Читать книгу Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3 - Tanja Noy - Страница 9
5. KAPITEL
ОглавлениеJo Holmen
Norwegen
Als Susanne wieder zu sich kam, befand sie sich in einem altmodischen Wohnzimmer; das immerhin war leicht zu erkennen, aber der Kopf über ihr verschwamm, weil sie noch nicht ganz bei sich war.
„Ah, du bist wach“, sagte eine Männerstimme in gebrochenem Deutsch.
„Das ist gut. Du siehst ganz schön mitgenommen aus, Susanne.“
Er kannte ihren Namen! Woher kannte er ihren Namen?
Susanne gab sich alle Mühe, konzentrierte sich und wartete darauf, dass sie endlich wieder scharf sehen konnte. Als es ihr schließlich gelang, stellte sie fest, dass der Mann über sechzig sein musste, hellblondes Haar hatte und einen ebenso hellblonden Backenbart. Aus seinen Ohren wuchsen Haare, und er lächelte freundlich.
Sie wollte etwas sagen, aber ihr Hals war zu trocken, und das Sprechen fiel ihr schwer. Schließlich schaffte sie es, zu fragen: „Wer sind Sie?“
„Mein Name ist Jo. Du bist durch ein geschlossenes Fenster gesprungen und ziemlich gestürzt. Ich hatte schon Angst, du könntest schwer verletzt sein. Aber du hast nur ein paar kleine Schnitte und Schürfwunden. Hattest ganz schön Glück, das hätte auch anders enden können. Kannst du dich an den Sturz erinnern?“
Konnte Susanne sich überhaupt an etwas erinnern? Irgendjemand hatte sie gewarnt. Ja, das wusste sie noch ganz sicher. Es war Jörg gewesen. Dann hatte sie einen Polizisten mit einem Stuhl niedergeschlagen, und … danach befand sich in ihrem Kopf nur noch ein schwarzes Loch.
Der Mann mit dem Namen Jo lächelte aufmunternd. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du bist in Sicherheit.“
Susanne hatte daran ihre Zweifel. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, um sich einen Eindruck darüber zu verschaffen, wo sie war. Es schien sich um ein ganz normales Wohnzimmer zu handeln. Ein Schrank, eine Couch, ein Sessel, ein Tisch, ein alter Fernseher. Unauffällig bewegte sie die Beine, um zu überprüfen, ob sie vielleicht fixiert waren. Aber nein, sie war nicht gefesselt. Vielleicht war dieser Jo ja doch nur ein ganz normaler, anständiger Norweger, der ihr einfach helfen wollte. Vielleicht kam sie noch einmal davon. Vielleicht sollte sie aber auch versuchen, aufzustehen und auf ein Neues wegzulaufen.
Allerdings nicht, solange er zwischen ihr und der Tür stand.
„Ich will dir wirklich nur helfen, Susanne.“ Jo lächelte unverdrossen weiter. „Die ganze Zeit habe ich schon ein Auge auf dich.“
Susanne erstarrte. „Was soll das heißen?“
„Es ist Julia Wagners Ferienhaus, in dem du dich versteckt hast.“
„Ja. Und weiter?“
Jo seufzte leise. „Sie rief mich von Deutschland aus an, kurz bevor du vor ein paar Monaten hier aufgetaucht bist. Sie war nicht sicher, ob du tatsächlich kommen würdest, aber falls doch, meinte sie, ich solle ein Auge auf dich haben.“
Susanne schluckte noch einmal. Das würde bedeuten, dass Jo und Julia sich kannten, und damit gehörte er zu den Guten. Das war prima – wenn es stimmte.
„Warum ausgerechnet Sie?“, wollte sie wissen. „Ich meine, warum hat Julia ausgerechnet Sie darum gebeten?“
„Ich bin dein Nachbar.“
Nun ja, „Nachbar“ war in dieser Gegend relativ. Die einzelnen Häuser lagen Hunderte von Metern voneinander entfernt. Susanne wusste zwar immer, dass sie einen Nachbarn hatte, aber sie hatte sich nie die Mühe gemacht, sich näher mit ihm zu beschäftigen. Vielleicht hätte sie das mal besser tun sollen.
„Julia und ich kennen uns schon sehr lange“, redete Jo weiter. „Das Ferienhaus, in dem du dich versteckt hast, gehörte ihren Eltern. Als sie noch ein Kind war, machte die Familie jedes Jahr Urlaub dort drüben. Nach dem Tod ihrer Eltern hat Julia das Haus geerbt. Ich habe mich darum gekümmert, bis sie achtzehn war, aber sie war danach nicht mehr sehr oft hier. Sie bat mich, mich auch weiterhin um alles zu kümmern. Das habe ich getan, und daher kennen wir uns.“
Susanne schloss für einen Moment die Augen, atmete tief durch. Ganz ruhig, es ist alles in Ordnung. Denn das bedeutete, dass sie Jo tatsächlich vertrauen konnte. Trotzdem öffnete sie die Augen sofort wieder. „Ich muss aufstehen.“ Sie versuchte, sich aufzurichten. „Ich muss verschwinden. Ich muss …“
„Wo willst du denn hin? Du wirst überall gesucht. Du hast einen Mordversuch begangen, vergiss das nicht.“
Susanne verharrte in der Bewegung. Das hatte Julia ihm garantiert nicht erzählt. Jedenfalls konnte sie sich das beim besten Willen nicht vorstellen. „Es war kein ‚Mordversuch‘. Und woher wissen Sie das überhaupt?“
„Ich habe Internet.“ Mit einem leisen Grunzen ließ Jo sich in den Sessel sinken. „Du hast im letzten Sommer einen mächtigen Rabatz veranstaltet mit deiner Flucht aus der geschlossenen Psychiatrie.“
Susanne sah sich noch einmal im Raum um, fand aber nirgendwo einen Computer.
„Er steht oben, im Arbeitszimmer.“
Sie hob die Beine über die Kante der Couch. In der nächsten Sekunde wurde ihr jedoch schon wieder schwindlig. Sie spürte selbst, wie sie aschfahl wurde. Sämtliches Blut verließ ihren Kopf und rauschte wie ein Wildwasserbach in ihre Beine, wo es allerdings auch nicht blieb. In ihrem Körper ging es drunter und drüber. Sie sank zurück in die Kissen. Sie musste noch einen Moment liegen bleiben und das Beste hoffen.
„Der Polizist“, sagte sie nach ein paar Sekunden. „Er stand auf einmal hinter mir. Mit einer Waffe. Mein Bruder rief mich kurz vorher an und warnte mich, dass ich verschwinden müsse. Damit war klar, dass die Polizei auftauchen würde, aber ich ahnte nicht, dass es so schnell geschehen würde.“
Jo schüttelte den Kopf. „Der Polizist hat dich für eine ganz normale Einbrecherin gehalten. Die Ferienhäuser stehen mitunter sehr lange leer, und da passiert es schon mal, dass eingebrochen wird.“ Er machte eine Handbewegung. „Du hast ihm einen Stuhl über den Kopf gezogen, bist aus dem geschlossenen Fenster gesprungen und in den offenen Kohleschacht gefallen, der sich direkt darunter befindet. Das war dein Glück, denn während du dort unten lagst, habe ich mich um den verletzten Beamten gekümmert und ihm die Richtung gezeigt, in die ich dich habe laufen sehen. Danach hab ich dich aus dem Schacht gezogen und mit zu mir genommen.“
„Damit haben Sie sehr viel riskiert“, sagte Susanne.
Jo seufzte leise und erhob sich wieder vom Sessel. „Wir sollten etwas essen.“
Ihr ganzer Körper fühlte sich an, als wäre sie mit einer Eisenstange verprügelt worden. Mit den Fingern zupfte Susanne ein Stück Brot auseinander und stopfte sich eine Flocke davon in den Mund. Dann griff sie nach der Kaffeetasse und warf einen Blick hinein. Es handelte sich um Instantkaffee. Kleine Klümpchen aus H-Milch schwammen darauf und ließen die Brühe schmutzig aussehen. Trotzdem trank sie einen kleinen Schluck. Erst dann fragte sie: „Warum haben Sie mich nicht bei der Polizei verraten?“
„Warum siezt du mich immer noch? Ist das deine Art, zu zeigen, dass du mich nicht magst?“
„Nein. Sorry. Also, warum hast du mich nicht verraten? Wenn du die Nachrichten über mich so genau verfolgt hast, wie du sagst, dann musst du doch denken, ich wäre eine irre Psychopathin.“
„Ich vertraue Julia. Wenn sie sagt, ich soll dir helfen, dann tue ich das. Du solltest übrigens wirklich etwas essen. Du wirst es noch brauchen.“ Jo zerteilte sein Spiegelei mit einer Gabel, schob es sich in den Mund, kaute und schluckte. Dann fragte er: „Du wolltest den Mann also gar nicht umbringen?“
„Nein.“ Susanne rollte ein Stück Käse in eine Scheibe Wurst und biss hinein. „Er wollte eine Frau vergewaltigen. Ich kam dazu und wollte ihr helfen, aber der Kerl war riesig. Auf dem Boden lag eine zerschlagene Glasflasche. Ich wusste mir nicht anders zu helfen und hab ihm eine Scherbe in den Rücken gerammt. Eine ziemlich fette Scherbe, zugegeben. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Zusehen, wie er sie vergewaltigt?“
„Was ist dann passiert?“
Susanne seufzte leise. „Leider verweigerte die Frau hinterher die Aussage. Sie zeigte den Typen auch nicht an. Die Anzeige bekam ich von ihm. Ich landete in der geschlossenen Psychiatrie, und dort sollte dann per Gutachten bewiesen werden, dass ich zu hundert Prozent irre bin und auf jeden Fall in die Klapse gehöre.“
„Geht das denn so leicht?“, fragte Jo. „Einen Menschen einfach in der geschlossenen Psychiatrie zu behalten?“
„Ich hab vorher leider schon zu viel Mist gebaut.“
Jo nickte langsam. Er hatte das Spiegelei auf seinem Teller aufgegessen, nun griff er nach einem Päckchen Tabak und begann mit ruhigen Händen, eine Zigarette zu drehen, die er an sie weiterreichte. Dann drehte er eine zweite, die er sich selbst zwischen die Lippen steckte. „Bereust du, dass du den Mann angegriffen hast?“
„Oh, ich bereue so manches.“ Susanne betrachtete die Zigarette zwischen ihren zittrigen Fingern. „Aber wenn ich ehrlich bin, gehört das nicht dazu. Ich denke, ich habe größere Fehler begangen in meinem Leben.“
„Zum Beispiel?“
„Ich wüsste nicht, wo ich anfangen sollte.“
„Am besten vorne.“
Noch einmal seufzte Susanne leise auf. „Im Grunde genommen ist mein ganzes Leben eine einzige Kette von Versagen und Scheitern.“ Sie begann, an den Fingern aufzuzählen. „Ich habe nie etwas wirklich zu Ende gebracht. Die Beziehung zu meinen Eltern war von Anfang an beschissen. Mit meinem Bruder Jörg habe ich erst zusammengefunden, als es schon fast zu spät war. Beruflich kriege ich kein Bein auf den Boden, und Beziehungen kriege ich auch nicht hin. Nicht einmal eine Blume, die ich in meiner Wohnung ins Wasser stelle, hält den Kopf länger als einen Tag oben.“ Sie seufzte noch einmal. „Und dann, gerade als ich dachte, dass gar nichts mehr geht, dass ich am Ende des Weges angekommen bin, da tauchte auf einmal ein Mensch auf, der … es gut mit mir zu meinen schien. Und was mache ich? Ich begehe den größten Verrat, den ich hätte begehen können.“
„Du redest von Julia?“
„Ja. Sie war zur selben Zeit in der Psychiatrie wie ich. Dort haben wir uns kennengelernt.“
„Was ist dann passiert?“
Susanne senkte den Blick, starrte auf die Wolldecke, die um ihre Füße gewickelt war. „Ich habe sie verraten. Zu meinem Vorteil. Jedenfalls dachte ich, dass es zu meinem Vorteil wäre.“
Als Jo daraufhin schwieg, fügte sie hinzu: „Und trotzdem hat sie mir, der dummen, arroganten Susanne, bei der Flucht aus der Klinik geholfen. Sie hätte mich verpfeifen können, es wäre ein Leichtes für sie gewesen, aber sie hat es nicht getan. Stattdessen durchquerte sie mit mir den Tunnel unter dem Kloster – das ist eine wirklich lange Geschichte –, und kurz bevor wir uns trennten, nannte sie mir die Adresse des Ferienhauses hier in Norwegen. ‚Wenn du es schaffst, genügend Geld aufzutreiben und irgendwie dorthin zu kommen, dann kannst du dich dort so lange verstecken, wie du willst‘, hat sie gesagt.“ Jetzt endlich zündete Susanne die Zigarette an, die sie die ganze Zeit in den Fingern gehalten hatte. Sie tat einen Zug, sog den Rauch tief in die Lunge und stieß ihn dann in Richtung Decke. „Für mich war sie damit endgültig eine Heldin. Ein Status, den ich in ihren Augen in diesem Leben garantiert nicht mehr erreiche.“
Jo kratzte sich am Kopf. „Was meinst du damit, du hast sie zu deinem Vorteil verraten?“
„Ich habe sie ausspioniert. Ich dachte, ich bekäme so meine Freiheit zurück.“ Noch einmal zog Susanne an der Zigarette und fügte erklärend hinzu: „Eines Tages tauchte eine Anwältin in der Psychiatrie auf und sagte mir, dass ich nicht dortbleiben müsse. Egert, so hieß der Typ, dem ich die Scherbe in den Rücken rammte, würde die Anzeige gegen mich zurücknehmen, das Verfahren gegen mich würde eingestellt werden. Ich müsste dafür nur eine Kleinigkeit tun. Ich müsste mich mit Julia anfreunden und … ja, sie ausspionieren. Und ich habe mich darauf eingelassen.“
Jo pfiff leise durch die Zähne.
Susanne war nicht in der Lage, ihm in die Augen zu sehen. „Du kannst mich ruhig dafür verachten. Es kommt nicht mehr darauf an. Ich hasse mich selbst schon genug dafür. Aber ich sah darin eine echte Chance für mich. Eine Chance auf Freiheit. Ich dachte, wenn ich die nächsten Jahre in der Klapse bleiben muss, dann drehe ich wirklich noch durch. Deshalb habe ich es getan. Und ich konnte ja auch nicht ahnen, dass ich mit dem, was ich tue, am Ende …“
„… die Meute scharfmache?“, vollendete Jo den Satz.
Susanne sah auf. „Du weißt, worum es geht?“
„Nein.“
„Das glaube ich dir nicht. Sag mir, was du weißt, Jo. Bitte.“
Jo schwieg, trank einen Schluck von der Instantbrühe.
„Kanntest du Julias Vater?“, hakte Susanne nach.
„Sven Wagner? Natürlich. Er hat das Ferienhaus 1980 gekauft und danach, wie ich schon sagte, jedes Jahr mit seiner Familie hier Urlaub gemacht. Dadurch lernten wir uns kennen.“
„Was weißt du über ihn? Erzähl mir alles, bitte. An dem letzten Abend, den ich mit Julia verbrachte, sagte sie zu mir, dass ihr Vater umgebracht worden wäre und dass seine Mörder nun hinter ihr her wären. Aber das ging alles so verdammt schnell, dass ich ihr kaum folgen konnte.“
„Ich kann dir nichts dazu sagen, Susanne.“
„Warum wurde er umgebracht?“
„Das kann ich dir wirklich nicht beantworten.“
„Julia meinte in jener Nacht noch, dass sie vermutlich als Kind entführt worden wäre, aber sie würde sich kaum daran erinnern.“ Fragend sah Susanne Jo an. „Kann das möglich sein? Ich meine, kann es sein, dass ein Kind entführt wird, diese Entführung aber anschließend wieder vergisst?“
Er hob die Schultern an. „Das käme wohl darauf an, wie traumatisch das Erlebnis war. Vielleicht ist es eine Art Selbstschutz der Seele, einfach zu verdrängen, was passiert ist. Aber immerhin, es würde passen.“
„Was würde passen? Was meinst du?“
„Wenn es diese Entführung tatsächlich gegeben hat, dann kann das nur 1985 passiert sein. Denn das war das einzige Jahr, in dem die Familie ihren Urlaub nicht hier verbracht hat. Und im Sommer danach waren sie alle nicht mehr dieselben.“ Mit einem Ruck erhob Jo sich vom Stuhl. „Wir sollten jetzt besser aufhören. Du siehst aus, als hätte dich eine Dampfwalze überrollt.“ Er wandte sich ab und schritt zur Tür.
„Warte, Jo. Bitte.“
Er drehte sich noch einmal zu ihr um.
„Ich weiß, dass das jetzt nicht besonders glaubwürdig klingt, aber ich mag Julia wirklich. Sie ist ein guter Mensch und ich … habe seit meiner Flucht nichts mehr von ihr gehört. Weißt du, wo sie gerade steckt und wie es ihr geht?“
Jo schüttelte den Kopf. „Ich hab seit Wochen nichts mehr von ihr gehört.“ Im flackernden Licht der Wohnzimmerlampe war der Ausdruck seiner Augen nicht zu erkennen. „Aber sie kommt klar. Um dich mache ich mir mehr Sorgen. Wir müssen uns überlegen, was wir weiter mit dir machen. Im Augenblick bist du hier sicher, aber vermutlich nicht mehr lange.“
Damit verließ er das Zimmer, während Susanne auf der Couch sitzen blieb und die offene Tür anstarrte.
Oktober 2008
Die Leiche – oder was davon noch übrig war – lag auf einer blanken Stahlbahre. Einzelne verkohlte Fleischfetzen waren abgeblättert und besprenkelten das glänzende Metall. Die Augenhöhlen, in denen einst bestimmt leuchtende Augen saßen, waren nur noch leere Vertiefungen, und die Lippen waren bis auf die Knochen weggeschält.
Doktor Norbert Fesser stand von Kopf bis Fuß verhüllt vor der Bahre: Kittel, Maske, Handschuhe, eine Kappe auf dem Haar.
„Herr Doktor“, sagte Zander, „was haben Sie für uns?“
„Einiges.“ Der Arzt zog sich die Maske von der unteren Gesichtshälfte. „Bei der Leiche handelt es sich definitiv um eine Frau. Auch wenn nur wenig von ihr übrig geblieben ist, so kann man doch erkennen, dass der Hüftknochen zu breit für einen Mann ist. Sie dürfte kaum älter als zwanzig Jahre alt gewesen sein und ungefähr eins siebzig bis ein fünfundsiebzig groß. Ach ja, und ihr wurde vor ihrem Tod physisch schwer zugesetzt.“
„Was heißt das?“, fragte Julia. „Dass sie verprügelt wurde?“
„Massiv verprügelt sogar. Unter anderem haben wir hier einen ausgeschlagenen Zahn, den Röntgenbildern zufolge außerdem zwei gebrochene Rippen, einen gebrochenen kleinen Finger und eine Nasenbeinfraktur. Und der Schädel … nun ja, sehen Sie selbst. Ein Schlag, der kräftig genug ist um die Schädeldrecke zu zerbrechen, erzeugt Risse, die aussehen wie Blitze am Himmel. Und genau das haben wir hier: Zickzacklinien, die nur durch einen schweren Schlag verursacht worden sein können, schwer genug, den Schädel stark zu verletzen, ohne ihn wirklich zu zerbrechen.“
„Womit ist sie geschlagen worden?“, fragte Zander.
„Zum größten Teil würde ich auf Fäuste tippen. Die Kopfverletzung dürfte von so etwas wie einem Baseballschläger stammen.“
Einen Moment schwiegen alle drei. Die Schreie, die die Frau in ihren letzten Minuten von sich gegeben hatte, schienen von den Wänden widerzuhallen.
„War sie schon tot, als sie angezündet wurde?“, fragte Julia dann.
„Nein. Es ist allerdings anzunehmen, dass sie bereits bewusstlos war und nichts mehr mitbekam.“ Fesser streifte sich die Handschuhe von den Händen. „Und ich habe noch etwas für Sie: In der Asche wurden Metallknöpfe sowie Reste eines Reißverschlusses gefunden. Die Frau war demnach also nicht nackt, als das Verbrechen begangen wurde. Ein Sexualverbrechen können wir damit wohl ausschließen.“
„Wenn wir von einem Mann als Täter ausgehen“, wandte Julia ein, „kann es sich trotzdem um etwas Sexuelles handeln.“
„Wenn er sie nicht vergewaltigt hat, wo bleibt dann die Befriedigung?“, wollte Zander wissen.
Sie hob die Schultern in die Höhe. „Er könnte masturbiert haben. Auf ihrem verbrannten Körper würden wir keine Spermaspuren mehr finden und am Tatort auch nicht.“
Zander nickte und sah auf die Leiche. „Können Sie uns den Todeszeitpunkt nennen, Herr Doktor?“
„Zwischen ein Uhr und drei Uhr in der Nacht von Samstag auf Sonntag.“
Wieder schwiegen sie einen Moment.
„Er schlägt sie mit bloßen Fäusten und einem Baseballschläger bis zur Ohnmacht“, sagte Zander dann. „Und als würde das noch nicht reichen, zündet er sie dann auch noch an. Womit ist eine solche Brutalität zu erklären?“
Julia wandte ihm den Blick zu. Einen Moment schien es, als wolle sie darauf antworten, sagte dann aber stattdessen zu Doktor Fesser: „Können wir ihr Gesicht rekonstruieren?“
„Wir befinden uns im 21. Jahrhundert, Frau Kommissarin.“ Der Arzt lächelte. „Wir können mit unseren Computern fast alles, auch kleine Wunder vollbringen. Meine Kollegen arbeiten bereits daran. Geben sie ihnen noch ein bisschen Zeit, dann haben wir ein Computerbild von ihrem Gesicht.“