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2. Kapitel

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„Die Geschichte des Sklavenhandels also?“

Frau Dr. Grüneberg lächelte Mareike auf ihre übliche, nachsichtige Art an. Sie war die einzige Professorin am Lehrstuhl für neuere Geschichte, aber erfolgreicher als ihre männlichen Kollegen. Mareike bewunderte diese Frau mit ihrem grau melierten Haar und der edlen, makellos weißen Bluse. Stets kämpfte sie um ihre Anerkennung, und stets hatte sie das Gefühl, nicht ganz ernst genommen zu werden.

„Ich wollte speziell auf die weibliche Perspektive eingehen“, fügte Mareike sogleich hinzu. Ihre Lieblingsprofessorin befasste sich mit Genderstudies, also konnte das von ihr vorgeschlagene Thema für sie dadurch interessanter werden.

„Sie meinen das Schicksal der aus Afrika verschleppten Frauen?“ Frau Dr. Grüneberg rückte ihre silberne Brille auf der Nase zurecht. „Ein sehr düsteres Kapitel der europäischen Geschichte, würde ich sagen. Aber natürlich noch politisch aktuell.“

Die Professorin hatte aufgehört zu lächeln und nun nachdenklich die Stirn gerunzelt. Fast sah es aus, als könne sie sich für eine solche Thematik erwärmen. Mareikes Herz tat einen freudigen Sprung.

„Ich dachte, ich könnte besonders auf die Sklavereigegner eingehen, also jene Leute, die schließlich das Verbot des Handels durchsetzten. Darunter gab es auch einige Frauen, die damals sehr aktiv waren. Ich würde gern mehr über sie herausfinden, also darüber, was für Erfahrungen sie motiviert haben, sich für die Rechte von Menschen einzusetzen, die nach damaligem Empfinden … also dem durchschnittlichen Europäer müssen Afrikaner ja damals viel fremder gewesen sein, als sie es heute für uns sind.“

Sie hätte fast noch hinzugefügt, dass man aus diesem Grund auch viel leichter von der Behauptung hatte überzeugt sein können, dass Schwarze von Natur aus minderwertig seien. Dann wurde ihr bewusst, dass sie über gefährliches Terrain tappte. Bei einer solchen Thematik konnte einem auf die eine oder andere Weise schnell Rassismus unterstellt werden, selbst wenn man es nicht so meinte. Frau Dr. Grüneberg lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Ihr Schreibtisch war voll mit Papieren, die aber systematisch in Stapel geordnet waren. Alles an ihrer Erscheinung wies auf Ordnung und Selbstdisziplin hin, was bei ihrer Karriere sicher hilfreich gewesen war.

„Haben Sie da schon eine bestimmte Person im Auge?“, fragte die Professorin.

„Ich bin auf ein paar Frauen gestoßen, die Texte gegen den Sklavenhandel verfassten. Es wird wahrscheinlich nicht einfach sein, Informationen über sie zu bekommen, aber ich werde mir Mühe geben.“

„Nun, Sie scheinen sich ja schon ein wenig in Ihre Thematik eingearbeitet zu haben. Ich bin wirklich gespannt auf Ihre Abschlussarbeit. Sie sind eine meiner fleißigsten und vielversprechendsten Studentinnen.“

Mareike spürte, dass ihre Wangen rot anliefen. Allein durch diese Worte ging ein Traum für sie in Erfüllung.

„Danke. Vielen Dank. Das Thema ist also angenommen?“

Die Professorin nickte und blickte unauffällig zu ihrer Wanduhr. Mareike fühlte sich daran erinnert, dass draußen noch fünf weitere Studenten saßen, um die wöchentliche Sprechstunde von Frau Dr. Grüneberg zu nutzen. Folgsam stand sie auf, verabschiedete sich und trat nach draußen.

Es war vier Uhr nachmittags. Ihr Job als Kellnerin würde erst in zwei Stunden beginnen, aber in der Cafeteria wartete Tina auf sie, um die Neuigkeiten zu erfahren.

Das Sommersemester ging diese Woche zu Ende. Ein paar Leute saßen in Gruppen zusammen, um sich auf bevorstehende Prüfungen vorzubereiten, zwei asiatische Mädchen tippten eifrig in ihre Laptops, und auf der Wiese vor der Cafeteria hockten ein paar Jungs mit Rastalocken. Tina hatte sich an einen Tisch in der hintersten Ecke zurückgezogen, als wollte sie nicht auffallen, doch trotzdem stand Christian aus dem Hauptseminar über „Krankenpflege im Wilhelminischen Kaiserreich“ neben ihr. Er redete angeregt, fuhr dabei immer wieder mit der Hand durch sein glattes, pechschwarz gefärbtes Haar. Seine Füße steckten in modischen Sneakers, die Jeans war hochgekrempelt, und er trug ein Holzfällerhemd, um möglichst lässig auszusehen. Mareike fand ihn einen Moment lang anziehend, dann überwog ihre Abneigung gegen solch demonstrativ zur Schau gestellte Selbstverliebtheit. Aber der coole Christian war wegen Tina da, sie selbst wäre nur der Störenfried. Aufgrund ihrer Verabredung mit der Freundin blieb ihr jedoch nichts anderes übrig, als trotzdem hinzugehen.

Tina winkte ihr erfreut zu. Christian sah leicht genervt aus, verzog sich aber, nachdem er noch ein paar Worte mit Tina gewechselt hatte.

„Stell dir vor, er möchte mit mir in die Cocktailbar, die vor ein paar Wochen in Schwabing aufgemacht hat“, plapperte die Freundin aufgeregt, als ihr Schwarm außer Hörweite war. Mareike lächelte gezwungen. Sie war überzeugt, dass Christian sich alle zwei Wochen ein neues Mädchen suchte, wollte Tina ihre Freude aber nicht verderben.

„Sei bloß vorsichtig. Du weißt ja, wie es beim letzten Mal ausging.“

Erst vor zwei Wochen hatte Tina sie in Tränen aufgelöst angerufen, weil ein Mann sich nach dem ersten Sex wieder einmal nicht meldete und außerdem laut Facebook nun in einer Beziehung war – nur nicht mit Tina. Mareike kannte solche Situationen aus dem Leben ihrer Mutter zur Genüge. Nur war Karin, ihre alleinerziehende Mama, mit den Jahren härter im Nehmen geworden. Liebhaber, die sich nicht meldeten, wurden einfach durch neue ersetzt. An Interessenten mangelte es der Mutter auch mit Ende vierzig nicht.

„Christian ist nicht so. Ich finde ihn total süß“, schwärmte Tina mit leuchtenden Augen. Mareike wusste aus Erfahrung, dass Widerspruch nun sinnlos wäre.

„Na, erzähl schon. Wie war dein Treffen mit unserer allmächtigen Feminismusgöttin?“, drängte die Freundin. Mareike teilte glücklich eine Zusammenfassung des Gesprächs mit.

„Eine Stelle als ihre wissenschaftliche Assistentin hat sie dir aber noch nicht angeboten“, stellte Tina mit mäßiger Begeisterung fest.

„Ich muss mir eben Mühe geben mit meiner Abschlussarbeit. Wenn die richtig gut wird, klappt es vielleicht.“

Nun war es an Tina, ein skeptisches Gesicht zu machen.

„Na ja, dein Thema finde ich auf jeden Fall cool. So richtig exotisch. Wie bist du denn darauf gekommen?“

Mareike zögerte ein wenig mit ihrer Antwort. Sie zeigte sich nicht gern emotional.

„Ein Ex von meiner Mutter war der Auslöser, denke ich. Er hieß William und war Nigerianer. Er mochte Reggae und erzählte mir viel über afrikanische Kultur.“

Sie hatte William gemocht, weil er trotz seines unkonventionellen Musikgeschmacks ein sehr fleißiger, disziplinierter Mann gewesen war, der sogar versuchte, ein wenig Ordnung in das Leben seiner deutschen Freundin zu bringen. Die Beziehung war nach zwei Jahren gescheitert. Warum, wusste Mareike nicht. Sie war den steten Wechsel der Männer im Leben ihrer Mutter zu sehr gewöhnt, um das seltsam zu finden. Nur hatte sie William mehr vermisst als die anderen vor und nach ihm.

„Das klingt ja richtig spannend. Ich war als Teenager mal mit einem Türken liiert, und mein Vater ist fast ausgeflippt.“ Tina warf Mareike einen neidischen Blick zu. „So eine Mutter wie deine hätte ich auch gern gehabt.“

Mareike fragte sich, ob ihre Mutter nicht gern eine Tochter wie Tina gehabt hätte, mit der sie endlos über Männer und Affären plaudern konnte. Stattdessen war sie mit einer verklemmten Streberin geschlagen. Zwar hatte sie diesen Vorwurf nie offen ausgesprochen, aber bei ihren nicht gerade seltenen Streitereien hatte er immer wieder im Raum gestanden wie ein hässliches Möbelstück, das man vergeblich zu übersehen suchte.

„Ich habe mir manchmal ein so geregeltes Familienleben gewünscht, wie du es hattest“, teilte sie Tina mit, die mit den Schultern zuckte.

„Das sagst du nur, weil du nicht weißt, wie muffig es sein kann. Alles, was ich getan habe, war immer falsch und unanständig.“

Ähnlich hatte Karin der Tochter ihre Kindheit in einer bayrischen Kleinstadt beschrieben. Produzierten strenge Elternhäuser immer chaotische Rebellinnen, deren Töchter dann erst wieder von solider Beständigkeit träumten? Vielleicht wäre auch das historisch betrachtet ein Thema für eine wissenschaftliche Arbeit, aber sie hatte nun schon ein anderes gewählt.

„Jedenfalls klingt deine Mutter für mich wie eine Frau, die ein interessantes Leben geführt hat“, redete Tina weiter. „Die macht einfach, was sie will, ohne sich um die Meinung anderer zu scheren.“

Und ich musste mein Leben lang darunter leiden, fügte Mareike im Geiste hinzu, verzichtete aber auf einen Streit mit ihrer Freundin.

„Nach den Gesprächen mit William habe ich immer wieder nach Beweisen dafür gesucht, dass nicht alle Europäer böse Rassisten waren. Gerade bei den Frauen aus früheren Jahrhunderten denke ich mir, dass sie ja Unterdrückung aus eigener Erfahrung kannten, und deshalb …“

„Jetzt klingst du wie eine Aufnahme von einer Grüneberg-Vorlesung“, unterbrach Tina etwas gelangweilt. „Aber sag mal, wohin wurden die ganzen Sklaven denn damals gebracht? Doch nicht nach Europa, oder?“

Man merkte, dass Tina Geschichte nur im Nebenfach studierte.

„Nein, natürlich nicht nach Europa, obwohl es sie dort manchmal schon als Hausdiener gab“, erklärte Mareike. „Die meisten brachte man in die Kolonien. In die amerikanischen Südstaaten zum Beispiel oder nach Jamaika. Die Geschichte dieser Insel ist besonders spannend, weil es dort auch viele Sklavenaufstände gab. Einer von ihnen wurde auch von einer Frau angeführt, die …“

„Warst du schon mal dort?“, unterbrach Tina.

„Wo? In Jamaika? Natürlich nicht. Das ist viel zu weit weg. Eine solche Reise kann eine Studentin sich doch nicht leisten.“

„Wieso nicht? Also Christian erzählte mit gerade, dass er letzten Sommer mit ein paar Jungs in Thailand war, und das war richtig cool.“

Christian verfügte wahrscheinlich über begüterte Eltern. Mareikes Mutter Karin war bei ihren Arbeitsstellen ebenso unbeständig gewesen wie bei ihren Lebensgefährten. Derzeit arbeitete sie als Sekretärin in einer Baufirma, schon seit anderthalb Jahren. Mareike war darüber erleichtert, denn es klang wie ein solider Job, der ihrer Mutter ein annehmbares Einkommen garantierte. Dennoch konnte sie nicht auf besondere finanzielle Unterstützung von ihr hoffen.

„Ich könnte so eine Reise niemals bezahlen. Ich muss ja schon für meine monatliche Miete jobben“, erklärte sie. Tina neigte nachdenklich den Kopf zur Seite und spießte ein Stück Wurst auf ihre Plastikgabel.

„Ja, klar, deine Mutter, die ist nicht so das Karriereweib. Aber dein Vater, der hat doch Kohle?“

Mareike schluckte betreten. Einmal auf einer Party in Tinas WG hatte sie mehr Wein getrunken, als gut für sie war, und der Freundin von ihrem Vater erzählt. Karin und Helmut hatten sich bereits drei Jahre nach der Geburt der gemeinsamen Tochter getrennt. Laut ihrer Mutter begann der einstige Sozialrevolutionär, sich in einen hoffnungslosen Spießer zu verwandeln, sobald er eine gut bezahlte Stelle in einer großen Firma bekommen hatte. Helmut war seiner Unterhaltspflicht nachgekommen und hatte die Tochter auch regelmäßig zu sich eingeladen. Leider war seine neue Frau davon nicht begeistert gewesen, was immer wieder zu Spannungen geführt hatte. Als Teenager hatte Mareike angefangen, die Einladungen abzulehnen, in der heimlichen Hoffnung, der Vater würde darüber Bestürzung zeigen und nach den Gründen fragen. Aber er hatte ihre Entscheidung einfach hingenommen. Vielleicht sogar mit Erleichterung.

„Ich rede nicht oft mit meinem Vater“, sagte sie leise.

„Aber er ist nun mal dein Vater. Da hat er gewisse Pflichten. Ich finde, er könnte dir durchaus mal eine Reise finanzieren.“

Tina bestätigte ihre eigene Aussage durch ein energisches Nicken, wodurch ihre langen Glitzerohrringe ins Schwingen kamen.

„Ich weiß nicht … ich rufe nicht gern bei ihm an.“

„Dann tue es endlich mal!“ Tina ergriff ihre Hand, die auf dem Tisch lag. „Du bist einfach immer zu brav, Mareike. Man kommt im Leben nur voran, wenn man sich auch mal etwas traut. Ich finde, so eine Reise nach Jamaika würde dir guttun. Du bekommst so auch mehr Einblick in das Thema deiner Abschlussarbeit. Nicht nur dieses ganze trockene Bücherwissen, du entwickelst ein richtiges Gefühl für die Kultur der einstigen Sklaven.“

Mareike dachte an die Legenden über Granny Nanny, die große Rebellenführerin. Sie hatte einige Artikel über sie gelesen und manchmal durchaus den Wunsch verspürt, den Ort des Geschehens besuchen zu können. Aber wie viel hätte das heutige Jamaika noch mit der Kolonie aus dem 18. und 19. Jahrhundert gemein? Für Tina zählten vor allem weiße Sandstrände und Partys unterm Sternenhimmel, bei denen sie attraktive Jungs kennenlernen konnte. Aber Mareike würde auf der Insel recherchieren wollen. Die Vorstellung, das ein paar Wochen lang tun zu können, ohne durch andere Verpflichtungen abgelenkt zu sein, weckte eine fast fieberhafte Erregung in ihr. Hatte Tina am Ende recht und sie sollte einen Anruf bei ihrem Vater tätigen, um einmal etwas von ihm einzufordern? Diese Idee ließ sie noch nervöser werden als die Aussicht auf einen Besuch der Sprechstunde ihrer Lieblingsprofessorin.

Aber den hatte sie heute auch schon hinter sich gebracht.

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