Читать книгу Höllenfrost - Ein Fall für Julia Wagner: Band 3 - Tanja Noy - Страница 6
2. KAPITEL
ОглавлениеWas ist los?
Samstag, 18. Dezember 2010
08:07 Uhr
Weidling
„Wo, zum Teufel, steckst du?“
„Ich bin im Schwarzwald.“
„Was, bitte schön, tust du im Schwarzwald?“
Bibbernd blickte Eva Haack aus der Frontscheibe ihres Wagens. Das war also das Unwetter, das der Wetterbericht angekündigt hatte. Die Wolken wirkten dick und unbeweglich wie eine nasse Bettdecke, der Wind pfiff, der Schnee fiel nicht, nein, er stürzte geradezu vom Himmel, und dazu war es so kalt, dass trotz dicker Kleidung jede Bewegung anstrengend werden würde. Hätte sie nicht dringend ihre Medikamente gebraucht, Eva hätte ihr sicheres Domizil an diesem Morgen garantiert nicht verlassen. Unter gar keinen Umständen hätte sie den Weg ins Dorf auf sich genommen. So aber war sie gezwungen, die Apotheke aufzusuchen, und gerade in dem Moment, in dem sie den Wagen geparkt hatte und aussteigen wollte, piepste das Handy. Sie hatte es aus ihrer Handtasche gezogen und das Gespräch angenommen. Und das hatte sie jetzt davon.
„Was, bitte schön, tust du im Schwarzwald?“, wiederholte Robert am anderen Ende.
„Ich muss nachdenken“, gab Eva zurück. „Wichtige Entscheidungen treffen.“
„Aha. Und sagst du mir auch, um welche Art von Entscheidungen es sich dabei handelt?“
„Ich werde mich scheiden lassen, Robert.“
„Was?“
„Hör zu …“ Eva atmete tief durch. „Wir haben es versucht. Aber es ist einfach zu viel passiert.“
„Und anstatt mir das ins Gesicht zu sagen, haust du einfach ab und fährst von Hamburg bis in den Schwarzwald? Was ist los mit dir, Eva? Wir sind fünf Jahre lang verheiratet. Ich finde, ich habe ein bisschen mehr verdient als das. Wir lieben uns doch.“
„Du machst es dir leichter, wenn du dich einfach damit abfindest.“
„Ich werde mich nicht damit abfinden. Was du gerade tust, ist hilfloses Handeln. Verzweiflung. Natürlich, du hast in den letzten Monaten viel durchgemacht … und tust es noch, aber das geht doch jedem einmal so.“
„Es wurde aber nicht jeder lebendig an ein Kreuz genagelt.“
Robert schwieg, während Eva es schon wieder deutlich vor sich sah: Wolfgang Lange; die alte Kapelle; das riesige, auf dem Kopf stehende Kreuz; die Nägel, die er durch ihre Hände und Füße geschlagen hatte. Wie sollte man das je wieder vergessen? Man konnte die Erinnerung daran nicht einfach mit Seife abwaschen, und alles war wieder gut. Sie musste damit leben, er nicht. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war das Gefühl der Machtlosigkeit geradezu erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, in sich selbst isoliert. Mehr als einmal glaubte sie, kurz davor zu sein, den Verstand zu verlieren.
„Hör mir zu“, sagte Robert in ihre Gedanken. „Ich weiß doch, dass das alles nur Abwehrmechanismen sind. Mauern, die du um dich herum aufgebaut hast, um dich zu schützen. Aber doch nicht vor mir. Lass mich wieder in dein Leben. Wir können es zusammen schaffen. Wir …“
„Selbst wenn ich es wollte“, fiel Eva ihm ins Wort, „ich würde nie wieder die werden, die ich einmal war. Dafür ist einfach zu viel passiert.“
„Ich werde dir helfen, darüber hinwegzukommen.“
„Das muss ich leider ganz alleine tun.“
Jetzt hob Robert die Stimme ein wenig an. „Wenn diese furchtbare Geschichte nicht passiert wäre, dann würden wir uns jetzt nicht trennen. Wir wären ewig zusammengeblieben.“
„Das wissen wir nicht.“
„Ich weiß es. Das hätte dieser Mistkerl dir nicht antun dürfen. Und sie hätte dich niemals in diese Sache hineinziehen dürfen. Es ist allein ihre Schuld.“
„Robert, bitte …“, setzte Eva an.
„Von mir lässt du dich scheiden, aber sie nimmst du weiter in Schutz.“
„Hör bitte auf.“
„Warum hat sie es nicht verhindert?“
„Sie konnte es nicht verhindern. Es war nicht ihre Schuld.“
„Siehst du! Du tust es schon wieder! Du nimmst sie in Schutz!“
„Ich denke, wir sollten das Gespräch besser beenden, bevor …“
„Bevor was?“ Robert feixte. „Bevor es mit mir durchgeht?“
„Bevor nur noch Scherben übrig sind.“
„Sie hat immer zwischen uns gestanden“, redete er unbeeindruckt weiter. „Immer.“
„Das ist nicht wahr.“
„Ach, hör doch auf, Eva, natürlich ist es wahr. Dein ganzes Tun und Handeln kreist um sie, selbst wenn sie gar nicht da ist. Vielleicht ist es dir nicht bewusst, aber genauso ist es. Auch wenn du es nicht aussprichst, ist sie trotzdem immer in deinen Gedanken.“
„Das ist Blödsinn!“, fuhr Eva auf.
„Warum bist du im April überhaupt nach Wittenrode gefahren?“
Ein jäher Windstoß blies um den Wagen, Eva spürte ein Erzittern, ein tiefes Beben, das ihr bis tief in die Knochen fuhr.
„Ich wollte an Kerstins Beerdigung teilnehmen“, antwortete sie. „Das hatte mit Julia überhaupt nichts zu tun. Du bist auf eine Person eifersüchtig, die du nicht einmal persönlich kennst.“
„Ich muss sie nicht persönlich kennen. Ich habe Augen, und ich habe Ohren. Und ich weiß, was ich weiß.“
Eva atmete tief durch. „Julia und mich verbindet eine schwierige Kindheit, das kann man nun mal nicht vergessen. Den Rest allerdings, den spinnst du dir zusammen.“ Sie richtete sich etwas auf. „Es hat tausend Gründe, warum unsere Ehe gescheitert ist, Robert, aber es hat ganz bestimmt nichts mit ihr zu tun. Ich werde jetzt auflegen.“
„Du willst es also tatsächlich beenden?“
„Ich habe alles gesagt. Es tut mir wirklich leid.“
Damit drückte Eva das Gespräch weg, legte das Handy zurück in ihre Handtasche und machte sich auf den Weg zur Apotheke.
Später würde sie sich an diese Minuten immer wieder erinnern.
Die letzten Minuten, ehe das völlige Chaos ausbrach.
Mainz
„Julia? Was ist verdammt noch mal los mit dir? Wir hatten eine Abmachung, erinnerst du dich? Du wollest dich gestern Morgen melden, hast aber bis jetzt noch nichts von dir hören lassen. Ich gebe dir jetzt noch genau fünf Stunden, wenn du dich dann nicht gemeldet hast, lasse ich dein Handy orten! Das ist mein Ernst! Du weißt genau, was für eine Scheißangst ich um dich habe!“ Schnaubend klappte Zander das Handy zu und ging weiter mit großen Schritten den Flur des Krankenhauses entlang. Der Arzt, der am anderen Ende auf ihn wartete, begrüßte ihn kurz, wobei er den Kopf in den Nacken legen musste, denn Zander war ein Riese mit kurzen roten Haaren und einem überbreiten Körperbau. Seine Größe und seine Statur ließen unweigerlich alle, die mit ihm sprachen, respektvoll das Genick einziehen und die Stimme senken. Ein Geschenk für einen Polizisten bei der Kripo.
Der Arzt räusperte sich und blickte auf die Papiere in seiner Hand. „Also, was haben wir … Eine junge Frau, deren Namen wir nicht kennen, weil sie keine Papiere bei sich trug. Vermutlich Osteuropäerin, schätzungsweise zwanzig Jahre alt. Wurde heute Morgen gegen sieben Uhr dreißig eingeliefert. Kopf und Schultern waren blutverkrustet … was von einer tiefen Kopfwunde herrührt. Auf ihrem gesamten Körper finden sich Spuren von schwerer Folter … Außerdem befand sich eine getrocknete Blutspur an der Schenkelinnenseite und eine Wunde im Rektalbereich, die ist allerdings schon etwas älter.“ Von Zeit zu Zeit sah der Arzt zu Zander auf. „Dazu verschiedene Hämatome und Schnittwunden an Hand- und Fußgelenken. Die Haut über dem rechten Jochbein war aufgeplatzt. Sie wurde also schwer misshandelt und mehrfach, mit zeitlichen Unterbrechungen, vergewaltigt.“
„Konnten Spermaspuren sichergestellt werden?“, wollte Zander wissen.
„Nein, leider nicht.“ Der Arzt blätterte. „Dafür fanden sich Spuren eines Barbiturates in ihrem Blut. Wer immer der armen Frau das angetan hat, hat sie mit einer Droge außer Gefecht gesetzt. Vermutlich Ketamin. Ich nehme an, Sie möchten eine Kopie des Berichtes, Herr Kommissar?“
Zander nickte. „Sicher tauchen noch weitere Fragen meinerseits auf, aber für den Augenblick danke ich Ihnen.“ Er wandte sich ab und betrat das Krankenzimmer.
Die erste Amtshandlung, die er dann beging, war es, die Frau von den Plastikbändern zu befreien, mit denen ihre Handgelenke am Bettgestell fixiert waren.
Die Miene des jungen Kollegen neben ihm sprach Bände. „Das sollten Sie nicht tun, Herr Kommissar. Sie wird ausflippen, wenn sie zu sich kommt.“
„Ich werde im Bericht festhalten, dass Sie mich gewarnt haben“, bemerkte Zander.
„Es ist Vorschrift. Wir kriegen das immer wieder gepredigt. Sie wird versuchen, sich die Infusionsnadel rauszuziehen, wenn …“
„Wenn sie gefesselt aufwacht, dreht sie erst recht durch.“ Zander deutete auf die kreisförmigen Schnitte an den Handgelenken der jungen Frau, die von festgezurrten Drähten zu stammen schienen. „Sie war weiß Gott genug gefesselt.“ Damit zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. „Ich bleibe hier. Sie sind abgelöst. Verschwinden Sie.“
Der junge Kollege nickte widerwillig und verließ das Zimmer, während Zander an ihrem Bett sitzen blieb und zusah, wie sie atmete.
Zur gleichen Zeit saß ein Mann namens Matthias Bartholomäus nur wenige Kilometer entfernt an seinem Küchentisch und starrte auf die Notizen vor sich. Er wusste, dass dies die letzten Minuten seines Lebens waren.
Eiskalte Minuten.
Er wandte den Kopf und starrte nach draußen ins weiße Nichts. Vor seinen Augen spielte sich ein Film ab – ein Film dessen, was er getan hatte.
„Was in dem Keller passiert, bleibt in dem Keller“, murmelte er.
Aber nein, aus Falsch konnte auch Richtig werden. Nichts war absolut. Zügig las er noch einmal den codierten Text, den er gerade geschrieben hatte. Er hatte sich die Verschlüsselung vor ein paar Monaten ausgedacht. Auf diese Weise konnte er seine Gedanken aufschreiben, ohne zu befürchten, dass es jemand las, der es nicht lesen sollte. Bereits als Teenager hatte er sich solche Codierungen ausgedacht. Doch die einfache Übersetzung des Alphabets war im Laufe der Jahre immer ausgefeilter geworden. Längst hatte er noch Zahlen und geometrische Figuren in das Ziffernsystem eingebaut. Er bezweifelte, dass es vielen Leuten gelingen würde, diesen Code zu knacken – aber das war auch nicht nötig. Es sollte nur die richtige Person an die Informationen gelangen. Für den Fall der Fälle nannte er keine Namen, schrieb nur Initialen auf. Man konnte sie herausfinden, wenn man sich ein wenig Mühe gab.
Bartholomäus hoffte darauf, dass die Polizei sich Mühe geben würde, wenn es so weit war.
Er sah noch einmal aus dem Fenster.
Welche Strafe würde er wohl bekommen?
Er würde es schon sehr bald wissen.
Das Warten hatte bald ein Ende.