Читать книгу Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3 - Tanja Noy - Страница 5

1. KAPITEL

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Honesta turpitudo est pro causa bona

Donnerstag, 16. Dezember 2010

20:20 Uhr

Obwohl es draußen dunkel war, schaltete Julia das Licht im Hotelzimmer nicht ein. Langsam bewegte sie sich in Richtung Fenster, blieb dort einen Moment stehen, sah hinaus, schob eine Hand in die Hosentasche und ergriff ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen. Es war leer. Sie knüllte es zusammen und warf es auf den Tisch neben sich.

Dann wandte sie sich um, ging ins Badezimmer, und erst jetzt schaltete sie das Licht ein.

Sie zog sich aus und stellte sich unter die Dusche.

Als sie zehn Minuten später wieder aus der Duschkabine stieg, verschleierte Dunst den Badezimmerspiegel. Nur vage erkannte sie die Umrisse ihres nackten Körpers, ihres Gesichtes, der halblangen dunklen Haare, des langen Ponys, der ihr über das linke Auge fiel … es glich alles einem Schatten. Aber durch die Mitte der Scheibe zog sich ein klarer Streifen, so als hätte jemand mit der Hand darübergewischt. Die Tätowierungen, das Gitarrenriff von Judas Priest auf ihrem rechten Unterarm; auf der Innenseite des rechten Oberarms die geschwungenen, lateinischen Buchstaben: Lebe das Leben wahr; der Drache, der ihren gesamten Rücken einnahm, vom Genick bis zum Steißbein. Das alles gab es schon lange, die Narben auf der linken Seite ihres Oberkörpers hingegen nicht. Eine befand sich knapp unterhalb des Herzens, die andere etwas tiefer. Sie waren gut verheilt und trotzdem nicht zu übersehen, weil sie etwas erhoben waren. Es war Julia nicht möglich, die beiden Narben zu vergessen, weil sie fast immer schmerzten. Ein Phantomschmerz, natürlich. Narben schmerzten nicht, erst recht nicht nach acht Monaten. Trotzdem glaubte sie es zu fühlen, Tag für Tag.

Reglos stand sie weiter vor dem Spiegel, betrachtete ihr Ebenbild und versuchte gleichzeitig, sich darin zu finden. Ihr altes Ich. Vielleicht flammte da in ihren braunen Augen etwas auf, aber wenn, dann war es sofort wieder verschwunden. Sie hatte das Gefühl, ein ganz anderer Mensch zu sein, eine fremde Frau. Und genau genommen war es ja auch so. Immer neue Namen, immer neue Hotels, immer eine andere Person. Und doch stand sie hier.

Schließlich drehte Julia dem Spiegel den Rücken zu und trocknete sich ab.

Noch einmal – ein letztes Mal – versuchte sie, nachzuspüren, ob sie irgendeine Form von Zweifel oder Unschlüssigkeit in sich spürte. Doch sosehr sie auch ihre Seele durchforstete, überall stieß sie auf den festen, unerschütterlichen Entschluss, und sie befand, dass es jetzt wirklich an der Zeit war. Sie hatte lange genug darüber nachgedacht.

Es geht nicht anders, dachte sie.

Sie zog sich frische Sachen an, verließ das Badezimmer, ging zu ihrem Rucksack und holte ein neues Päckchen Zigaretten heraus. Sie entfernte die Folie und zündete sich eine an. Dann setzte sie sich aufs Bett, rauchte langsam und in tiefen Zügen. Sie beobachtete den Rauch, wie er sich in Richtung Decke bewegte, um sich dort in durchsichtigen Dunst zu verwandeln.

Als sie zu Ende geraucht hatte, griff sie nach ihrem Handy und wählte die Nummer.

22:44 Uhr

Vor dem Café wehte ein kalter, rauer Wind über jede Menge Gerümpel hinweg, das auf der Straße lag, über eine Mülltonne, die beinahe überlief, und über schwarze Säcke voller Abfall. Nur wenige Menschen gingen an Julia vorbei, die Köpfe gesenkt. Sie selbst hatte sich die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf gezogen und den Kragen ihrer Jacke nach oben gestellt. Als sie die Tür öffnete, ließ sie eine heftige Windböe leicht wanken.

Im Inneren des Cafés waren die Wände mit Kiefernpaneelen vertäfelt, sodass man den Eindruck hatte, sich in einer großen Holzkiste zu befinden. Die Einrichtung war heruntergekommen, mit wackligem Mobiliar und unglaublich staubigen Plastikblumen auf den Tischen. Mit nur vier Gästen war hier nichts los, was man nach einem kurzen Rundumblick auch sehr gut verstehen konnte.

An einem der Tische saß eine mittelgroße Frau mit einem grauen Pferdeschwanz. Sie blinzelte kurz, als Julia eintrat, und hob eine Hand. „Hier.“

„Danke, dass Sie sich mit mir treffen“, sagte Julia und setzte sich ihr gegenüber.

„Ich hatte gehofft, dass Sie sich noch einmal bei mir melden würden“, gab Paula von Jäckle zurück. „Ich hatte große Angst um Sie – und habe es noch. Deshalb hatte ich mich im letzten Sommer mit ihrem alten Kollegen Zander in Verbindung gesetzt.“

„Ich weiß. Er hat mir davon erzählt.“

„Haben Sie ihm geglaubt?“

„Ich wollte es nicht, wollte es lange nicht wahrhaben.“ Julia machte eine kleine Handbewegung. „Was soll ich sagen? Sie sind ein Medium und …“

„Immerhin nennen Sie mich jetzt nicht mehr Wahrsagerin.“ Paula lächelte dünn.

„Sie wissen, was ich davon halte.“

„Allerdings. Das weiß ich.“

„Andererseits hatten Sie bisher mit allem recht, was Sie sagten.“ Julia atmete tief durch. „Ich weiß inzwischen, dass mein Vater ermordet wurde und dass seine Mörder nun, über zwanzig Jahre später, hinter mir her sind. Aber egal, was ich auch tue, ich laufe gegen eine unsichtbare Mauer. Egal, wo ich grabe, ich stoße auf Beton. Also bitte, ich höre Ihnen zu. Erzählen Sie alles, was Sie mir sagen können.“

Paula nickte. „Ich kann Ihnen sagen, dass Sie es mit einer Organisation zu tun haben.“ Sie brach ab und korrigierte sich schnell: „Nein, das ist nicht das richtige Wort dafür. Nennen wir sie … eine Wesenheit.“

Julia blinzelte. „Eine was?“

„Man könnte sie auch eine Geheimgesellschaft nennen. Eine Verbindung. Sie verkörpern nicht nur das Böse, sie sind es. Ich weiß nicht, woher sie kommen, aber ich weiß, dass es sie gibt. Und dass es mächtige Leute sind. Brutale Leute. Sie verfügen über gewaltige Macht, und sie töten ohne Skrupel.“

„Reden wir hier von einer Art Mafia?“

„Nein. Das, worüber wir hier reden, ist etwas ganz anderes. Diese Menschen haben Geld und Macht, ja, aber das ist für sie nur Mittel zum Zweck, um ein anderes, ein größeres Ziel verfolgen zu können.“

„Welches?“

Paula legte die Hände wie zum Gebet vor den Mund. „Ich hatte Ihnen im April, in Wittenrode, bereits gesagt, dass es zwei Mächte auf dieser Erde gibt, die einen ewigen Kampf gegeneinander führen: Gut und Böse.“

„Ich erinnere mich.“

„Betrachten wir es als eine langwierige Partie Schach“, sprach Paula weiter. „Das Schachbrett ist die Welt. Das Ziel ist der endgültige Sieg über die andere Seite.“

„Und weiter?“, sagte Julia. „Was habe ich damit zu tun?“

„Jeder von uns entscheidet sich irgendwann für eine der beiden Seiten. Für das Gute oder für das Böse.“

„Ja, das habe ich schon verstanden, aber …“

„Wie ich gerade sagte, diese Menschen sind das Böse. Sie aufzuhalten ist schwieriger, als mit bloßen Händen ein U-Boot zu bremsen.“ Paula ließ Julias Blick nicht los. „Sie, Frau Wagner, sind die Einzige, die sie aufhalten kann. Sie sind das Gegengift.“

Julia saß einen Moment vollkommen still, dann lachte sie auf, sie konnte nicht anders. „Ja, klar. Wer sonst, wenn nicht ich?“

Paula sah sich im Café um, als hätte sie Angst, jemand könnte ihnen zuhören. „Ich ahnte es von Anfang an und habe es Ihnen damals in Wittenrode auch gesagt“, wandte sie sich dann wieder an Julia. „Ich habe bereits in der ersten Sekunde Schatten um Sie herum gesehen. Schatten der Finsternis. Sie umhüllen Sie wie ein Mantel. Das ist der Grund, warum Sie hier sind. Und das ist der Grund, warum diese Menschen Sie ausschalten wollen.“

Julia öffnete den Mund, schloss ihn wieder. Setzte dann noch einmal an: „Sie wollen mir ernsthaft erzählen, ich sei dazu auserwählt, gegen das Böse anzutreten?“

„Ja.“

„Sie verstehen, dass ich spätestens jetzt wieder aufstehen und gehen würde, wenn Sie nicht meine letzte Hoffnung wären.“

„Ja, das verstehe ich. Trotzdem ist und bleibt es die Wahrheit.“

Hilflos hob Julia die Hände in die Höhe. „Warum ausgerechnet ich? Warum nicht jemand anders?“

„Ich denke, Sie kennen die Antwort darauf“, sagte Paula.

„Nein. Ich kenne die Antwort darauf nicht.“

„Dann müssen Sie sie bekommen. Aber nicht hier.“

„Wo dann?“

„Sie müssen noch einmal zurück nach Wittenrode. In die alte Kapelle.“

„Auf gar keinen Fall. Das können Sie vergessen.“

„Sie haben keine Wahl, Frau Wagner.“ Paulas Blick war ernst. „Ich will Ihnen nicht mehr Angst machen als nötig, aber ich glaube, nicht nur Sie sind in Gefahr. Es geht auch um Ihre Freundin.“

„Eva?“

„Ich glaube, dass sie sich in großer Gefahr befindet.“

Sofort war Julia auf den Beinen. „Wenn Sie Eva etwas antun wollen, dann werde ich das verhindern.“

„Aber dafür brauchen Sie die richtigen Waffen“, sagte Paula schnell. „Und die richtigen Waffen sind in diesem Fall Antworten. Wenn Sie jetzt überstürzt handeln, werden Sie einen Fehler machen, und das werden Sie nicht überleben. Also bitte, setzen Sie sich wieder hin.“

Eine Weile sahen sie sich in die Augen, dann ließ Julia sich langsam auf den Stuhl zurücksinken.

„Sie müssen sich Ihrer besonderen Kräfte und Fähigkeiten bewusst werden“, erklärte Paula.

„Was reden Sie denn da? Ich besitze keine besonderen Kräfte oder Fähigkeiten. Und ich bin auch nicht hier, um die ganze verdammte Welt zu retten. Ich bin einfach nur … ich.“

„Sie besitzen mehr, als Sie ahnen.“

Ungeduldig schüttelte Julia den Kopf.

„Sie haben während Ihrer Zeit bei der Polizei viele tote Menschen gesehen, nicht wahr?“

„Das blieb bei der Mordkommission leider nicht aus.“

„Nein. Natürlich nicht. Aber da ist noch mehr. Sie können sie spüren. Die Toten. Sie können ihre pulsierende Präsenz spüren.“

Julia hob überrascht den Blick. „Woher wissen Sie das?“

„Sie waren vor allem deshalb so gut in Ihrem Beruf, weil Sie über genau diese Fähigkeit verfügen“, sprach Paula weiter, ohne auf die Frage einzugehen. „Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen, aber so war es. Warum lehnen Sie es so sehr ab, darüber zu reden?“

„Weil es nichts ändern würde. Und weil es mit dieser Sache hier auch überhaupt nichts zu tun hat. Ich komme klar, auch ohne über den ganzen Kram zu reden.“

„Sie sind bisher nur schwer damit klargekommen.“

Einen Moment sahen sie sich in die Augen.

„Beschreiben Sie es“, forderte Paula dann.

„Es …“ Julia suchte nach den richtigen Worten. „Es ist wie … eine kalte Schwärze, die angefüllt ist mit Wimmern, herumhuschenden Schatten und dumpfem Stöhnen. Es geistert in meinem Kopf umher und lässt mich Dinge empfinden, Gefühle, die ich kaum beherrschen kann.“

„Wie äußert es sich?“

„Meistens in Albträumen. Aber manchmal sehe ich sie auch direkt vor meinen Augen. Tote Menschen.“ Julia hob die Hände in die Höhe. „Ich hab versucht, es zu ignorieren, aber es kam immer wieder. Irgendwann so präsent, dass ich dachte, ich drehe durch. Ich dachte, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich endgültig überschnappe. Dann dachte ich wieder, ich kriege es in den Griff, aber …“ Sie schnippte mit den Fingern. „Nein.“

„Haben Sie das alles erst gespürt und gesehen, nachdem Sie bei der Polizei angefangen hatten?“, wollte Paula wissen.

„Nein. Ich habe schon als Kind im Waisenhaus Dinge gesehen … Menschen … die niemand außer mir sehen konnte.“ Julia hob den Blick und sah Paula in die Augen. „Sie redeten mit mir. Ich habe sie nicht verstanden, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass sie mir etwas mitteilen wollten. Ich habe versucht, zuzuhören, aber ich habe sie nicht verstanden.“

Paula nickte langsam. „Vielleicht weil es damals noch nicht an der Zeit war.“

Julia atmete tief durch und schwieg.

„Sie haben die Macht, in den Herzen der Toten zu lesen“, fügte Paula hinzu. „Sie können Dinge sehen und spüren, die andere nicht zu sehen und spüren vermögen. Das ist eine seltene Gabe, und sie wird Ihnen helfen, diesen Fall zu lösen. Sie werden die Mörder Ihres Vaters finden. Sie werden herausfinden, wer nun hinter Ihnen her ist. Und Sie werden diese Leute ausschalten. Aber nur, wenn Sie es zulassen, sich eingestehen, dass Sie anders sind. Dass Sie diese Fähigkeit haben. Und wenn Sie jetzt handeln.“

„Sie können versuchen, was Sie wollen, ich werde nicht noch einmal in diese Kapelle gehen. Auf gar keinen Fall.“ Julia beugte sich nach vorne. „Wie stellen Sie sich das überhaupt vor? Was soll dort passieren?“

„Wir nutzen Ihre und meine Gabe, um die Antworten zu bekommen, die Sie brauchen.“

Als Julia einmal mehr ungeduldig den Kopf schüttelte, seufzte Paula leise auf. „Ziehen wir noch einmal das Schachspiel heran. Es sind schon viele Menschen gestorben, was in den Augen ihrer Gegner aber nur dem Verlust von Bauern gleichkommt. Wenn Sie selbst nun zurück in die alte Kapelle gehen, dann machen Sie einen Zug mit dem Springer.“

Als Julia nicht darauf antwortete, fügte Paula hinzu: „Aber was noch viel wichtiger ist: Mit den Antworten, die Sie dort erhalten, können Sie nicht nur sich selbst, sondern auch Ihre Freundin schützen.“

Der Wind wehte quälend, schneidend, eiskalt über sie hinweg, während sie schweigend den Berg hinaufstiegen. Julia zog den Kopf zwischen die Schultern und wunderte sich, über wie viel Energie Paula von Jäckle verfügte. Sie hatte ihr Tempo zu keiner Zeit verringert, machte unablässig und zielsicher Schritt für Schritt nach oben.

Julia selbst hielt die Augen auf den Boden gerichtet und fragte sich, warum, zum Teufel, sie sich darauf eingelassen hatte.

„Wollen Sie darüber reden?“, fragte Paula.

Ihre Worte ließen Julia aufblicken. „Worüber?“

„Über Ihre Ängste.“

„Nein.“

„Was meinen Sie, warum hat Wolfgang Lange damals ausgerechnet diesen Ort für seinen letzten Akt mit Ihnen ausgesucht?“

„Das wissen Sie selbst sehr genau. Weil er einen großen Ort dafür brauchte, einen mächtigen Ort. Er war Satanist. Was hätte sich da besser geeignet als eine Kirche?“

Paula nickte. „Und er wusste, dass Sie kommen würden.“

„Er hatte Eva. Natürlich wusste er, dass ich kommen würde.“ Julia verharrte in der Bewegung. „Wirklich, ich will das nicht tun.“

„Sie müssen, und Sie wissen es.“

Julia brummte etwas, das nicht zu verstehen war, und setzte sich wieder in Bewegung.

„Sie werden gewinnen“, sagte Paula nach ein paar weiteren Metern. „Weil Sie immer noch daran glauben.“

„Woran?“

„An den Schmerz und den Kampf und dass es das Ziel am Ende wert ist.“

Darauf bekam Paula keine Antwort von Julia.

Wenig später hatten sie die alte Kapelle erreicht. Im gespenstischen Licht des Mondes sah sie unheimlich aus, ragte aus dem Boden wie ein giftiger Pilz. Gleichzeitig wirkte sie aber auch ruhig und friedlich. Nichts deutete auf das hin, was hier ein paar Monate zuvor geschehen war. Nichts deutete darauf hin, dass dies ein Ort war, an dem die Sonne niemals wieder auf- oder unterging.

Julia war seitdem nicht mehr hier gewesen. Hier nicht und auch in keiner anderen Kirche. Sie legte keinen Wert darauf, sich mit Gott auszusöhnen. Jedenfalls nicht, bevor Gott seine Schuld bei ihr beglichen hatte, und da dies mit ziemlicher Sicherheit nie der Fall sein würde, war eine Aussöhnung praktisch ausgeschlossen.

„Ich gehe zuerst hinein“, sagte Paula. „Sie warten, bis ich Ihnen Bescheid gebe. In Ordnung?“

„Wenn es sein muss.“

„Es ist das einzig Richtige. Alles muss zur rechten Zeit und in der richtigen Reihenfolge geschehen. Sonst wird es keine Wahrheit geben.“ Paula blickte zum Eingang der Kapelle. „Bringen wir es hinter uns.“

Julia nickte langsam. Eine Art passive Akzeptanz. Sie beobachtete, wie Paula auf die Tür zuschritt und wenig später im Inneren verschwunden war.

Der Wind begann immer heftiger und eisiger zu wehen. Jedes noch so kleine Geräusch erschien mit einem Mal hundertfach verstärkt, und jedes einzelne ließ Julia zusammenzucken.

Was für eine beschissene Idee.

Etwas Unheilvolles lag in der Dunkelheit um sie herum, sie spürte es deutlich: Die kahlen Bäume, die ringsum aufragten, deren Äste wie knochige Finger wirkten; der gewaltige Schatten der Burg auf der linken Seite, das klobige Gebäude des Waisenhauses auf der rechten, das alles nahm geradezu bedrohliche Formen an.

Julia sah auf die Uhr, zehn Minuten vor Mitternacht. Sie zündete sich eine Zigarette an, rauchte, ohne die Tür zur Kapelle aus den Augen zu lassen.

Warum kam von Paula nichts mehr?

Als sie zu Ende geraucht hatte, machte Julia drei Schritte auf die Kapelle zu. „Frau von Jäckle?“

Keine Antwort.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte, starrte einen Moment die Tür an.

Dann machte sie zwei weitere Schritte, schob die Tür auf und trat ins Innere der Kapelle.

Es ist bitterkalt. Das war ihr erster Gedanke.

Julia stand am Ende des Kirchenschiffes, das zum Altar führte. Dort brannten ein paar Kerzen. Schatten drängten sich in den Ecken. Der Altar selbst war nur ein ausgehöhlter Ring in der Finsternis.

Ein Lufthauch regte sich und ließ die Kerzen flackern, dann hörte sie Paula von Jäckles Stimme: „Frau Wagner, ich bin hier. Kommen Sie zu mir.“

Julia hatte keine Ahnung davon, was sie erwartete, sie ging einfach weiter, ehe sie ihre Meinung ändern konnte. Die verschiedenen Gerüche, die mit jedem Schritt mehr auf sie einströmten, waren so intensiv und überwältigend, dass sie glaubte, sie würde sich direkt auf die Vergangenheit zubewegen.

„Kommen Sie zu mir”, sagte Paula noch einmal.

Julia blieb stehen, bewegte sich nicht. Wie lange? Sekunden? Minuten? Sie hätte es nicht sagen können. Dann setzte sie sich wieder in Bewegung und blieb schließlich bei Paula stehen. Sie sah, dass diese fünf Karten nebeneinander auf den Boden gelegt hatte, allerdings konnte sie nicht erkennen, was für Abbildungen sich darauf befanden, dafür war das Licht von ihrer Position aus nicht hell genug.

„Haben Sie die für mich gelegt?“, wollte sie wissen.

Paula nickte.

„Und was bedeuten sie?“

„Die erste Karte sagt, dass überall Augen sind. Was bedeutet, dass eine Menge Leute nach Ihnen suchen. Die zweite Karte deutet auf Neid hin. Jemand will haben, was Sie haben.“

„Ich wüsste nicht, worum man mich beneiden könnte“, bemerkte Julia.

„Die dritte Karte bedeutet Verwirrung“, redete Paula weiter. „Es wirbelt alles um Sie herum, und Sie wissen nicht, was Sie tun sollen.“

„Das stimmt allerdings.“

„Die vierte Karte zeigt mir, dass Sie eine Reise machen werden. Und es sieht nicht so aus, als würde es ein Urlaub werden. Da ist eine Menge Schwarz. Genau genommen ist alles schwarz.“

„Schwarz bedeutet Unglück, oder nicht?“

„Manchmal. Es kann Unglück bedeuten und Traurigkeit. Allerdings ist bei der fünften Karte wieder alles weiß. Was bedeuten kann, dass nach all dem Schwarz eine Zeit ohne Probleme kommt. So als würden Sie die Wolken durchbrechen und den blauen Himmel erreichen.“

„Sie sagen kann“, hakte Julia nach. „Was kann es noch bedeuten?“

Paula hob den Blick. „Manchmal bedeutet eine weiße Fläche nach so viel Schwarz auch, dass der Mensch im Himmel ist. Makellos weiß.“

„Also tot.“

„Ja, tot.“

„Und dieser Mensch bin ich?“

Paula nickte langsam. „Aber, wie gesagt, es kann auch …“

„Das heißt, die Karten sagen, dass ich am Ende entweder tot oder noch am Leben bin“, fasste Julia zusammen.

„Ja.“

„Danke. So weit war ich vor zehn Minuten auch schon.“ In einer einzigen Bewegung drehte Julia sich in Richtung Tür. „Ich habe es mir gerade anders überlegt. Ich habe mich entschieden, dass ich Wichtigeres zu tun habe, als mir diesen Schwachsinn anzuhören. Ich bin nicht hierhergekommen, um mit Ihnen Halloween zu feiern, Frau von Jäckle. Und auch nicht, weil ich auf einem Besen reiten kann. Ich gehe wieder und suche nach Eva. Wenn ihr etwas passiert, drehe ich nämlich endgültig durch.“

„Glauben Sie wirklich, Sie können allein mit Ihrer Schusswaffe verhindern, dass ihr etwas passiert?“, fragte Paula in ihren Rücken.

Julia blieb stehen, wartete einen Moment, dann drehte sie sich noch einmal um. „Ja. Das glaube ich allerdings. Denn das habe ich gelernt – zielen und abdrücken. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass ich das wirklich gut kann.“ Sie machte wieder einen kleinen Schritt auf Paula zu. „Und jetzt sage ich Ihnen noch etwas: Ich gebe ja zu, dass mit mir nicht alles in Ordnung ist. Dass sich in meinem Kopf Dinge abspielen, die sich bei anderen mit Sicherheit nicht abspielen. Aber das hat ganz bestimmt nichts mit Gut und Böse zu tun. Und auch nicht mit dem, was letzten April hier in dieser verdammten Kapelle geschehen ist. Und erst recht hat es nichts mit irgendwelchen … Wesenheiten zu tun. Was Sie da in Ihren Karten lesen, das ist ein Witz.“ Damit klappte Julia den Mund zu und wandte sich erneut in Richtung Tür.

„Glauben Sie, Sie sind jetzt schon in der Lage, das beurteilen zu können?“, fragte Paula.

Auf ein Neues blieb Julia stehen. „Ja.“ Als sie sich ein weiteres Mal umdrehte, funkelten ihre Augen im Dämmerlicht. „Und wo wir schon dabei sind, sage ich Ihnen jetzt noch etwas: Gut und Böse können überhaupt nicht gegeneinander antreten, denn Gut würde ja bedeuten, dass es einen Gott gibt, und das alleine ist schon völliger Schwachsinn.“

„Sind Sie da ganz sicher?“

„Oh ja. Gott ist nur ein kranker, grausamer Witz. Da oben im Himmel ist niemand, der uns beschützt. Und wenn er doch existiert, dann interessiert sich Gott einen Scheiß für die Menschen. Er sieht zu, wie sie leiden und sterben, und er tut nicht das Geringste, um ihnen zu helfen. Warum nicht?“ Julia warf die Hände in die Höhe. „Tja, darüber können wir nur spekulieren. Ich weiß nur, dass wir uns den Mund fusselig beten und flehen können, so viel wir wollen, und trotzdem wird er uns nicht helfen. Gut gegen Böse, sagen Sie? Dann soll er sich doch gefälligst selbst darum kümmern. Ich hab damit jedenfalls nichts zu tun. Ich habe alles gesagt. Ich bin weg.“

„Frau Wagner“, sagte Paula von Jäckle leise. „Es ist jemand hier.“

Julia verharrte in der Bewegung. „Wer?“

„Spüren Sie es nicht? Spüren Sie nicht diese Kälte, die bis in die Knochen zieht?“

Doch. Julia spürte es. Sogar sehr deutlich. Die Luft um sie herum schien plötzlich eisiger und dicker zu werden. Ein Schauder durchfuhr sie, fast so stark wie ein Stromschlag, sie spürte ihn förmlich durch Arme und Nacken fahren. Sofort schlugen alle Instinkte in ihr Alarm. Warnten sie. Doch sie kamen zu spät. Wie aus heiterem Himmel tauchte ein Blitz vor ihren Augen auf, und bevor sie wusste, wie ihr geschah, verschwand Paula von Jäckle aus ihrem Blickfeld. Stattdessen tauchte eine andere Gestalt vor ihren Augen auf. So reglos, dass sie nichts als eine Verdichtung der Finsternis zu sein schien.

Das kann nicht sein! Julia blinzelte. Das ist unmöglich!

Aber sie sah ihn klar und deutlich vor sich, sah, wie er die Hand nach ihr ausstreckte.

Pastor Jordan.

Sie wich zurück. „Hau ab! Verschwinde!“ Doch falls er die Worte gehört hatte, so sie sie denn tatsächlich ausgesprochen hatte, nahm er keinerlei Notiz davon. Im Gegenteil, er kam nun einen Schritt näher. Und was er dann sagte, knallte wie Gewehrschüsse durch die kleine Kapelle: „Honesta turpitudo est pro causa bona.“

Kaum hatte er es ausgesprochen, spürte Julia, wie alles in ihr zu vibrieren begann. Stechende Schmerzen jagten durch ihren Körper. Sie hörte ein leises Wimmern. Wirklich nur sehr leise, aber es war trotzdem deutlich zu vernehmen. Es war hinter ihr.

Sie fuhr herum und sah Eva an dem schwarzen Kreuz hängen.

Bitte, lass mich nicht sterben …

„Das kann nicht sein! Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!“ Dieses Mal hörte Julia, wie sie es aussprach.

Das Bild vor ihren Augen zerfiel, Eva am Kreuz löste sich auf, formte sich zu einer anderen Person.

Julia blinzelte. Sandmann. Sandmann lag mit aufgeschnittener Kehle auf dem Altar. Sie blinzelte noch einmal, bemerkte aus den Augenwinkeln einen Schatten. Erneut fuhr sie herum und stand Wolfgang Lange gegenüber.

Du hast den wahren Teufel übersehen, Julia.

Und dann, so schnell wie er aufgetaucht war, verschwand er auch wieder. Dafür tauchten andere Gesichter vor ihren Augen auf. Immer mehr Gesichter. Menschen aus der Vergangenheit. Menschen aus der Gegenwart. Eine endlose Abfolge von Bildern. Wie in einem Kaleidoskop wechselten und veränderten sich die Gesichter, die Farben und die Formen.

Dann hörte sie Stimmen. Fragmente von Wörtern und Sätzen, die durch ihren Kopf hallten. Und gerade als sie dachte, es nicht mehr auszuhalten, wurde es auf einmal ganz still.

Einen Augenblick lang tat sich gar nichts.

Dann eine weitere Stimme, seltsam vertraut, irgendwie bekannt und doch wieder nicht.

Ich werde mir dein Herz holen, Prinzessin.

Es ist in deinen Kopf, in deinen Leib, in deine Knochen geschrieben.

Du kannst nicht gewinnen.

Von irgendwo ertönte ein Grollen, wie Donner. Der Boden unter Julia schien sich zu bewegen. Sie wankte. Dann Paula von Jäckles Stimme: „Kommen Sie zu sich!“

„Sind Sie in Ordnung?“

Julias keuchender Atem riss Löcher in die Stille der Kapelle. Sie stemmte die Hände auf die Knie, in ihren Lungen stach es, als wäre sie gerade in fünf Minuten drei Kilometer gelaufen.

Es dauerte noch einen Moment, dann nickte sie.

Paula legte eine Hand auf ihre Schulter. „Sie glauben nicht, wie froh ich bin, dass es Ihnen gut geht.“

„Und Sie glauben nicht, wie froh ich bin, wenn ich von hier wieder verschwunden bin.“ Dafür, dass sie sicher war, unter Schock zu stehen, kamen die Worte erstaunlich klar und deutlich aus Julias Mund. „Lieber Himmel, ich war mir gerade sicher, dass mich jede Sekunde der Schlag trifft.“

„Dasselbe befürchtete ich für mich auch, das können Sie mir glauben.“ Paulas Blick taxierte sie. „Was haben Sie gesehen?“

„Pfarrer Jordan. Er stand vor mir, in voller Größe.“

„Was hat er zu Ihnen gesagt?“

„Er sagte: Honesta turpitudo est pro causa bona.

Paula formte den Satz mit den Lippen nach. „Sie wissen, was das bedeutet?“

„Ich war beschissen in Latein, aber das krieg ich gerade noch so zusammen.“ Julia rang immer noch nach Atem. „Für eine gute Sache ist Schande ehrenvoll.“

„Ein brillanter Satz. Einprägsam und gleichzeitig vieldeutig.“

„Und was will er mir damit sagen?“

„Das müssen Sie leider selbst herausfinden. Wen haben Sie noch gesehen?“

„Eva, Sandmann und Wolfgang Lange.“

„Sie habe ich ebenfalls gesehen. Aber es war noch eine weitere Person anwesend, nicht wahr?“

„Ich habe noch eine Stimme gehört. Die Stimme eines Mannes. Ich bin mir sicher, dass ich sie kenne, dass ich sie schon einmal irgendwo gehört habe. Aber ich erinnere mich nicht. Wer war das?“

„Jener Mann, der Ihren Tod will.“

„Ja, das habe ich schon verstanden. Er hat es klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Aber hat er auch einen Namen?“

„Ich habe ihn nur als den ‚Zaren‘ in den Karten gesehen.“

Als Julia fragend die Augenbrauen in die Höhe hob, lächelte Paula dünn. „Ich sehe, Sie kennen sich aus in Dämonologie.“

„Ich bin in einem katholischen Waisenhaus aufgewachsen. Der Zaren ist der Dämon der sechsten Stunde, der Geist der Rache.“

„Richtig.“ Paula nickte. „Und eben das ist er. Böse und skrupellos und von Rache getrieben.“

„Und warum hat er es ausgerechnet auf mich abgesehen?“

„Das hatte ich Ihnen bereits erklärt. Weil nur Sie ihm gefährlich werden können. Nur Sie können ihn ausschalten.“

„Warum nur ich?“

„Sie alleine sind ihm ebenbürtig.“

„Verdammte Kacke.“ Julia atmete tief und verzweifelt durch.

„Sie müssen es annehmen“, fügte Paula hinzu, „sonst haben Sie keine Chance. Er ist längst auf dem Weg zu Ihnen, auf den verschiedensten Wegen. In Form von verschiedensten Personen. Vergessen Sie niemals, dass er nicht fair spielt.“ Sie suchte Julias Blick und hielt ihn. „Sie haben soeben alle Hinweise erhalten, die Sie brauchen. Sie müssen sie nur richtig zusammensetzen. Sie müssen verstehen. Aber vor allem, Sie müssen es annehmen. Dann können Sie gewinnen. Haben Sie das verstanden, Frau Wagner?“

Julia schwieg.

„Frau Wagner?“

„Ja“, sagte Julia. „Annehmen. Zusammensetzen. Ausschalten.“ Sie wandte sich ab. „Ich werde es versuchen. Aber zuerst muss ich Eva finden.“

Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3

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