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1. Kapitel London, 1830

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„Ich bedauere Ihren Verlust“, sagte Dr. Jitter und hielt Emily die Hand hin. Der Druck seiner Finger fiel unnötig kräftig aus, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht das Gesicht zu verziehen. „Meine … ähm … Rechnung schicke ich Ihnen in den nächsten Tagen. Ich hoffe, Sie haben Verständnis. Wir müssen alle leben.“

„Natürlich. Natürlich“, stammelte Emily und wickelte den Schal enger um ihre Schultern, weil der Wind durch die undichten Fenster ins Zimmer pfiff. Obwohl es bereits Mitte Juli war, fiel draußen seit Tagen nur Regen, und der Himmel war so dunkel, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor.

Ähnlich empfand Emily im Augenblick auch ihre Lage. Der Vater hatte die kleine Familie mit seinen Buchillustrationen mühsam über Wasser halten können. Nach seinem Tod hatte die Mutter Näharbeiten angenommen, bei denen Emily ihr fleißig geholfen hatte, obwohl sie mit der Nadel nie wirklich geschickt gewesen war. Wie würde sie nun die Miete für ihre winzige Wohnung im Eastend zahlen, wenn sie über keinerlei besonderen Fähigkeiten verfügte? Sie wusste es nicht, aber die gespenstische Leere in dem dunklen Zimmer machte ihr im Moment noch mehr Angst als alle Sorgen um ihre zukünftige Existenz. Der bettlägerigen Mutter ihre Medizin zu verabreichen, sich um das nächste Essen zu kümmern und die Wohnung sauber zu halten ‒ all das hatte in den letzten Monaten ihren Alltag bestimmt. Aber die ganze Zeit war die Mutter noch bei ihr gewesen, hatte sie trotz Fieberschüben und schweren Hustenanfällen mit Ratschlägen unterstützt. Nun war Emily allein. Unter ihr hatte sich ein rabenschwarzer Abgrund aufgetan, sie fiel und fiel, ohne auch nur die Kraft zu haben, irgendwo nach Halt zu suchen.

„Brauchen Sie Hilfe bei der Organisation der Beerdigung?“ Dr. Jitter sah sie besorgt über die Ränder seiner Brille an.

Emily unterdrückte den Wunsch, sich an seinen großen, dünnen Körper zu lehnen, denn es tat so wohl, dass irgendjemand sie unterstützen wollte.

„Danke, aber … meine Mutter wurde doch schon abgeholt.“

Dr. Jitter hatte dafür gesorgt, dass der Leichnam sogleich in die Leichenhalle gebracht worden war, während Emily noch weinend im Schaukelstuhl gesessen hatte. Es würde nur eine Bestattung im Armengrab geben, so wie vor zwei Jahren bei ihrem Vater. Die Vorstellung, dass sie nicht einmal einen Ort haben durfte, wo sie regelmäßig Blumen für ihre Eltern ablegen konnte, ließ eine neue Tränenflut aus ihren Augen strömen. Verlegen wandte sie sich ab. Warum ging der Arzt nicht einfach und schickte dann seine Rechnung? Todesfälle wegen Schwindsucht mussten für ihn zur Tagesordnung gehören.

„Miss Habermash … gibt es, also … haben Sie Verwandte oder sonst jemanden, der Ihnen nahesteht und sich nun um Sie kümmern könnte?“

Seine Stimme klang so rührend besorgt, dass Emily einen Schritt in seine Richtung wagte. Er streckte seine Hand aus, um ihre Schulter zu tätscheln.

„Falls Sie Hilfe brauchen, also ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Teller, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Diese Gegend ist kein Ort für eine junge, gottesfürchtige Frau ohne Beschützer.“ Die Worte waren gütig, aber etwas an der Art, wie er nun ihren Arm zu streicheln begann, ließ Emily erschrocken zurückweichen. „Miss Habermash …“, begann er mit einem Räuspern.

„Ich bin Mrs Lawson!“

Früher hatte sie das Drängen ihrer Mutter, dass jede Frau einen Ehemann haben sollte, nie wirklich verstanden. Nun ergab es Sinn, denn allein die Anrede als Mrs war wie ein Schutzschild, hinter dem sie sich verstecken konnte. Dr. Jitter räusperte sich verlegen.

„Ich verstehe. Sie sind also Witwe“, stellte er fest. Emily schüttelte entschlossen den Kopf.

„Mein Mann lebt.“ Zumindest hatte sie bisher nichts Gegenteiliges gehört. „Er ist in Jamaika und predigt den armen Wilden das Wort Gottes.“

Dies hatte sie allen Nachbarn und auch dem Pfarrer erzählt, wenn nach dem Verbleib ihres Ehemannes gefragt wurde. Jeder verstand, dass sie ihren tapferen Gemahl nicht in die Wildnis hatte begleiten wollen. Auch Dr. Jitter nahm diese Umstände kommentarlos hin.

„In diesem Fall sollten Sie Ihrem Gemahl mitteilen, dass Sie nun seine Unterstützung benötigen“, sagte er mit etwas kühlerer Stimme. „Am besten noch heute, denn die Post nach Jamaika braucht mehrere Wochen. Falls Sie dennoch in Not geraten sollten, können Sie sich an mich wenden.“

„Vielen Dank, Sir“, murmelte Emily, denn sie war es gewohnt, Männern wie ihm Respekt zu zeigen. Vielleicht hatte sie sein Verhalten auch falsch interpretiert, und er hatte ihr wirklich nur helfen wollen.

„Ich wünsche Ihnen für Ihr weiteres Leben alles Gute, Mrs Lawson.“

Er entfernte sich mit einem höflichen Neigen des Kopfes. Emily zuckte zusammen, als die Tür hinter ihm zufiel. Die Stille in den zwei Räumen, die sie seit frühester Kindheit bewohnt hatte, schien ihr plötzlich wie die Schreie der Händler und Huren am Hafen, so aufdringlich und voller Gewalt, dass es in den Ohren schmerzte. Wieder zerrte sie an den Rändern ihres Schals. Ihre Mutter hatte ihn für sie zu Weihnachten gestrickt, kurz nachdem Jeremiah nach Jamaika gesegelt war und sie sich geweigert hatte, ihn zu begleiten. Das Geschenk war wie ein Friedensangebot an die störrische Tochter gewesen, die sich nicht von ihren Eltern hatte trennen wollen. Emily konnte sich noch erinnern, wie sie dankbar über die roten und blauen Streifen gestrichen hatte. Niemand fertigte so akkurate, tadellose Handarbeiten wie ihre Mutter.

Sie ließ sich in den Schaukelstuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Joanna Habermash würde niemals wieder einen Schal stricken oder Unterröcke nähen, denn sie war für immer aus dieser Wohnung, dieser Stadt, ja von der Welt verschwunden. Sie würde weder liebevolle noch ermahnende Worte an die Tochter richten können, auch nicht mehr husten, Blut spucken oder über Kopfschmerzen klagen. Die Mutter läge bald schon im Armengrab, während Emily sich in dieser Wohnung wie in einer Gruft fühlte. Es gab nichts außer Erinnerungen, um die winzigen Räume mit Leben zu füllen.

Wie betäubt schlich sie zu der Bank, auf der sie fast ihr ganzes Leben lang jede Nacht geschlafen hatte. Ihr Zusammenleben mit Jeremiah hatte sich auf etwa zwei Monate beschränkt, danach war sie zu ihren Eltern zurückgekehrt, ohne dass er sie aufgehalten hätte. Sie streckte sich aus und zog sich die zerschlissene Decke über den Kopf. Zwar würde sie nicht schlafen können, aber es tat wohl, eine Weile nichts weiter sehen zu müssen als Schwärze.

An Jeremiah schreiben, hatte Dr. Jitter gesagt. Sie hatte aber bereits geschrieben, als der Zustand ihrer Mutter sich drastisch verschlechtert hatte. Joanna Habermash hatte selbst dazu gedrängt. Ein guter Christ würde sich um seine Ehefrau kümmern, weil Gott der Herr es ihm aufgetragen hatte. Nur war auf ihr Schreiben bisher keine Antwort gekommen, obwohl es schon vor etwa einem halben Jahr abgeschickt worden war.

Jeremiah. Ihr Ehemann. Ihr wurde bewusst, dass sie sich nur noch undeutlich an sein Gesicht erinnern konnte. Er hatte schütteres, mittelbraunes Haar gehabt, kleine, aber freundliche Augen und dicke Backen, als sei er ständig am Kauen. In den wenigen Nächten, da er auf ihr gelegen hatte, waren ihr diese Backen besonders aufgefallen und sie hatte an einen Hamster denken müssen. Jedes Mal, wenn Jeremiah sich nach einem tiefen Stöhnen von ihr heruntergerollt hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, von Schleim bedeckt zu sein, der aus dem Mund und anderen Körperöffnungen ihres Gemahls stammte.

Aber nun brauchte sie ihn, wie die Mutter ihr vor dem Tod klargemacht hatte. Als letzten Rettungsanker in einer Notlage. Dafür hatte Gott der Herr offenbar Ehemänner geschaffen.

Unter der Matratze, auf der Joanna Habermash sich das Leben aus der Lunge gehustet hatte, lag ein Umschlag mit Geld. In ihren letzten klaren Momenten hatte die Mutter ihn ihr gezeigt.

„Damit kommst du nach Jamaika, Kind. Wenn er dir nicht schreibt, dann musst du einfach zu ihm fahren.“

Das Fieber musste aus Joanna Habermash gesprochen haben. Bei der Vorstellung, dieser Weisung zu folgen, verspürte Emily eine Welle von Panik, die sie erzittern ließ. Was sollte sie allein unter Wilden, auf der Suche nach einem verschollenen Ehemann? Aber dazu würde es nicht kommen. Jeremiah würde ihr einfach Geld schicken, das sicher bald ankommen musste. Auf Jamaika gab es reiche Zuckerbarone, die es gewiss begrüßten, wenn ihre Arbeitskräfte zu frommen Christenmenschen geformt wurden. Sie bezahlten Jeremiah. Es war nur eine Frage der Zeit, dann kämen die Dinge wieder ins Lot.

„Alles wird gut“, sagte Emily mit lauter Stimme zu sich selbst. Trotzdem fror sie so erbärmlich, dass sie das Klappern ihrer eigenen Zähne hören konnte. Es hallte durch die menschenleeren Räume wie ein Dröhnen. Draußen schrie eine heisere Frauenstimme um Hilfe. Das kam öfter vor, es gab Prostituierte in der Nähe, und manche Ehemänner verprügelten regelmäßig ihre Frauen. Trotzdem schien es Emily nun, als wäre dieser Schrei unmittelbar aus ihrer eigenen Seele gekommen. Sie verbarg das Gesicht in ihrem Kissen. Wenigstens konnte sie nun ungehemmt weinen, ohne dass jemand sich ihretwegen Sorgen machte.

Ein hämmerndes Geräusch riss Emily aus dem Schlaf, der sie für eine Weile von ihren Sorgen erlöst hatte. Ohne weiter nachzudenken, schwankte sie ins Schlafzimmer, um nach ihrer Mutter zu sehen, die stets entschieden hatte, wann Besuch willkommen war. Der Anblick des leeren Bettes traf sie wie ein heftiger Schlag. Sie musste sich an der Wand abstützen, während sie zur Tür ging.

„Ich habe von Ihrem Verlust gehört“, sagte Mrs Graham, die Vermieterin, und stemmte die Hände in die Hüften. Mit einer unangenehmen Ahnung wich Emily zurück.

„Es tut mir wirklich sehr leid um Ihre Mutter, Miss Habermash. Sie war eine kluge, tüchtige Frau.“

Etwas an dem Blick, den Mrs Graham ihr zuwarf, machte Emily klar, dass sie selbst von ihr ganz anders eingeschätzt wurde.

„Ich brauche dennoch meine Miete, verstehen Sie? Wir müssen alle leben.“

Das hatte Dr. Jitter auch gesagt. Offensichtlich bestand die ganze Stadt aus Menschen, die um ihr Überleben fürchteten. So wie Emily selbst in diesem Moment.

„Wie viel sind wir Ihnen schuldig?“, fragte sie leise. Ihre Mutter hatte trotz wiederkehrender Fieberschübe bis kurz vor ihrem Tod noch genug Kraft gehabt, sich selbst um diese Dinge zu kümmern. Es war, als hätte Joanna Habermash alle Übel dieser Welt von ihrer Tochter fernhalten wollen. Aber nun stürzten sie auf Emily ein wie Trümmer eines baufälligen Gebäudes.

„Vier Pfund“, verkündete Mrs Graham mit grimmiger Miene. „Leider konnte Ihre Mutter seit längerer Zeit nicht mehr zahlen. Ich bin ja kein Unmensch, der eine Kranke hinauswirft. Aber nun … also ich brauche mein Geld.“

Sie stand da wie ein Felsen, der nicht so leicht wegzurücken wäre. Emilys Kopf drehte sich. Sie hatte keine Ahnung, wie hoch die Monatsmiete hier gewesen war. Mrs Graham hätte jede Summe nennen können, die ihr gefiel. Eine leise Stimme in ihrem Kopf mahnte sie, misstrauisch zu sein. Aber welche Möglichkeiten hatte sie denn, die Forderung der Vermieterin zu überprüfen?

Sie musste Zeit gewinnen.

„Ich habe natürlich Verständnis und werde die Schulden baldmöglichst begleichen. Bitte geben Sie mir zwei Tage Zeit, um ein paar Wertgegenstände zu verkaufen.“

Mrs Graham sah nicht wirklich überzeugt aus.

„Gut. Wie Sie meinen. Aber ich habe gehört, dass Ihre Mutter noch bei anderen Leuten Schulden hatte.“

„Das weiß ich“, log Emily und überlegte angespannt, wer das alles sein konnte. Natürlich zuerst einmal Dr. Jitter. Dann der Apotheker, der ihnen das Opium gegeben hatte, um die Leiden der Todkranken zu lindern. Sie fürchtete, dass die Liste in Wahrheit noch viel länger wäre. Hatte ihre Mutter deshalb gemeint, sie müsse baldmöglichst nach Jamaika aufbrechen?

„Na gut. Ich komme übermorgen wieder“, murmelte Mrs Graham. „Und Sie sollten sich überlegen, wo Sie jetzt unterkommen. Ein Mädchen in Ihrem Alter sollte nicht allein leben. Außerdem brauchen Sie sicher keine zwei Zimmer.“

Die stämmige Frau wandte sich um, und die Stiegen ächzten unter ihrem Gewicht, als sie hinabstieg. Emily wurde schwindelig. Am liebsten hätte sie noch ein paar Tage auf ihrer Bank gelegen und um ihre Mutter geweint, doch immer neue Schwierigkeiten machten das unmöglich. Mit einem Seufzer schloss sie die Tür und ging ins Schlafzimmer zurück, wo sie den Umschlag mit dem Geld aus seinem Versteck holte. Angespannt begann sie zu zählen. Es waren genau fünf Pfund, sie würde also Mrs Graham bezahlen und vielleicht noch ein paar andere Rechnungen begleichen können, aber dann hätte sie nichts mehr und müsste diese Wohnung hier verlassen.

Kurz fiel ihr das Atmen schwer, dann riss sie sich zusammen. Bisher hatte es immer Menschen gegeben, die für sie gesorgt hatten. Nun galt es, jemanden zu finden, der diese Aufgabe übernahm. Jeremiah wäre als ihr Ehemann der Richtige gewesen, aber er war zu weit weg. Es musste auch hier in London Hilfe geben, und sie konnte das von der Mutter hinterlassene Geld verwenden, um eine Weile über die Runden zu kommen.

Dieser Gedanke beruhigte sie ein wenig. Sie setzte Wasser für Tee auf und aß ein paar Scheiben trockenen Zwiebacks. Danach fühlte sie sich kräftiger.

Ihre Eltern waren beide aus dem Norden Englands nach London gekommen und hatten ihre Familien hinter sich gelassen. Den Grund dafür kannte Emily nicht, im Augenblick schien er auch unwichtig. Verwandtschaft hatte sie hier nicht. Der Vater war mit dem Verleger, dessen Bücher er illustriert hatte, befreundet gewesen. Es hatte sich um religiöse Erbauungsliteratur gehandelt, und über diesen Kontakt war es auch zu ihrer Verlobung mit Jeremiah gekommen. Der junge Pfarrer hatte einige der Texte verfasst. Aber all das war lange her, der Verleger hatte sich nach dem Tod ihres Vaters nicht mehr bei ihnen blicken lassen. Die Mutter hatte unter den Nachbarinnen ein paar Freundinnen gehabt, doch die Vorstellung, bei ihnen mit bittender Miene aufzutauchen, schien Emily allzu beschämend. Am Ende würde man sie nur abwimmeln, da es bereits genug andere Mäuler zu stopfen gab.

Sie brauchte jemanden, der nicht jeden Pence dreimal umdrehen musste, bevor er ihn ausgab, und der ihr wohlgesinnt war. Wie Dr. Jitter. Seine unpassende Berührung gestern war nur dem Umstand geschuldet gewesen, dass er sie für unvermählt gehalten hatte. Ledige Frauen wurden oft als Freiwild betrachtet. Das hatte Joanna Habermash ihrer Tochter eingeschärft, um sie zur Heirat mit Jeremiah zu überreden. Nun, da der Arzt wusste, dass sie eine verheiratete Frau war, würde er sich besser benehmen.

Zur Sicherheit zog sie den schmalen Silberring an, den sie nach Jeremiahs Abreise in einer Schublade hatte verschwinden lassen. Mit dem Schal, den ihre Mutter für sie gestrickt hatte, und robusten Lederschuhen fühlte sie sich in der Lage, den Fußmarsch zu Dr. Jitter anzutreten.

Zum Glück hatte der Regen nachgelassen, und ein paar Sonnenstrahlen ließen die Gegend ein klein wenig heller scheinen als gewöhnlich. Emily wich Unrat und Bettlern aus, sprang im letzten Moment vor einer riesigen Ratte davon und erreichte schließlich das kleine Haus, in dem der Arzt wohnte. Es war sauber gestrichen und hatte sogar einen kleinen, mit Rosen bepflanzten Vorgarten. Emily betätigte den Türklopfer und atmete erleichtert auf, als ihr sogleich geöffnet wurde. Dr. Jitters Haushälterin, eine ältere Frau mit weißer Haube, musterte sie kritisch.

„Geht es Ihnen nicht gut? Ihre Mutter wurde doch schon beerdigt, soviel ich weiß.“

Emily zuckte kurz zusammen, aber sie war von Miss Jonston derart unfreundliche Bemerkungen gewöhnt. Manche Menschen sehen in jedem einen Feind, weil Bitterkeit ihr Herz verschlossen hat, hatte Emilys Mutter ihr dieses Verhalten erklärt. Es half, sich nun an diese Worte zu erinnern.

„Dr. Jitter sagte, ich könnte mich an ihn wenden, wenn ich Schwierigkeiten hätte“, beharrte sie.

„Also so ist das.“

Miss Jonstons Gesicht wurde noch um ein paar Nuancen griesgrämiger, was Emily kaum für möglich gehalten hätte.

„Dann kommen Sie mal rein. Ich werde dem Herrn Doktor Bescheid geben.“

Bisher hatte Emily nur an der Tür vorgesprochen, um den Arzt zu ihrer Mutter zu holen. Nun tat sich ein spärlich eingerichtetes, aber sehr ordentliches Heim vor ihr auf, das in seiner Strenge nur das Werk von Miss Jonston sein konnte. Emily durfte auf einer hölzernen Bank Platz nehmen, während die Haushälterin davoneilte.

Dr. Jitter kam unerwartet schnell. Sein Hemd war schief zugeknöpft, als hätte er sich beeilt, und auf seinem Gesicht fehlte die übliche Brille. Dadurch wirkte er ein wenig unseriöser als sonst. Emily verspürte einen unerklärlichen Stich in ihrem Magen, aber sie wusste, dass sie keine Wahl hatte. Ohne seine Hilfe kam sie nicht zurecht.

„Es freut mich, dass Sie mir Vertrauen entgegenbringen, Mrs Lawson. Es war verantwortungslos von Ihrem Mann, Sie so einfach in England zurückzulassen.“

„Damals lebten meine Eltern noch“, widersprach Emily. Niemand hatte vorhersehen können, dass ihr Vater auf der Straße von einer Kutsche überrollt wurde, bei der das Pferd durchgegangen war. Von der Krankheit ihrer Mutter hatte es vor vier Jahren auch noch keine Anzeichen gegeben.

„Trotzdem wäre es seine Pflicht gewesen, sich Ihrer anzunehmen. Mir war stets klar, dass die Ehe mit großer Verantwortung verbunden ist. Deshalb habe ich bisher gezögert, denn mein Beruf bringt es mit sich, dass ich oft außer Haus bin und mich in gefährliche Gegenden begeben muss.“

Er setzte sich neben Emily und lächelte sie an. Unwillkürlich rückte sie ein Stück von ihm weg, denn mit solcher Vertraulichkeit hatte sie nicht gerechnet.

„Haben Sie schon etwas gegessen? Ich kann in der Küche Bescheid geben.“

Emily lehnte dankend ab, obwohl ihre bisherigen Mahlzeiten sich auf den Zwieback und Tee beschränkt hatten.

„Ich wollte fragen, ob … ob Sie mir helfen könnten. Ich brauche eine Arbeit. Als Näherin oder Wäscherin vielleicht.“

Hoffnungsvoll blickte sie zu ihm hoch. Ihr war klar, dass sie nicht ewig von seinem Wohlwollen abhängig sein konnte. Aber ein Mann in seiner Stellung musste doch Leute kennen, die andere Menschen für Hilfe im Haushalt bezahlten.

„Haben Ihre Eltern Ihnen denn gar nichts hinterlassen?“

Das Mitgefühl in seinen Augen erschien ihr beschämend.

„Ich habe noch etwas Geld, aber ich muss für die Zukunft vorsorgen.“

Das stimmte sogar. Dr. Jitter stieß einen leisen Seufzer aus und strich wieder kurz über ihren Arm. Der Titel Mrs musste etwas an Wirkung eingebüßt haben.

„Eine verheiratete Frau sollte nicht arbeiten müssen. Schändlich von Ihrem Mann. Wirklich schändlich.“

„Es ist aber nun einmal so“, erwiderte Emily, die langsam ungeduldig zu werden begann. „Können Sie mir also helfen, eine Anstellung zu finden? Falls nicht, werde ich mich anderweitig umsehen.“

Sie hatte es geschafft, recht zuversichtlich zu klingen. Der Arzt brauchte nicht zu wissen, dass sie keine Ahnung hatte, an wen sie sich noch wenden könnte.

„Übereilen Sie nichts. Sie wissen nicht, wie gefährlich die Welt da draußen ist.“

Zu ihrer Erleichterung stand er auf.

„Ich werde erst einmal dafür sorgen, dass Sie etwas zu essen bekommen. Miss Jonston wird ein Zimmer für Sie herrichten. Ich denke, es wird in meinem Haushalt auch eine Aufgabe für Sie geben.“

Er lächelte und entfernte sich mit einem Neigen des Kopfes. Emily sah sich nochmals in dem kahlen Raum um. Sie hätte erleichtert sein müssen über dieses Angebot, kam aber nicht gegen das Gefühl an, mit einem Fuß in eine Falle getappt zu sein. Nun konnte sie sich nicht freikämpfen, ohne Verletzungen davonzutragen.

Sie wartete eine Weile, bis Miss Jonston sie abholte und in die Küche geleitete. Dort wurden ihr Brot und Käse vorgesetzt, außerdem ein Glas Apfelmost. Obwohl sie keinen echten Hunger verspürte, merkte sie, dass die Nahrung ihr guttat. Sie fühlte sich mit gefülltem Magen weniger wehrlos und verletzlich. Vielleicht würde Dr. Jitter ihr anbieten, dass sie Miss Jonston im Haushalt zur Hand gehen sollte. Es wäre sicher nicht angenehm, unter der Fuchtel eines solchen Drachen zu stehen, aber sie hätte immerhin fürs Erste ein Auskommen.

„Ich zeige Ihnen jetzt Ihr Zimmer“, knurrte die Haushälterin, als sie kurz darauf wieder zur Tür hereinkam. Emily erhob sich folgsam. Sie würde später noch losziehen, um ihre spärlichen Habseligkeiten aus der Wohnung zu holen und bei der Gelegenheit auch die Schulden bei der Vermieterin zu begleichen. Jetzt, da sie eine Anstellung in Aussicht hatte, musste sie das von der Mutter vererbte Geld nicht mehr mit aller Kraft zusammenhalten.

Der ihr zugewiesene winzige Raum befand sich unmittelbar unter dem Dachgeschoss und enthielt nichts weiter als ein schmales Bett und einen Tisch. Dennoch war sie zufrieden, denn in ihrem Elternhaus hatte sie noch weniger Platz für sich allein gehabt.

„Hier können Sie erst einmal warten, bis der Herr Doktor nach Ihnen sieht“, erklärte die Haushälterin und schob Emily herein.

„Aber soll ich nicht irgendeine Arbeit …“

Die Tür war zugefallen, bevor sie ihre Frage hatte zu Ende sprechen können. Emily blieb etwas ratlos zurück, setzte sich nach kurzem Zögern auf die Matratze und blickte durchs Fenster nach draußen. Unter ihr wuchs dichtes Gebüsch, und der Raum lag nicht so hoch, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte.

Sie würde, falls es notwendig war, durchs Fenster nach draußen springen können, ohne größere Verletzungen zu riskieren. Aber hätte sie wirklich den Mut dazu?

Entschlossen verjagte sie diese abwegigen Gedanken. Dr. Jitter war ein ehrenwerter Mann und in seinem Haus drohte ihr mit Sicherheit keine Gefahr. Gleichzeitig erfüllte es sie mit Erleichterung, dass sie die geerbten fünf Pfund bei sich in ihrem Beutel trug. Es war ihr zu gefährlich erschienen, sie unbeaufsichtigt in der Wohnung zu lassen.

Im Reich des Zuckerrohrs

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