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Kapitel 4

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»Psst. Kennst du die Lösung von Aufgabe vier?« Nele stupste Luis mit dem Ellbogen an, aber er reagierte nicht. Sie sah von ihrem Arbeitsblatt auf und lugte nach rechts. Was las Luis denn da heimlich unterm Tisch?

»Luis«, flüsterte Nele. »Erde an Luis. Halloooo?«

Dass er manchmal verträumt in eine andere Welt abtauchte, war Nele nicht neu, aber bei Frau Greiß, die sehr streng war, passten alle immer im Unterricht auf.

Ein Schatten legte sich über Neles Blatt und sie blickte auf.

War ja klar, die Lehrerin hatte bestimmt gewittert, dass hier was nicht stimmte.

»Hm«, machte Frau Greiß mit prüfendem Blick auf Neles Blatt, auf dem einige der Aufgaben bereits erledigt waren. Dann tippte sie auf Luis’ Blatt. »Du hast ja nicht mal angefangen.«

Luis schrak auf, etwas fiel ihm aus der Hand und landete direkt vor Frau Greiß’ Füßen. Es war eine Zeitschrift. Die Lehrerin hob sie auf und betrachtete kopfschüttelnd das Cover. »Mein Unterricht ist für die wunderbare Mathematik da und nicht, um irgendwelchen Hobbys zu frönen, Luis. Findest du das deinen Mitschülern und Mitschülerinnen gegenüber fair?«

Einige sahen neugierig zu ihnen. Auch Romy und Kat drehten sich mit fragenden Gesichtern um.

»Kann ich die bitte wiederhaben?«, fragte Luis kleinlaut.

Frau Greiß hob eine Augenbraue. »Du kannst sie dir später abholen – und zwar nachdem du beim Nachsitzen gewesen bist. Jetzt arbeite, Luis.«

Nachsitzen? Neles Herz machte einen Sprung. O nein!

Hilf‌los blickte sie zu Luis. Dem war bei der Strafe echt die Spucke weggeblieben. Betreten nahm er seinen Stift und senkte den Blick auf sein Arbeitsblatt.

Den Rest der Stunde arbeiteten Nele und er mucksmäuschenstill weiter.

»Frau Greiß ist die strengste Lehrerin der Welt«, sagte Nele in der großen Pause. »Voll unfair mit dem Nachsitzen.«

Luis biss in sein Brot. »Ja, richtig blöd. Ich bin’s auch noch selbst schuld.«

»Was war denn so spannend, dass du es im Unterricht lesen musstest?«, fragte Nele neugierig.

Er machte ein verschwörerisches Gesicht. »Natürlich die neue Teenzone, weil ich unbedingt wissen muss, welche Frisur gerade voll trendy ist! Was sonst?«

»Haha«, meinte Nele. »Sag doch gleich die Anleitung für den Lego-Todesstern.«

»Nele!«, sagte Luis empört. »Das ist jetzt aber eine Beleidigung. Den baue ich kopfüber über einer Grube Schlangen baumelnd mit verbundenen Augen auf.«

»Gib’s zu, es waren Fotos von Babykätzchen«, sagte Nele.

»Die Zeitschrift ist ja nun leider weg«, erwiderte er und klang dabei ziemlich grummelig. »Dabei hab ich sie mir erst heute Morgen am Kiosk geholt.«

Nele wollte gerade fragen, was denn nun wirklich mit der Zeitschrift war, dass Luis die so unbedingt in Mathe hatte lesen wollen, aber dann brüllte Elias seinen Namen quer über den Hof und rief, es gäbe einen furchtbaren Comicnotfall.

Luis stand auf und sah Nele entschuldigend an. »Ich geh besser mal rüber.«

»Klar, es ist ja ein Comicnotfall«, sagte Nele. »Was auch immer das heißt.«

»Dass Elias sich mit den anderen über irgendein Kapitel streitet und Rückendeckung will«, meinte Luis. »Er ist ein bisschen dramatisch.«

Nele grinste. »Da kenne ich noch jemanden, der so ist. Ich drück fest die Daumen, dass Elena und Fernando wegen des Nachsitzens nicht zu böse sind.«

»Das hoffe ich auch«, sagte Luis und grinste zurück. »Danke.«

Den Rest der Pause zockte Nele ein neues Spiel auf dem Handy und nach dem Klingeln vergingen auch die anderen Unterrichtstunden wie im Flug. Fast schon kam es ihr vor, als hätte jemand bei dem Tag auf Vorspulen gedrückt, denn ehe Nele sichs versah, verließ sie am Nachmittag schon wieder das Haus, um zum Fußball zu radeln.

An der Umkleide beim Sportplatz traf sie auf Lilly und Natalie.

»Hey«, begrüßte Lilly sie. »Weißt du, wo Kat steckt? Die ist doch sonst immer die Erste.«

»Die hat einen Zahnarzt‌termin«, antwortete Nele.

»Tja, die Kapitänin hat eben alles auf dem Schirm«, sagte Natalie fröhlich.

Bei der Erwähnung des Wortes »Kapitänin« wurde Nele ganz warm ums Herz. So lange hatte sie sich gewünscht, die Kapitänsbinde zu tragen, und dass man sie wirklich zur Kapitänin gewählt hatte, bedeutete ihr einfach alles. Beim Umziehen überkam Nele vor lauter Vorfreude aufs Training ein Kribbeln. Sie konnte es kaum erwarten, aufs Feld zu kommen.

»Wenn ich’s doch sage. Eine Prinzessin!«, kam es von Chloe.

Auf einen Schlag hatte sie Neles ganze Aufmerksamkeit. Wie, wo, was Prinzessin?

»Ähm … wovon sprichst du?«, fragte Nele mit wummerndem Herzen.

»Vom Schulstück«, antwortete Chloe verschwörerisch. »Meine Schwester Kim hat gehört, wie Herr Becker sich auf dem Flur mit Herrn Weber unterhalten hat. Anscheinend sucht Herr Becker eine Prinzessin beim Casting!«

Nele atmete erleichtert auf. Romy hatte also nicht irgendwas angestellt und ihre wahre Identität preisgegeben …

»Das Kostüm für die Rolle ist bestimmt traumhaft schön«, sagte Antonia.

»Um was es wohl geht?«, fragte Lilly. »Ist ja schon mysteriös, dass Herr Becker sich da so bedeckt hält und erst nach der Anmeldung zum Casting Infos kommen.«

»Vielleicht eine Liebesgeschichte mit Prinzen«, entfuhr es Natalie begeistert.

»Ich glaub, ich melde mich auch fürs Casting an«, kam es von Andie.

»Das ist aber nächsten Mittwoch und überschneidet sich mit Fußball«, meinte Lilly.

Wenigstens eine schien nicht dem Castingwahn verfallen zu sein, dachte Nele.

»Lilly hat recht«, sagte Nele rasch. »Wir können das Training nicht wegen dem Casting ausfallen lassen. Das nächste Freundschaftsspiel gegen Nimbach ist bald und wir hatten uns ja auch für das Sommerturnier angemeldet.«

Chloe schmunzelte. »Das ist doch erst in den Ferien.«

»Und wenn’s erst in einigen Monaten wäre, wenn wir daran teilnehmen möchten, sollten wir auch gemeinsam trainieren«, erwiderte Nele wie aus der Pistole geschossen. »Das geht nur, wenn wir Fußball im Kopf haben und keine Prinzen und Kleider.«

Nele merkte selbst, wie energisch sie geklungen hatte, und ahnte, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sofort kippte die lustige Stimmung in der Umkleide.

Doch ehe sie noch etwas sagen konnte, klopfte Frau Petrowa an und die anderen riefen fast schon im Chor »Herein«. Die Trainerin kam in die Umkleide. Heute trug sie wieder eine besonders scheußliche Strickjacke mit giftgrünen Punkten.

»Euch hört man ja bis aufs Feld schnattern«, zog Frau Petrowa sie alle auf. »Hab ich da gerade etwas von Prinzen und Kleidern gehört?«

Niemand sagte etwas. Etwa weil Nele wegen dem Castingthema so gemeckert hatte? Sie bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen. Nele hatte den anderen ganz sicher nicht den Spaß verderben wollen.

»Wir haben über das Schulstück gesprochen«, sagte sie.

Frau Petrowa zwinkerte ihr zu. »Habe ich mir schon gedacht. Auf meinem Feld habe ich nämlich weder einen Prinzen gesehen noch jemanden in einem Kleid.«

»Wäre aber auch eine tolle Geschichte«, meinte Andie. »Die Fußballprinzessin und das Zauberkleid, mit dem sie tausend Tore schießt.«

»Hey, das schaffen wir auch ohne Zauberkleid«, meinte Lilly.

Alle lachten über ihre Empörung.

»Ich verrate euch mal ein Geheimnis«, verkündete Frau Petrowa. »Als ich hier zur Schule ging, war ich sogar selbst bei der Theater-AG dabei. Ich verstehe eure Aufregung also. Theater und Fußball haben sogar etwas gemeinsam.«

Nele war überrascht, dass niemand genervt aufstöhnte. Die Trainerin war nämlich bekannt für ihre Ansprachen, in denen sie oftmals Sachen sagte, die keiner so recht verstand. So was wie, dass Kunst die Eleganz beim Spielen verbesserte.

»Und was ist die Gemeinsamkeit?«, fragte Chloe gespannt.

»Sie ziehen ihre Zuschauer in den Bann«, erklärte Frau Petrowa. »Sowohl Fußball als auch Theater haben eine gewisse Magie, die Menschen für sich einzunehmen.«

Für einen Augenblick schwiegen alle andächtig bei diesen Worten.

Frau Petrowa klatschte in die Hände. »Nun wird es aber Zeit fürs Training.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und zog die Tür hinter sich zu.

»Vielleicht lässt Frau Petrowa uns ja zum Casting gehen. Wenn sie selbst Theater gespielt hat, dann versteht sie das bestimmt, oder?«, rief Andie stürmisch.

»Hoffentlich!«, sagte Chloe. »Ich würde echt gerne zuschauen.«

»Ob die auch wen für die Arbeiten hinter den Kulissen suchen?«, murmelte Antonia.

Nele lächelte verhalten, weil sie nicht wieder etwas Falsches sagen wollte. Aber zum Glück war ja jetzt erst mal Fußball angesagt – und Fußball hielt schließlich alles zusammen. Prinzen und Kleider hin oder her.

M.A.G.I.K. (2). Das Chaos trägt Krone

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