Читать книгу Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3 - Tanja Noy - Страница 7
3. KAPITEL
ОглавлениеVerrat und Zusammenhalt
Hannover
Auch für Jörg Grimm hatte an diesem Morgen zuerst nichts darauf hingedeutet, dass der Tag anders werden würde als die anderen, sah man davon ab, dass es in der Nacht angefangen hatte zu schneien und immer noch schneite. Immer mehr Schneeflocken fielen vom Himmel und legten sich auf die dicke Schicht, die bereits die Straßen, die Rasenflächen, die Spielplätze, die ganze Stadt Hannover bedeckte.
Jörg hatte sich gerade fertig angezogen und war auf dem Weg ins Büro, als es an der Wohnungstür klingelte. Sein erster Gedanke war, dass seine Freundin Yvonne ihren Schlüssel vergessen hatte, aber dann fiel ihm ein, dass das ja gar nicht sein konnte, weil Yvonne überhaupt nicht in Deutschland war.
Widerwillig, weil er eigentlich gar keine Zeit hatte, schritt Jörg zur Wohnungstür, und als er öffnete, schlug ihm ein Schwall kalter Luft entgegen. Ob das nun an der Kälte vor der Tür lag oder an der Gestalt seines Vaters, der davorstand, darüber konnte er nur spekulieren, auf jeden Fall verhieß sein Auftauchen nichts Gutes. Jörg verspürte sofort eine bekannte Gänsehaut auf den Armen, einen Stich im Magen und seinen schnellen Puls. Er sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass du hier auftauchen würdest.“
Curt Grimm, etwas über sechzig, mit silbergrauen, perfekt frisierten Haaren und Augen von kühlem Grau, antwortete: „Hast du das gedacht oder gehofft?“
Jörg blieb in der Tür stehen. „Ich muss zur Arbeit.“
„Es ist Samstag.“
„Ich habe viel zu tun. Also bitte, fass dich kurz.“
„Ich will, dass du mir sagst, wo Susanne steckt.“
Als Jörg nichts darauf antwortete, fügte sein Vater hinzu: „Man hatte mich zu Anfang ihres Verschwindens darauf hingewiesen, dass du ihr vielleicht helfen würdest. Aber ich habe ihnen versichert, so dumm wärst du nicht. Ich habe gesagt, er wird keiner Frau, die aus der geschlossenen Psychiatrie ausgebrochen ist, dabei helfen, sich vor der Polizei zu verstecken. Auch nicht, wenn sie seine Schwester ist. So dumm ist er nicht. Habe ich mich getäuscht, Jörg? Habe ich mich wirklich so getäuscht?“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Sie ist jetzt seit fast fünf Monaten verschwunden, und sie ist verdammt noch mal krank. Die Ärzte sagen, sie braucht dringend Medikamente. Wenn sie die nicht bekommt, kann niemand einschätzen, was passiert. Sie muss unverzüglich zurück in die Klinik.“
„Wo du sie los bist, meinst du?“
„Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe? Sie braucht Hilfe.“
„Ich bitte dich, Vater“, fuhr Jörg auf. „Du hast dich doch noch nie für das interessiert, was Susanne braucht. Warum jetzt auf einmal?“
„Wir sind immer noch eine Familie.“
„Eine Familie? Lüg doch nicht. Dir geht es nicht um die Familie, dir geht es allein um dich und um deinen guten Ruf als Chefarzt.“ Jörg verschränkte die Arme vor der Brust. „Wo immer Susanne auch sein mag, ich wünsche ihr, dass sie eine faire zweite Chance bekommt. Ohne dich und deine verlogene Heuchelei.“
„Es wird keine zweite Chance für sie geben“, zischte sein Vater. „Sie war schon von Anfang an völlig neben der Spur. Wir haben wirklich alles versucht, aber es ist nie etwas dabei herausgekommen. Sie ist jetzt dreißig Jahre alt und schaffte es nicht einmal, einen vernünftigen Job zu bekommen, und das, obwohl sie zwei Sprachen studiert hat. Stattdessen färbte sie sich die Haare bunt und spielte in irgendwelchen lächerlichen Punkbands. Sie hat nur Ärger gemacht, so lange, bis sie schließlich im Irrenhaus landete. Nenn mir einen Grund, warum ich der Welt nicht helfen sollte, sich von ihr zu befreien und sie wieder dahin zurückzubringen, wo sie hingehört?“
Jörgs Blick wurde dunkel. „Du bist ein Ekel. Das warst du schon immer, und das wirst du immer bleiben.“
„Ach ja? Habt ihr nicht immer alles bekommen, was ihr wolltet?“
„Und zu welchem Preis? Wenn wir geweint haben, waren wir erbärmlich, wenn wir zugestimmt haben, waren wir Schwächlinge. Haben wir nicht so funktioniert wie du es wolltest, dann waren wir undankbare, respektlose Schnorrer.“ Jörg machte eine kurze Pause. „Susanne hat immerhin versucht, sich gegen dich zu wehren, ganz im Gegensatz zu mir, und jetzt sagst du, dass sie nur Ärger gemacht hat und dass du sehen willst, wie sie wieder in der geschlossenen Psychiatrie verschwindet. Sie kann überhaupt nicht gewinnen. Wir haben bis heute noch nicht ein einziges Mal gegen dich gewonnen, Vater.“
Herausfordernd sahen sie sich in die Augen, dann war es erneut Jörg, der sprach. Allerdings sagte er nicht viel. Er sagte nur: „Ich weiß nicht, wo sie ist. Und jetzt geh wieder.“
Curt Grimm machte einen Schritt nach vorne, fasste nach dem Arm seines Sohnes und zischte: „Wie erbärmlich bist du eigentlich? Glaubst du, diese ganze Scharade wäre nicht zu durchschauen?“
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Lass mich los.“
„Ich weiß, dass du ihr mit Geld geholfen hast. Vermutlich tust du das immer noch.“
„Kannst du das beweisen?“
„Ich weiß es. Ebenso wie ich weiß, dass deine Freundin Yvonne in den letzten Wochen verdächtig oft nach Skandinavien gereist ist.“
„Yvonne schreibt Reiseführer. Sie ist immer irgendwo unterwegs. Und jetzt lass mich, verdammt noch mal, los.“
„Hältst du mich wirklich für so dumm, die Zusammenhänge nicht zu erkennen?“
„Lass mich los und verschwinde endlich.“
Widerwillig zog Curt Grimm den Arm zurück. Dann wandte er sich um und trat zur Treppe. Dort drehte er sich allerdings noch einmal um. „Ich habe es der Polizei gesagt.“
Jörg hob den Kopf. „Was hast du gesagt?“
„Ich habe ihnen gesagt, wo sie nach Susanne suchen sollen. In Skandinavien.“
„Skandinavien ist groß. Da können sie lange suchen.“
„Das sind Zielfahnder, Jörg. Das sind keine dummen Männer. Das solltest du nicht denken.“
Jörgs Haut begann am ganzen Körper gleichzeitig zu jucken. Die Worte entwichen ihm, ehe er es verhindern konnte: „Du verrätst deine eigene Tochter?“
„Nein. Ich helfe ihr.“
Damit stieg Curt Grimm die Treppe hinunter, während Jörg reglos in der Tür stehen blieb und sich fragte, ob sein Vater es tatsächlich fertiggebracht hatte, zur Polizei zu gehen und seine eigene Tochter zu verraten.
Als in der nächsten Sekunde der Wind eines der gekippten Fenster im Inneren der Wohnung mit Wucht zuschlug, kam ihm die Erkenntnis, dass nichts und niemand ihn je davon hätte abhalten können.
Norwegen
Interessanterweise schneite es in Norwegen an diesem Morgen nicht. Es regnete wie aus Kübeln. Aber selbst das war in dem Land ein grandioses Schauspiel. Eine ungewöhnliche Üppigkeit sättigte die Luft, während sich die Regentropfen wie ein gigantisches Tier mit unzähligen Beinen auf der Meeresoberfläche bewegten. Susanne beobachtete es fasziniert und stellte sich dabei die Frage, ob die Menschen, die hier aufgewachsen waren, das alles ebenso intensiv wahrnahmen, wie sie selbst es tat. Ob sie rochen, was sie roch. Denn Norwegen roch anders als alles, was sie bisher kennengelernt hatte. Irgendjemand hatte es einmal als Land Gottes bezeichnet, als kleines Eden, und vielleicht war da ja tatsächlich etwas dran.
Susanne blies in die Hände, um sie zu wärmen, blieb noch einen Moment ganz ruhig stehen, atmete tief ein und wieder aus.
Der Regen tut dir nichts. Hier tut dir nichts und niemand etwas. Niemand weit und breit, der dich einfangen und zurück in die Psychiatrie stecken will.
Wie um es sich selbst zu bestätigen, nickte sie einmal und schritt dann zum Haus zurück.
Bei der Veranda angekommen, glaubte sie, etwas zu spüren. Eine Bewegung hinter sich. Sie wandte sich um, aber da war nichts.
Sie setzte sich wieder in Bewegung und streckte die Hand aus, um die Terrassentür zu öffnen. Im Wohnzimmer angekommen, rieb sie sich die Arme. Draußen gab es jetzt ein Gewitter, ein Blitz zuckte, aber es war alles noch zu weit weg. So weit, dass sie den Donner nicht hören konnte. Dann ein weiterer Blitz über dem Meer, nur als weiches, warmes Licht wahrzunehmen. Trotzdem verlieh es dem verlassenen Küstenstreifen, den normalerweise nicht einmal die Touristen fanden – es sei denn durch einen großen Zufall –, etwas Gespenstisches.
Irgendwo im Haus klapperte eine Tür. Susanne ging herum, um zu überprüfen, um welche Tür es sich handelte. Als sie dabei am Badezimmer vorbeikam, trat sie für einen Moment ein, um sich im Spiegel zu betrachten. Ihre bunten Haare klebten nass am Kopf, ihre Haut war blass, und ihre Lippen wirkten blutleer. Sie klatschte sich mit der Hand ins Gesicht, um ein bisschen mehr Farbe zu bekommen. Vergeblich.
Schließlich gab sie es auf und ging zurück ins Wohnzimmer, wo sie das Powerbook aufschlug, das Yvonne ihr ein paar Wochen zuvor gebracht hatte.
Immer noch konnte Susanne die Schlagzeilen, die es in Deutschland über sie gab, nicht fassen. Glücklicherweise gab es nicht allzu viele Fotos von ihr. Jene, die es gab, zeigten sie jedoch mit starrem Blick, den Mund zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Womit die Medien nur allzu bereitwillig unterstrichen: Susanne Grimm war eine irre und gemeingefährliche Person. Ansonsten gab es lediglich ein paar vereinzelte Schulfotos und einige wenige, auf denen sie zusammen mit der Band gezeigt wurde, in der sie jahrelang Bass gespielt hatte.
Susanne scrollte und fand einen Artikel, dessen Überschrift lautete: Schwere Körperverletzung bei Punkfestival!
Da hatte doch tatsächlich irgendein findiger Reporter eine längst vergangene Geschichte wieder ans Tageslicht gezerrt, in der sie nach einem Auftritt mit ihrer Band in eine Schlägerei geraten war. Susanne erinnerte sich noch sehr gut an den Vorfall, obwohl es bestimmt schon acht Jahre her war. Sie hatten auf dem Festival gespielt. Der Auftritt war zu Ende gewesen, und sie hatte sich an einem der Bierstände etwas zu trinken holen wollen. Ein Betrunkener war an sie herangetreten, hatte einen Arm um sie gelegt und gefragt, ob sie ihm einen blasen wolle.
Anstatt dem Typen sofort eine passende Antwort zu geben, hatte Susanne noch einmal nachgefragt: „Was hast du gerade gesagt?“
„Obduanmeinerwurstlutschenwillst?“ Während er es nuschelte, versuchte er, sie anzutatschen, und fügte so etwas hinzu wie: „Geile Fotze.“
Susanne war fest davon überzeugt, dass es keiner Frau dieser Welt gefallen hätte, von einem wildfremden Mann betatscht und dann auch noch Fotze genannt zu werden. Ihr auch nicht, weshalb sie dem Kerl ohne Ansatz ihr Knie zwischen die Beine rammte. Er sank stöhnend zusammen und hielt sich den Schritt.
Und dann ging auch schon alles ganz schnell. Freunde des Betrunkenen kamen hinzu und wollten sich auf Susanne stürzen. Deren Freunde kamen hinzu, um ihr zu helfen, und in Sekundenschnelle entwickelte sich eine Massenschlägerei. Am Ende warf sich einer der Ordner auf Susanne und drückte sie auf den Boden, bis die Polizei kam.
Das war nur eine von vielen veröffentlichen Geschichten, die – jede für sich – eigentlich nichts wirklich Großes waren, aber sie standen hier, in allen Details und für jeden zugänglich im Internet, und die Diagnose, die die Medien in Sachen Susanne stellten, variierten von aggressiv zu hochgefährlich, psychotisch oder schizophren. Durchgehend alle Zeitungen beschrieben sie als sehr intelligent – immerhin –, aber gleichzeitig auch als labil und äußerst gewaltbereit.
Und als die Zeitungen dann auch noch herausfanden, dass Susanne lesbisch war, gab es kein Halten mehr. Sie schreckten nicht einmal davor zurück, längst vergessene Exfreundinnen aus ihren Löchern zu zerren und zu Kommentaren zu bewegen. Im günstigsten Falle blieb es bei Kommentaren. In ungünstigen Fällen kamen ganze Artikel dabei heraus, wie der folgende, dessen Überschrift lautete: Manchmal hatte ich regelrecht Angst vor ihr!
In dem Artikel kam eine Exfreundin von Susanne zu Wort, Doris Serpikov, inzwischen eine mehr oder minder – mehr minder – erfolgreiche Modedesignerin, die berichtete, Susanne hätte sie während ihrer Beziehung bedroht und mehr als einmal in Angst und Schrecken versetzt.
Susanne konnte es nicht fassen. Die Beziehung war ewig her, damals waren sie zwanzig Jahre alt gewesen. Sie waren verliebt und hatten eine wirklich gute Zeit. Nie, nicht ein einziges Mal, hatte sie Doris bedroht. Warum hätte sie das tun sollen? Und doch stand es hier schwarz auf weiß. Der Artikel nahm fast eine halbe Seite ein.
Susanne überlegte. Wie lange waren sie und Doris zusammen gewesen? Vielleicht neun Monate. Dann hatte sie die Beziehung beendet. Doris hatte das damals sehr mitgenommen, aber konnte das allein der Grund für das hier sein?
Wie auch immer, nach unzähligen Berichten dieser Art war Susannes Name den regelmäßigen Zeitungslesern natürlich ein Begriff. Man untersuchte und überprüfte ihren persönlichen Hintergrund, veröffentlichte alles bis ins Detail, von der ersten harmlosen Prügelei in der Grundschule bis zur Behandlung in der geschlossenen Psychiatrie im letzten Sommer.
Susanne zog die Augenbrauen in die Höhe, als sie ein Interview mit Professor Doktor Ulrich Malwik entdeckte. Zwar erklärte er, er unterliege der Schweigepflicht und könne sich daher nicht zu einzelnen Patienten äußern, fügte aber dennoch hinzu, dass Susanne ein „sehr komplizierter Fall“ sei, der dringend nach einer qualifizierten Behandlung verlange. Er bedauere zutiefst, dass ein Mensch fast mit dem Leben bezahlt hätte – damit meinte er das Schwein Egert –, ebenso wie er zutiefst bedauere, dass Susanne die Flucht aus der Klinik gelungen sei. Es bliebe nun nur zu hoffen, dass bis zu ihrer Ergreifung nicht noch mehr Menschen in Gefahr gerieten.
Susanne schüttelte den Kopf. Von Malwik hing damals ihre Zukunft ab; er sollte, nach endlosen Gesprächen und Untersuchungen, ein Gutachten über ihren Geisteszustand verfassen. Dieses Gutachten hätte dann über ihre weitere Zukunft entschieden, und nun konnte sie erahnen, wie diese Zukunft ausgesehen hätte. Der Psychiater nannte sie in dem Artikel eine „unruhige“ und „widerspenstige“ Patientin. Einen Menschen, der alle Autoritäten infrage stellte und seine Emotionen nicht im Griff hatte.
Als Nächstes verfolgte Susanne die Charakterisierung ihres „Opfers“: Helmut Egert. Er wurde in einer Abendzeitung eingehend porträtiert, und der Leser musste bei der Lektüre zu der Überzeugung gelangen, dass hier ein ehrenwerter Mitbürger nur knapp dem Tod entkommen war. Das abgedruckte Foto zeigte ihn wohlwollend lächelnd. Nichts deutete darauf hin, dass man sich vor diesem Mann besser in Acht nehmen sollte. Man beschrieb ihn als geachteten Steuerzahler, der sogar ehrenamtlich in einem Tierheim arbeitete.
Susanne verzog die Lippen zu einem dünnen Lächeln, welches ihr jedoch sofort wieder verging, als sie den Namen Lisa Vollrath las: die weibliche Hauptperson des Dramas; die Frau, die der ehrenwerte Mitbürger Egert hatte vergewaltigen wollen. Ihr widmete man vergleichsweise wenig Raum. Man schilderte sie als sympathische, zurückhaltende junge Frau, die sich nicht zu dem äußern wolle, was sich in jener Nacht im Hinterhof der Kneipe abgespielt habe.
Ausgerechnet die Frau, die die ganze Geschichte hätte aufklären können, wollte sich nicht dazu äußern. Susanne atmete tief durch und schüttelte den Kopf.
In dieser Sekunde klingelte das Handy, und sie zuckte zusammen. Jedoch nur für eine Sekunde, dann beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Niemand außer ihrem Bruder und Yvonne kannten die Nummer, also konnte es nur einer der beiden sein. Sie nahm das Gespräch an.
„Susanne? Hörst du mich?“ Jörg schien völlig außer Atem. „Hör mir gut zu. Du musst mir gut zuhören. Du musst aus dem Haus verschwinden. Sofort.“
Susanne hörte die Worte und spürte im selben Moment, wie etwas in ihr zusammenbrach. Ein Turm aus Hoffnungen, der im Bruchteil einer Sekunde einstürzte und nichts als Angst hinterließ. „Was ist passiert?“, fragte sie.
Jörg antwortete nicht darauf. Stattdessen sagte er noch einmal: „Du musst aus dem Haus verschwinden. So schnell wie möglich. Hörst du mich? Du bist dort nicht mehr sicher. Pass gut auf dich auf.“
Die ganze Welt schien sich mit einem Mal wie wild um Susanne herumzudrehen. Ihr Puls pochte in Brust und Armen. Wenn Jörg sagte, dass sie verschwinden musste, dann musste sie das tun. Und zwar sofort. Mit zitternden Knien durchquerte sie das Wohnzimmer und betrat die Küche. Ihre Tasche, die immer zur Abreise gepackt war, lag auf dem Fußboden unter dem Küchentisch. Sie eilte darauf zu und griff danach. Als sie sich wieder aufrichtete und umdrehte, sah sie in den Lauf einer Pistole.
Susanne blieb das Herz stehen.
Der Polizist stand genau vor ihr, vielleicht einen Meter entfernt. „Keine Bewegung.“ Er sagte es auf Norwegisch, aber es war dennoch nicht falsch zu verstehen.
Susanne bewegte sich trotzdem. Sie wich zurück, stolperte und stieß gegen einen Stuhl.
„Keine Bewegung“, sagte der Polizist noch einmal.
Warum macht man die verrücktesten Dinge des Lebens? Weil man die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat.
Allein aus diesem Grund griff Susanne, ohne noch einmal darüber nachzudenken, nach dem Stuhl hinter sich und schmetterte dem Polizisten das Möbelstück gegen den Kopf. Er fiel zur Seite, und sie taumelte rückwärts, weil der Schwung des Stuhles sie mitriss. Dann prallte der Mann auf dem Boden auf, und sie sprang durch das geschlossene Fenster.