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Kapitel 3

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Nele streckte sich ausgiebig, weil sie die letzte Stunde über ihrem Englischheft gebrütet hatte. Vom vielen Vokabelnlernen schwirrte ihr ganz schön der Kopf.

»Kannst du etwa schon alles?«, fragte sie verblüfft, als sie zu Romy sah.

Die beschäftigte sich nämlich damit, ihre Haare zu Zöpfen zu flechten.

»Selbstverständlich«, sagte Romy. »Das war ein netter Zeitvertreib.«

»Netter Zeitvertreib?«, wiederholte Nele. »Ein Kinobesuch oder ein leckerer Eisbecher ist das vielleicht, aber doch keine Englischhausaufgaben.«

»Aber dabei kann man schön kreativ sein!« Romy schob ihr Heft rüber. In schnörkeliger Schönschrift standen dort alle Vokabeln, die sie abschreiben und sich dabei einprägen sollten. Romy hatte aus den i-Punkten sogar Herzchen gemacht.

»Krass«, meinte Nele und fühlte sich prompt schlecht. Sie legte ihren Stift weg. »Ich bin zu blöd, um mir alles zu merken. Wie machst du das nur?«

Romy runzelte die Stirn. »Du bist nicht blöd. Du merkst dir vieles. All diese Strategien beim Fußball sind voll schwer, wie dieses Bananenmus zum Beispiel!«

»Das heißt Bananenflanke«, verbesserte Nele sie belustigt. Gestern Abend hatten sie auf Neles liebstem YouTube-Kanal Furioser Fußball ein Video geschaut, in dem ein Spieler genau so einen hohen Pass in den Strafraum gespielt hatte, um einem Stürmer ein Kopf‌balltor zu ermöglichen. »Mus ist was zum Essen, Romy.«

»Na, wie kommt ihr denn voran?«, fragte Neles Papa fröhlich. Er steuerte die Kaffeemaschine an und begann, frischen Kaffee zu machen. Ganz sicher wollte er mal wieder überwachen, was die zwei so trieben …

»Geht so«, sagte Nele grummelig. »Wie soll man sich denn so lange am Stück konzentrieren, wenn man die ganze Zeit nur am Küchentisch sitzt.«

»Wie würdest du deine Hausaufgaben denn sonst gerne machen?«, erkundigte er sich. »Auf einem Trapez schwingend? Oder während du mit Pizzastücken jonglierst?«

»Wenn die Pizzastücke mit Peperoni belegt sind, dann das Letzte«, sagte Nele.

Romy meldete sich nun auch zu Wort. »Nele braucht eine Pause, um ihre Lebensgeister wiederzuerwecken. In der Prinzessinnen-Akademie haben wir mittags im Blumengarten stets eine Teestunde mit Bergamotte-Erdbeer-Küchlein abgehalten«, schwärmte sie. »Fräulein Irvine hat manchmal sogar gesungen.«

»So was kann ich euch leider nicht bieten«, sagte Neles Papa amüsiert. »Aber eine Pause sei euch gegönnt. Es ist ja auch wirklich schönes Wetter heute.«

Da hatte er recht und Nele beschloss, dass das die perfekte Gelegenheit war, um Romy eine erste Lektion in Sachen Fahrradfahren zu geben. Fünf Minuten später standen die beiden mit den Rädern vorm Haus. Neles Papa stellte Romy noch den Sattel richtig ein und dann schoben die beiden die Räder die Lilienstraße hinunter, bis zum Feldweg. Hier gab’s weit und breit nur hohe Gräser und den Wald.

Romy zog noch immer eine Miene wie Sieben-Jahre-zerbrochener-Prinzessinnenspiegel-Unglück, weil sie Schoner und Helm tragen musste. »Ich hätte viel lieber ein hübsches Sonnenschirmchen als diese komischen Sachen«, jammerte sie. »Das ist voll schriekschraff und superstaubig, weil’s im Keller war.«

»Die brauchst du aber«, beharrte Nele. »So, jetzt pass auf.«

In der nächsten halben Stunde gab Nele Romy allerhand Anweisungen, von denen sie glaubte, dass sie hilfreich waren, um Sicherheit mit dem Rad zu gewinnen und erste Schritte zu schaffen. Schließlich fuhr Romy ein Stück mit dem Rad, ohne die Füße auf dem Boden absetzen zu müssen. Ganz langsam nur, aber Nele war trotzdem stolz auf sie.

»Juhu!«, rief Romy fröhlich. »Ich kann Fahrrad fahren!«

Nele lächelte. Na ja, nicht ganz … »Ja, das machst du toll«, lobte sie trotzdem.

»Das war so krawamkra!« Romy war zu Nele zurückgerollt.

»So ging’s mir am Anfang auch«, sagte Nele. »Allerdings bin ich öfter hingefallen. Ich war aber auch noch etwas kleiner als du, als ich es gelernt habe.« Bei der Erinnerung spürte Nele ein wenig Traurigkeit in sich hochkommen. »Papa hat es mir beigebracht. Meine Mutter hat Radfahren leider gar nicht gemocht.«

Romy stieg vom Rad. »Denkst du oft an die Zeit mit deiner Mama zurück?«

»Ja, schon«, murmelte Nele. Sie fuhr mit den Fingern über ihr Armband. Es war ein Geschenk ihrer Mama gewesen, mit schwarzen Perlen und einem Fußballanhänger. Bei einem Streit mit Romy war es kaputtgegangen und Romy hatte es hinterher repariert. Mit einer Handvoll bunten Perlen und einem zusätzlichen Anhänger. Nämlich einer Krone. Die war wie ein Mutspender und Nele sprach weiter. »Manchmal hat sie mich echt ent‌täuscht und das merke ich erst jetzt. Auch dass eigentlich Papa derjenige war, der mir so vieles ohne sie beigebracht hat.«

»Hey«, sagte Romy sanft und berührte Neles Arm. »Ich verstehe dich sehr gut und du darfst auch traurig sein. Aber denk dran, dein Papa und du habt etwas ganz Besonderes und das kann dir niemand nehmen. Wie eine eigene Form von Magie.«

Nele dachte darüber nach und nickte dann. »Ja, das stimmt.«

»Ich bin auch manchmal ent‌täuscht und traurig wegen meinen Eltern«, meinte Romy. »Im Palast gab’s für alles Personal und ich habe sie die meiste Zeit nicht viel gesehen. Aber immerhin hatte ich meine Schwester und meinen Bruder.«

»Deine Familie hatte aber bestimmt auch schöne gemeinsame Momente, oder?«, fragte Nele sanft, um das Gespräch in eine positivere Richtung zu lenken.

Romy musste nicht lange überlegen. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Einmal im Jahr, am neunzehnten Mai, gibt es das Fest der Magielichter. Abends lassen die Bewohner von Marabel Laternen zum Himmel steigen, was wunderschön anzusehen ist. Es wird gefeiert, man schenkt sich gegenseitig etwas und spricht über Dinge, für die man dankbar ist.« Ihre Stimme klang so verträumt, dass Nele in ihren Bann gezogen wurde. »Und nicht nur das, an die Laternen werden Wünsche gebunden und man sagt, der Wunsch an der Laterne, die am höchsten steigt, wird sich erfüllen. Natürlich hoffen alle darauf, dass es die eigene Laterne ist.«

»Das klingt märchenhaft«, sagte Nele begeistert.

Romy lächelte. »Vor einigen Jahren saß meine Familie noch eine Weile zusammen, nachdem meine Mutter, Ariella, Costa und ich unsere Wünsche an unsere Laternen gebunden hatten und sie zum Himmel gestiegen waren. Als alles vorbei war und es ruhiger wurde, ist mir das erste Mal aufgefallen, dass mein Vater immer derjenige war, der unsere Laternen anzündete, aber sich nie selbst etwas wünschte, indem er eine zum Himmel schickte.«

»Wirklich? Wieso hat er sich nichts gewünscht?«, fragte Nele verwundert. Einen Wunsch in den Himmel schicken, der sich vielleicht erfüllt? Da kribbelte es sie vor Aufregung bis in die Zehenspitzen hinein.

Die Prinzessin hatte einen Glanz in den Augen, den kein Einkaufszentrum, Glitzer oder Spaghettiteller der Welt hineinzaubern konnte. »Das habe ich ihn dann gefragt. Er hat geantwortet, er müsse sich nichts wünschen, weil er alles, was er braucht, in diesem Zimmer bei sich hat. Nämlich uns. Seine Familie.« Plötzlich hatte sie Tränen in den Augen. »Inzwischen sind ihm und meiner Mutter andere Dinge wichtiger.«

»Oh, Romy.« Nele streckte den Arm nach ihr aus. »Das tut mir so leid.«

Romy wischte sich übers Gesicht. »Hab bloß was im Auge.«

Nele öffnete den Mund, um etwas Tröstendes zu sagen, aber Romy setzte sich auf ihr Fahrrad und sah fest geradeaus. »Wenn er mich jetzt sehen könnte, würde er toben. ›Oh, Romina! Eine Prinzessin fährt nicht auf ordinären Drahtgestellen durch die Gegend!‹, würde er sicher sagen.« Romy stellte den Fuß aufs rechte Pedal.

»Ähm, was hast du vor?«, fragte Nele. »Hey, Romy. Warte!«

Doch Romy war losgerollt – und wurde dabei viel zu schnell.

Hastig stieg Nele auf ihr eigenes Rad und fuhr ihr hinterher.

»Halt an!«, rief sie, als sie es schaffte, Romy einzuholen.

»Ich weiß nicht mehr wie!«, rief Romy zurück.

Ehe Nele ihr noch mal erklären konnte, wie man vernünf‌tig bremste, verlor Romy die Kontrolle und ihr Lenker begann zu schlackern. Sie kam vom Weg ab, bretterte ins Feld hinein und verschwand zwischen den hohen Gräsern. Nele hörte nur noch ein lautes Platschen und dann war es still. Sie brachte ihr Rad so abrupt zum Stehen, dass Steinchen zu beiden Seiten hochspritzten, und sprang ab.

»Romy? Alles okay?« Nele drückte einige der störrischen Halme weg und dann fand sie ihre Freundin.

Mitten in einem kleinen Tümpel saß Romy, die Haare und Kleider triefnass.

»Nimm meine Hand«, forderte Nele sie auf und trat an den Tümpelrand.

»Oh! Du! Zackige! Krone!«, kreischte Romy. »Da ist ein Frosch!«

Tatsächlich sprang ein besonders dickes Exemplar genau in diesem Moment in Romys Schoß. Panisch packte Romy ihre Hand, aber leider rutschte Neles Fuß auf dem feuchten Untergrund weg und sie fiel mit einem Bauchplatscher ebenfalls ins Wasser. Sonderlich tief war es zwar nicht, aber Neles Klamotten waren nun auch ziemlich matschig.

Nele schüttelte sich wie ein nasser Pudel und Romy kreischte wieder, weil ein paar Tümpelsuppenspritzer sie wohl getroffen hatten. Tja, selbst schuld!

Vom Frosch war keine Spur mehr zu sehen. »Du hättest den Frosch mal küssen sollen«, ärgerte Nele Romy zur Strafe für den unbedachten Abgang eben. »Vielleicht war das ja ein verzauberter Prinz. Funktioniert zumindest im Märchen so.«

Romy schmollte jedoch nur. »Fahrradfahren ist viel gefährlicher als gedacht.«

M.A.G.I.K. (2). Das Chaos trägt Krone

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