Dieses nennen wir Annabelle. Wie findest du das? So heißt Miss Burton mit Vornamen.“

Begeistert stimmte sie zu, und ich musste lächeln. Seine Stimme gewann so einen sinnlichen Unterton, der mir direkt Angst machte.

„So, jetzt muss ich aufstehen, sonst rosten meine Knie ein“, sagte er und küsste Viola auf den Kopf, nachdem er ihn in beide Hände genommen hatte.

Ihr schien es recht zu sein.

Er setzte sich neben mich auf die Bank.

„Da haben Sie aber jemanden glücklich gemacht.“ Er ließ sein unbeschwertes Lachen hören, das ich so mochte.

„Ja, und Sie können sich gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin. Ich dachte schon, ich würde das Eis nie brechen“, flüsterte ich.

Wieder lachte er laut. „Ach was. Dass es nicht lange dauern würde, wusste ich. Ihrem Charme kann doch niemand widerstehen, selbst Viola nicht.“

Und wieder wurde ich rot bis unter die Haarspitzen. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass er mich dazu brachte, und ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.

„Sie sind so bezaubernd, wenn Sie rot werden“, flüsterte er und sah mich an.

„Lord Archibald“, sagte ich genauso leicht tadelnd, wie Mrs Dunners es zu ihm bei ihrer Begrüßung gesagt hatte.

Noch nie hatte ein Mann so zu mir gesprochen.

Das Geheimnis des alten Tagebuchs

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