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6. Kapitel

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Als Mareike aufwachte, war es bereits Mittag. Den Jetlag musste sie ausgeschlafen haben. Auf einmal verspürte sie nichts als Neugier und Freude darüber, ein neues Land kennenlernen zu können.

Sie duschte noch einmal ausgiebig, zog sich schnell an und aß im Hotelrestaurant einen Pfannkuchen. Danach beschloss sie, den Ausflug zum Bob-Marley-Museum zu planen. Die Dame an der Rezeption bot sich an, ihr ein Taxi zu rufen, und Mareike stimmte zu, denn sie wagte es weiterhin nicht, allein in Kingston herumzulaufen. Also kletterte sie wieder in das Fahrzeug eines Jamaikaners, der diesmal grauhaarig und unerwartet schweigsam war. Er brachte sie schnell ans Ziel und verabschiedete sich, ohne ein neues Treffen vorzuschlagen. Manchmal konnte es hier also ähnlich wie in Deutschland zugehen.

Das Museum lag an einer breiten Straße und war von vielen eleganten Bauten mit großen Gärten umgeben. Hier hatten wohlhabende Leute gelebt, und Bob Marley hatte es schließlich geschafft, einer von ihnen zu werden. Das Eingangstor hatte man mit den Nationalfarben Jamaikas bemalt, und ein Bild des Mannes, der Reggae international berühmt gemacht hatte, hing darüber wie eine Ikone. Mareike bekam nun endgültig Urlaubsgefühle. In Deutschland regnete es wahrscheinlich jetzt, doch hier stand sie im Sonnenschein vor einem exotisch bunten Gebäude und konnte Palmen sehen, die über das Gemäuer hinauswuchsen. Inzwischen sollten auch Josie und Karla da sein, aber sie rechnete damit, dass die Mädchen sich verspäten würden. Pünktlichkeit galt bei ihnen wahrscheinlich als uncool. So blieb sie vor dem Eingangstor stehen und wehrte mehrere Männer ab, die ihr Marihuana verkaufen oder sie auf einen Drink einladen wollten. Schließlich rief eine helle Frauenstimme ihren Namen. Mareike atmete erleichtert auf, als sie Josie auf sich zueilen sah. Die grünen Dreads passten hier deutlich besser ins Gesamtbild als in dem sterilen Flugzeug. Josie trug zu der auffälligen Frisur ein sehr kurzes, bunt gestreiftes Kleid. An ihren Beinen wurden dadurch Tattoos sichtbar. Dass etliche Männer ihr hinterherstarrten, schien sie nicht zu merken, und sie fiel Mareike völlig ungeniert um den Hals.

„Da bist du ja! Ich hab Angst gehabt, du kommst nicht. Also zwischen Karla und ihrem Ami hat es echt gefunkt. Ich dachte schon, ich muss diesen Urlaub als einsame alte Jungfer verbringen.“

Mareike unterdrückte ein Grinsen, denn so eine Bezeichnung hätte viel besser zu ihr selbst gepasst. Josie war sicher noch nie in ihrem Leben als verklemmt und weltfremd bezeichnet worden, während Mareike diese Vorwürfe von ihrer Mutter gehört hatte, seit sie denken konnte. Wahrscheinlich wollte die tätowierte Medusa nicht allein herumziehen, bis sie unter ihren Verehrern einen gefunden hatte, der ihren Ansprüchen gerecht wurde. Mareike fügte sich widerspruchslos in ihr Schicksal als Lückenbüßerin. In Deutschland hätten zwei so völlig unterschiedliche junge Frauen wohl niemals Freundschaft geschlossen, aber vielleicht war ebendies der Vorteil einer solchen Reise, dass man notgedrungen bereit war, über den eigenen Horizont hinauszublicken.

„Heißt das, Karla kommt nicht?“, fragte sie. Josie schüttelte den Kopf.

„Nö, die ist schon drin mit ihrem Chris. Beide sind losgezogen, als ich noch schlief. Ich schicke ihnen schnell eine Nachricht, dass wir jetzt auch da sind.“

Mareike atmete erleichtert auf. Obwohl sie zugeben musste, dass Josies Gesellschaft ihr ganz angenehm war, wäre es anstrengend gewesen, die ganze Zeit für ihre Unterhaltung sorgen zu müssen. Sie betraten das Gelände des Museums, wo es ebenfalls einen Garten gab. Bald schon wurden sie von Karla und ihrem Urlaubsdate begrüßt.

Chris war auffallend blass und trug eine eckige Brille, die ihn wie einen Studenten der Naturwissenschaften aussehen ließ. Dazu kamen abgeschnittene Jeans und ein verwaschenes T-Shirt, der klassische Look von jungen Amerikanern im Urlaub. Er wäre nicht weiter aufgefallen, hätte er sein Haar nicht ebenso wie Josie in Dreadlocks flechten lassen. Anders als bei Bob Marley oder auch bei Josie war daraus aber keine Löwenmähne entstanden, sondern er erinnerte Mareike an eine Figur aus einem Science-Fiction-Comic, die vereinzelte Antennen auf dem Kopf hatte. An seinen Schläfen waren bereits Geheimratsecken zu sehen. Insgesamt kam Chris ihr vor wie jemand, der gegen das ihm vom Schicksal zugewiesene Äußere so weit ankämpfte, wie es nur möglich war. Karla wirkte mit ihrem burschikosen Haarschnitt und in karierten Shorts fast bieder inmitten all der Exotik. Sie hatte sich bei Chris untergehakt. Irgendwie passten die zwei sogar zusammen, befand Mareike.

Chris bot sich an, sie alle herumzuführen, denn er besuchte das Museum nicht zum ersten Mal. Sie sahen die Gesichter von Bob Marleys Söhnen, die innen auf Wände der Mauer gemalt worden waren. Mareike wollte wissen, ob er nicht auch Töchter gehabt hatte. Chris schien von der Frage nicht überrascht. Keine der Töchter sei eine bekannte Musikerin geworden, erklärte er, von den Söhnen waren hingegen einige in die Fußstapfen ihres berühmten Vaters getreten. Aber auch die Mädchen waren alle ihren Weg gegangen, manchmal sehr erfolgreich. Sharon, seine adoptierte Tochter, verwaltete das Museum. Die erste leibliche, Cedella, war eine in Jamaika bekannte Modedesignerin. Insgesamt hatte Bob Marley elf anerkannte Kinder. Es gab noch ein paar mehr junge Leute, die ihn als Erzeuger bezeichneten, aber wahrscheinlich wollten sie sich so nur ins Rampenlicht rücken.

„Na, der hat ja nichts anbrennen lassen“, flüsterte Josie Mareike auf Deutsch zu und kicherte. Obwohl Chris nichts hatte verstehen können, warf er ihr einen missbilligenden Blick zu. Er trat auf wie ein professioneller Tourguide und überschüttete sie alle mit einem schier unerschöpflichen Schatz an Informationen, obwohl das Museum auch einen professionellen Führer zur Verfügung stellte. Sie sahen die lebensgroße Statue des Musikers, der unerwartet klein gewesen war, einen Baum, unter dem Bob gern Joints geraucht hatte, sein Schlafzimmer, alle Auszeichnungen, die er für seine Musik erhalten hatte, und sogar eine Sammlung seiner Lieblingskleidung. Abgeschnittene Jeans wurden hinter Glas präsentiert. Es war wie die Führung durch ein europäisches Schloss, bei dem die Lebensgeschichte eines Nationalhelden anschaulich dargestellt wurde. Manchmal forderte der Fremdenführer sie auf, die Refrains der Bob-Marley-Songs mit ihm zu singen wie eine Art Hymne.

Nach einem kurzen Besuch im Souvenirshop landeten sie alle im Legends Café, das zum Garten des Museums gehörte. Die Kellner schienen Chris zu kennen. Er redete die Männer mit „brother“ an und hob die Hand zum High Five, sobald sie näher kamen. Mareike fragte sich, ob die Jamaikaner sein Benehmen nicht etwas lächerlich fanden, aber falls es so war, ließen sie sich nichts anmerken, sondern lächelten unbeirrt. Mareike bestellte einen Kaffee. Die anderen aßen, weil sie nichts gefrühstückt hatten. Danach schlug Chris den Besuch eines Reggae-Konzerts vor, das in ein paar Stunden losgehen sollte.

Josie stimmte begeistert zu, Karla nickte nur, als sei ihr Einverständnis ohnehin selbstverständlich. Mareike dachte daran, dass sie den Rest des Tages mit ihren Recherchebüchern hatte zubringen wollen. Bob Marley und Reggae gehörten nicht zur Antisklaverei-Bewegung des 19. Jahrhunderts, auch wenn sie indirekt aus ihr hervorgegangen sein mochten. Aber sie stellte fest, dass ihr das Zusammensein mit den anderen Freude machte. Ihr Leben lang hatte sie als Einzelgängerin gegolten, doch in diese Gruppe war sie ganz selbstverständlich aufgenommen worden, als sei es eine Art Naturgesetz.

Ihre Mutter wäre wahrscheinlich froh gewesen, dass die merkwürdige Tochter sich endlich ihrem Alter entsprechend benahm. Mareike staunte, denn ihr selbst ging es ebenso.

Sie wollte kurz ins Hotel, um noch mal zu duschen und sich umzuziehen. Chris schrieb ihr die Adresse des Clubs auf, wo das Konzert stattfinden sollte. Vor dem Museum winkte sie selbst ein Taxi herbei und stellte fest, dass die Stadt ihr bereits weniger Angst machte.

Sie überlegte, was sie anziehen sollte, und ärgerte sich gleichzeitig, dass sie daraus so ein Problem machte. Sie hatte nie eine Frau sein wollen, die sich über ihr Äußeres definierte, und nun benahm sie sich, als hätte sie ein Date, was eindeutig nicht der Fall war. Im Grunde wollte sie einfach zu ihrer Gruppe passen. Das musste machbar sein.

Schließlich entschied sie sich für einen knielangen schwarzen Rock, ein graues T-Shirt und Sneakers. Neben dem Paradiesvogel Josie wäre sie so gut wie unsichtbar, aber das war auch gut so, denn sie wollte keine weiteren Einladungen von einheimischen Männern. Wieder wurde sie von einem Taxi herumkutschiert und musste ein paar Fragen über ihre Herkunft beantworten sowie den Vorschlag ablehnen, sich morgen mit dem Fahrer ein weiteres Konzert anzuhören. Als sie ausstieg, standen ihre neuen Bekannten glücklicherweise schon da. Mareike hastete auf sie zu. Ihr war nie in den Sinn gekommen, dass es ein so beklemmendes Gefühl sein konnte, die einzig blasse Erscheinung unter lauter dunkelhäutigen Menschen zu sein.

Josie schien dieses Problem nicht zu haben, denn sie plauderte schon mit ein paar der jamaikanischen Jungs. Karla hielt sich an Chris, der ebenfalls Gespräche mit Einheimischen führte. Er musste hier etliche Freunde haben, wie Mareike bemerkte. Hinter der albern wirkenden Rasta-Aufmachung verbarg sich echtes Interesse an Land und Leuten.

„Hier sollen angesagte Bands auftreten. Chris kennt sich aus“, meinte Karla, sichtlich stolz auf ihre neue Eroberung. Mareike bemühte sich, beeindruckt auszusehen, obwohl ihr etwas unwohl war. In München ging sie selten aus. Sie mochte keine laute Musik und bekam in Menschenmengen schnell Platzangst. Aber jetzt war sie nun einmal hier. Einfach abzuhauen, wäre unhöflich gewesen.

Nachdem sie Eintritt bezahlt hatten, gelangten sie in einen unerwartet kleinen dunklen Raum mit einer Bühne, auf der bereits Schlagzeuge und sonstige Utensilien von Musikern aufgebaut worden waren. An der Bar hatte sich eine Schlange gebildet. Chris bot an, die Drinks zu besorgen. Karla schloss sich ihm sofort an.

„Ich will nur eine Cola“, erklärte Mareike sogleich. Josie lachte auf.

„Mensch, du bist im Urlaub! Wenn, dann schon Cola-Rum.“

Mareike gab sich geschlagen. Vielleicht würde sie das Konzert in beschwipstem Zustand besser überstehen. Die Menschenmenge um sie herum wurde immer enger, und sie fühlte sich, als würde eine unsichtbare Hand ihre Kehle zusammendrücken. Ein Stück weit entfernt von ihr begannen ein paar junge Männer aus unerfindlichen Gründen zu schreien. Südländisches Temperament, hätte ihre Mutter jetzt gesagt. Genau das fehlt dir, Kind. Mareike wünschte sich, die Jamaikaner würden das ihre etwas weniger lautstark zum Ausdruck bringen.

Als sie ihren Drink bekommen hatte, umklammerte sie das Glas wie einen Rettungsanker. Chris redete weiter mit irgendwelchen Freunden, Karla lauschte, Josie flirtete, was das Zeug hielt, um dem drohenden Schicksal als grünhaarige, tätowierte alte Jungfer zu entgehen. Mareike hoffte, den Abend irgendwie hinter sich zu bringen. Warum nur hatte sie sich eingeredet, sie müsste auch einmal ausgehen wie andere junge Frauen im Urlaub? Die nächsten drei Tage würde sie ihren Studien widmen, um sich von diesem Stress zu erholen.

Dann begann endlich die Musik. Ein junger Mann, überraschenderweise ohne Rastamähne, sang mit schwingenden Hüften gefällige Melodien. Es klang wie das gleichmäßige Plätschern eines Flusses, angenehm, aber eintönig. Hinter ihm standen drei junge Frauen in kurzen Oberteilen und Hotpants, die manchmal mitträllerten. Mareike fragte sich, ob die attraktiven Mädchen von der Mittelmäßigkeit der Musik ablenken sollten. Die zwei nächsten Bands waren wilder, aufwühlender. Bewegung kam in die Menge, Füße wippten, ein paar Leute sprangen herum, soweit die Enge es zuließ. Mareike, die schon ihr halbes Glas geleert hatte, fühlte sich von der Stimmung eingelullt. Sie sah Josie ausgelassen tanzen und schloss sich an. In nüchternem Zustand hätte sie Angst gehabt, sich lächerlich zu machen. Vielleicht war Josies Idee mit dem Rum gar nicht so schlecht gewesen.

Es folgte eine Gruppe von drei Männern, deren laute, aggressive Musik eher nach Rap als nach Reggae klang. Dann betrat ein hochgewachsener, schlanker junger Mann die Bühne.

„Wow, der sieht klasse aus“, lallte eine aufgeputschte Josie. Mareike musste zugeben, dass es stimmte. Seine Arme, die nun das Mikrofon hochhielten, wiesen Muskeln auf, ohne dadurch grobschlächtig zu wirken. Auch er hatte keine Rastamähne, sondern kurz geschnittenes Haar, das dicht auf der Kopfhaut zu feinen Zöpfen geflochten war. Ansonsten hatte er auf alle Versuche, durch unkonventionelles Aussehen aufzufallen, verzichtet. Seine Kleidung beschränkte sich auf Jeans und T-Shirt.

Die Musik begann ruhig und unerwartet melodisch, fast wie eine der Balladen, die auch Bob Marley manchmal gesungen hatte. Der Text klang kompliziert, schien nicht nur aus einer rhythmischen Wiederholung einschlägiger Begriffe zu bestehen. Mareike lauschte, bemüht, mehr zu verstehen. Sklaverei wurde erwähnt, Aufstände, das Wort Maroons fiel. Wer wusste, wie die freien Schwarzen in den Bergen geheißen hatten, die durchaus mit der weißen Regierung zusammenarbeiteten, hatte Ahnung von der Geschichte seines Landes. Mareike nahm sich vor, den Namen des Sängers herauszufinden, damit sie sich später im Hotel alles in Ruhe auf YouTube anhören konnte. Als der erste Song langsam ausklang, vernahm sie plötzlich eine ihr sehr vertraute klassische Melodie. Der Sänger kannte auch den Text, den er leise vortrug:

Amazing grace how sweet the sound

That saved a wretch like me.

I once was lost but now I'm found.

Was blind but now I see.

Es war das Lied der britischen Sklavereigegner im 18. Jahrhundert gewesen. Mareike schubste sich ein wenig vorwärts und sang leise mit. Nun bereute sie es nicht mehr, mitgekommen zu sein.

Dann verstummte die Band. Der Applaus war verhalten, wahrscheinlich hatte der Sänger die meisten seiner Zuhörer nicht so begeistern können wie Mareike. Dennoch bedankte er sich höflich beim Publikum, bevor er die Bühne verließ.

Als er schon im Begriff war, in der Menge zu verschwinden, bemerkte Mareike plötzlich, dass er sie ansah. Lange und aufmerksam, als sei sie ihm aufgefallen. Rasch schlug sie den Blick nieder, denn sie mochte solche Beachtung nicht.

„Der Song hat dir gefallen, was?“, rief Josie in ihrem Rücken. „Ich fand ihn irgendwie … schwierig.“

„Genau das mochte ich“, entgegnete Mareike. Josie zuckte mit den Schultern.

„Jetzt ist Pause. Ich hole uns noch einen Drink.“

Bevor Mareike hatte widersprechen können, war das grünhaarige Mädchen verschwunden. Auch Chris und Karla konnte sie nirgendwo entdecken und lehnte sich daher an die Wand, um sich ein wenig sicherer zu fühlen.

„You liked the music?“

Es dauerte eine Weile, bis Mareike begriffen hatte, dass diese Frage an sie gerichtet war. Das Englisch hatte eindeutig britisch geklungen, ohne die jamaikanische Melodik. Sie blickte erschrocken auf und stellte fest, dass der Sänger der letzten Band plötzlich vor ihr stand. Auch aus der Nähe betrachtet war er attraktiv. Die dunklen Augen hatten einen nachdenklichen, leicht melancholischen Blick. Sie waren nicht gerötet von Marihuana, oder Ganja, wie es hierzulande hieß. Instinktiv fasste sie Vertrauen und bestätigte, dass sie seinen Song gemocht hatte.

„Das freut mich“, meinte er. „Du hast am Schluss mitgesungen. Du kanntest den Text.“

„Ja … ich … ich studiere Geschichte.“

Womit sie sich wohl endgültig als langweiliger Bücherwurm geoutet hatte. Sprach der Mann mit ihr, weil er hoffte, dadurch Josie kennenzulernen? Angesichts der Umstände schien es unwahrscheinlich.

„Aber du weißt, dass es nicht nur ein gewöhnliches Kirchenlied ist?“

Er lehnte sich neben ihr an die Wand, überragte sie dabei um eine Haupteslänge. Mareike bemerkte, dass plötzlich einige Leute zu ihnen hinsahen. Er hatte sie aus der gewünschten Unauffälligkeit gezerrt, was ihr nicht besonders gefiel.

„Es wurde von John Henry Newton verfasst, der Kapitän von Sklavenschiffen war, dann aber meinte, die Stimme Gottes zu vernehmen, der ihn ermahnte, damit aufzuhören. Er unterstützte später William Wilberforce in seinen Kampagnen gegen den Sklavenhandel.“

Sie hatte es aufgesagt wie bei einer Prüfung. Aber sie spürte Hitze in ihren Wangen, denn das Thema begeisterte sie.

„Der Mann klingt zwar heutzutage wie ein religiöser Spinner, aber er sah als einer der ersten Europäer die Schattenseiten des Kolonialismus“, redete sie weiter. So viel hatte sie eigentlich an dem ganzen Abend noch nicht gesagt.

„Wow, du hast wirklich Ahnung.“

Es hatte nicht spöttisch geklungen. Mareike sah ihren Gesprächspartner staunend an. War es möglich, dass er eine Frau, die wie ein Lexikon redete, nicht langweilig fand?

„Warum kam diese Hymne am Ende deines Songs?“, fragte sie nun frei heraus. Es kam nicht alle Tage vor, dass man mit einem Sänger über seinen Text reden konnte.

„Eben wegen der Sklavereigeschichte. Da meinte ein weißer Herr, er könnte seine Seele retten, indem er armen Afrikanern hilft.“

Nun war der Tonfall eindeutig spöttisch gewesen. Mareike beugte sich vor. Das Gespräch hatte eine solche Sogwirkung bekommen, dass sie beinahe vergaß, wo sie sich jetzt befand und dass sie mit einem Fremden aus einem völlig anderen Land redete.

„Letztendlich hat er ihnen aber doch geholfen“, meinte sie. „Und wenn er dabei auch seine Seele rettete, dann ist ja nichts Schlechtes dran.“

„Was den Afrikanern wirklich geholfen hat, war der Umstand, dass sich der Sklavenhandel wirtschaftlich nicht mehr rentierte“, erwiderte der Sänger sofort. „Es gab in den Kolonien schon genug Schwarze. Man hatte Angst, dass sie Ärger machen würden, wenn allzu viele neue Krieger hinzukämen.“

Das mochte allerdings stimmen. Es hatte immer wieder Aufstände gegeben.

„Auf jeden Fall war es gut, dass der Sklavenhandel aufhörte“, lenkte sie diplomatisch ein. „Aus welchem Grund auch immer. Und die Leute um Wilberforce haben energisch gekämpft, um ein Verbot im Parlament durchzusetzen. Gegen den Widerstand der mächtigen Zuckerbarone.“

„Die edelmütigen Seelen verzichteten auf Zucker im Tee“, ergänzte er. „Weil der von den Plantagen stammte, auf denen Sklaven arbeiteten. Das ist so wie bei den Veganern heute, die das Leid der armen Tierwelt lindern möchten.“

Auch das hörte sich abfällig an.

„Was ist denn so schlecht daran, wenn Menschen aus Überzeugung Verzicht üben?“, bohrte sie nach. Seine ständige Spöttelei wirkte arrogant.

„Ach, eigentlich gar nichts.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nur redet jeder gern über solche verwöhnten Kinder, die aus Rücksicht auf die Armen der Welt ein paar Bonbons weniger essen. Sie bekommen mehr Beachtung als die Armen selbst.“

Mareike überlegte, inwieweit das stimmte. Aus der Zeit des englischen Abolitionismus war tatsächlich nur ein Afrikaner namentlich bekannt. Olaudah Equiano, ein ehemaliger Sklave, der seine Lebensgeschichte veröffentlicht hatte, um auf die Grausamkeit der Schiffstransporte aufmerksam zu machen. All seine Mitstreiter waren weiß gewesen. Aber er war in England als wohlhabender Mann gestorben, obwohl sein Leben nicht gerade rosig begonnen hatte.

„Lassen wir mal die Politik“, unterbrach der Sänger ihre Überlegungen. „Ich weiß, ich werde dabei manchmal unleidlich. Magst du Reggae?“

Sie schluckte. Er wollte die Unterhaltung also auf unverfängliche Weise weiterführen, doch sie wollte ihn nicht aus Höflichkeit anlügen. Besonders begeistert war sie von dem Konzert nicht gewesen, bis auf seinen Song.

„Also … eigentlich mag ich die Lieder von Bob Marley, aber wenn es zu laut und zu aggressiv wird, dann gefällt es mir nicht. Ich sehe keinen großen Unterschied mehr zum Rap.“

Wenn er jetzt beleidigt war, konnte sie auch nichts daran ändern.

„Es gibt im modernen Reggae auch viele Anleihen vom Rap“, gab er zu. „Und die Texte, na ja, meistens drücken sie Wut aus, oder sie bleiben völlig unpolitisch. Ich kann dir aber ein paar Bands zeigen, die noch richtigen Reggae machen. Also, wenn du länger hier bist.“

„Zwei Wochen“, plauderte Mareike sofort aus. Ihr wurde klar, dass sie wider alle Prinzipien im Begriff war, die Einladung eines Jamaikaners anzunehmen. Er fragte nach ihrem Hotel, und sie nannte den Namen, denn sich woanders zu verabreden hätte wenig Sinn gehabt. Sie kannte die Stadt fast nicht.

„Ich hole dich morgen um elf unten ab“, versprach er. „Dann zeige ich dir mehr von Kingston. Ach ja, mein Name ist David.“

Er hielt ihr die Hand hin, und sie schlug ein. Dann verabschiedete er sich, weil die Leute aus seiner Band auf ihn warteten.

Mareike atmete tief durch. Hatte sie völlig den Verstand verloren? Aber sie konnte morgen einfach auf ihrem Zimmer bleiben, wenn sie ihn nicht sehen wollte. Sie ahnte, dass er zu stolz wäre, um ihr weiter nachzustellen.

„Das war ja jetzt der Wahnsinn!“, vernahm sie Josies Stimme und erhielt ihren nächsten Drink. „Alle Frauen hier himmeln diesen Kerl an, und er sucht dich aus!“

So hatte Mareike es bisher nicht gesehen. Sie fühlte sich geschmeichelt, doch am Ende überwog das Unbehagen, denn sie hasste es, wenn man sie zu sehr beachtete.

„Er wirkte ganz nett und will morgen mit mir ausgehen. Also, um mir die Stadt zu zeigen“, teilte sie Josie mit und hoffte, das Thema dadurch abzuschließen. Doch sie bekam sofort ein neues, lautstarkes „Wow“ zu hören. Dann drehte Josie ihr Glas und runzelte die Stirn.

„Aber sei vorsichtig, hörst du?“, mahnte sie. „Jamaikaner wollen alle nur das eine von Europäerinnen, die hier Urlaub machen. Und dann noch ein Sänger, der wahrscheinlich schon in zig Hotels aufgetreten ist. Reggae-Musiker haben manchmal echt komische Ansichten, also sind voll homophob und sexistisch. Das merkt man ja schon an den Texten.“

Bisher hatte Josie nicht den Eindruck gemacht, etwas gegen Reggae zu haben. Ganz davon abgesehen, dass die meisten Bands im einheimischen Patois sangen, das schwer verständlich war.

„Ich habe bei ihm nichts von komischen Ansichten bemerkt“, verteidigte Mareike den ihr fast unbekannten Mann. „Er war auch nicht aufdringlich.“

„Ja, klar. Er wollte dir halt gefallen“, sagte Josie.

Um zu gefallen, musste jemand wie dieser David sich nicht besonders anstrengen, überlegte Mareike.

„Ich weiß nicht, warum ich bei ihm vorsichtiger sein sollte als bei irgendeinem anderen Mann“, redete sie weiter. „Weil er Musiker ist? Oder weil er schwarz ist?“

Josie riss den Mund auf.

„Jetzt reg dich mal ab. Ich wollte dir nur einen Rat geben“, protestierte sie pikiert. Mareike nickte.

„Schon gut. Ich habe wohl überreagiert.“

Sie wollte sich nicht mit Josie streiten. Aber ihr Entschluss, David nicht zu versetzen, war soeben gefallen. Sie hasste jede Art der Voreingenommenheit.

Im Reich des Zuckerrohrs

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