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1.2. MODE? EHER NICHT. GEKAUFT WIRD, WAS PASST. NICHT, WAS GEFÄLLT.

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Als Frau von Mitte 50 lerne ich gerade meinen eigenen Stil kennen. Wie verwirrend, in ein Geschäft zu gehen, fünf Kleidungsstücke zu probieren und alle fünf passen! Was soll ich denn jetzt kaufen? Woher soll ich wissen, was mir steht?

Das zumindest war früher einfacher: Als dicke Frau ging man in den 1980er und 1990er Jahren zu Ulla Popken oder nähte selbst. Große Größen gab es anfangs wirklich nur dort und ich bedanke mich heute noch dafür, dass sie uns nicht nackig im Regen haben stehen lassen. Sicher, solange es nur diese eine Marke gab, haben sich dicke Frauen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz immer wieder in derselben Bluse getroffen. Das konnte peinlich werden. Aber immer noch besser als in Omas Kittel­schürze.


Foto Nr. 3 - Kleidung diente dem Verhüllen, nicht der Schönheit

Man darf nicht vergessen, das war ja alles vor den Zeiten von Amazon und Ebay. Niemand kaufte seine Kleidung online und die großen Bekleidungsgeschäfte hatten keine Abteilung für große Größen. Unvorstellbar, aber es gab eine Zeit, in der Modedesigner entschieden, dass Dicke kein Recht auf Stil hätten und alles über Größe 46 gar nicht erst produziert wurde. Auf die meisten Edel-D­esigner trifft das heute noch zu. Chanel in Größe 52? Ein No-Go!

Maite Kelly mit eigener Mode bei Bon Prix oder Harald Glööckler mit dem liebevollen Slogan „In jeder Frau steckt eine Prinzessin“ kamen erst Jahre später. Für die normal verdienende Bevölkerung änderte sich das Mode-Angebot nur ganz allmählich. Das wirft die Frag auf: Was kam zuerst? Dicke Menschen in Größe 58 oder Mode in Größe 58? Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass zuerst die Dicken da waren und das Angebot sich uns und unseren Formen anpasste. Anfangs nur ein­farbig und in sehr schlichten Formen. Ganz langsam er­öffneten auch Geschäfte, die Dessous für Dicke verkauften. Das trug uns von Harald Schmidt den Satz ein: „Dessous für Dicke? Gibt’s schon immer. Früher nannte man sie Leggins“.


Foto Nr. 4 - Große Bikinis oder Unterwäsche gab es in schwarz

Die USA sind Europa bei manchen Entwicklungen immer ein paar Jahre voraus. Mit den Dicken und der Mode war das auch so. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten gab es bereits Dicke in Größe 7XL, das ist XXXXXXXL, und für diese Boutiquen mit Kleidung in Übergröße. Auch die Engländer waren nach dem Krieg früher dick als wir Deut­schen und ich kenne moppelige Frauen, die sich ihre Dessous aus England bestellen, weil die Auswahl dort stets größer und günstiger ist. Irgendwie ist die Mode auch bunter und lustiger.

Das zumindest ist ein Problem, was junge Dicke im Jahr 2020 nicht haben. Fast hätte ich „nachwachsende Dicke“ geschrieben und das beschreibt den aktuellen Zustand ziemlich gut.

Dicke Mütter bekommen dicke Kinder und später dicke Teenager. Als wäre es angeboren! Dabei wissen wir längst aus der psychologischen Forschung, dass die Gene nur einen sehr kleinen Teil ausmachen und der Rest ge-lernt und er-lernt wird, am einfachsten durch Nach­ahmung. Wenn Mama und Oma immer Riesenportionen servieren, ständig Snacks zur Verfügung stehen und jeder moppelig ist, ist das normal und als Kind machst du das mit. Du kennst es ja nicht anders. Deinen Nachtisch be­kommst du nicht nur Sonntags, sondern „morgens halb zehn in Deutschland“. Die Werbung kennt doch jeder und die Verkaufszahlen sprechen für sich. Dieses Vererben von schlechten Gewohnheiten ist für mich ein wichtiger Grund, Frauen beim Abnehmen zu helfen: Sie tun es für sich und für die nachfolgenden Generationen, für die eigenen Kinder. Das geht so weit, dass viele erst werden schwanger (können), wenn sie schlanker sind. Zurück ins Jahr vor meinem Black Friday 1999. Es gab kaum passen­de Mode und Elasthan wurde nur sehr sporadisch ver­wandt. Was bedeutet das bei der Unterwäsche? BHs in Oma-Farben, also weiß und kratzig (der Krankenhaus-Flair), schwarz (das kleinere Übel und der Gatte fragt er­schrocken: Ist was mit Oma?) oder in schlimmem Haut-Ton. Keine Ahnung, wer sich diese Farbe ausgedacht hat, aber „haut“ ist nicht hautfarben. Vielleicht ist es die Farbe einer Wasserleiche, aber keine junge, gesunde Frau hat diesen seltsamen Hautton.

Passende BHs zu bekommen war also schwierig. Passende, hübsche BHs zu bekommen war fast unmög­lich. Dafür gab es einen Vorteil bei den Höschen. Hej, als Dicke kann man Tangas anziehen. Die dünnen Bändchen links und rechts dehnen sich über einige Größen hinweg! Schließlich kann man den Slip ja unter dem dicken Bauch tragen und so ein Tanga besteht eh nur aus ganz wenig Stoff. Der gräbt sich zwar seitlich tief in die Haut und zwickt, ist aber um vieles schöner als eine Unterhose, die über den großen Bauch geht. Spätestens seit dem Kino­film Schwer verliebt kennt jeder diese Unterhosen-Monster. Sich in zu kleine Größen quetschen ist nachvoll­ziehbar, sogar mit String-Tangas. Ok, ich persönlich mag diese „Arsch-frisst-Hose-Modelle“ nicht, aber es war eine Möglichkeit. Eine Sache, die mich jahrzehntelang beglei­tet hat, war der Umstand, keine Taille zu haben. Da ging es gar nicht so sehr darum, ob man die wirklich hatte oder nicht. Schließlich gibt es ja dicke Formen in einer Vielzahl von Variationen. Egal, ob Bluse, Jacke, Pulli oder T-Shirt: Es wurde immer drüber getragen. Niemand von uns Dicken steckte das T-Shirt in die Hose! Niemand zeigte freiwillig seine Formen. Verstecken war in, kaschieren war ein Modewort und locker-fallend wäre heute das Keyword bei der Google-Suche nach großer Mode.

Auch Röcke oder Kleider gab es in meinem Schrank sehr lange gar nicht. Warum? Dicke Oberschenkel scheuern sich gegenseitig auf. Das kann bis zu blutigen Ekzemen führen. Also werden Hosen getragen. Selbst wenn man sich dann auf der Straße anhören muss, dass jeder Gaul auf diesen Brauerei-Pferd-Arsch stolz wäre. Klar halfen Hosen nicht wirklich.

Die Oberschenkel der Hosen gingen an derselben Stelle wie sonst die eigene Haut kaputt. Ich erinnere mich daran, dass ich sonst noch sehr gut erhaltene Lieblings­hosen wegwerfen musste, weil sie Löcher an den Innen­seiten der Beine hatten.

Gürtel. Auch so eine Sache. Niemandem wäre es ein­gefallen, einen Gürtel zu tragen. Selbst wenn du eine Taille hast, willst du nicht, dass jemand die Ausmaße deiner Hüften erkennt. So waren viele Dicke unförmig an­gezogen und erinnerten an einen rechteckigen Kasten. Oder, wenn die Schultern schmal waren, eher an ein Oster­ei. Es ist schon eine besondere Ironie, dass die Men­schen, die sich gerne in der Öffentlichkeit verstecken würden, mit ihren dicken Formen ganz besonders auf­fallen. Du kennst den Satz „Die Trauben sind mir zu sauer.“? Bei mir waren die Trauben die Mode. Ich habe das Ganze zum Kult gemacht. Schlanke Freundinnen kritisierte ich, weil sie sich dem Modediktat unterwarfen. In den Achtzigern gab es den bezeichnenden Spruch „Männer machen Karriere, Frauen Diäten.“ Als Emanze wollte ich da nicht mitmachen und hatte wieder mal eine neue Ausrede zum Nicht-abnehmen-müssen.

In den 2000er Jahren hat sich der Spruch minimal ver­ändert: Männer verändern die Welt, Frauen ihren Körper. Heute sage ich: Lasst uns schnell unseren Körper verändern und die überflüssigen Pfunde verlieren und dann, liebe Frauen, dann heben wir die Welt aus den Angeln!

Ich kritisierte damals, dass meine Freundinnen jede Saison viel Geld für etwas ausgaben, von dem andere be­stimmten, ob es „in“ war. Passend dazu wurden Stunden im Bad verbracht, danach stylte man sich vor dem selbst­verständlich verspiegelten(!) 7-türigen Kleiderschrank und brauchte Stunden beim Frisör. Lange vor der „Geiz-ist-geil“-Kampagne besaß ich wenige, offene Holzregale statt eines großtürigen Kleiderschranks. Sie sind ja auch völlig ausreichend für T-Shirt und Jeans. Auf meinem kleinen, gerade mal gesichtsgroßen (!) Spiegel prangte trotzig der Aufkleber: Alles, was schöner ist als ich, ist geschminkt.

In Zeiten der Stretch-Mode (Juhu – mir passt eine Hose in Größe 54! – hej, damals trug ich 58, da war das toll!) verliert man den Bezug zum eigenen Umfang. Es kann passieren, dass man im Biergarten mit dem Hintern, also hinten, fremde Gläser umwirft und vorne mit dem Bauch auf dem Grillteller des Nach­barn landet, weil man selbst quer zwischen den Bier­tischen immense Ausmaße angenommen hat. Stellt euch die Kommentare vor!

Im Nachhinein finde ich es fast seltsam, dass so viele dumme und gemeine Sprüche mich nicht getroffen wirklich haben. Mein Schutzpanzer war bereits zu dick und ich wehrte mich eher verbal, anstatt abzunehmen und dem Ganzen den Grund für die Hänselei zu ent­ziehen. Es gab Zeiten, da konnte ich mich immer spontan mit einem Spruch wehren: „Ja, ich bin viel­leicht dick, aber du bist doof und ich kann abnehmen – was kannst du?“

Dicke Leute verbannen ihre Spiegel - ich damals natürlich auch. Bei Melanie steht der Spiegel im Garten und zeigt die blühende Rose immer doppelt. Es sieht super aus, ist eine wirklich schöne Gartendeko, aber geboren wurde die Idee aus dem verzweifelten Wunsch, den Spiegel aus dem Schlafzimmer zu ent­fernen. Nur so ist es möglich, sich selbst jahrelang zu täuschen. Leider wird man ja nicht über Nacht dick, sondern schleichend, Tag für Tag, Woche für Woche. Auf einmal sind es dann 10 Kilo mehr, die man gar nicht so genau mitbekommen hat. Das ist wie mit dem Älterwerden. Auch das passiert täglich und erst auf einem Foto sieht man die Unterschiede.

Die wenigstens Dicken wollen freiwillig mit auf ein Foto. Wenn doch, nehmen sie ein Kind auf den Schoß, den kleinen Hausdackel dazu und setzen sich hinter einen großen Blumenstrauß. Jede meiner dicken Klienten, die ich heutzutage betreue, hat solche Fotos von sich zu Hause.

Das Gesicht bleibt am längsten schön, verzeiht die Pfunde am ehesten. So lässt es sich auch erklären, warum viele Dicke genau dann mit einer Diät an­fangen, wenn sie sich kurz vorher in einem Schau­fenster mal als Ganzkörper-Kunstwerk gesehen haben.

Oder wenn sie ungewollt auf einem Foto auftauchen, wo es keine Versteckmöglichkeiten gab. Machen Sie sich ihre dicke Verwandtschaft zum Feind und foto­grafieren Sie! Jeden! Immer! Aber hoffen Sie nicht drauf, dass bereits der erste Schreck mit einem Ihrer Fotos heilende Wirkung hat. Dafür haben dann die Zukunfts-Schlanken ein Vorher-Foto zum Angeben und danken ihnen vielleicht Jahre später!

Jahre später lobte mich mein Mann, dass ich die schnellste Frau im Bad und beim Anziehen sei, mit der er jemals zusammengelebt hat. Damals war es notwendiger Selbstzweck. Wie lange kann es schon dauern, sich Jeans und T-Shirt anzuziehen und die Haare zum praktischen Pferdeschwanz zu binden? Heute brauche ich manchmal eine Aufforderung, mich hübsch zu machen. Es ist immer noch neu und ungewohnt und manchmal vergesse ich, dass ich es jetzt kann!

Wieso Pferdeschwanz? Damals scheiterten kom­plizierte Hochsteck-Frisuren an dicken Armen, die nicht so lange hochgehalten werden konnten. Kurze Haare gefielen mir aber auch nicht. Sie verdeckten nicht mal im Ansatz das Doppelkinn, das Richtung Dreifachkinn unterwegs war. So habe ich erfolglos ständig neue Frisuren ausprobiert. Aber auch die schönste Dauerwelle sieht bei einem schlanken Gesicht einfach attraktiver aus. Ich beneide Frauen, die seit 30 Jahren dieselbe Frisur tragen und sich damit wohl fühlen. Der Neid erstreckte sich jahrelang auch auf den Kleiderschrank. Nicht nur, dass sie eine viel größere Auswahl hatten als ich – alles im Schrank passte auch. Meine Nachbarin besitzt drei Kleider­schränke und zwei Schuhschränke voller Sachen in einer Größe. Bei mir war es jahrelang so: Passt heute, passt bei 20 Kilo weniger, passt bei 25 Kilo mehr, passt erst bei Idealgewicht und hängt im Schrank als Motivation.

Thema Schönheit. Eine Faltencreme war in den Moppel-Zeiten nicht nötig – die körpereigenen Fett­ablagerungen unter der Haut strafften alle Konturen. Jahrelang sah mein glatt gespanntes Gesicht jünger aus, als ich tatsächlich war. Dünne Mitmenschen mussten sich aufwendig und teuer Eigenfett-Unter­spritzungen in die Naso-Labial-Falten (Mund-Nasen-Furche) setzen lassen, dazu wird aus dem eigenen Hintern Fett abgesaugt, um es im Gesicht wieder hin­zuspritzen. Da bekommt doch der Ausdruck „Arschgesicht“ gleich eine ganz neue Bedeutung.

Ja, Lästern war sehr wichtig im dicken Überlebens­kampf.

Jahre später sagte mir eine Freundin, auf manchen Fotos von früher sähe ich aus wie meine eigene Mutter. Stimmt nicht - meine Mutter hatte nie meine Ausmaße, jahrzehntelang war sie schlanker und modisch viel pfiffiger angezogen als ich - übrigens ein ständiges Problem für uns beide. Sie empfand mein Dicksein als Angriff gegen sich, ich empfand ihr Dünnsein auch nicht gerade als hilfreich.

Heute weiß ich: Wer nicht selbst abnehmen will, kann auch nicht dazu überredet werden. Nicht mit Geld und guten Worten. Übrigens auch nicht mit Schimpfen.

Gewicht HALBIERT!

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