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KAPITEL 1
MEIN LEBEN MIT 136 KILO 1.1. ÜBERGEWICHT. GIBT ES SOWAS WIE ALLTAG ODER IST JEDER TAG EIN SURVIVAL-KAMPF?

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Der Tag fing so schön an.

Es war ein Freitag im März, in wenigen Tagen hatte ich Geburtstag. Weil ich viele Gäste einladen wollte und noch viel vorzubereiten war, arbeitete ich an diesem Tag nur vormittags. Ich war 34 Jahre alt und mit meinem Job richtig zufrieden. Vor ein paar Wochen sagte mein Chef, dass er mehr von mir erwartete. Es war aber kein Gemecker – er wollte mich motivieren, mich für einen Leitungsposten zu bewerben. Anstatt nur eine gute Mit­arbeiterin zu sein, sollte ich ein eigenes Team führen und meine guten Ideen weitergeben. Heute, an diesem denk­würdigen Freitag, habe ich die Zusage bekommen. Schon nächste Woche würde ich das 15-köpfige Team überneh­men und auch noch glatte 40% Gehaltserhöhung bekom­men. Ich sag ja, der Tag fing so schön an.

Mittlerweile war es 14.30 Uhr und ich saß mit meinem Frühstück – 1,5 Liter Cola Light und zwei Schokoriegeln – in der Küche. Ich bildete mir tatsächlich ein, dass das so einigermaßen ok war. Immerhin hatte die Cola keine Ka­lorien, es war die erste Mahlzeit des Tages und ich rech­nete mir aus, dass die zwei Schokoriegel zusammen we­niger Kalorien ergaben als der Dönerteller, den ich in der Kantine nicht bestellt habe. Falls das nicht reichen würde, waren in der Küche noch drei Schokoriegel. Ich würde also nicht hungern müssen. Verrückt, oder? Das waren meine Gedanken: keine Sorge, wenn du Hunger be­kommst – es ist noch Schokolade da.

Wir sind im Jahr 1999. Ich fange direkt mit den schlimms­ten Tagen in der Mitte meines Lebens an. Der Beginn meines Leidensweges und die Ursachenforschung kommt später.

Das Internet begann gerade, die Welt zu verändern und alle waren begeistert; jeder meiner Freunde nutzte Emails. Ich startete also meinen Compu­ter und wollte nachsehen, wie viele Zusagen für meinen Geburtstag schon da waren. Es waren einige Emails ein­getroffen und ich rechnete mit 40 Gästen – gar kein Prob­lem, da ich in einer WG lebte, die eine 160 qm große, wunderschöne Jugendstilwohnung mit Dachterrasse be­wohnte.

Ich kam nur bis zur ersten Email, von meiner „dicksten“ Freundin Melanie: „Tanja, ich hab die Lösung!“ schrieb sie. Ok, wieder das Gewichtsthema, nichts mit Geburts­tag. Wir wussten beide nicht, wieviel wir wogen. Dafür gabs eine Lösung?

Ich erinnere mich an das schrille Pfeifen, das meine Waage von sich gab, als sie wegen zu vielen Kilos beim Draufsteigen zerbrach. Dabei hatte ich noch Glück! Melanie, meine Freundin, besaß eine Waage mit Glas-Display und musste sich einen Glassplitter aus dem Fuß operieren lassen, als die zersplitterte. Ein Freund von uns, der auf einem Bauernhof lebte, stieg immer auf die Viehwaage… das wollten wir Mädels aber doch nicht.

Melanie schrieb: „Du, wir sind vielleicht dick und fett. Aber wir sind ja beide nicht doof! Weißt du, dass du dir einfach eine zweite Waage kaufen kannst, mit je einem Fuß auf eine Waage steigst, beides addierst und schon hast du dein Gewicht?!“ Es klang triumphierend – der Sieg der Dicken über die mangelnde Technik der Schlanken!

Der Rest las sich dann eher wie ein trauriger Roman. Melanie hatte gestern zwei Waagen gekauft, zwei Mal das gleiche Modell. Im Laden erklärte sie lauthals, dass sie die zweite Waage ihrer Mutter mitbringen würde. Als wenn sich der junge Verkäufer dafür interessierte! Das war so ein typisches Verhalten von uns Dicken: Erkläre, was du tust. Damit die anderen nicht denken, du machst es aus Gründen des Dick-Seins. Verrückt, das Ganze!

Aber ich war genauso verhaltensgestört. Wenn ich große Mengen Lebensmittel kaufte, hatte ich das Gefühl, an der Kasse schief angeguckt zu werden. Dann habe ich strah­lend von ganz viel Besuch erzählt, damit keiner auf den Gedanken kam, dass ich das alles alleine essen würde. Wahrscheinlich dachte die Verkäuferin darüber nach, ob sie eine halbe Stunde eher Feierabend machen dürfte, weil ihr Hund Durchfall hatte und sie dringend zum Tier­arzt wollte. Gestern musste sie zwei Stunden die Woh­nung putzen und einen Hund trösten, der sich mit Kacke-verschmiertem Hintern unter ihrem Bett verkrochen hatte. Mit Sicherheit war es ihr egal, wieviel ich einkaufte und genauso egal war ihr meine Begründung dafür. Die war nur für mich wichtig und so habe ich mich in diesen Jahren sehr oft selbst belogen.

Zurück zu Melanie. Sie besaß nun diese zwei Waagen, das Experiment funktionierte und sie wusste, erstmals nach Monaten wieder, ihr aktuelles Gewicht: 142 Kilo. Nach einem Heulkrampf hat sie alles in sich reingefuttert, was im Kühlschrank und in der Küche war – Melanie hatte immer viele Vorräte – und ist dann noch zum Schnell­imbiss gefahren und futterte dort weiter.

Nachts hat sie mir diese Email geschrieben: „Tanja, warte nicht so lange wie ich. Keine Ahnung, wie es kam. Ich habe immer gedacht, ich wiege vielleicht 122 oder 123 kg. Du weißt schon, knapp über dem Gewicht, was meine alte Waage anzeigen konnte. Nie hätte ich gedacht, dass ich nochmal 20 Kilo zugenommen habe. 20 Kilo! Das muss aufhören! Bitte, tu dir den Gefallen, schockiere dich selbst! Kauf dir die Waagen und danach lass uns was machen – irgendwas – wir müssen etwas gegen das ständige Zunehmen tun!“

Ich bin sofort in den Baumarkt gefahren. Klar gefahren. Ich gehe doch nicht zu Fuß und schleppe zwei Waagen nach Hause. Das ist doch anstrengend! Ich nahm mein Auto. Zuhause habe ich mich im Bad eingeschlossen. Ich mach´s kurz.

Mein Gewicht addierte sich auf 136 Kilo.

Weit über dem, was ich geschätzt hätte. Obwohl ich durch die E-Mail vorgewarnt war, setze mein Denkver­mögen ebenso aus wie bei Melanie. Auch bei mir endete der Tag in Heulkrämpfen und Fress-Attacken. Nicht nur die drei restlichen Schokoriegel waren in Sekundenschnelle verputzt.

Ich bin auch runter auf die Straße gelaufen. In dem wun­derschönen Jugendstil-Haus, in dem ich wohnte, gab es im Erdgeschoß einen Döner-Imbiss. Den Dönerteller, den ich mir mittags in der Kantine verkniffen hatte, kaufte ich jetzt. Plus zwei weitere Teller und eine Auswahl an Vor­speisen. Der Verkäuferin erklärte ich nichts. Sie kannte mich und meine Lügen und heute war es mir auch mal egal. Das war mein schwarzer Freitag.


Foto Nr. 1 - Höchstgewicht 136 Kilo, Nürnberg 1999


Foto Nr. 2 - Startgewicht 68 Kilo, Carmel, Kalifornien, 1979

Ich war eine typische Dicke. Jahrzehntelang. Mit steigen­dem Gewicht nach jeder Diät und echt krassen Diät-Tagen oder Wochen zwischendurch. Dick-Sein ist eine Frage der Einstellung, nicht der Kalorien. Das hab ich lange nicht verstanden und die Tage nach Melanies Anruf waren mein absoluter Tiefpunkt. Ich nenne ihn heute FAT FRIDAY.

Mein Gewicht schwankte von 68 Kilo mit 16 Jahren bis zum absoluten Höchstgewicht von 136 Kilo mit 35 Jah­ren. Heute habe ich mein Traumgewicht von 68 Kilo und ich halte es – dabei bin ich fitter als damals mit 16 Jahren. Ja, ich bin genau da gelandet, wo ich gestartet bin und jetzt ist es gut! Warum also dieser riesige Umweg?

Die Zahl 68 mag gleich aussehen, aber zwischen den ver­unsicherten 68-Teenie-Kilos und den selbstsicheren, glücklichen und fitten 68-Traumfrau-Kilos liegt ein ganzes Leben. Viele Menschen haben sich gewünscht, dass ich ein Buch darüber schreibe und meine Erfahrungen wei­tergebe. Dieses Buch hast du jetzt vor dir. Um also die Höhen wirklich würdigen zu können, fangen wir mit den Tiefen an. Ich lebte jahrzehntelang in einem Teufelskreis aus Diäten und Rückfällen, Erfolgen und Niederlagen, Scham und ironisch-bissiger „Ich-bin-rund-na-und?“-Mentalität. Mit jeder Diät habe ich ein bisschen mehr zugenommen. Warum? Weil ich meine Einstellung nicht veränderte. Ich war dick, egal, mit wie vielen Kilos ich herumlief. Ich war dick im Kopf, in Gedanken und beson­ders natürlich in meinem Verhalten. Wie viele Dicke wünschte ich mir eine Märchenfee, die mich verzau­berte.

Bitte, liebe Fee, mach, dass ich schlank werde. Über Nacht oder jedenfalls schnell und so, dass ich weiter Schokolade essen kann. Vielleicht kannst du es ja hinbekommen, dass mich das Schokolade-Essen schlank macht? Oder dass ich Brokkoli liebe und gar keine Schokolade mehr will? Du kannst das schon – einfach den Zauberstab schwingen, etwas Feenstaub auf mir verteilen und fertig, ja? Mach es. Jetzt. Bitte!

Ganz wichtig: Die Fee muss danach kostenlos im Dienst bleiben, damit die Pfunde nicht wiederkommen. Niemals. Natürlich erwartet eine Fee keinerlei Gegen­leistung. Es klappt von alleine. Schließlich sind ja andere Menschen auch schlank, ohne dass sie sich kasteien müssen. Genau das will der dicke Mensch – Leistung ohne Gegenleistung.

Irgendwie war doch auch ich davon überzeugt, „von alleine“ dick geworden zu sein, also quasi unschuldig reingerutscht in die Situation. Es kann doch nicht ernst­haft am Essen liegen? An Schokolade? Schließlich isst mein Freund auch Schokolade und der ist dünn. Weil das von alleine passiert ist, wird es auch von alleine ver­gehen. Dachte ich. Zu der Zeit hatte ich bereits Sozial­pädagogik studiert. Ich lernte die Theorie kennen, dass die Krankheit verschwindet, wenn die Ursache ver­schwindet. Für Traumata mag das gelten, beim Über­gewicht habe ich es nicht so erlebt. Aber natürlich immer gehofft!

„Ich beschäftige mich mit meinen Sorgen und meiner Kindheit, stoße auf die große Verletzung, die alles verur­sacht hat. Dann heile ich die Verletzung und werde schlank.“

In der Zeit der Suche habe ich weiter gegessen wie vorher – zu viel und zu viel Falsches – aber ich war der Überzeu­gung, dass es eine Lösung gibt, ohne mein Essen zu ver­ändern. Mir war gar nicht bewusst, dass ich ein selbst-zerstörerisches Verhalten an den Tag legte. Bevor ich erstmals über einhundert Kilo wog, war ich tatsächlich der Meinung, dass mein Zunehmen auf magische Art und Weise aufhören würde. Ich werde doch nicht über 100 Kilo wiegen? 100 Kilo wiegen hässliche, dicke Männer, aber doch nicht hübsche junge Frauen?! Da passiert doch vorher irgendwas? Das darf doch nicht wahr sein! Aber es wurde wahr. Die Zahl 100 beeindruckte meine Waage überhaupt nicht.

Damit war ich übrigens nicht alleine. Ich treffe heute viele Menschen, die mir bestätigen, dass es möglich ist, jahrelang sein eigenes Gewicht nicht zu kennen. Diese Blindheit betrifft aber nur das Gewicht. Alles andere funktionierte ja: Ich lebte in einer Beziehung, hatte einen großen Freundeskreis und einen tollen Job. Nach einem Umzug lernten mich neue Freunde gleich als dicke Tanja kennen und mochten mich. Ich versuchte, das Beste aus einem dicken Leben zu machen. Wie das geht? Hier ein Beispiel: Ich duschte nur. In der Badewanne stand der Bauch weit über der Wasseroberfläche und so macht ein Vollbad keinen Spaß. Genau genommen hatte ich ja nur einen nassen Rücken.

Gestern erst fragte eine Freundin: Du hast so toll ab­genommen! Gell, das Leben ist jetzt leichter? Nein. Ein Leben auf der bequemen Couch ist nicht anstrengend. Sicher, heute ist der Alltag einfacher und Bewegung macht Spaß! Nur von dem Unterschied, wie es sich an­fühlt, 136 Kilo einen Berg raufzuschleppen oder mit 68 Kilo freudig nach oben zu wandern, kann ich nichts erzäh­len. Weil ich mit 136 Kilo nicht auf den Berg geklettert bin.

Ist anstrengend, wird also nicht probiert. Punkt.

Statt Sport oder anstrengende Ausflüge zu machen, lud ich Freunde zu legendären Brunches mit Video ein: „Miss Marple und die verdächtigen Lachsröllchen“, „Poirot findet die Leiche im Pudding“ oder „Star Trek, Milky Way und Sternen-Pizza“. Lebensqualität, selbst erfunden. Damals hat meine Katze kulinarisch sicher besser gelebt als ich.

Beruflich bewarb ich mich in einem großen Call-Center, natürlich mit Bushaltestelle vor der Tür und Aufzug im Gebäude. Sitzend konnte ich mein Geld verdienen. Meine Stimme war toll – sie war das einzig Lebendige an mir; sie sprühte vor Witz und Vitalität. Oft wurde ich ge­fragt, ob ich für Sex-Hotlines arbeitete – mit meiner Stimme konnte ich wirklich beeindrucken! Dabei war das Ganze nur der kümmerliche Rest von mir. Ausgehen in eine Kneipe? Hm. Wer würde mir vorher verraten, was in dieser Kneipe für Mobiliar steht? Nur, wer mal in der Öffentlichkeit versucht hat, aus einem Stuhl aufzustehen, dessen Armlehnen sich tief in die nicht-vorhandene Taille gedrückt haben und wo der Stuhl mit dir aufsteht, kennt die Scham und die Angst vor unbekannten Sitzflächen. Jahrelang hab ich deshalb auf Bänken gesessen, im Bus, in der U-Bahn, im Restaurant.

Urlaub machte ich immer auf dem europäischen Fest­land. Jedenfalls da, wo ich mit einem Auto hinkam. Die Schmach, in einem Flugzeug nach einem Verlängerungs­gurt für Dicke zu fragen, wollte ich mir nicht antun. Und überhaupt – Holland ist ja so schön...!

Dick-Sein ist ein anstrengender Überlebenskampf. Selbst mit Video-Pizza-Partys.

Gewicht HALBIERT!

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