Читать книгу Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3 - Tanja Noy - Страница 11

7. KAPITEL

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Vorbei ist die Beschaulichkeit

Weidling

Es gab bestimmt nicht wenige Menschen, die behaupteten, in Weidling sei die Zeit stehen geblieben. Und ganz bestimmt wirkte der kleine Ort mitten im Schwarzwald auf viele auch tatsächlich wie im Mittelalter. Wer einmal, aus welchen Gründen auch immer, dort war, dem würden ganz spontan ganz viele Gründe einfallen, weshalb man besser woanders leben sollte. Da war zum einen die Entfernung zur Zivilisation, womit die nächste größere Stadt gemeint ist, die etwa fünfzehn Kilometer nordwestlich lag. Dazu kam, dass Weidling in einer Senke lag, Berge drängten sich um den Ort herum, es führte nur eine Straße hinein und die hörte an einer veralteten Telefonzelle am Dorfplatz auf. Es gab nur ungefähr ein Dutzend Häuser, ein paar Bauernhöfe, eine Kneipe und eine Apotheke. Immerhin, die gab es hier, was einen Sinn ergab, betrachtete man die strengen, langen und schneereichen Winter, vor allem aber das Durchschnittsalter der Dorfbewohner.

Zusammengefasst: Es passierte nicht viel in Weidling. Aber es rankte sich seit vielen, vielen Jahren eine Legende um den Ort: die Legende um den Schwarzen Mann.

Vor langer, langer Zeit, so erzählten es die Dorfbewohner, suchte eine unheimliche Gestalt das Dorf heim. Niemand bekam sie je zu Gesicht, aber alle wussten, dass sie da war. Scheunen gingen mit einem Mal lodernd in Flammen auf, von Hühnern und Schweinen in den Ställen wurden nur noch die Knochen gefunden, Hunde und Katzen verschwanden spurlos. Hysterie brach aus im Dorf, die Türen wurden verrammelt, eine Bürgerwehr gegründet. Man suchte, aber man fand ihn nicht, den Schwarzen Mann. Doch seine Taten gingen weiter. Wenigstens noch eine Zeit lang. Und dann, ganz plötzlich, passierte nichts mehr. So schnell, wie er gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden.

Ob dies alles tatsächlich genau so geschehen war oder ob es sich nicht doch einfach nur um eine Legende handelte, konnte nie wirklich geklärt werden. Ebenso wenig die Frage, warum er – der Schwarze Mann – sich ausgerechnet Weidling für seine Tyrannei ausgesucht hatte. Und warum er so plötzlich wieder verschwunden war – und wohin –, darauf hatte auch niemand eine Antwort.

Wie auch immer, inzwischen waren viele, viele Jahre vergangen, und bis vor einer Stunde war alles im Dorf ruhig gewesen, die beschlagenen Fenster hatten die Häuser blind gemacht. Nichts hatte die Leute aus ihren Häusern locken können.

Wie gesagt, bis vor einer Stunde.

Von dieser Stunde trennte die Dorfbewohner nun eine ganze Welt. Jemand war auf ihrem Marktplatz ermordet worden. Im Schnee aufgefunden, mit zwei Kugeln im Leib, und jetzt waren alle auf den Beinen. Auf einmal schien niemand mehr ein Problem damit zu haben, das Haus zu verlassen; Hände reibend standen sie am Tatort und wirkten dabei wie Landstreicher, die sich an einem Feuer wärmten. Sogar Rocco, der Schäferhund des Dorfwirtes, saß inmitten der Menge. Brav auf seinem Hintern, die Ohren gespitzt, beobachtete er interessiert, was sich um ihn herum tat.

„Macht gefälligst alle ein paar Schritte zurück!“, rief Marina Mayer. „Ihr zertrampelt ja die ganzen Spuren!“

Murmelnd bewegte die Menge sich rückwärts.

Warum ausgerechnet hier? war dann das Erste, was sie sich fragte, während sie auf den Toten hinunterstarrte, auf die kurzen dunklen Haare, die teuren Schuhe und die weit geöffneten, starren Augen, die in den schneienden Himmel blickten. Die zweite Frage, die Marina sich stellte, war, wie alt er wohl geworden war? Sie schätzte ihn auf Anfang vierzig.

„Erschossen“, sagte der Mann, der neben dem Toten stand. Sein Name war Dirk Eismann, und eigentlich verfügte er über keinerlei fachliche Kompetenz, was die klassische Schulmedizin betraf. Er war Tierarzt. Die Todesumstände dieser Leiche hätte allerdings auch der danebenstehende Metzger erkannt. „Mit zwei Kugeln“, fügte er hinzu. „Eine in die rechte Schulter, die zweite offenbar direkt ins Herz.“

„Ritualmord!“, rief jemand.

„Mafia in Weidling!“, fügte ein anderer unsinnigerweise hinzu.

Und sofort geriet die Menge in Wallung.

„Wir brauchen die Polizei!“

„Ich bin die Polizei!“, fauchte Marina, atmete tief durch und zog sich die dicke Fellmütze etwas weiter in die Stirn. „Ich wollte bereits Verstärkung anfordern, kann im Augenblick aber leider niemanden verständigen. Die Telefone sind tot, und die Handys haben kein Netz.“

„Was ist mit dem Computer?“, fragte jemand.

„Auch da geht im Moment nichts. Und selbst wenn ich die Kollegen erreichen könnte, käme im Augenblick niemand zu uns durch. Wir müssen uns erst einmal alleine darum kümmern und hoffen, dass wir so bald wie möglich wieder eine Verbindung zur Außenwelt haben.“ Sie wandte sich wieder an Eismann. „Hast du Papiere bei ihm gefunden?“

Er schüttelte den Kopf. „Nichts.“

„Dann sollten wir uns zuerst einmal Klarheit darüber verschaffen, um wen es sich hierbei überhaupt handelt.“

„Vielleicht meldet sich ja jemand. Vielleicht ist der Mann ein Tourist und wird schon bald vermisst.“

Marina deutete auf die Pistole, die neben dem Toten im Schnee lag. „Ein Tourist ohne Papiere, aber mit einer Waffe?“ Sie wandte sich an die Menge. „Elli, wie viele eurer Fremdenzimmer sind zurzeit vermietet?“

Eine Frau um die fünfzig, eingewickelt in einen Poncho, trat nach vorne. „Keins.“

Marina wandte sich wieder an Eismann. „Mehr Fremdenzimmer haben wir nicht in Weidling. Wir machen auf jeden Fall ein Foto von seinem Gesicht. Und dann …“

„Ich hab die Försterhütte vermietet“, unterbrach eine Männerstimme.

Alle wandten die Köpfe in Richtung eines mittelgroßen Mannes, um die sechzig, der einen weißen zotteligen Bart im Gesicht und eine russische Pelzmütze auf dem Kopf trug. Sein Name war Frieder Fäth. Er deutete auf den Toten im Schnee. „Aber nicht an ihn. An eine Frau aus Hamburg. Ihr Name war … warte …“ Er überlegte, dann fiel es ihm wieder ein: „Haack.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung des Wagens, neben dem der Tote lag. Deutete auf das Kennzeichen. „Muss ihr gehören, der Wagen.“

„Dann gehört ihr vielleicht auch die Waffe“, bemerkte Eismann.

Alle blickten nun den Berg hinauf, auf dem sich die Försterhütte befand und der umgeben war von dichten Nebelschwaden. Eine Wand aus Watte, die alles schluckte.

„Also, wenn sie inzwischen dort oben ist, dann wirst du die Verhaftung noch etwas verschieben müssen“, bemerkte Eismann. „Ohne Hubschrauber kommst du da jetzt nicht mehr rauf.“

„Und wie soll sie den Berg hinaufgekommen sein?“, fragte Marina. „Ohne Auto? War die Fahrertür eigentlich offen, so wie jetzt?“

Eismann nickte. „Der Zündschlüssel steckt.“

Marina wandte sich wieder an Frieder. „Wann hast du der Frau die Hütte vermietet?“

„Vor zwei Tagen“, antwortete er.

Jemand räusperte sich. „Ich glaube, sie war heute Morgen in meiner Apotheke. Also … die Frau aus Hamburg.“

Alle Köpfe wandten sich nun in Richtung einer alten Frau, die einen vorsichtigen Schritt nach vorne machte. Ihre Haut war so runzlig, dass sie an einen ausgetrockneten Apfel erinnerte. Ihr Name war Margot Morgenstern, ihr gehörte die Apotheke im Dorf. Offenbar hatte sie es eilig gehabt, hierherzukommen, denn sie trug nur eine dünne Strickjacke, die sie frierend enger um sich zog. Aber immerhin, die rosa Ohrwärmer hatte sie nicht vergessen. Margot war schon weit über siebzig und nicht mehr sehr gut auf den Beinen, trotzdem weigerte sie sich beharrlich, in Rente zu gehen, was daran liegen mochte, dass sie selbst ihre beste Kundin war.

„Sie sah sehr auffällig aus“, fügte sie hinzu. „Helle, rote Locken und … “

„Genau!“ Frieder machte eine weit ausholende Bewegung, die an einen Zirkusdirektor erinnerte. „Das ist sie! Vergisst man nicht so schnell.“

„Was hat die Frau bei dir gekauft?“, wollte Marina von Margot wissen.

„Medikamente gegen Asthma.“

„Und hat sie auch etwas zu dir gesagt?“

„Nein. Sie kaufte die Medikamente und verschwand dann ganz schnell wieder. Ich dachte noch, dass sie es bestimmt eilig hat, wieder nach Hause zu kommen. Wo immer das sein mag.“

Marina zog sich ihre Mütze noch etwas weiter über die Ohren. Es war wirklich verdammt kalt. Dann wandte sie sich noch einmal an Frieder Fäth. „Kannst du mir etwas mehr über die Frau sagen?“

Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie rief vor drei Tagen bei mir an und fragte nach der Hütte. Einen Tag später kam sie vorbei und holte den Schlüssel. Das war’s.“

„Hast du ihr keine Fragen gestellt?“, hakte Marina nach. „Gar keine?“

„Nein.“

„Hat sie bar bezahlt?“

„Ja.“

„Und dann ist sie wieder gegangen?“

„Ja.“

„Und hast du sie danach noch einmal gesehen?“

„Nein. Sie gab mir das Geld, ich gab ihr den Schlüssel. Mehr ist nicht passiert.“ Frieder verstummte.

„Aber du musst doch neugierig gewesen sein“, setzte Marina nach. „Ich meine, da kommt eine Frau aus Hamburg und mietet offenbar alleine … sie war doch alleine?“

Frieder nickte.

„Mietet also alleine die einsame Försterhütte, dort oben auf dem Berg. Erzähl mir nicht, dass dich das nicht neugierig gemacht hat.“

„Klar hat es mich neugierig gemacht. Ich hätte mich auch gerne länger mit ihr unterhalten, ich meine, sie war ja eine echte Augenweide. Ganz meergrüne Augen. Die funkelten wie Smaragde.“ Als ihm auffiel, dass die Augen der gesamten Gruppe auf ihm lagen, konzentrierte Frieder sich wieder auf das Wesentliche. „Hat mich schon gewundert, dass sie alleine unterwegs war. Aber sie machte überhaupt nicht den Eindruck, als wolle sie sich unterhalten …“

„Hattest du das Gefühl, dass sie sich verfolgt fühlte?“

„Nein.“

„In Ordnung.“ Marina betrachtete noch einmal den offenen Wagen. „Frieder, ich benötige von dir eine vernünftige Beschreibung dieser Frau“, sagte sie dann. „Dich, Margot, besuche ich dann anschließend in der Apotheke.“

Die Apothekerin nickte, und Frieder bemerkte mit Überzeugung in der Stimme: „Ich sag euch, diese Frau ist keine Mörderin.“

„Und woher weißt du das?“ Das kam von Dirk Eismann. „Machte sie den Eindruck auf dich, als könnte sie keine Waffe halten?“

„Erfahrung“, sagte Frieder in seine Richtung, „Bauchgefühl und Menschenkenntnis. Alle drei zusammen sagen mir, dass wir mit voreiligen Schlussfolgerungen vorsichtig sein sollten.“

„Das sehe ich auch so“, stimmte Marina zu. „Du schleppst den Wagen ab, Dirk. Bring ihn in deine Garage, vielleicht gibt’s darin ja was zu finden.“

Eismann nickte, und sie wandte sich noch einmal an die gesamte Gruppe. Dabei legte sie alle Autorität, die in ihrem ein Meter siebenundfünfzig großen Körper steckte, in ihre Worte. Bis hierhin war sie nur eine einfache, langweilige Dorfpolizistin gewesen, und wenn man von ganz unten kam und nach ganz oben wollte, dann musste man sich schon ganz besonders strecken. „Ihr wisst, wie wichtig es ist, dass wir Ordnung in die Sache bringen“, sagte sie. „Also bitte, hat sonst noch irgendjemand von euch etwas gesehen, was uns weiterhelfen könnte?“

Kollektives Kopfschütteln der Gruppe.

„Hat jemand die Schüsse gehört?“

Erneutes kollektives Kopfschütteln.

Marina seufzte leise. „Wer hat den Mann gefunden?“

„Das war ich.“ Ulrich Pohl, Dorfwirt und Ellie Pohls Bruder, trat nach vorne. Normalerweise verfügte er über eine Gesichtsfarbe, die an Haferschleim erinnerte, im Augenblick jedoch zeigten sich auf seinen Wangen rote Flecken, während die Kälte die Gläser seiner runden Nickelbrille längst in Abendmahloblaten verwandelt hatte.

„Wann war das?“, wollte Marina von ihm wissen. „Wann hast du den Mann gefunden?“

„Vor einer halben Stunde, so. Ich bin mit Rocco raus.“ Pohl deutete auf den Schäferhund neben sich. „Er musste sein Geschäft machen. Wegen der Kälte und dem ganzen Schnee wollte ich nicht so weit gehen. Wir kamen hier vorbei, und da hab ich ihn entdeckt. Das war’s.“

„Hast du jemanden weglaufen sehen?“

„Nein.“

Das wäre auch zu schön gewesen. Vor allem zu einfach. Marina nickte, betrachtete noch einmal den Toten und dachte darüber nach, wie sie nun am besten weiter vorgehen sollte …

Zwanzig Minuten später stand sie, einigermaßen zufrieden, im schlichten Holzschuppen der Pohls. Zwei Männer aus dem Dorf hatten die Leiche dort auf einem Campingtisch abgelegt. Immerhin lag er hier kühl und geschützt, bis Hilfe von außen kam. Das war aber auch das Einzige, was Marina irgendwie tröstete. Ansonsten war ihr gar nicht wohl. Das Wetter wurde immer schlechter, der Himmel immer dunkler. Es sah im Augenblick nicht so aus, als würde es in nächster Zeit wieder aufhören zu schneien oder als würde es überhaupt jemals wieder aufhören zu schneien.

„Also, ich hab kein gutes Gefühl dabei“, sprach Ellie Pohl aus, was sie dachte.

Marina antwortete nicht darauf, und so starrten sie eine Weile auf den toten Mann.

„Sind die anderen schon losgegangen?“, fragte Ellie dann.

„Ja. Frieder hat die Leitung übernommen. Vielleicht finden sie ja die Frau aus Hamburg.“

„Ich glaube nicht, dass sie weit kommen werden.“

„Nein, vermutlich nicht. Aber einen Versuch ist es wert. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie es zu Fuß und alleine den Berg hinaufgeschafft hat. Vielleicht liegt sie irgendwo und braucht Hilfe.“

„Ja, vielleicht.“

Wieder starrten sie auf die Leiche.

„Ich habe immer gedacht, alle Toten würden so aussehen, als würden sie schlafen“, bemerkte Ellie nach ein paar Sekunden.

Marina sagte nichts darauf, und sie fügte hinzu: „Er sieht überhaupt nicht so aus, als würde er schlafen. Selbst jetzt nicht, nachdem wir ihm die Augen geschlossen haben …“

Einem Impuls folgend machte Marina sich daran, die Taschen der Jacke des Toten zu durchsuchen.

„Was suchst du?“, wollte Ellie wissen.

„Ist es nicht komisch, dass er nicht nur keine Papiere, sondern auch kein Handy dabeihatte?“, sagte Marina. „Ich meine, jedes Kind hat heutzutage ein Handy.“

„Stimmt“, nickte Ellie. „Und sieh dir seine Schuhe an. Das ist italienisches Leder, das sehe ich sofort. Damit spaziert man nicht im tiefen Schnee herum.“ Sie brach ab, als Marina einen kleinen Zettel aus der Jackentasche des Toten zog. „Was ist das?“

„Eine Notiz.“ Marina hob die Augenbrauen in die Höhe. „Eine Zahl. 2012.

„Eine Jahreszahl?“

„Vielleicht. Oder eine PIN-Kombination.“ Marina steckte den Zettel ein. Sie trat zur Tür des Schuppens und sah einen Moment hinaus in die weiße Wüste. Weiße Berge und schwarze Wolken in einem einzigen Gewirbel aus Schnee.

Jetzt habe ich meine Chance, und ich werde sie nicht vertun, dachte sie. Und hatte überhaupt keine Ahnung, was noch auf sie zukommen würde. Doch als wäre da irgendwo in ihr etwas, das warnend ausschlug, wurde ihr für den Bruchteil einer Sekunde ganz schrecklich übel. Sie schluckte, wandte sich noch einmal an Ellie und sagte: „Danke, dass wir den Schuppen benutzen dürfen. Es tut mir wirklich leid, dass wir euch das zumuten, aber ich sehe gerade keine andere Möglichkeit.“

Ellie nickte unbehaglich und beeilte sich, ihr nach draußen zu folgen.

Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3

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