Читать книгу Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit - Tanja Rinker - Страница 7

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

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Versuchen Sie aus den Beschreibungen zu entnehmen, in welchen Kontexten die Kinder ihre Sprachen gebrauchen und wie sie ihre Fähigkeiten in diesen einschätzen. Worin sehen Sie Gemeinsamkeiten und worin Unterschiede in den mehrsprachigen Lebenswelten der drei Kinder?

Kasten 1:

Drei mehrsprachige Mädchen beschreiben ihren Sprachgebrauch zu Hause und haben hierzu eine Sprachenfigur1 gestaltet.

Mädchen 1 Mädchen 1: „Ich kann Kurdisch, Englisch und Türkisch. In der Familie spreche ich sehr oft Türkisch, nicht so oft Kurdisch. Ich kann die Sprache noch nicht sehr gut. Englisch sprech ich nur im Unterricht, meist oder eher gar nicht zu Hause. Mit meinem Bruder sprech ich zu Hause ganz oft nur Türkisch oder Deutsch. […] In der Schule sprech ich manchmal mit meiner Kusine Türkisch, wenn wir was zusammen sagen wollen. Mit meiner Mama sprech ich immer Türkisch, bisschen Deutsch. Mit meinem Papa soll ich, darf ich, oder was Ähnliches wie muss ich, Kurdisch sprechen, weil ich das noch nicht so gut kann. Ich bin Kurdin und muss diese Sprache können.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „Hier oben in den Haaren oder eher im Kopf ist Deutsch, weil ich Deutsch ganz gut kann und irgendwie im Bauch ist Kurdisch, weil ich Kurdin bin. Im rechten FußFuß ist Englisch, weil ich das zu Hause nicht mache, nicht extra lerne, sondern in der Schule und Türkisch im linken Fuß, weil ich das einfach nicht mag. Türkisch-Sprache. Und dann noch einen Mund gemalt aus der kurdischen Flagge.“
Mädchen 2 Mädchen 2: „Ich sprech Englisch und Deutsch. Zu Hause sprech ich mit meiner Mama nur Deutsch und mit meinem Papa nur Englisch. Mit meinem Bruder sprech ich manchmal Deutsch und manchmal Englisch. Mit meiner Oma und meinem Opa aus Deutschland sprech ich nur Deutsch, und mit meinen Tanten und meinen Onkeln in Amerika nur Englisch.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „In den Kopf und in die Hose und in den Schuh hab ich Deutsch gemacht, weil ich in Deutschland geboren bin, weil ich Deutsch spreche und weil meine Mutter Deutsch spricht. Und ich hab in den Pullover die amerikanische Flagge gemalt, weil ich auch zu 50 % amerikanisch bin wegen meinem Vater, weil der ist in den USA geboren.“
Mädchen 3 Mädchen 3: „Zu Hause sprech ich nur Deutsch und Ukrainisch. Mit meiner Mutter red ich nur Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann sagt sie es mir auch auf Deutsch. Mit meinem Vater red ich nur Deutsch. Mit meiner Oma mit der red ich Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann hilft mir Mama.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „Ich hab die deutsche Flagge in den Kopf gemalt, da ich die Sprache am besten kann. Und die ukrainische Flagge in die Hände, weil ich nicht so gut Ukrainisch spreche und ich daher auch viel mit den Händen erkläre. Und im FußFuß ist die britische Flagge, weil die vom Kopf weit entfernt ist und ich halt noch viel dazu lernen kann bei der Sprache. Aber da bin ich halt auch froh drüber, weil neue Sprachen zu lernen macht Spaß.“
(Mündliche Produktionen, leicht redigiert)

*****

Rund 40 % der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshintergrund (Stat. Bundesamt 2019)2. Ein großer Anteil dieser Kinder ist zu Hause mit mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt. Wie intensiv beispielsweise Mutter oder Vater ihre Herkunftssprache(n) mit den Kindern nutzen, wie gut und gerne die Kinder diese Sprachen sprechen, welche Sprachen die Geschwister oder die Freunde sprechen, ist allerdings höchst unterschiedlich. Die drei Mädchen, die in Kasten 1 ihre Mehrsprachigkeit beschreiben, können nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt der Szenarien abbilden, wie Kinder mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. Viele Wege führen in die Mehrsprachigkeit: Jedes Elternteil spricht eine oder mehrere Sprachen, die Familiensprache unterscheidet sich von der Umgebungssprache, ein längerer Aufenthalt in einem anderen Land erfolgt, Sprachen werden in der Schule gelernt und so weiter. All diese Umstände und persönliche Entscheidungen können zu Mehrsprachigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) führen und hierbei zu jeweils individuellen Erwerbsprofilen.

Ungeachtet dessen sucht die Forschung nach interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, um auf der Basis gewisser Übereinstimmungen spezifische Erwerbs(typ)gruppen zu identifizieren. Der monolinguale Erstspracherwerb der Zielsprache (in diesem Buch des Deutschen) dient hierbei in der Regel als Vergleichsbasis. Man betrachtet verschiedene sprachliche Phänomenbereiche (z. B. Phoneminventar, NominalflexionNominalflexion, Wortstellung) des Deutschen und vergleicht den diesbezüglichen Erwerbsverlauf, die Erwerbsgeschwindigkeit und den erreichten Endzustand.

Da Kinder im ungesteuerten3 Erwerb einer weiteren Sprache im Allgemeinen erfolgreicher zu sein scheinen als Erwachsene und dieser Erwerbsvorteil nach Erklärungen verlangt (vgl. u.a. Pagonis 2009), lag und liegt ein besonderer Fokus der Spracherwerbsforschung auf dem Alter zu Erwerbsbeginn. Nach der wohl bekanntesten Hypothese der Kritischen PeriodeKritische Periode (u.a. Lenneberg 1967) schließt sich im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren aufgrund neuronaler Reifungsprozesse das Zeitfenster, in dem die bei Geburt vorhandene Spracherwerbsfähigkeit zur Verfügung steht. Danach sei eine Sprache nicht mehr beiläufig im Kontakt mit Sprechern dieser Sprache zu erwerben, sondern müsse nun bewusst und mit gewissen Anstrengungen erlernt werden. Die Hypothese der Kritischen Periode erfreute sich zwar einer großen Anhängerschaft, konnte aber empirisch nie bestätigt werden. Eine deutlich differenziertere Sicht auf den Zweitspracherwerb bietet das (sich an der Idee der Kritischen Periode anlehnende) Konzept der sensiblen Phasen, demzufolge es für spezifische sprachliche Phänomenbereiche bestimmte Zeitfenster gibt, in denen der L2-Erwerb dem L1-Erwerb (nahezu) gleicht (Meisel 2007). Nach dem Verstreichen des für ein bestimmtes grammatisches Phänomen (z. B. Wortstellung) anzunehmenden optimalen Zeitfensters lassen sich in der Lernersprache Merkmale beobachten, die in dieser Ausprägung im L1-Erwerb nicht vorkommen. So gleicht der Erwerb der Wortstellung (siehe Kapitel 12) im ErwerbsalterErwerbsalter von 3-4 Jahren weitgehend dem Erwerb der Wortstellung monolingualer Kinder (Tracy 2007). Sind die Kinder bei L2-Kontakt jedoch schon 6-7 Jahre alt, dann treten im Satzbau zielsprachliche Abweichungen auf, die wir im monolingualen Erwerb deutschsprachiger Kinder so nicht beobachten können und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (Haberzettl 2005).

Mit voranschreitendem ErwerbsalterErwerbsalter – so die Annahme – wird die Lernersprache der von Erwachsenen im ungesteuerten Erwerb zunehmend ähnlicher (Meisel 2007). Auf diesem Weg scheinen einige Zeitfenster besonders relevant, die dann auch in der Erwerbsliteratur wiederkehrend zur Klassifizierung von Spracherwerbstypen herangezogen werden.

Eine übliche Einteilung mehrsprachiger Kinder basiert somit auf der Chronologie des Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen: Als Erstsprache (= L1) wird die Sprache verstanden, die meist im familiären Kontext von Geburt an erworben wird. Beim simultanen oder doppelten ErstspracherwerbErstspracherwerb, doppelter (2L1; manchmal auch bilingualer Erstspracherwerb) erwirbt ein Kind von Geburt an zwei Sprachen4. Vom simultanen ErwerbErwerb, simultaner wird der sukzessive ErwerbErwerb, sukzessiver abgegrenzt, bei dem der Erwerb einer zweiten (bzw. weiteren) Sprache erst dann einsetzt, wenn der Erwerb der ersten Sprache(n) „zumindest in den Grundzügen vollzogen ist“ (Rothweiler 2007: 106). Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen kindlichem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen. Wie in Abb. 0.1 dargestellt, wird in Bezug auf die Kindheit noch eine weitere Differenzierung nach frühemZweitspracherwerb, früher (ab 3-4 Jahren) und spätemZweitspracherwerb, später (ab 6-7 Jahren) Zweitspracherwerb vorgenommen (siehe u.a. Rothweiler 2007; Schulz & Grimm 2019).

Der simultane Erwerb von zwei und mehr Sprachen wird nur allzu oft als Erfolgsgarant beschrieben. So heißt es beispielsweise in Meisel (2007: 97), dass bilingual aufwachsende Kinder „eine grammatische Kompetenz [erreichen], die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet“ (Meisel 2007: 97). Hingegen seien bei einem zeitlich später einsetzenden Erwerb einer weiteren Sprache nicht alle Lernenden erfolgreich (Meisel 2007: 99).

Abb. 0.1:

Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit in chronologischer Abfolge (eigene Grafik, D.B.).

Auf der Zeitachse, die das ErwerbsalterErwerbsalter in Jahren darstellt, sind durchgehende und gestrichelte Linien zu sehen. Während in Bezug auf die mit durchgehender Linie markierten Intervalle in der Erwerbsliteratur weitgehende Einigkeit herrscht, wird der gestrichelt markierte Abschnitt entweder dem darüber angeordneten oder dem rechts davon stehenden Erwerbstyp zugeordnet.

Die in Abb. 0.1 dargestellte Unterteilung in Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit, die auch vielen Erwerbsstudien zugrunde liegt, wird der Komplexität mehrsprachiger Profile natürlich keineswegs gerecht. Folgt man einer chronologischen Betrachtungsweise, wären die Kinder in Kasten 1 als simultan-bilingual bzw. -multilingual zu bezeichnen, da sie von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind und die jeweiligen Sprachen (Ukrainisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Deutsch) von einem Elternteil zu Hause gesprochen werden. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeitsrealität entspricht allerdings nicht bei jedem der Kinder den zuvor skizzierten Erwartungen. Das heißt, auf der Basis einer chronologischen Nomenklatur wie „simultaner Erstspracherwerb“ oder „früher Zweitspracherwerb“ können keine verlässlichen Aussagen über tatsächlich erreichte Kompetenzen getroffen werden. Genauso wie Kompetenzunterschiede zwischen den Sprachen bei simultan-bilingual aufwachsenden Kindern erwartet werden können, führt auch ein Beginn des Zweitspracherwerbs bei Schuleintritt oder später nicht notwendigerweise zu reduzierten Sprachkompetenzen in dieser Sprache. Während neurobiologische Veränderungen im Laufe von Kindheit und Jugend, die auch u.a. das Sprachlernen beeinflussen, unbestritten sind, zeigt sich in vielen Studien, dass das ErwerbsalterErwerbsalter zwar ein Faktor sein kann, aber keinesfalls der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende.

Würde man die sprachlichen Hintergründe der oben vorgestellten mehrsprachigen Kinder systematisch untersuchen, ergäbe sich ein komplexes Geflecht von Faktoren, die sich verschiedentlich auf die sprachlichen Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen auswirken.

Auf einige der potenziellen EinflussfaktorenEinflussfaktoren sei im Folgenden kurz eingegangen:

Neben dem Zeitpunkt des Erstkontakts mit der L2 wird in den meisten Erwerbsstudien auch die KontaktdauerKontaktdauer mit der L2 angegeben. Seltener, weil auch schwerer zu ermitteln, wird jedoch die Intensität des KontaktsIntensität des Kontakts mit den jeweiligen Sprachen berücksichtigt: Während eine Kontaktdauer von beispielsweise sechs Jahren bei einem sechsjährigen Kind mit dem ErwerbsalterErwerbsalter (= Geburt) gleichgesetzt werden könnte, erweist sich diese Angabe bei genauerer Betrachtung als zu grob. Der Umfang des Sprachkontakts kann innerhalb von Familien mit bilingualem Sprachangebot (Mutter Sprache 1, Vater Sprache 2), und sogar auch zwischen Geschwistern, erheblich variieren. Abb. 0.2 illustriert die Bandbreite des Anteils der beiden Sprachen Italienisch und Deutsch, die in italienisch-deutschen Familien von fünf Kindern einer ersten Klasse seit Lebensbeginn mit ihnen gebraucht wurde (= Input) sowie ihre produktiven Wortschatzkompetenzen (Nomen) im Deutschen und im Italienischen.

a)


b)

Abb. 0.2:

InputInput der Eltern und Nomenproduktion bei fünf italienisch-deutschen Kindern.

a) Anteil des Italienischen und des Deutschen von Geburt bis zur 1. Klasse seitens der Mutter und des Vaters. Dieser Anteil wurde kumulativ aus Angaben aus einem Elternfragebogen errechnet. In b) ist die Summe der produzierten Nomen im Italienischen (dunkelgrau) und im Deutschen (hellgrau) in einem Wortschatztest (CLT, Rinker & Gagarina 2014, siehe Kap. 9.3) abgetragen. Maximal zu erreichende Rohwerte: 32. (Ausschnitt eigener Daten, T.R.)

Wie sich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder entwickeln, hängt maßgeblich von der Quantität und Qualität des Inputs ab. Der sozioökonomische Hintergrundsozioökonomische Hintergrund der Familien ist diesbezüglich ein gewichtiger Einflussfaktor. Gut ausgebildete (und verdienende) Eltern, vor allem Mütter, beeinflussen den Erhalt von Herkunftssprachen günstig (Lauro, Core & Hoff 2020). Zudem haben bereits viele Studien aus ein- und mehrsprachigen Familien belegt, dass in Familien mit einem höheren sozioökonomischen Hintergrund mehr mit Kindern gesprochen wird und die Gespräche kognitiv anspruchsvoller sind. Dadurch erreichen diese Kinder in der Regel bessere sprachliche Kompetenzen (Hart & Risley 1995; Hoff & Place 2012).

Die Möglichkeiten des Sprachkontakts hängen oftmals auch vom PrestigePrestige der Sprachen der Sprachen innerhalb einer Sprechergemeinschaft ab. Welche Sprache wird beispielsweise an Schulen als Fremdsprache erworben (hohes Prestige), welche Sprache ist wirtschaftlich gesehen von größerer Bedeutung? In Deutschland hat das Englische einen sehr hohen Stellenwert (meistgewählte Fremdsprache, höchste Anzahl bilingualer Einrichtungen5), wobei die Anzahl der HerkunftssprecherInnen des Englischen sehr gering ist6.

Eine weitere wichtige Rolle in der Entwicklung mehrerer Sprachen spielt die BildungsumgebungBildungsumgebung (siehe Abb. 0.3). Werden bestimmte Sprachen unterdrückt und sind an der Schule oder Kita unerwünscht, ist es für Kinder schwieriger, diese zu erhalten und weiter auszubauen. Gibt es herkunftssprachliche Angebote? Wie wird das Deutsche gefördert? Welche Sprachen sprechen die anderen Kinder? Auch die Einstellungen der Lehrkräfte zur Mehrsprachigkeit sowie ihre methodisch-didaktischen Kompetenzen im Umgang mit mehreren Sprachen sind relevant für die mehrsprachige Entwicklung.

Hinzu kommen beim Erwerb mehrerer Sprachen zahlreiche in den Kindern liegende Faktoren wie nicht verbale kognitive Fähigkeiten oder phonologische Verarbeitungsfähigkeiten (Lauro et al. 2020). Kinder mit guten Fähigkeiten in diesen Bereichen haben eine größere Chance, mehrsprachig zu werden und zu bleiben. Gute phonologische Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, sich eine kurze Sequenz von Silben zu merken oder Laute zu unterscheiden (siehe Díaz et al. 2016), sind Teil des sogenannten SprachtalentSprachtalents oder der Sprachbegabung (Ameringer et al. 2018). Ebenso sind Persönlichkeitsmerkmale wie die Motivation, eine Sprache zu erwerben oder zu erhalten oder auch eigene Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Sprechern gegenüber, einflussreich.

Abb. 0.3:

EinflussfaktorenEinflussfaktoren auf den Erwerb mehrerer Sprachen nach Kersten (2020: 83)

Da diese Grafik sich insbesondere auf den schulischen Erwerb von Fremdsprachen bezieht, fehlen Angaben wie Sprachkontaktdauer oder ErwerbsalterErwerbsalter. Dennoch bildet diese Grafik die Komplexität der Einflussfaktoren und der Zusammenhänge gut ab.

Wie hier deutlich geworden sein sollte, ist jedes mehrsprachige Aufwachsen individuell und der einzelne Lernende und der Komplex der EinflussfaktorenEinflussfaktoren auf den Erwerb der unterschiedlichen Sprachen einzigartig.

In den Neurowissenschaften hat sich daher auch die Betrachtungsweise der neuronalen Grundlagen des Erwerbs mehrerer Sprachen deutlich verändert. In der vielfach zitierten Studie von Kim et al. (1997) wurden, noch unter Annahme eines stark wirkenden Altersfaktors, unterschiedliche AktivierungsmusterAktivierungsmuster bei erwachsenen Probanden, die zwei Sprachen von Geburt an erworben hatten und Probanden, die eine weitere Sprache erst mit rund 11 Jahren erworben hatten, beobachtet. Die Sprachkompetenzen wurden allerdings nicht berichtet. Hingegen konnten Perani et al. (1998) Effekte der SprachkompetenzSprachkompetenz und nicht des Erwerbsalters nachweisen: Während bei niedriger Sprachkompetenz in der L2 andere Areale als in der L1 aktiviert werden, sind es bei hoher Sprachkompetenz identische Aktivierungsmuster für beide Sprachen.

In einer neueren Studie, rund 20 Jahre später, zeigen De Luca, Rothman, Bialystok und Pliatsikas (2019) differenzierte Effekte der sog. „language experience factors“ (L2-Alter, Dauer des L2-Sprachkontakts, L2-Gebrauch in sozialen Settings, L2-Gebrauch zu Hause) auf der neuronalen Ebene. Sowohl die Dauer als auch der Sprachgebrauch zeigen Veränderungen auf der strukturellen aber auch auf der funktionellen Ebene des Gehirns und belegen, wie sich das Gehirn optimal auf seine Umwelt einstellt. Vielversprechend sind auch Ansätze, die z. B. die individuelle Inputsituation bei der Analyse neuronaler Gruppendaten berücksichtigen (z. B. die individuelle Anzahl von Stunden im Kontakt mit einer Sprache und die Ausprägung einer neuronalen Reaktion auf einen Lautkontrast; García-Sierra et al. 2011, 2016).

Dieses einleitende Kapitel sollte zunächst einmal sensibilisieren für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Spracherwerbs im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die nachfolgenden Aufgaben regen an, die eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren und gängige Einstellungen gegenüber der Mehrsprachigkeit kritisch zu hinterfragen.

Aufgaben

 1.* Nennen Sie drei zentrale EinflussfaktorenEinflussfaktoren, die den Erwerb mehrerer Sprachen beeinflussen.

 2.** Beschreiben Sie möglichst detailreich Ihre eigene Mehrsprachigkeit und gehen Sie auch darauf ein, wie sich diese über die Jahre verändert hat. Verwenden Sie in Ihrer Darstellung auch visualisierende Elemente (z. B. Sprachenfigur oder einen Zeitstrahl).

 3.** Warum ist es hilfreich, sich als (angehende) Lehrkraft mit der eigenen Mehrsprachigkeit auseinanderzusetzen?

 4.*** Bislang haben wir uns nur auf die sog. „äußere MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, äußere“ konzentriert – auf das Beherrschen mehrerer Einzelsprachen (u.a. des Deutschen.). Das Deutsche (wie jede andere Sprache auch) stellt allerdings ein Gesamtsprachsystem dar, das aus verschiedenen Varietäten besteht und zusammengehalten wird durch die Standardvarietät. Lesen Sie in Girnth (2007) nach, welche Dimensionen von Varietäten zu unterscheiden sind und ergänzen Sie Ihre Mehrsprachigkeitsdarstellung von Aufgabe 2 um Ihre sog. „innere MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit, innere“, d.h. um innerdeutsche Varietäten, die Sie (mehr oder weniger) beherrschen.

 5.*** Es kursieren eine Reihe von Mythen rund um Mehrsprachigkeit und so manches Vorurteil hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Lesen Sie von den sieben Mythen, die Rosemarie Tracy im Jahr 2006 auf einem Kongress zur frühen Mehrsprachigkeit dar- und widerlegte (https://www.sagmalwas-bw.de/uploads/tx_news/BWS_FrueheMehrsprachigkeit_2011.pdf, abgerufen am 06.03.2021). Welche der beschriebenen Mythen und Vorurteile begegnen Ihnen noch immer im Alltag und welche Möglichkeiten sehen Sie, diesen entgegenzutreten?

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

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