Читать книгу Im Reich des Zuckerrohrs - Tereza Vanek - Страница 9

4. Kapitel

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Mareike schob den Koffer durch die Tür und wandte sich dann noch mal um, denn sie war sich nicht sicher, ob sie den Wasserkocher ausgesteckt hatte. Dann inspizierte sie zur Sicherheit ihren Rucksack, obwohl sie das wahrscheinlich schon fünfmal getan hatte. Die Kopie ihrer Flugbuchung, der Reisepass und auch ihr Geldbeutel, alles befand sich darin. Sonstige Dinge ließen sich sicher vor Ort erwerben, falls sie wirklich etwas vergessen haben sollte. Ihr Vater hatte ihr großzügiges Reisegeld mitgegeben, das ein Ausdruck seiner meist zu spärlich gezeigten Zuneigung sein konnte oder auch des schlechten Gewissens.

Sie hatte alles angenommen, Tinas Ratschlägen entsprechend. Manchmal musste man pragmatisch und egoistisch sein. Die letzten Wochen hatte sie sich auf die Reise gefreut, doch nun empfand sie vor allem Sorge, aus irgendeinem Grund den Flieger zu verpassen, gleichzeitig aber auch Angst davor, ihn zu besteigen.

Es würde ihr erster Fernflug sein. Sie reiste allein und war in ein Land unterwegs, das als nicht unbedingt sicher für Frauen galt. Die letzten Tage hatte sie fast ununterbrochen gegoogelt. Alles war angeblich nicht so schlimm, wenn man sich vernünftig verhielt, hieß es. Mareike hatte das tatsächlich beruhigend gefunden. Bis jetzt, da sie endgültig aufbrechen sollte. Einen Moment lang hielt sie die Luft an. Sie konnte einfach in ihrer kleinen Wohnung bleiben und ihrem Vater sagen, dass sie so dumm gewesen war, nicht rechtzeitig zum Flughafen zu fahren.

Wahrscheinlich wäre es ihm egal, aber im Moment scherte sie sich auch nicht um seine Meinung. Nach drei weiteren Atemzügen wurde ihr klar, dass sie tatsächlich nach Jamaika fliegen wollte. Sie hatte sich eine Liste von ehemaligen Plantagen zusammengestellt, die besichtigt werden konnten. Außerdem musste sie unbedingt die Blue Mountains sehen, wo entflohene Sklaven einst ihre eigene Gemeinschaft gegründet hatten. Für die Abende im Hotel hatte sie genügend Fachliteratur eingepackt, denn laut den Informationen im Internet war es ratsam, die Straßen nach Einbruch der Dunkelheit zu meiden. Sie ging ohnehin nicht gern aus, also wäre es kein Problem.

Ihr Handy piepste. Tina hatte eine Nachricht geschickt, dass sie bereits unten wartete. Damit war alles entschieden, denn Mareike konnte schlecht ihre Freundin versetzen, die sich großzügig angeboten hatte, sie zum Flughafen zu fahren. Sie rollte den Koffer zum Lift.

„Du weißt wahrscheinlich gar nicht, was für ein Glückspilz du bist“, meinte Tina, während sie ihr verbeultes Auto gelassen durch den Münchner Berufsverkehr lotste. „Wir haben hier seit zwei Wochen Dauerregen und du fliegst der Sonne entgegen.“

„Außer Sonne gibt es in Jamaika auch eine Menge Elend und Kriminalität“, fasste Mareike das Ergebnis ihrer Internetrecherche zusammen.

„Jetzt sieh nicht immer alles so negativ!“, mahnte Tina. „Du machst dort ja nur Urlaub. Im Hotel ist es sicher cool. Geh an den Strand, schlürf ein paar Cocktails, mach dir eine schöne Zeit. Vergiss bitte nicht, dass du deine Bücher auch zu Hause lesen kannst.“

„Ich fahre zu Recherchezwecken hin“, meinte Mareike lachend. „So habe ich es wenigstens meinem Vater erklärt.“

„Weißt du was? Du bist die Einzige, der ich so eine Aussage wirklich abnehme“, erwiderte Tina sogleich. Mareike war sich nicht sicher, ob sie das als Kompliment auffassen konnte, und ignorierte die Feststellung daher.

„Ich wünschte ja, ich könnte mitkommen“, sagte Tina, als sie die Autobahn erreicht hatten. „Stattdessen darf ich mich zwei Wochen lang bei meinen Eltern in Niederbayern langweilen.“

„Ich hätte dich auch gern dabei“, stellte Mareike leise fest. Mit der optimistischen, unternehmungslustigen Freundin an der Seite hätte sie weniger Angst vor der Fremde. Aber es sollte ja eine Recherchereise werden, ermahnte sie sich. Sie hatte ein zentral gelegenes Hotel in Kingston gebucht und würde von dort Ausflüge unternehmen.

„So, gleich sind wir da“, meinte Tina und nahm die Ausfahrt zum Flughafengelände. Mareikes Kehle wurde eng. Plötzlich empfand sie nichts weiter als Angst.

„Wir haben noch Zeit für einen Kaffee, bevor ich einchecke. Ich lade dich ein“, schlug sie Tina vor, als sie den Parkplatz erreicht hatten. Leider schüttelte die Freundin den Kopf.

„Ich muss gleich wieder heim. Heute Abend habe ich ein Date. Meine letzte Chance, den Kerl zu beeindrucken, bevor ich die obligatorischen vierzehn Tage Verbannung in meinem Geburtskaff antrete.“

Mit einem Seufzer stellte sie den Motor ab und half Mareike, den Koffer aus dem Auto zu hieven.

„Also vergiss nicht, dass du ein Glückspilz bist“, meinte sie zum Abschied. „Tue mir einen Gefallen und stecke deine Nase nicht nur in Bücher, wenn du Strand und Palmen vor der Tür hast. Melde dich regelmäßig, damit ich weiß, dass alles okay ist. Guten Flug!“

Sie umarmte Mareike, sprang dann wieder ins Auto und brauste davon.

Mareike kam sich für einen Moment verloren vor, dann wurde ihr wieder bewusst, dass sie ein Ziel hatte. Zunächst einmal den Check-in. Sie konnte immer noch umkehren, überlegte sie. Aber es war nicht ihre Art, im letzten Augenblick zu kneifen.

Der Flughafen kam ihr wie eine eigene kleine Stadt vor, mit Geschäften, Restaurants und Cafés. Vor allem musste man längere Strecken zurücklegen, um von einem Ort zum nächsten zu kommen. Aber wenigstens war alles gut beschildert. Mareike bewältigte den Check-in, trank allein einen Kaffee, bummelte ein bisschen herum und zwängte sich schließlich ins Flugzeug. Dort schien alles so beklemmend eng, dass sie kurz Panik verspürte. Wie sollte sie die nächsten vierzehn Stunden auf dem schmalen Sitz aushalten, ohne sich wenigstens richtig ausstrecken zu können?

Allein wäre sie in dieser Lage jedenfalls nicht, denn überall wurde hektisch geschubst und gedrängelt. Die Fächer für das Handgepäck waren bereits brechend voll, sodass Taschen unter die Sitze geschoben werden mussten. Gestresst aussehende Stewardessen versuchten, so etwas wie Ordnung in das allgemeine Chaos zu bringen, doch hatten sie Schwierigkeiten, sich durchzukämpfen. Mareike war dankbar für ihren Fensterplatz, der ihr ein wenig Abstand gönnte. Die zwei Sitze neben ihr waren leer. Sie verspürte Hoffnung, dass es so bleiben könnte und sie die Chance hätte, einigermaßen entspannt zu schlafen. Langsam kehrte Ruhe ein, die Fluggäste hatten sich brav nach Plan auf die Sitze verteilt, die Stewardessen schienen wieder Herrinnen der Lage und machten etwas glücklichere Gesichter. Eine Anzeige blinkte auf, damit alle ihre Sicherheitsgurte anlegten. Mareike folgte der Anweisung, erleichtert, dass sie ihren Rucksack auf den Nebensitz legen konnte. Glück gehabt, dachte sie. Gleich würde die Ansage kommen, dass der Start bevorstand. Entspannt lehnte sie sich zurück.

Eine Weile geschah nichts. Die Stewardessen unterhielten sich, und Mareike überlegte, ob es irgendein Problem gab. Vielleicht war der Flug abgesagt worden, sie würden den Flieger verlassen müssen und eine Entschädigung bekommen. Dann hätte sie einen Grund, daheim zu bleiben. Im Augenblick konnte sie nicht einmal sagen, ob sie darüber enttäuscht oder erleichtert wäre.

Auf einmal hasteten zwei junge Frauen in Skinny Jeans durch den Korridor, wedelten mit Papieren und wurden von einer unnatürlich lächelnden Flugbegleiterin zu den freien Plätzen an Mareikes Seite gelotst. Sie unterdrückte einen Seufzer, als sie ihren Rucksack wegnahm. Aus der Traum von einem gemütlichen Flug.

„Ich habe es dir gleich gesagt. Wenn wir so lange im Duty-free-Shop herumhängen, hat unseretwegen noch der Flieger Verspätung“, meinte eine von ihnen und schüttelte ihre grün gefärbten Dreadlocks. „Voll peinlich, wir wurden sogar aufgerufen.“

„Jetzt chill mal, ging doch alles glatt. Wir sind im Flieger. Und eingekauft haben wir auch“, erwiderte ihre Freundin mit etwas unauffälligerer Kurzhaarfrisur.

Sie schoben mehrere Tüten unter den Vordersitz. Mareike rückte zur Seite und presste sich so eng an die Wand, wie es nur möglich war. Ihr Leben lang hatte sie Privatsphäre gebraucht, doch die würde sie jetzt wohl für ganze vierzehn Stunden entbehren müssen. Zu ihrer Erleichterung packten die Mädels bald schon Smartphones aus, um sich die Zeit zu vertreiben. Sie selbst holte ihr Buch über jamaikanische Geschichte heraus, während das Flugzeug vom Boden abhob. Man konnte sich an diese Enge gewöhnen, wenn man sich auf eine geistige Beschäftigung konzentrierte.

Zunächst schien alles ohne größere Unannehmlichkeiten zu verlaufen. Die Stewardessen verteilten Drinks und Snacks. Auf einem kleinen Bildschirm konnte man sich Filme aussuchen. Mareike entschied sich für 12 Years a Slave, um sich auf das Thema ihrer Masterarbeit einzustimmen. Die dramatische Geschichte zog sie schnell in den Bann, sodass sie alles Getuschel und Gekicher der Mädels neben ihr weitgehend ignorieren konnte.

Schließlich bekamen sie alle ein warmes Essen serviert. Ein winziges Stück Fleisch, Beilagen und Nachtisch waren akkurat auf dem Plastiktablett verteilt. Aufgrund der Enge war eine gemütliche Mahlzeit kaum möglich, doch Mareike stellte zufrieden fest, dass es einigermaßen schmeckte. Was für Gerichte würde sie eigentlich auf Jamaika bekommen? In dieser Hinsicht hatte sie das Googeln versäumt.

Eine junge, stark geschminkte Flugbegleiterin bot zusätzliche Getränke an. Mareike bat um Cola, die zwei Mädels an ihrer Seite ließen sich Rotwein einschenken. Glücklicherweise entfernte die emsige Stewardess auch alle leeren Essschalen, sodass die Fluggäste wieder ein klein wenig mehr Bewegungsfreiheit bekamen.

Mareike nippte an der Cola, als der Flieger plötzlich zu hoppeln begann. Ihr Magen zog sich nervös zusammen, und sie umklammerte den Plastikbecher, als könne er sie bei einem Absturz retten. Gleich darauf schwappte eine dunkle Flüssigkeit über ihre beige Sommerhose. Ein dunkler Fleck blieb zurück, als blute sie aus einer Wunde am Oberschenkel.

„Oh Shit. Das tut mir echt sorry“, rief eine helle Frauenstimme. Widerwillig wandte Mareike sich der Sprecherin zu, die mit ihren grünen Dreads an eine Medusa erinnerte. Sie hatte einen modischen Ring in der Nase, ein Augenbrauenpiercing und graue, verschreckt dreinblickende Augen.

Der Becher in ihrer Hand war nun zur Hälfte leer. Rotweinflecken ließen sich schwer herauswaschen, dachte Mareike und überlegte, ob sie genug andere Hosen eingepackt hatte.

„Mensch Josie, mit dir kann man echt nirgendwo hingehen“, meinte das kurzhaarige Mädchen. „Letztes Mal im Kino hast du das ganze Popcorn ausgeschüttet, noch bevor der Film losging.“

Obwohl der Kommentar von einem Grinsen begleitet wurde, verfärbte sich das Gesicht der grünhaarigen Medusa dunkelrot. Auf einmal verspürte Mareike Mitleid.

„Kann ja mal passieren. Der Flieger war so … unruhig“, sagte sie versöhnlich.

„Turbulenzen“, erklärte die Kurzhaarige. „Die kommen grundsätzlich immer, wenn man was trinken will.“

Es klang, als wolle sie mit ihrer Erfahrung beim Fliegen angeben. Die grünhaarige Josie sah weiterhin schuldbewusst aus.

„Wir können die Stewardess fragen, ob sie Salz bringen kann“, murmelte sie. „Das soll bei Rotweinflecken helfen.“

Die Stewardessen sahen auch so schon gestresst genug aus, dachte Mareike.

„Ist doch alles kein Problem. Ich ziehe mich einfach um, wenn ich im Hotel bin. Hier interessiert es sicher keinen, wie ich aussehe“, versuchte Mareike alle zu beruhigen. Angesichts ihrer bevorstehenden Reise ans andere Ende der Welt hatte sie ganz andere Sorgen als einen Fleck auf ihrer Kleidung.

„Wenn es nicht rausgeht, kaufe ich dir eine neue Hose“, versprach Josie. „In Kingston gibt es Märkte mit echt coolen Klamotten.“

„Ihr wart also schon einmal da?“, fragte Mareike spontan. Es war sonst nicht ihre Art, mit Fremden Gespräche zu beginnen, doch nun war ja schon eines im Gange.

Josie nickte.

„Ich war mal als Kind mit meinen Eltern dort und fand es so toll, dass ich unbedingt wiederkommen wollte. Sobald ich meinen ersten Job hatte, habe ich für die Reise gespart. Das war vor vier Jahren. Seitdem bin ich jeden Herbst in Jamaika.“

„In Wahrheit hat sie sich schon beim ersten Besuch, also mit dreizehn, in so einen Kerl am Strand verknallt, den sie aber bisher nicht wiedergefunden hat“, mischte sich erneut die neunmalkluge Kurzhaarige ein. „Vielleicht läuft er ihr diesmal über den Weg und lädt sie auf einen Drink ein. Den kann sie dann auf sein Hemd schütten.“

Wie witzig, dachte Mareike, doch die zwei Mädels kicherten munter drauflos. Josie schien ihre Verlegenheit schnell überwunden zu haben.

„Es ist eigentlich so, dass Karla schon ein Date in Kingston hat, nicht ich“, erzählte sie. „So ein Ami, den sie über Instagram kennengelernt hat. Der macht dort Urlaub, und deshalb musste sie unbedingt auch hin.“

Eine ziemlich weite Reise, um einen Mann zu treffen, ging es Mareike durch den Kopf. Aber Tina wäre auch zu so einer überstürzten Aktion fähig gewesen, falls ihr genug Geld zur Verfügung gestanden hätte. Ihre zwei Sitznachbarinnen mussten entweder einen gut bezahlten Job oder reiche Eltern haben. Aufgrund der sehr flippigen Kleidung tippte sie eher auf Letzteres.

„Chris ist total cool und hat mich gebeten zu kommen“, sagte Karla. „Es wird echt Zeit, dass wir uns mal persönlich sehen. Er steht auch auf Bob.“

Womit wohl Bob Marley gemeint war. Gab es in Deutschland keine Jungs, die Reggae mochten?

„Hast du eigentlich deinem Cem von dem Date in der Karibik erzählt?“, fragte Josie und stupste ihre Freundin an. Karla zuckte mit den Schultern.

„Cem will keine feste Beziehung. Da kann ich machen, was ich will.“

„Klar. Weißt du was? Wenn die Kerls so etwas sagen, dann wollen sie selbst machen, was sie wollen, während ihre Freundin brav daheim auf sie wartet.“

„Kann sein. Dann liegt er damit halt falsch“, stellte Karla fest, winkte dann die Stewardess herbei, um ihre Weinbecher nochmals auffüllen zu lassen. Spontan ließ Mareike sich auch einen überreichen. Die Unterhaltung mit den zwei Mädchen machte ihr mehr Freude als erwartet.

„Warum fliegst du eigentlich hin?“, wollte Josie wissen, nachdem sie alle miteinander angestoßen hatten. „Bist du echt ganz allein unterwegs? Ganz schön mutig.“

Nach einem tiefen Schluck Wein fand Mareike sich plötzlich auch lobenswert mutig.

„Ich will … einfach mal die Insel sehen. Also sie hat mich schon lange fasziniert.“

Die Masterarbeit verschwieg sie, denn bei Josie und Karla wäre das wahrscheinlich nicht gut angekommen.

„Jamaika ist auch klasse. Nicht so prollig wie der Ballermann, und man kann eine super Zeit haben. Die Strände sind der Wahnsinn“, erzählte Josie.

„Vor allem, wenn man sich dort nachts mit einem tollen Kerl im Sand herumwälzt“, mischte Karla sich wieder ein.

„Woher willst du das wissen?“, kicherte Josie. „Du kennst Sex on the Beach doch nur als Cocktail.“

Nun folgte eine Lachsalve im Duett. Wahrscheinlich würde es noch ein paar Stunden so weitergehen. Mareike fand das Gespräch immer noch amüsant, aber es gab ein paar andere Dinge, die sie von den zwei Mädels erfahren wollte.

„Wo wollt ihr denn in Jamaika hin?“

Die Mädchen tauschten Blicke.

„Also erst einmal ein bisschen Kingston checken und dann in Montego Bay am Strand chillen“, erklärte Karla schließlich. „Ich muss unbedingt ins Bob-Marley-Museum. Da gehe ich gleich am ersten Tag hin.“

So völlig kulturell desinteressiert waren sie also nicht.

„Und du? Was hast du so vor?“, fragte Josie. Mareike schluckte. Wenn sie jetzt etwas von Recherche und Sightseeing erzählte, war sie bei den beiden vielleicht unten durch. Bereits in der Schule hatte sie bei den coolen Kids als hoffnungslose Streberin gegolten.

„Also … ich will mich einfach umschauen. Zuerst auch in Kingston. Dann ein bisschen Natur. Die Blue Mountains. Vielleicht auch Montego Bay.“

Von den alten Herrenhäusern, die sie sehen wollte, würde sie den Mädels erst später erzählen. Auf einmal gefiel ihr die Aussicht, nicht völlig allein dazustehen, wenn das Flugzeug landete.

„Dann komm doch morgen mit ins Bob-Marley-Museum“, schlug Karla vor. „Danach kann Josie dir auch was Neues zum Anziehen kaufen, wenn der Fleck nicht rausgeht.“

„Ach, das ist schon okay. Ich habe genug Klamotten dabei“, meinte Mareike, denn sie wollte keine unnötige Last sein. Ihre Angst vor dem bevorstehenden Abenteuer ließ allmählich nach, vor allem, als die Stewardess ihre Weinbecher nochmals aufgefüllt hatte.

Eine Weile später wurden die Lichter im Flugzeug ausgeschaltet, und der Rotwein half Mareike, ebenso wie ihre Gefährtinnen schnell in einen Dämmerschlaf zu fallen.

Nach mehreren Stunden wurde das Frühstück serviert, und vor den Toiletten formten sich Schlangen. Alle Passagiere sahen knittrig und zerknautscht aus. Mareike verspürte die starke Sehnsucht nach einer Dusche und frischer Kleidung. Wahrscheinlich musste man erst ohne ein verfügbares Bad aufwachen, um diesen Luxus wirklich schätzen zu lernen.

Josie und Karla waren deutlich stiller als nach dem Abflug. Es gab Rührei, der Pulverkaffee schmeckte erwartungsgemäß miserabel. Mareike hoffte auf eine Kaffeekette am Flughafen, wo sie sich einen großen Becher Cappuccino besorgen könnte. Lange sollte es zum Glück nicht mehr dauern. Inzwischen wollte sie einfach nur Bewegungsfreiheit, und auch ein unbekanntes, potenziell gefährliches Land war ihr lieber als die Enge des Flugzeugs ohne Dusche und genießbaren Kaffee.

Mit ihren Gefährtinnen döste sie noch eine Weile vor sich hin, bis die Maschine endlich mit ein paar Hüpfern auf festem Boden landete. Mareike starrte neugierig aus dem Fenster, aber die Flughäfen dieser Welt schienen austauschbar. Sie konnte nichts Ungewöhnliches erkennen, nur Beton und Metall. Die Sonne schien, in München war der Himmel bedeckt gewesen. Auf den Werbefotografien von Reiseveranstaltern hatte Jamaika immer traumhaft schönes Wetter, aber wahrscheinlich musste es auch hier manchmal regnen. Sonst wäre die Insel eine Wüste.

Kurz nach der Landung, als die Passagiere endlich ihre Sicherheitsgurte ablegen und das Gepäck aus den Fächern holen durften, brach noch mal Unruhe aus. Josie und Karla hatten beide Rucksäcke einer angesagten Marke sowie ihre Tüten aus dem Duty-free-Shop zu schleppen. Mareike ergriff die schwarze Tasche, die sie von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte, und folgte ihnen ins Freie.

Die Hitze war wie eine Mauer, doch nachdem Mareike sie durchbrochen hatte, fühlte sie sich erstaunlich wohl. Man bewegte sich langsamer, gelassener, war von Wärme wie von einer Schicht aus Watte umhüllt. Im Flughafengelände war es allerdings deutlich kühler. Alles wirkte steril sauber wie auch in München, doch gab es einen auffälligen Unterschied. Alle Leute, die uniformiert herumliefen, um Passagiere durch das Labyrinth zu lotsen und ihre Dokumente zu kontrollieren, hatten eine deutlich dunklere Hautfarbe und trugen teilweise Flechtfrisuren wie Josie, die bei ihnen aber natürlicher wirkten. Eigentlich hatte Mareike gewusst, dass sie als Weiße hier zur Minderheit gehören würde. Aber das tatsächlich zu erleben, war eine andere Sache. Sie kam sich plötzlich wie ein Fremdkörper vor. Ein Mensch, der nicht dazugehörte. War es ihrem Lieblingsstiefvater William in Deutschland ähnlich ergangen? Sie hatte ihn nie danach gefragt, weil sie überhaupt nicht auf so eine Idee gekommen war.

Josie und Karla schienen nicht unter dem Gefühl der Fremdheit zu leiden. Ihre Lebensgeister erwachten schlagartig, sobald sie wieder Erdboden unter sich spürten. Sie packten ihre Smartphones aus und tippten Nachrichten.

„Ich sehe Chris morgen im Bob-Marley-Museum“, meinte Karla aufgeregt, als sie bei der Passkontrolle warteten.

„Klasse“, kommentierte Josie schulterzuckend. „Soll ich da überhaupt mitkommen?“

„Natürlich. Wenn du willst“, erwiderte Karla. Es klang sehr unverbindlich.

„Also ich habe echt null Bock, im Hostel zu sitzen, während du einen auf Amore unter Palmen machst“, nörgelte Josie. „Da hätte ich gleich allein fliegen können.“

„Na komm, du wirst schon nicht vereinsamen. Bei deinem Talent, Fremde mit Drinks zu begießen!“, witzelte Karla. Als Josie nicht wie erhofft zu lachen begann, fuhr sie etwas ernsthafter fort: „Vielleicht will Mareike ja doch ins Museum mitkommen?“

Beide Mädchen sahen sie abwartend an. Mareike geriet trotz Klimaanlage ins Schwitzen. Sie hatte sich mit Freundschaften nie leichtgetan, außer bei Tina, von der sie einfach so angenommen wurde, wie sie war. Also als Bücher fressende Streberin. Aber die Vorstellung, allein aus der Sicherheit des Flughafens in eine völlig fremde Welt zu treten, schien wieder so beängstigend, dass sie ernsthaft überlegte, bis zum Rückflug irgendwo auf einer Bank vor dem Check-in zu warten.

„Klar, ich bin dabei, warum nicht?“, sagte sie so gelassen wie möglich. Man musste immer so tun, als wäre einem alles egal. Dann galt man als cool. So war es wenigstens zu ihrer Schulzeit gewesen.

„Super“, meinte Josie. „Danach ziehen wir zwei ein bisschen durch die Stadt, während Karla mit ihrem Ami beschäftigt ist. Wo wohnst du?“

Mareike wühlte den Zettel mit der Buchung aus ihrer Tasche und las den Namen des Hotels vor. Josie verzog das Gesicht.

„Meine Güte, so ein Touristenbunker! Da sitzen die ganzen alten frustrierten Weiber, die Loverboys suchen.“

Mareike hatte das Gefühl, etwas grundsätzlich falsch gemacht zu haben.

„Im Internet sah es schön aus. Es hieß, dort wäre man sicher und alles wäre sauber“, verteidigte sie ihre Entscheidung.

„Ach was, Josie ist nur neidisch, weil wir uns so eine teure Hütte nicht leisten können“, sagte Karla zu ihrer Erleichterung. „Wird sicher cool dort. Drinks am Pool und so weiter.“

„Ich möchte aber das richtige Jamaika sehen“, erwiderte Mareike. „Also nicht nur Luxusurlaub machen.“

„Logo. Das zeigen wir dir“, rief Josie und stupste sie freundlich an.

Manchmal schien es gar nicht so schwer, Freundschaften zu schließen.

Die Mädels hatten ihr geraten, ein Taxi mit einem roten Nummernschild zu nehmen, da es als sicher galt. Mareike saß neben einem rabenschwarzen Mann in buntem Hemd, aus dem Radio plätscherten gefällige Reggae-Rhythmen. Ihr erster Eindruck war, dass Jamaika nicht wirklich gefährlich schien. Aber wie hätte eine gefährliche Stadt auch aussehen sollen? Es gab etliche Häuser, die nicht besonders hoch waren, Verkaufsstände und Restaurants. Alles wirkte schlichter, aber auch bunter und irgendwie gelassener als in Deutschland. Gelegentlich fuhren sie an einer wirklich edlen Villa vorbei, die in München schlichtweg unbezahlbar gewesen wäre. Überall schlenderten Leute herum, Kinder spielten zwischen den Autos Fußball, und Händler klopften an die Fensterscheiben der Autos, um Getränke und Snacks anzubieten. Es war laut. Hupen dröhnten ständig, als wollten sie eine Art Konzert veranstalten.

Während Mareike neugierig aus dem Fenster starrte, fing der Taxifahrer an, sie mit Fragen zu löchern. Woher sie kam, wie sie hieß und warum sie hier war. Er wippte dabei locker mit dem Fuß, stets im Rhythmus seiner Musik. Das Fahren schien ihm trotz all dem Chaos auf der Straße leichtzufallen.

Eigentlich sah er aus wie jemand, dem alles leichtfiel, weil er Sorgen mied wie der Teufel das Weihwasser.

Mareike gab knappe Antworten, denn sie wollte nicht unhöflich sein. Als das Taxi vor dem Hotel zum Stillstand kam, stellte der Taxifahrer sich als Joe vor und fragte, ob sie heute Abend mit ihm eine Dancehall besuchen wollte. „Cool Music“, versprach er.

Mareike schluckte. In Deutschland hatte ihre ernsthafte Miene meistens gereicht, um Männer auf Abstand zu halten. Hier sprangen sie offenbar leichtfüßig über alle Mauern hinweg, die Frauen um sich errichten wollten.

„Beautiful lady. Should not be alone“, versuchte der Taxifahrer seinen Vorschlag zu begründen. Wider besseres Wissen fühlte Mareike sich geschmeichelt, lehnte das Angebot aber entschieden ab. Joe zuckte nur mit den Schultern, steckte sein Geld ein und brauste davon. Eine Abfuhr reichte wohl bei Weitem nicht, um ihm die gute Laune zu verderben. Ein wenig beneidete Mareike ihn.

Das Hotel sah tatsächlich so schön und blitzsauber aus wie im Internet abgebildet. Eine freundlich lächelnde Jamaikanerin händigte ihr die Karte aus, mit der sie ihre Zimmertür würde öffnen können, und zeigte ihr den Weg zum Lift. Mit einem Seufzer der Erleichterung betrat Mareike jenen Ort, der für die nächsten zwei Wochen ihr Refugium sein sollte. Er wirkte pragmatisch kahl, enthielt aber immerhin ein Bett und eine Dusche. Vierzehn Stunden Flug hatten gereicht, um ihr die Wichtigkeit dieser Dinge deutlich zu machen. Sie verbrachte fast eine halbe Stunde unter dem Wasserstrahl, um sich endlich wieder sauber fühlen zu können. Dann warf sie sich auf die Matratze und genoss den Moment, da sie jedes Glied ihres Körpers ausstrecken konnte, ohne auf irgendein Hindernis zu stoßen.

Sie schlief nur kurz und unruhig. Wirre Träume plagten sie, in denen Joe der Taxifahrer sie in eine Dancehall lockte, wo sie dann von Drogen zugedröhnt und ohne Geld wieder zu sich kam. Gleich darauf schlug sie die Augen auf, erleichtert, einfach nur die weiß getünchten Wände des Hotelzimmers vor sich zu sehen. Joe le taxi, ging es ihr absurderweise durch den Kopf. So ein alberner Hit, der nach ihren heutigen Erfahrungen eine neue Bedeutung bekommen hatte.

Eine Weile wälzte sie sich noch herum, dann wurde ihr klar, dass ihre Aufregung stärker als alle Müdigkeit war. Entschlossen, der Fremde die Stirn zu bieten, stand sie auf, zog ein geblümtes Sommerkleid und Sandalen aus dem Koffer, um sich hinauszuwagen. Zunächst einmal würde sie das Hotel inspizieren, denn um in diese laute, unbekannte Welt da draußen einzutauchen, fühlte sie sich noch zu schwach.

Es gab mehrere Stockwerke, einen Pool, einen kleinen Laden mit Souvenirs, eine Bar und ein Restaurant. Nach einer halben Stunde hatte Mareike alles gesehen. Ratlos griff sie nach ein paar Prospekten an der Rezeption, die organisierte Ausflüge anboten. Ihr Magen begann zu knurren, aber sie traute sich weiterhin nicht, in der Stadt nach Essensmöglichkeiten zu suchen. Es blieb also nur das Restaurant gleich neben der Rezeption. Um sieben Uhr abends bekam Mareike dort problemlos einen Tisch, bestellte ein Sandwich, Pommes und Cola. Das Entdecken echt jamaikanischer Küche verschob sie auf einen späteren Zeitpunkt. Während sie aß, trudelten allmählich mehr Gäste ein. Hauptsächlich Pärchen und Familien, auch eine Gruppe von Asiaten, die wohl eine organisierte Rundreise unternahmen. All diese Leute unterhielten sich in zahlreichen Sprachen, lachten, flüsterten, stupsten einander an. Nur sie saß schweigend da und kaute. Auf einmal fühlte sie sich deshalb unwohl, wie eine Aussätzige, von der sich alle abgewandt hatten. Sie zog den üblichen Rettungsanker in Form eines Buches aus ihrer Tasche. Die Zusammenfassung der Geschichte Jamaikas beschäftigte sie eine Weile. Sie war gerade beim Weihnachtsaufstand des Baptistenpredigers Samuel Sharpe von 1831 angelangt, der sich gegen die in den Kolonien weiterhin bestehende Sklaverei gerichtet hatte, als der Kellner sie fragte, ob sie noch einen Drink wünschte. Mareike wollte verneinen, da fiel ihr auf, wie voll das Restaurant inzwischen war. Sie konnte schlecht vor einem leeren Glas sitzen bleiben, daher bestellte sie noch eine Cola. Der Kellner ließ strahlend weiße Zähne aufblitzen. Dann flüsterte er ihr zu, dass sie später noch zusammen ausgehen könnten. Um zehn wäre seine Schicht vorbei.

Wieder lehnte Mareike ab. Es gab keinen Grund zur Aufregung, denn sie war von niemandem bedroht worden. Trotzdem fühlte sie sich wie ein ausgesetztes Kätzchen, dem jemand großzügig eine Schüssel Milch hatte anbieten wollen. Eine Frau allein war offenbar in den Augen vieler Männer ein defizitäres Wesen.

Sie seufzte, denn so sehr sie auch dagegen ankämpfte, kam sie sich als bemitleidenswert abgestempelt vor. Gerade wollte sie ihr Buch als Schutzschild hochhalten, als sie bemerkte, dass sie nicht der einzige Paria in dem Restaurant war. Links neben ihr saß eine etwa vierzigjährige Frau in einem schwarzen Kleid, dessen edle Schlichtheit auf einen teuren Designer hinwies. Ihr grau meliertes Haar war akkurat zu einem Pagenkopf geschnitten, auch die Brille schien minimalistisch teuer. Sie sah jedenfalls nicht aus wie jemand, dem andere Menschen nur nahekamen, um ihm Almosen zuzuwerfen. Dennoch löffelte sie mutterseelenallein ihre Suppe, nippte gelegentlich an einem Glas Rotwein. Ihr nachdenklich entspanntes Gesicht drückte keinen Kummer aus.

Mareike fühlte sich schlagartig besser, legte das Buch wieder auf den Tisch, um die Umgebung weiter auf sich wirken zu lassen. Die unbekannte Frau erwiderte ihren Blick und lächelte ihr zu.

„Your first time in Jamaica?“

Es war eindeutig britisches, vornehm klingendes Englisch. Mareike erwiderte zaghaft das Lächeln und nickte. Offenbar war ihr auf die Stirn geschrieben, dass sie sich hier fremd und verloren fühlte.

„Lassen Sie sich von den Jungs nicht erschrecken“, meinte die Engländerin. „Die sehen es als ihre nationale Pflicht an, alle Frauen anzuflirten. Meistens sind sie völlig harmlos und sogar ganz nett. Natürlich muss man manchmal vorsichtig sein. Aber das müssen wir Frauen ja immer.“

Mareike neigte nochmals brav den Kopf.

„Sie kommen öfter hierher?“, wagte sie die ihr völlig unbekannte Frau zu fragen.

„Jedes Jahr. Manchmal sogar mehrfach. Aus … privaten Gründen. Die Insel ist wirklich wunderschön, also jedenfalls für Urlauber. Die Einheimischen haben kein so leichtes Leben.“

Mareike staunte, wie selbstverständlich ein Gespräch sich zu entwickeln begann.

„Kennen Sie denn einige Jamaikaner?“, fragte sie mit echtem Interesse. Die Engländerin nickte.

„Ja, natürlich. Deshalb bin ich immer wieder hier.“

Kurz trat Schweigen ein. Mareike schluckte. Sie hätte gern mehr über diese Frau erfahren, doch wollte sie nicht aufdringlich wirken. Vielleicht sollte sie sich jetzt taktvoll abwenden, anstatt jemandem, der aus Mitleid ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte, weiter auf die Nerven zu fallen. Die Engländerin nippte nochmals an ihrem Weinglas, dann holte sie aber Luft, wie um eine wichtige Erklärung abzugeben. „Ich habe hier …“

Plötzlich brummte ihr Handy, das neben dem Teller auf dem Tisch lag. Die Frau griff sogleich danach, und ihr Gesicht bekam einen rosigen Farbton, während sie eine Nachricht las. Dann kippte sie den restlichen Rotwein schnell herunter.

„Bitte entschuldigen Sie, ich muss dringend los“, sagte sie zu Mareike. „Ihnen wünsche ich noch einen schönen Aufenthalt. Genießen Sie Ihren Urlaub.“

Dann winkte sie ungeduldig nach dem Kellner, um ihre Rechnung zu bezahlen. Mareike musterte die schlanke Gestalt, als sie auf halbhohen Absätzen aus dem Restaurant eilte, ohne dabei gehetzt zu wirken. Diese Frau hatte sicher eine gut bezahlte, interessante Arbeit, eine schöne Wohnung irgendwo in England und viele Freunde auf der ganzen Welt. Alles Dinge, die Mareike sich ebenfalls für ihre Zukunft wünschte. Kurz war sie von einer Mischung aus Bewunderung und Sehnsucht ergriffen, dann winkte sie den Kellner heran, um sich auch ein Glas Rotwein zu bestellen. Es war an der Zeit, die Reise zu genießen.

Im Reich des Zuckerrohrs

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