Читать книгу Im Reich des Zuckerrohrs - Tereza Vanek - Страница 10

5. Kapitel 1830, atlantischer Ozean

Оглавление

Emily hatte die erste Woche stöhnend auf ihrer Pritsche verbracht, stets mit einem Eimer an ihrer Seite, in den sie sich erbrechen konnte. Die winzige Kabine musste sie mit drei anderen Frauen und fünf Kindern teilen. Die meisten von ihnen waren zu ihren Ehemännern unterwegs, die irgendeine Arbeit in Jamaika hatten. Genaueres wusste Emily nicht, denn ihr Gesundheitszustand hatte ihr kaum ermöglicht, Gespräche zu führen. Sie war hier nicht die Einzige, die litt. Ständig hörte sie Husten und Würgen, auch in den kurzen Momenten, da sie sich wohl genug fühlte, um auf ein paar Stunden erlösenden Schlafs zu hoffen. Allein eine dunkelhäutige, stämmige Frau, der ein Großteil der Kinderschar gehörte, schien gegen Seekrankheit immun. Es mochte daran liegen, dass sie nicht zum ersten Mal auf einem Schiff unterwegs war. Sie versorgte die Kranken mit Wasser, leerte die verschmutzten Eimer und verteilte Ingwerwurzeln, die gegen Übelkeit halfen. Emily folgte soweit möglich ihren Ratschlägen, versuchte ruhig dazuliegen, wenn das Schiff mit ihr schaukelte, und regelmäßig zu atmen.

Als sie nun die Augen aufschlug, stellte sie staunend fest, dass ihr Magen sich nicht mehr wand und auch ihr Kopf schmerzfrei war. Früher hätte sie diesen Zustand als selbstverständlich angesehen, doch nun, da es tagelang anders gewesen war, empfand sie tiefe Dankbarkeit dafür. Sie hörte die Frau auf der benachbarten Pritsche laut schnarchen. Jemand stöhnte im Schlaf. Gleich darauf wurde es totenstill, nur das Holz des Schiffes ächzte leise. Emily streckte jedes ihrer Glieder, atmete gierig die faulig riechende Luft ein, als stünde sie in einem duftenden Rosengarten. Morgen würde sie endlich aufstehen können, sich waschen, ein sauberes Kleid anziehen und aufs Schiffsdeck gehen.

Plötzlich überkam sie der Wunsch, sich wenigstens kurz ihre Beine zu vertreten und einen Blick auf das nächtliche Meer zu werfen. Sie hatte dem sich langsam entfernenden Hafen hinterhergestarrt, als das Schiff losgesegelt war, doch seit sie sich auf offener See befanden, war sie kaum in der Lage gewesen, gerade zu stehen. Nun konnte sie sich endlich aufrichten, ohne dass ihr schwindelig wurde. Entschlossen griff sie nach der schmutzigen Decke und schlang sie um ihre Schultern. Sie würde draußen an Deck nur ein paar Atemzüge tun und dann weiterschlafen. Vielleicht konnte sie auch irgendwo einen Becher Wasser auftreiben, denn sie war durstig, wollte aber niemanden wecken.

Eine schmale Treppe führte ins Freie. Oben war eine Klappe, die Emily aufschieben musste, dann sah sie zahlreiche Sterne an einem rabenschwarzen Himmel leuchten. Darunter blähten Segel, das Schiff schaukelte sanft, und ein leichter Wind wehte. Plötzlich schien die Seereise traumhaft schön. Emily beugte sich über die Reling, um das Wasser zu sehen. Es war ebenso schwarz wie der Himmel, und ein eigentümlicher Geruch ging von ihm aus. Sie hörte keine Geräusche außer dem Platschen der Wellen gegen den Bug des Schiffes. Kurz schloss sie die Augen, um den Geruch frischer Luft besser genießen zu können. Wie wenig es manchmal brauchte, um Glück zu verspüren! Die Stille tat wohl. Endlich war sie kein stinkendes, würgendes Häufchen Elend mehr, umgeben von ähnlich unappetitlichen Gestalten.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden hatte, als sie plötzlich Stimmen hinter sich vernahm. Erschrocken fuhr sie zusammen, denn sie hatte keine anderen Menschen in unmittelbarer Nähe vermutet. Die See war ruhig, daher hatte die Mannschaft sich offenbar niedergelegt. Vorne gab es irgendwo einen Steuermann, aber er befand sich außerhalb ihrer Sichtweite.

„Los, beeilt euch! Jetzt sieht keiner zu“, murmelte jemand ein Stück weit entfernt. Emily duckte sich instinktiv, denn sie hielt es für klüger, unbekannten Männern nicht aufzufallen. An Deck lagen Kisten und Takelage herum, die Schutz vor unerwünschten Blicken boten.

Das Beste wäre jetzt, unauffällig wieder in ihre Kabine zu schleichen. Sie hatte ein ungutes Gefühl. Es waren nur ein paar Schritte zurück zu der Klappe, die sie auch kriechend würde zurücklegen können. Die Wolken gaben den Mond frei, und sie konnte erkennen, dass die Männer nur ein Stück von ihr entfernt waren. Drei Gestalten standen da, hielten eine vierte reglose umklammert. Emily duckte sich noch tiefer.

„Aber man wird ihn suchen“, flüsterte ein jüngerer Mann nun. „Was ist, wenn wir verdächtigt werden?“

„Er wäre nicht der erste Trottel, der betrunken über Bord fiel“, entgegnete der Ältere. „Das ist vielleicht unsere einzige Chance. Es sieht gerade keiner zu. Selbst der Steuermann ist eingenickt.“

Emily wurde kalt, als sie zu ahnen begann, worum es hier ging. Wie ein verängstigtes Eichhörnchen spähte sie in die Höhe. Saßen nicht irgendwelche Schiffsjungen immer oben bei den Segeln? Sie konnte niemanden entdecken. Wahrscheinlich sollten einige Mitglieder der Mannschaft jetzt wach sein, waren es aber nicht, sonst hätten sie die Männer ebenfalls bemerkt. Sie hielt die Luft an. Wäre es nicht klüger, einfach sitzen zu bleiben und sich nicht einzumischen? Schließlich konnten diese Männer sie ebenfalls über Bord werfen, sobald sie zu stören begann.

Ihr Verstand kalkulierte kurz und teilte ihr mit, dass es genug Leute in unmittelbarer Nähe geben musste, die es nur aufzuwecken galt. Langsam atmete sie durch, schoss dann in die Höhe. Drei Männer waren gerade im Begriff, einen vierten über die Reling zu hieven.

Sie fing an, gellend zu schreien.

Die Übeltäter ließen ihre Last fallen. Glücklicherweise landete sie auf Deck. Plötzlich erwachte das schlafende Schiff, Matrosen kamen herbeigerannt, und die verhinderten Mörder begannen alle durcheinanderzureden.

„Er ist völlig betrunken. Wir wollten ihn an die frische Luft bringen!“, erklärte der Ältere.

„Da soll einer verstehen, warum dieses hysterische Weib krakeelt“, fügte ein anderer schnell hinzu. Emily erschrak und fühlte sich einen Moment lang schuldig.

„Ihr wolltet ihn über Bord werfen!“, rief sie dann. Dennoch brach ihr vor Angst der Schweiß aus. Wahrscheinlich hatte sie sich gerade selbst in Schwierigkeiten gebracht.

„Ich hole mal den Käpt’n“, beschloss schließlich ein Schiffsjunge und hastete los. Indessen wurde dem reglos am Boden liegenden Mann Wasser ins Gesicht geschüttet. Er spuckte, hustete und erbrach sich schließlich so wie Emily unzählige Male zuvor. Nur war kein Eimer neben ihm, sodass er den Boden des Decks beschmutzte.

Gleich darauf erschien der Kapitän. Er befragte Emily, was sie gesehen hatte, und ließ die drei Männer anschließend in Gewahrsam nehmen. Während sie abgeführt wurden, rief der Älteste Emily noch zu, dass sie eine verlogene Drecksschlampe sei. Ihr schossen Tränen in die Augen.

„Sie haben alles richtig gemacht, Miss“, erklärte der Kapitän gleich darauf. „Zunächst einmal müssen wir Mister Hindley wieder auf die Beine bringen. Er wird sich sicher bei Ihnen bedanken.“

Emily bemerkte, wie viel Aufmerksamkeit dem jungen Mann geschenkt wurde, der knapp vor einem Sturz ins Meer gerettet worden war. Man wischte sorgfältig sein Gesicht ab, legte ihm eine Decke um die Schultern und gab ihm Wasser zu trinken. Ihretwegen hätte man keinen solchen Aufwand betrieben, ging es ihr durch den Kopf. Aber immerhin erhielt sie auch einen Becher Wasser von einem Schiffsjungen, bevor sie in ihre Kajüte zurückkehrte.

Mister Hindley, überlegte sie, als sie wieder auf der nackten Pritsche lag und sich um Schlaf bemühte. Irgendwie kam ihr der Name bekannt vor. Kurz bevor sie endlich einschlummerte, fiel es ihr wieder ein. Dieses Schiff gehörte einem Mann namens Hindley, der durch den Handel mit Zuckerrohr reich geworden war. Das hatte Jamie Morton ihr vor der Abreise erzählt. War es wirklich der Schiffsbesitzer gewesen, der sich so hoffnungslos betrunken hatte, dass man ihn einfach hätte über Bord werfen können, ohne dass er es mitbekam?

Früher hätte Emily das für unmöglich gehalten, doch inzwischen hatte ihr Weltbild keine so klaren Strukturen mehr. Sie konnte sich aber erinnern, dass der bewusstlose Mann auf dem Boden sehr jung ausgesehen hatte, kaum älter als sie selbst. Konnte man in diesem Alter schon so reich sein?

Sie wusste es nicht, und eigentlich war es nicht wichtig. Der Schreck hatte sie glücklicherweise so erschöpft, dass sie zum ersten Mal seit ihrer Abreise tief und fest schlafen konnte.

Am nächsten Morgen hielt Deborah, die dunkelhäutige, seetüchtige Mitreisende, ihr eine Schüssel mit Rührei und ein paar Scheiben Brot hin, sobald Emily aufgewacht war.

„Sie haben gestern Nacht ganz schön für Aufsehen gesorgt, Miss“, meinte sie anerkennend. Ihr Englisch war fehlerfrei, klang aber melodischer als die Sprache der Londoner.

Emily fühlte sich endlich wieder wach und stark genug, um dem Leben die Stirn zu bieten. Dennoch war sie kurz verwirrt, dann erst fielen ihr die vergangenen Ereignisse wieder ein.

„Ich habe gesehen, wie jemand über Bord geworfen werden sollte“, sagte sie. Das allein schien ihr keine besondere Leistung.

„Nicht irgendjemand“, erwiderte Deborah lachend. „Es war Christopher Hindley, der Sohn von Augustus Hindley, dem eine riesige Plantage auf Jamaika gehört. Und natürlich auch dieses Schiff.“

Es war also nicht der Besitzer des Schiffes gewesen, dachte Emily. Sondern sein Sohn. Aber machte das einen großen Unterschied?

Die Kinder fingen an, sich neugierig um sie zu scharen.

„Sollte er wirklich umgebracht werden?“, fragte der älteste Junge mit großen Augen. „Hatten die ein Messer?“

„Man braucht kein Messer, um einen sturzbetrunkenen Kerl ins Wasser zu werfen“, erwiderte Deborah, noch bevor Emily etwas hatte sagen können. „Der junge Master Hindley trinkt sich noch irgendwann um den Verstand.“

Oder um sein Leben, erwog Emily im Stillen. Dann richtete sie sich auf und kramte in ihrer Tasche nach einem sauberen Kleid. Den heutigen Tag wollte sie nicht auf ihrer Pritsche zubringen, sondern sich die Beine vertreten und endlich etwas von der Reise mitbekommen. Nachdem sie drei Runden auf Deck gedreht hatte, kam einer der Schiffsjungen auf sie zu.

„Ich habe eine Nachricht von Mister Hindley. Er möchte Sie heute Abend zum Essen einladen, Miss.“

Er grinste und zeigte dabei ein paar schwarze Zähne.

„Mrs“, korrigierte Emily wieder einmal. Sie wollte keinen falschen Eindruck erwecken.

„Egal. Er will mit Ihnen essen. Heute um sieben in seiner Kajüte.“

Der Junge überreichte ihr ein Stück Papier, auf dem die Einladung in schwungvollen Buchstaben aufgeschrieben war. Dann verschwand er wieder irgendwo in dem Dickicht von Segeln und Takelage. Emily zuckte mit den Schultern. Wenn der Sohn des Schiffsbesitzers sie einlud, dann war es wohl so etwas wie ein Befehl. Ablehnen konnte sie nicht, und sie hoffte, dass schon wegen der Enge auf dem Schiff ein Verhalten wie das von Dr. Jitter nicht möglich wäre. Davon abgesehen konnte ein Mann wie Christopher Hindley sicher genug andere Frauen zu seinem Vergnügen haben.

Ihre Mitreisenden beobachteten sie neugierig, als sie sich für das Abendessen mit dem Sohn des Schiffsbesitzers fertig machte. Eine blasse junge Mutter bot sich großzügig an, ihr eine silberne Kette mit Kreuzanhänger zu leihen, was Emily in ihrem schlichten Kleid etwas weniger ärmlich aussehen ließ. Manche Blicke schienen ihr aber auch giftig, und sie konnte Getuschel hören, als sie die Kabine verließ. Ihr war unwohl, aber sie beschloss, dass sie dieses eine Essen schon irgendwie hinter sich bringen würde. Es war immerhin nett von Christopher Hindley, sich bei ihr für die Rettung seines Lebens bedanken zu wollen.

Um in seine Kabine zu gelangen, musste sie eine andere Treppe nehmen, die etwas stabiler wirkte. Der Schiffsjunge, der sie begleitete, verabschiedete sich, nachdem er an die Tür geklopft hatte. Emily überlegte kurz, ob ihre ganze Lage noch den Regeln des Anstands entsprach. Aber die Zeit, da sie auf solche Dinge hatte Rücksicht nehmen können, war seit dem Tod ihrer Mutter vorbei.

Ein dunkelhäutiger Junge öffnete die Tür. Er mochte etwa zwölf Jahre alt sein und trug ein Hemd aus feinem Batist zu einer dunklen Kniebundhose. Emily fiel die Geschichte von Jamie Morton ein, der als Sklave im Luxus gelebt hatte. Sie lächelte den Jungen freundlich an, doch er senkte den Blick.

„Da kommt ja meine Retterin!“, verkündete eine klangvolle Männerstimme. Emily spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Sie atmete tief durch und knickste, um den Sohn des Schiffsbesitzers zu begrüßen.

Es war unerwartet hell in der Kabine, was an den zahlreichen Kerzen liegen musste. Die Luft roch nach Sauberkeit. In den letzten Stunden konnte sich hier niemand erbrochen haben, oder aber der Diener hatte sorgfältig geputzt. Ein kleiner Tisch stand in der Mitte des Raumes. Er war mit einer weißen Tischdecke verziert und für zwei Leute gedeckt. Ein Bett war nicht zu sehen, was Emily erleichterte, obwohl sie sich fragte, wo der junge Mann denn schlief. Es musste noch einen zweiten, angrenzenden Raum geben.

„Bitte nehmen Sie Platz“, redete die Männerstimme weiter. „Ich habe den Schiffskoch beauftragt, sich Ihretwegen Mühe zu geben.“

Emily wagte es endlich, den Sprecher anzusehen. Mit den braunen Locken und strahlend blauen Augen wirkte er anziehend, was ihr in der vergangenen Nacht nicht aufgefallen war. Von der exzessiven Trinkerei hatte er sich erstaunlich gut erholt, denn er schien ebenso frisch und sauber wie seine Kabine.

„Sie sind sehr großzügig, Mister Hindley“, sagte Emily brav. Der Geruch von gebratenem Fisch stieg ihr in die Nase. Obwohl sie in den letzten Tagen kaum hatte essen können, verspürte sie keinen Hunger. Die ganze Situation war ihr einfach nur unangenehm. Dennoch nahm sie Platz, denn eine andere Möglichkeit gab es nicht.

Sie wusste nicht, was für ein Fisch auf ihrem Teller lag, und wagte auch nicht zu fragen. Es gab gebratene Kartoffeln dazu. In einem Korb befanden sich außerdem Brotscheiben. Der dunkelhäutige Junge füllte kristallene Gläser mit Rotwein. Emily hatte den Eindruck, dass er sie dabei so unauffällig wie möglich zu mustern versuchte.

„Joey wird die ganze Zeit hier sein, ich meine, falls Sie Angst um Ihren Ruf haben, Miss …“

„Lawson“, half Emily ihm aus. Ob er wohl öfter Frauen zum Essen einlud, deren Namen er nicht einmal kannte? Und falls er zudringlich werden sollte, würde ein halbwüchsiger Junge, zudem ein Sklave, ihn daran hindern können?

„Ich habe keine Angst“, erwiderte sie trotzig.

„Das freut mich. Es besteht nämlich keinerlei Grund dazu.“

Christopher Hindley hob sein Weinglas, um mit ihr anzustoßen. Sie gehorchte. Wie lange würde sie hier sitzen bleiben müssen, um nicht unhöflich zu sein? Reichte es, wenn sie den Fisch schnell hinunterwürgte?

„Es ist ja auch ein Zeichen von Mut, wenn eine junge Frau allein in die Fremde reist“, redete der Sohn des Schiffsbesitzers unbeirrt weiter. Emily wurde klar, dass sie jetzt etwas antworten musste.

„Ich hatte keine Wahl“, erwiderte sie knapp.

„Das ist bedauerlich. Aber ich hoffe, Jamaika wird Ihnen gefallen. Einflussreiche Männer wie mein Vater tun ihr Möglichstes, ein sicheres, zivilisiertes Land daraus zu machen.“

Emily nickte. Hoffentlich war der Vater etwas disziplinierter als sein Sohn.

„Was haben Sie denn gemacht, bevor Sie dieses Schiff betraten?“, fragte Christopher Hindley und führte ein Stück Fisch zum Mund. Emily nippte an dem Rotwein. Ein herber, aber durchaus angenehmer Geschmack machte sich auf ihrer Zunge breit, und sie hatte zum ersten Mal den Eindruck, dass diese Einladung auch gute Seiten haben könnte.

„Ich habe meiner Mutter geholfen“, erzählte Emily. Dann beschrieb sie kurz das Leben ihrer Eltern in London, die Illustrationen ihres Vaters und auch die Näharbeiten ihrer Mutter. Der junge Mann lauschte aufmerksamer, als sie erwartet hatte.

„Mir scheint, Ihre Eltern haben sich gut um Sie gekümmert“, meinte er schließlich. „Nicht jeder Mensch hat so ein Glück.“

Damit mochte er recht haben. Emily wagte nun, sich nach seinem Vater zu erkundigen.

„Es heißt, ihm gehört eine große Plantage“, fügte sie hinzu.

„Ja, ja, er hat eine ganze Menge Land. Mein alter Herr kauft emsig ein, wenn andere Leute sich ruiniert haben oder sich aus Angst davonmachen.“

„Wovor haben sie denn Angst?“, fragte Emily, nun mit echtem Interesse.

„Na ja.“ Christopher Hindley zuckte mit den Schultern. „Es ging auf der Insel immer wieder mal recht turbulent zu. Angriffe von Piraten sind ja jetzt vorbei. Dafür haben wir Sklavenaufstände. Die Schwarzen haben schon ganze Herrenhäuser niedergebrannt. Man sollte sie nicht unterschätzen, meint mein Vater immer.“

„Warum zünden sie die Häuser denn an?“

Emilys Eindruck von schwarzen Menschen war nun durch Jamie Morton und die energische Deborah unter Deck geprägt. Beide machten nicht den Eindruck, ständig etwas niederbrennen zu wollen.

Ihr Gastgeber verzog das Gesicht.

„Sie sind ja ganz schön neugierig!“, sagte er. „Mein Vater könnte Ihnen hierzu einen Vortrag halten. Nur ist er der Meinung, dass man das zarte Gemüt einer Dame nicht mit solch unschönen Tatsachen belasten sollte.“

„Mein Gemüt ist durchaus belastbar“, versicherte Emily. Kurz sah er überrascht aus.

„Diese ganze Sklavenhaltungsgeschichte ist ziemlich kompliziert“, begann er nach einer Weile des Nachdenkens. „Die Leute kamen als Wilde aus Afrika. So richtige Dschungelkrieger. Bei dem Versuch, sie zu zähmen und zu kontrollieren, gehen die Aufseher manchmal extrem hart vor. Dann kommt es zu Aufständen. Mein Vater sagt immer, dass Plantagenbesitzer deshalb vor Ort sein sollten, anstatt in ihren Herrenhäusern in England zu bleiben. Sie dürfen nicht die Kontrolle an unfähige Aufseher und Verwalter abgeben. Tja, und deshalb wurde auch ich jetzt wieder zurückbeordert.“

Mit einem schiefen Grinsen nahm er einen weiteren Schluck Wein.

„Das klingt nicht so, als würden Sie sich darüber freuen“, stellte Emily fest.

„Gut erkannt, junge Dame!“ Er lachte auf. „Mein Vater meint, dass ich ein Taugenichts bin, der ebenso gezähmt werden muss wie die Dschungelkrieger.“

„Dann hoffe ich mal, dass Sie ihm nicht sein Haus anzünden“, erwiderte Emily spontan. Bei Gesprächen mit ihrem Vater war sie manchmal so vorwitzig gewesen, und er hatte es unterhaltsam gefunden. Aber nun erschrak sie über ihre eigene Dreistigkeit, sobald die Worte ausgesprochen waren. Es mochte daran liegen, dass sie bereits ihr halbes Weinglas geleert hatte.

Christopher Hindley sah sie einen Moment lang verblüfft an, dann brach er in schallendes Gelächter aus.

„Wirklich, Miss … wie auch immer Sie heißen, Sie sind amüsant. Damit hatte ich nicht gerechnet.“

Emily musste zugeben, dass sie dieses Gespräch auch interessanter fand als erwartet. Sie zog es aber vor, das Thema zu wechseln.

„Was hatten eigentlich die Männer gestern Nacht gegen Sie? Haben Sie eine Ahnung?“

„Ach.“ Er verzog das Gesicht. „Also es war eine Frauengeschichte in London. Einer der Jungs nahm es mir übel, dass sein Mädchen lieber mich wollte als ihn. Soll vorkommen. Aber er war so nachtragend, dass er mir auf dieses Schiff folgen musste, um mir eine Lektion zu erteilen.“

Die Lektion wäre ausgesprochen gründlich gewesen, überlegte Emily. Der Schüler hätte sie nicht überlebt. Sie ahnte, dass vielleicht mehr dahintersteckte, als Christopher Hindley zugeben wollte.

„Getrunken haben Sie aber freiwillig mit ihm, oder?“, bohrte sie weiter nach.

„Sicher. Ich bin eben ein umgänglicher Mensch, der nicht zu Misstrauen neigt. Ich lud die Jungs sogar in meine Kabine ein, denn wir kannten einander ja.“

Er lächelte wie ein selbstverliebtes, verwöhntes Kind. Allerdings sah er dabei erstaunlich anziehend aus. Wahrscheinlich wurden ihm deshalb alle Fehltritte schnell verziehen, ein Umstand, an den er sich gewöhnt hatte.

„Ich hoffe, Sie sind in Zukunft vorsichtiger“, mahnte Emily.

„Ja, natürlich. Jetzt habe ich ja Sie eingeladen.“

Er grinste verschmitzt. Wider besseres Wissen musste Emily sein Lächeln erwidern. Sie fühlte sich nicht mehr unwohl, genoss den Wein, der ihr gerade wieder nachgeschenkt wurde, und begann auch, mehr von dem Fisch zu essen. Wenn man in so einer blitzsauberen Kabine lebte und leckere Mahlzeiten serviert bekam, war die Schiffsreise ein angenehmes Erlebnis.

„Würde es Ihnen gefallen, mir auch in Zukunft manchmal Gesellschaft zu leisten?“, fragte Christopher Hindley, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Er hatte gerade das Weinglas zum Mund geführt und sah sie unter hochgezogenen Brauen abwartend an. Emily schluckte. Sie ahnte, dass er mit sofortiger Zustimmung rechnete. Er war es gewöhnt, dass Menschen ihn mochten und gern zu ihm kamen. Frauen vor allem. Hatte er das nicht vorher angedeutet? Wieder begann Emily zu schwitzen, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Ihr Fuß schwebte über einer offenen Falltür so wie vorher bei Dr. Jitter. Nur empfand sie deshalb keinen Widerwillen. Im Gegenteil, ihr vom Wein benebeltes Gemüt drängte sie förmlich, erfreut hineinzutreten.

Sie riss sich zusammen.

„Verzeihen Sie bitte, aber ich glaube, es wäre nicht angebracht. Sie wollten sich großzügig zeigen. Das weiß ich zu schätzen und bin Ihnen dankbar. Dabei sollten wir es belassen.“

Kaum waren die Worte ausgesprochen, empfand sie Erleichterung, aber auch einen Hauch von Enttäuschung. Christopher Hindleys Gesicht versteinerte kurz, dann lächelte er. Es wirkte bemüht.

„Ich verstehe. Sie sind eine ehrbare Frau, die sich nicht mit einem Tunichtgut abgeben möchte. Kann ich sonst etwas tun, um Ihnen die Reise angenehmer zu gestalten?“

Emily wollte höflich ablehnen, aber er sah zu sehr wie ein enttäuschtes Kind aus. Sie überlegte kurz.

„Hätten Sie vielleicht einen Roman, den Sie mir leihen könnten? Die Tage auf dem Schiff können sehr öde sein.“

Zumindest wären sie es, wenn sie nicht mehr seekrank war und auch keine nächtlichen Verbrechen verhindern musste.

Er lächelte.

„Sie lesen. Ja, das dachte ich mir. Ich habe ein paar Bücher dabei. Sie können sich gern eines aussuchen.“

Er stand auf und holte selbst fünf Bücher aus einem Regal in der Kabine. Gullivers Reisen, Tom Jones und ein paar Texte, die Emily nicht kannte. Sie entschied sich für das Werk von Jonathan Swift, denn das hatte auch ihr Vater geliebt.

„Herzlichen Dank“, sagte sie und stand auf. „Nun entschuldigen Sie mich bitte. Ich möchte wieder in meine Kabine gehen.“

Wenn sie blieb und noch mehr von dem Wein trank, konnte diese ungewohnte Lage Folgen haben, die ihr Angst machten.

„Natürlich. Ich bedanke mich für Ihren Besuch, Miss Lawson“, sagte Christopher Hindley zum Abschied. Sie nickte ihm zu und trat hinaus.

Als sie wieder an Deck stand, fragte sie sich, warum sie ihn als Allererstes nicht sofort darauf hingewiesen hatte, dass sie eine verheiratete Frau war.

Im Reich des Zuckerrohrs

Подняться наверх