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3. Kapitel London, März 1830
ОглавлениеEmily hatte bereits die Augen geschlossen, als es an ihrer Tür klopfte. Sie wandte sich verärgert um. Sicher war es Miss Jonston, die ständig etwas an ihrer Arbeit auszusetzen hatte. Seit einer Woche war sie Dr. Jitters Dienstmädchen, eine Anstellung, die sie allein seiner Großherzigkeit zu verdanken hatte. Niemand hätte einem jungen Mädchen ohne Referenzen so eine Chance gegeben, wie er ausdrücklich betont hatte. Ihr wäre allein die Plackerei in einer der Fabriken geblieben, eine deutlich schlechter bezahlte Arbeit, ungleich härter und zudem auch nicht mehr so leicht zu bekommen, da zu viele Leute vom Land nach London strömten, wo sie sich ein besseres Leben erhofften.
Emily hatte die eingefallenen, kränklichen Gesichter der Arbeiterinnen oft genug auf den Straßen gesehen, um zu ahnen, welches Schicksal ihr erspart worden war. Außerdem verhielten diese Mädchen sich oft so laut und derb wie Prostituierte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihnen zurechtgekommen wäre. Miss Jonston war zwar streng und unfreundlich, aber sie sprach niemals vulgäre Worte. Allmählich begann Emily, sich an ihr ständiges Nörgeln zu gewöhnen, zudem ihre Fähigkeiten beim Staubwischen und Servieren langsam besser wurden. Was hatte sie jetzt nur angestellt, um so spät noch geweckt zu werden?
„Was gibt es denn?“, rief sie erschöpft. Sie würde sich die Schimpftirade der alten Frau einfach anhören und dann weiterschlafen.
Aber es war Dr. Jitter persönlich. Er trug einen Morgenmantel und hielt eine brennende Kerze in der Hand. Auf seinem Gesicht fehlte die sonst allgegenwärtige Brille. Aus unerfindlichen Gründen fand Emily sein Auftauchen nun unangenehmer, als ein unangekündigter Besuch der Haushälterin es hätte sein können.
„Was wünschen Sie, Sir?“
Sie wickelte sich in ihre Decke, obwohl es recht warm im Zimmer war, und setzte sich aufrecht hin.
„Ich wollte einmal sehen, wie es Ihnen so geht“, meinte der Doktor und trat ein, obwohl sie ihn nicht dazu aufgefordert hatte. Aber es war sein Haus, daher konnte sie ihn kaum daran hindern.
„Es geht mir sehr gut“, sagte Emily schnell. „Ich bin sehr dankbar, hier eine Arbeit zu haben. Aber sie ist anstrengend, daher bin ich nachts müde.“
Er ignorierte ihre indirekte Aufforderung, sie schlafen zu lassen, und setzte sich auf den einzigen Stuhl in ihrem Zimmer.
„Ja, natürlich. Für so eine zarte Person ist es nicht einfach, körperlich arbeiten zu müssen. Sie hätten ein besseres Schicksal verdient. Ihr Ehemann verhielt sich wirklich verantwortungslos.“
Er hatte Jeremiah in letzter Zeit kaum erwähnt, was Emily erleichtert hatte. An ihr ebenso kurzes wie nicht besonders angenehmes Dasein als Ehefrau wurde sie nicht allzu gern erinnert.
„Ich lerne nun, wie ich allein zurechtkomme. Das gefällt mir“, sagte sie und meinte es völlig ehrlich.
Dr. Jitter runzelte die Stirn.
„Eine Frau braucht in dieser Welt einen Beschützer“, mahnte er. „Die Lage, in die Ihr Ehemann Sie gebracht hat, ist sehr unerfreulich, denn Sie haben ja nicht einmal die Möglichkeit, eine neue Ehe einzugehen. Traurig, sehr traurig.“
Er musterte Emily, als sei sie ein vor Hunger wimmerndes, ausgesetztes Kätzchen. Doch sah er dabei aus wie jemand, der angesichts dieses Elends nur den Kopf schüttelte, anstatt einfach eine Schüssel Milch zu holen.
„Ich werde schon zurechtkommen. Danke für Ihre Fürsorge“, meinte Emily dennoch brav und ließ ihrem nächsten Gähnen freien Lauf. Vielleicht würde er jetzt endlich verstehen, dass sie im Moment nur allein sein und die Augen schließen wollte.
„Ich möchte Sie unterstützen“, redete Dr. Jitter leider weiter. „Ihnen zur Seite stehen. Mrs Lawson … Emily, es bricht mir das Herz, Sie so völlig allein und erschöpft zu sehen.“
Er ergriff ihre Hand. Sie versuchte, sie ihm so schnell wie möglich zu entziehen, aber sein Griff war eisern. Als er sich zu ihr beugte, nahm sie einen merkwürdigen Geruch an seinem Atem wahr. Die Betrunkenen auf den Straßen stanken ähnlich, nur viel stärker. In Emilys Zuhause war niemals Alkohol getrunken worden, daher vermochte sie seine Wirkung auf Menschen kaum einzuschätzen.
„Ich würde jetzt wirklich gern schlafen, Sir!“, rief sie.
Dr. Jitter ließ tatsächlich ihre Hand los. Etwas Böses blitzte in seinen Augen auf, aber gleich darauf lächelte er.
„Es widerstrebt mir, Sie weiter zu belästigen. Aber bedenken Sie bitte, wo Sie ohne meine Fürsorge wären“, meinte der Arzt.
Emily nickte.
„Ich bin Ihnen sehr dankbar. Bitte entschuldigen Sie meine Müdigkeit.“
Gleichzeitig betete sie, dass er jetzt endlich gehen würde.
„Sie müssten nicht so hart arbeiten. Wir könnten uns auch anderweitig einigen“, redete er unerbittlich weiter. „Ich wäre bereit, für Sie zu sorgen, wie … wie ein Ehemann. Dadurch hätten Sie ein viel angenehmeres Leben.“
Wieder lächelte er, nun etwas sanfter und versöhnlicher. Emilys Kopf drehte sich. Sie verstand nicht ganz, worauf er anspielte, musste aber wieder an das Fenster in ihrem Zimmer denken. Es gab ein Entkommen aus der Lage, in der sie sich befand.
Nur glaubte sie nicht mehr, einfach hinausspringen zu können. Der Garten lag zu tief unten, sie könnte sich verletzen, da sie keinerlei Erfahrung mit solchen Abenteuern hatte. Kurz raubte Panik ihr die Luft zum Atmen, dann zwang sie sich zur Ruhe. Dr. Jitter war nicht bösartig, nur manchmal etwas seltsam.
„Ich arbeite gerne hier als Dienstmädchen“, sagte sie schnell. Es entsprach nicht ganz der Wahrheit, aber das brauchte er nicht zu wissen. „Ich habe ja schon einen Ehemann und brauche sonst niemanden.“
Eine Falte erschien auf Dr. Jitters Stirn.
„Ich glaube, Sie sind zu unerfahren, um die Lage wirklich einschätzen zu können. Bitte vergessen Sie nicht, dass ich auch Ihre Schulden bezahlt habe.“
„Welche Schulden? Ich … ich …“
„Sie hatten Schulden bei der Vermieterin. Sie hat deshalb hier vorgesprochen. Außerdem haben sich noch ein paar andere Leute gemeldet. Ich fürchte, Ihre Mutter hat in den letzten Monaten über ihre Verhältnisse gelebt. Eine Frau allein kommt eben nicht zurecht.“
Emily war übel geworden. Ihre neue Arbeit hatte sie so sehr in Anspruch genommen, dass sie die Forderungen der Vermieterin schlichtweg vergessen oder vielleicht auch nur verdrängt hatte. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass ihr Arbeitgeber für sie zahlen würde, ohne das vorher mit ihr zu besprechen.
Sie dachte an die fünf Pfund, die sich immer noch in dem Umschlag befanden. Eine leise Stimme in ihrem Kopf mahnte, das Geld nicht so einfach dem Arzt zu übergeben. Aber was sollte sie sonst tun?
„Ich werde meine Schulden selbstverständlich begleichen“, stammelte sie. „Durch meine Arbeit in Ihrem Haus.“
Bisher hatte Dr. Jitter ihr keinen Lohn überreicht, aber er musste ihr irgendetwas schuldig sein. Wenn sie weiter fleißig blieb, hätte sie irgendwann alles zurückgezahlt.
„Ach Emily. Machen Sie es doch nicht so schwer. Wir können uns ganz leicht einig werden.“
Nun hatte er etwas gelallt. Bevor Emily antworten konnte, hielt er wieder ihre Hand und neigte sich zu ihr, näher, als ihr schicklich schien. Sie hatte sich zum letzten Mal von Jeremiah derart bedrängt gefühlt, der aber als Ehemann ein Recht darauf gehabt hatte. Dr. Jitter stand es eindeutig nicht zu, sein Gesicht so dicht an ihres zu bringen, aber wie sollte sie ihn daran hindern?
Sie versetzte ihm einfach einen kräftigen Schubs, der ihn tatsächlich rückwärts taumeln ließ. Dabei stolperte er über den Stuhl, der umgefallen war, und landete mit einem lauten Knall neben dem Möbelstück auf dem Boden. Zum Glück hatte er die Kerze vorher abgestellt, ging es Emily durch den Kopf. Gleich darauf begriff sie, was geschehen war, und fürchtete, ihr Herzschlag könnte plötzlich aussetzen. In ihrem Bemühen, alles richtig zu machen, tappte sie von einer Falle in die nächste.
„Verfluchtes Weib!“, schrie der Arzt auf. Sie überlegte panisch, einfach davonzulaufen. Aber wo sollte sie mitten in der Nacht Unterschlupf finden, ohne einen Penny in der Tasche und nicht einmal anständig bekleidet? Ohne weiter nachzudenken, lief sie zu der Matratze und zog den Umschlag mit ihrem Geld heraus. Egal, was jetzt geschah, sie würde es auf jeden Fall brauchen. Dann packte sie den Schal, den ihre Mutter für sie gestrickt hatte, um sich weniger schutzlos zu fühlen.
„Ich bedauere diesen Unfall, Sir“, sagte sie so gefasst wie möglich. „Wenn Sie wünschen, werde ich Ihr Haus verlassen.“
Sie war überzeugt, nun herausgeworfen zu werden, und hoffte, ein klein wenig Würde zu bewahren, wenn sie freiwillig ging.
Dr. Jitter kämpfte sich mühsam wieder auf die Beine. Sie hätte ihm gern geholfen, aber nun widerstrebte es ihr, ihm die Hand zu reichen.
„Das würde dir so passen, du Miststück“, knurrte er und stützte sich am Tisch ab. „Einfach weglaufen, nach allem, was ich für dich getan habe.“
„Bitte, Sir, es tut mir sehr leid. Ich … ich werde meine Schulden bezahlen. Auf der Stelle, wenn Sie wollen.“
Ihre Hand war zu einer schützenden Faust geballt, um ihr letztes Geld festzuhalten. Dennoch hielt sie ihm seufzend den Umschlag entgegen. Vielleicht würde er sich wieder anständig verhalten, wenn sie ihm nichts mehr schuldig war. Dann konnte sie weiter als sein Dienstmädchen arbeiten. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie sonst gehen sollte, und die Vorstellung, sich völlig allein auf den Straßen Londons durchschlagen zu müssen, raubte ihr die Luft zum Atmen.
Dr. Jitter versuchte, ihr den Umschlag zu entreißen, aber sie wich zurück. Zuerst sollte er sagen, wie viel sie ihm zahlen musste.
„Woher hast du Geld?“, fragte er ehrlich erstaunt.
„Meine Mutter hat es mir hinterlassen. Ich hätte die Vermieterin bezahlen können, nur wusste ich nicht, dass sie hier war.“
Sie fühlte sich etwas weniger hilflos und nahm eine aufrechte Haltung an.
„Unsinn!“, erwiderte der Arzt. „Deine Mutter war bettelarm, ich musste ihr sogar Medikamente schenken, weil ich Mitleid mit ihr hatte. Du hast mich bestohlen! Gib es zu, das macht die Sache leichter.“
Emily schnappte nach Luft.
„Ich weiß nicht einmal, wo Sie Ihr Geld aufbewahren, Sir. Ich hätte nie …“
„Du wolltest mich ausnehmen und dich dann davonmachen“, unterbrach er. „Ich sorge dafür, dass du ins Gefängnis kommst, du kleines Luder. Oder du bist jetzt ein bisschen nett zu mir.“
Wieder streckte er die Arme nach ihr aus, und nun bekam Emily wirklich Angst. Ihr Bild, das sie sich von dem ehrenwerten Arzt gemacht hatte, zerbrach wie eine umgekippte Porzellanfigur.
„Lassen Sie mich in Frieden, Sir. Gehen Sie. Wir reden morgen weiter.“
Ihre Stimme war so laut geworden, dass sie selbst darüber erschrak. Dr. Jitter schubste den kleinen Tisch zur Seite, der noch schützend zwischen ihnen gestanden hatte.
„Jetzt hör auf, dich so anzustellen, verdammt! Es ist alles nicht so schlimm, du warst doch schon verheiratet.“
Als er ihren Ellbogen packen wollte, versetzte Emily ihm einen Tritt und traf sein Schienbein. Wieder taumelte er, hob jedoch die Hand, um nach ihr zu schlagen. Sie wich schnell aus. Dabei stieß sie gegen das Bett, schwankte und fiel mit einem Knall auf den Boden. Ihre Schulter schmerzte von dem Aufprall, aber sie hielt immer noch ihr Geld fest.
Dr. Jitters Gesicht tauchte wie eine dunkle Wolke über ihr auf. Sie verkrampfte sich in dem verzweifelten Wunsch, irgendwie Widerstand zu leisten. Dann erklang plötzlich eine vertraute, tiefe Frauenstimme.
„Ist etwas vorgefallen, Sir? Ich habe Lärm gehört und wollte nachsehen.“
Niemals hätte Emily sich vorstellen können, über den Anblick von Miss Jonstons griesgrämiger Miene erfreut zu sein. Dr. Jitter hatte sich schlagartig aufgerichtet und lächelte die Haushälterin an.
„Es ist nichts geschehen. Ich hörte Mrs Lawson rufen, weil es ihr nicht gut ging. Da wollte ich kurz nachsehen. Es war wohl ein vorübergehender Schwächeanfall.“
Er warf Emily einen warnenden Blick zu. Sie kämpfte sich auf die Beine und nickte Miss Jonston zu. Die alte Frau hätte ihr ohnehin nicht geglaubt, wenn sie Vorwürfe gegen den Arzt erhob.
„Dann lassen Sie mich das Mädchen versorgen, Sir“, meinte die Haushälterin. „Gehen Sie schlafen. Ein so hart arbeitender Mann muss nachts ruhen.“
Ein wenig klang es, als redete sie mit einem unartigen Jungen, den sie besänftigen wollte. Zum allerersten Mal fand Emily die resolute Art der Haushälterin sympathisch.
Dr. Jitter räusperte sich.
„Gut, ich gehe dann. Morgen müssen wir aber noch einige Dinge besprechen.“
Emily wusste, dass diese Worte vor allem an sie gerichtet gewesen waren. Als die Tür hinter ihm zugefallen war, atmete sie erleichtert auf. Miss Jonston machte jedoch keine Anstalten, sich zu entfernen. Ruhig stellte sie die umgestürzten Möbelstücke wieder auf. Ordnung zu schaffen sah sie offenbar als ihre Lebensaufgabe an.
„Haben Sie wirklich geglaubt, er will Sie hier nur als Dienstmädchen?“, murmelte sie unterdessen. „Eine, die beim Staubwischen Vasen umwirft?“
„Das ist nur am ersten Tag passiert. Danach war ich vorsichtiger“, protestierte Emily schwach.
Miss Jonston setzte sich auf den von ihr hingestellten Stuhl.
„Sie sind nicht die Erste“, erzählte sie dann. „Es gab schon zwei vorher. Beides so junge Dinger, die hübsch aussahen, aber sonst nicht viel konnten. Er wird Sie nicht heiraten, machen Sie sich keine Hoffnungen.“
„Aber ich habe doch schon einen Ehemann!“, rief Emily empört. So wenig begeistert sie auch von Jeremiah gewesen war, sie hätte ihn allemal Dr. Jitter vorgezogen.
„Ja, ja. Aber der ist ziemlich weit weg“, meinte die Haushälterin seufzend. „Der Doktor wird Sie früher oder später rauswerfen, egal, wie nett Sie zu ihm sind. Wenn Sie Ärger machen, droht er Ihnen, Sie aus irgendeinem Grund vor Gericht zu bringen.“
Das passte zu der Erfahrung, die Emily gerade gemacht hatte.
„Ich habe das Geld von meiner Mutter“, rief sie und hielt ihren Umschlag hoch. „Er behauptet, ich hätte es ihm gestohlen. Aber das stimmt nicht.“
Die Haushälterin verzog nur das Gesicht.
„Können Sie beweisen, dass Sie das Geld von Ihrer Mutter haben? Natürlich nicht. Also steht seine Aussage gegen Ihre. Wer sind Sie im Vergleich zu ihm?“
Emily kam sich plötzlich so klein und hilflos vor, dass sie auf ihr Bett sank. Am liebsten hätte sie sich einfach die Decke über den Kopf gezogen, um die Welt nicht mehr sehen zu müssen.
„Sie sollten das Haus verlassen“, ging die Stimme der Haushälterin unerbittlich auf sie nieder. „Er hat Sie bereits in der Hand. Gehen Sie am besten aus der Stadt fort, denn er ist in der Lage, Ihnen die Polizei auf den Hals zu hetzen. Männer wie er mögen es nicht, wenn sie nicht bekommen, was sie wollen.“
Emily rollte sich zusammen. Sie hatte den Eindruck, in ein tiefes schwarzes Loch zu stürzen. Allein der strenge Blick von Miss Jonston erinnerte sie daran, dass sie handeln musste, anstatt sich zu bemitleiden.
„Unten am Hafen sind etliche Herbergen“, riet die Haushälterin. „Schauen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich ein billiges Zimmer für die Nacht finden, denn auf den Straßen ist es nicht sicher. Sobald es hell geworden ist, nehmen Sie eine Reisekutsche oder ein Schiff. Haben Sie irgendwo Familie?“
Emily schüttelte schluchzend den Kopf.
„Nur meinen Mann.“
„Dann müssen Sie wohl zu ihm“, stellte Miss Jonston unerbittlich fest und stand auf. „Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Sie können sich also hinausschleichen, bevor der Doktor nach Ihnen sieht. Oder Sie bleiben und versuchen, sich mit ihm zu arrangieren. Das ist Ihre Entscheidung. Ich bin jetzt müde und gehe schlafen.“
Im Türrahmen blieb sie noch einmal kurz stehen.
„Eigentlich bin ich heilfroh, nicht mehr so jung zu sein“, stellte sie fest. „In meinem Alter ist man vor den Kerlen sicher.“
Der Blick, den sie Emily zum Abschied zuwarf, war beinahe mitfühlend.
Selbst das Wetter schien sich gegen Emily verschworen zu haben. Regentropfen schlugen hart gegen ihr Gesicht, sobald sie die trügerische Sicherheit von Dr. Jitters Haus hinter sich gelassen hatte, und ein eisiger Wind blies ihr entgegen. Sie wickelte sich den Schal um den Kopf und rannte schluchzend los. Noch niemals hatte sie sich zu so später Stunde auf die Straßen Londons wagen müssen, und nun wusste sie nicht einmal, wohin sie gehen sollte. Sehnsüchtig drehte sie sich noch einmal nach dem schmucken Haus des Arztes um, wo sie ein neues Heim zu finden gehofft hatte. Die ersten Schritte, mit denen sie sich davon entfernte, taten fast weh. Dann begann sie zu laufen, denn das Wetter ließ ihr keine andere Wahl.
Je näher sie dem Hafen kam, desto lauter und schmutziger wurde die Umgebung. Emily war auf einmal erleichtert über den Regen, denn es waren nicht allzu viele Leute unterwegs, und wer auch immer irgendwohin gehen musste, beeilte sich, schnell ans Ziel zu kommen. Sie stolperte über zwei Betrunkene, die am Straßenrand herumlagen, doch sonst hielt sie niemand auf.
Leider hatte sie keine Ahnung, wo sie eine passende Herberge finden konnte. Es widerstrebte ihr, einfach an irgendeine Tür zu klopfen, ohne überhaupt zu wissen, was sich dahinter verbarg. Bei wärmeren Temperaturen hätte sie sich lieber nach einem Versteck umgesehen, wo sie bis Tagesanbruch ausharren konnte, doch nun hatte sie Angst, sich ein Fieber zu holen, wenn sie allzu lange draußen blieb. Eine andere Möglichkeit wäre die Rückkehr in ihr altes Heim gewesen. Die Schulden waren ja bereits bezahlt und so hilflos, wie sie im Moment aussehen musste, hätte vielleicht einer der Nachbarn Mitleid und würde sie wenigstens für eine Nacht aufnehmen. Sobald sie durch diesen Plan ein wenig Hoffnung geschöpft hatte, fiel ihr ein, dass Dr. Jitter sicher genau dort nach ihr suchen lassen würde, sobald er ihr Verschwinden bemerkt hätte.
Völlig erschöpft fand sie kurz Zuflucht unter dem Vordach eines Hauses. Ihr Kleid war so nass, als sei sie in einen Fluss gefallen, und ihre Hand schmerzte vom Schleppen der Tasche, in die sie schnell all ihre Habseligkeiten geworfen hatte. Wenn sie nur ein wenig zur Ruhe kam, würde sie vielleicht Zuversicht gewinnen, versuchte sie sich einzureden. Oder wenigstens der Regen konnte nachlassen.
Leider begann sie, nur erbärmlich zu frieren, während Fäden von Regen ihr weiterhin die Sicht erschwerten. Ihre Zähne klapperten bereits, als sie zwei Herren in eleganten Anzügen bemerkte, die aus einem der Häuser traten und ihre Mantelkrägen hochschlugen. Anders als die schäbigen Gestalten in der Hafengegend schienen sie Emily vertrauenswürdig. Sie raffte ihren letzten Rest an Mut zusammen und lief los.
„Entschuldigen Sie bitte, Sirs“, stammelte sie und versuchte verlegen, ihr Gesicht trocken zu wischen. Sie trug eine Haube, die aber schon vor Nässe triefte. „Wissen Sie, wo ich hier in der Gegend eine anständige Herberge finde?“
Als zwei skeptische Augenpaare sie musterten, wurde ihr bewusst, wie lächerlich ihre Bitte klingen musste. Dort, wo zwei feine Herren abstiegen, würde sie sich nicht einmal eine Tasse Tee leisten können.
„Tut mir leid, Miss. Wir brauchen im Moment keine weibliche Gesellschaft“, erwiderte einer von ihnen durchaus freundlich. Bevor Emily empört einwenden konnte, dass sie missverstanden worden war, hatten die beiden sich schon abgewandt.
„Die sah aus wie eine begossene Kanalratte. So verzweifelt sind wir wirklich nicht!“, meinte der andere Gentleman lachend, während sie gemeinsam davoneilten. Emily kam sich vor, als sei sie gerade angespuckt worden. Schluchzend begann sie, die Straße entlang zu laufen, denn es regnete nun endlich etwas weniger. Nach drei Schritten rutschte sie aus und fiel der Länge nach hin. Nun war sie nicht nur eine nasse, sondern auch eine schmutzige Kanalratte, dachte sie, während sie sich wieder auf die Füße kämpfte. Die Tasche war zum Glück unversehrt. Der Umschlag mit dem Geld, ihr wertvollster Besitz, steckte immer noch in ihrem Mieder. Sie bemühte sich, ihr schmerzendes Knie zu ignorieren und einfach weiterzugehen.
„Haben Sie sich verletzt, Miss?“
Es war eine tiefe, brummende Männerstimme, die mit einem seltsam singenden Unterton sprach. Emily drehte sich um und musste einen Schreckensschrei unterdrücken.
Der Mann sah aus, als hätte jemand seine Haut mit Kohle beschmiert. In der nächtlichen Gasse glich er einem Schatten, nur das Weiße in seinen Augen leuchtete, außerdem ein paar Strähnen von schlohfarbenem Kraushaar, die unter seinem Hut hervorlugten. Nach ein paar Atemzügen hatte Emily sich gefangen. Er war nicht der erste dunkelhäutige Mann, den sie zu Gesicht bekam. Nur so nahe war sie bisher keinem gekommen, hatte noch nie seine Stimme gehört.
„Ich bin ausgerutscht“, erwiderte sie schnell. „Aber mir ist nichts Schlimmes geschehen.“
Er nickte, lächelte freundlich, sodass nun auch helle Zähne aufblitzten, und wollte weitergehen. Emily überkam ein Gefühl von Verlust, denn er war der erste Mensch in dieser nächtlichen Stadt, der freundlich zu ihr gewesen war.
„Ich brauche ein Zimmer für die Nacht. Irgendwo, wo es nicht zu teuer und sicher ist!“, rief sie ihm hinterher. „Können Sie mir vielleicht etwas empfehlen? Ich … ich habe ein bisschen Geld. Ich will wirklich nur irgendwo bleiben können, bis es hell wird.“
Sie wollte nicht noch einmal missverstanden werden. Der Mann drehte sich wieder zu ihr um. Aus seinem Blick sprach weiterhin nichts als Mitgefühl.
„Ist Ihnen ein Unglück geschehen? Dieser Teil der Stadt ist wirklich kein Ort, an dem eine junge Frau nachts allein herumlaufen sollte.“
Das hatte Emily auch schon bemerkt.
„Ich … ich bin jetzt Waise, also meine Eltern sind gestorben, und dort, wo ich war, kann ich nicht bleiben“, plapperte sie drauflos. Es tat so wohl, endlich jemandem ihr Herz ausschütten zu können. Er lauschte geduldig und hielt ihr ein Taschentuch hin, mit dem sie ihr Gesicht abtrocknen konnte.
„Haben Sie denn sonst keine Familie? Niemanden, der sich um sie kümmert? Sie reden wie jemand, der schon ein paar Bücher gelesen hat.“
Emily verstand nicht ganz, wie das eine mit dem anderen zusammenhing.
„Mein Vater illustrierte Bücher. Ich habe natürlich auch ein paar gelesen, vor allem religiöse Schriften“, erzählte sie und verspürte einen Stich von Wehmut. Wie sicher und geborgen ihr Leben damals noch gewesen war!
„Jetzt habe ich einen Ehemann“, fügte sie gleich hinzu, um erneut auf ihre Respektabilität hinzuweisen. „Er ist in Jamaika.“
„Das ist ganz schön weit weg“, bemerkte der dunkelhäutige Fremde in Übereinstimmung mit Miss Jonston.
„Ja, das könnte man so sagen.“ Plötzlich musste Emily grinsen, und er lächelte zurück.
„Mein Name ist übrigens Mrs Lawson“, stellte sie sich vor.
„Ich bin Jamie Morton“, erwiderte der Mann. „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen eine Unterkunft, wo sie ein paar Tage bleiben können. Ich kenne die Besitzerin, machen Sie sich keine Sorgen.“
Noch vor einem Tag hätte Emily sich niemals vorstellen können, einem ihr völlig unbekannten Mann fremder Abkunft einfach zu folgen. Aber nun blieb ihr keine Wahl. Auch wenn er nicht aussah wie ein Gentleman, hatte er sich im Gegensatz zu den anderen bisher wie einer benommen.
„Das ist wirklich sehr nett von Ihnen“, meinte sie brav und ließ ihn auch ihre Tasche tragen, als er sich anbot.
Die Herberge war ein kleines Haus direkt am Hafen, schäbig, aber erfreulich sauber. Eine rundliche Frau begrüßte Jamie Morton mit einer herzlichen Umarmung, um Emily gleich darauf skeptisch zu mustern.
„Die junge Lady braucht ein Zimmer“, sagte er unbeirrt. „Für eine Nacht. Oder vielleicht auch für länger.“
„Ich kann das bezahlen“, fügte Emily gleich darauf hinzu. Die Wirtin nannte einen erfreulich geringen Preis. Mit ihren fünf Pfund würde sie hier mehrere Wochen bleiben können, stellte sie erleichtert fest. Dann fiel ihr wieder Dr. Jitter ein. Wenn er Anzeige wegen Diebstahls gegen sie erstattete, wäre sie nirgendwo in London sicher. Warum war sie nur so dumm gewesen, der Wirtin ihren richtigen Namen zu nennen?
„Morgen muss ich leider gleich weg“, stellte sie enttäuscht fest. Aber wohin sollte sie gehen? Ihre Mutter hatte einmal zwei Schwestern in der Nähe von Liverpool erwähnt. Aber sie kannte nicht einmal den Namen der Ortschaft, in der sie lebten.
„Jamaika“, dachte sie laut. „Ich muss zu meinem Mann nach Jamaika.“
Ihre Mutter hatte wieder einmal recht gehabt. Sie kam ohne Jeremiah nicht zurecht, auch wenn sie ihn kein bisschen vermisste und Angst hatte vor der Wildnis, in der er sich nun aufhalten musste. Aber vielleicht wäre es gar nicht so schlimm. Es gab dort immerhin viele Zuckerrohrplantagen, die englischen Herrschaften gehörten. An diesen Orten musste auch ein zivilisiertes Leben möglich sein.
Die Wirtin zuckte nur mit den Schultern und forderte die Bezahlung für die erste Nacht ein. Emily überlegte verlegen, wie sie den Umschlag unauffällig aus ihrem Mieder ziehen konnte, da legte Jamie Morton schon ein paar Münzen auf den Tisch.
„Ich zahle das, Cat. Und gib der Lady auch ein gutes Frühstück, bevor sie geht.“
Emily schluckte verlegen. Sie hätte gern auf Almosen verzichtet, aber sein Angebot kam im Moment wie ein Geschenk des Herrn.
„Du hast einfach ein Herz aus Gold, du alter Brummbär“, murmelte die Wirtin und warf Jamie Morton einen verliebten Blick zu, bevor sie schnell ihr Geld einsteckte. Emily bedankte sich. Die ganze Lage war ihr furchtbar peinlich.
„Ich weiß, wie es sich anfühlt, Hilfe bitter nötig zu haben“, erwiderte Jamie Morton mit ernster Miene. Emily vernahm sehr deutlich, dass dies nicht nur eine Floskel war. Instinktiv streckte sie die Hand nach ihm aus, bevor er für immer aus ihrem Leben verschwinden konnte.
„Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich nach Jamaika komme“, stammelte sie. „Am besten schon morgen.“
„Mit dem Schiff, würde ich sagen“, mischte die Wirtin sich ein. „Schwimmen geht nicht, Mädchen.“
„Aber … wo finde ich ein Schiff“, fragte Emily.
„Wir sind hier am Hafen“, erwiderte die Wirtin und lachte herzhaft. Jamie Morton sah sie mahnend an.
„Ich kenne ein paar Leute, die auf den Docks arbeiten“, sagte er nur. „Ich werde mich umhören, wann das nächste Schiff nach Jamaika segelt. Lebt Ihr Mann in Kingston?“
„Ja … ich denke.“
Irgendwo hatte sie Jeremiahs Adresse aufgeschrieben. Aber sie wusste nicht mehr genau, wo. Vor allem wusste sie nicht, ob sich das Buch oder der Brief überhaupt noch in ihrem Besitz befanden. Aber mit diesem Problem würde sie sich auseinandersetzen müssen, wenn sie ihr Ziel erreicht hatte. Jamaika war eine Insel und konnte so groß nicht sein.
„Ich komme morgen gegen sieben und sehe nach Ihnen“, versprach Jamie Morton und nickte ihr zum Abschied zu. Emily schossen vor Erleichterung Tränen in die Augen. Dann ergriff sie ihre Tasche und stieg die schmalen Stiegen hoch.
Fürs Erste war sie in Sicherheit.
Das Zimmer war winzig, aber frei von Wanzen. Die Bettwäsche wies glücklicherweise keine Flecken auf. Emily fiel völlig erschöpft in einen tiefen Schlaf und erwachte erst, als die Wirtin an ihre Tür klopfte.
„Jamie Morton wartet unten auf Sie. Sie wollten doch eine Schiffsfahrt machen.“
Emily wälzte sich herum und schloss seufzend die Augen. Das winzige Zimmer fühlte sich plötzlich vertraut und heimelig an. Sie wollte es nicht verlassen, um sich auf See zu begeben und in ein völlig unbekanntes Land aufzubrechen. Wenn Jeremiah ihr bisher nicht geschrieben hatte, so war er vielleicht schon tot oder verspürte wenigstens kein Verlangen nach einem erneuten Zusammenleben mit ihr. Nun, das beruhte auf Gegenseitigkeit. London war Emilys Zuhause. Vielleicht konnte sie die Wirtin fragen, ob es hier in der Herberge irgendeine Möglichkeit für sie gab, Geld zu verdienen. Es standen nicht viele Vasen herum, die sie beim Staubwischen würde umwerfen können. Nur lebte sie dann ständig in der Gefahr, dass Dr. Jitter sie aufspürte und ins Gefängnis werfen ließ.
Erschöpft zwang sie sich aufzustehen. Ihre Glieder schmerzten von dem gestrigen Streifzug durchs East End, doch das war vielleicht nur ein Vorgeschmack auf die Abenteuer gewesen, die sie noch würde bewältigen müssen.
„Ich komme gleich runter“, rief sie und hörte, wie die Schritte der Wirtin sich wieder entfernten. Dann entdeckte sie zu ihrer Erleichterung einen Krug Wasser in der Zimmerecke. Einigermaßen sauber und in einem frischen Kleid zog sie los, um sich einer ungewissen Zukunft zu stellen.
Dank Jamies gutem Einfluss auf die Wirtin kam sie in den Genuss von gebratenen Eiern mit Speck zum Frühstück. Mit vollem Magen fühlte sie sich nicht mehr ganz so hilflos.
Gemeinsam mit Jamie leerte sie einen Krug Bier. Er hatte sie kurz begrüßt, danach aber in Ruhe essen lassen, wofür sie ihm sehr dankbar war. Nun, da ihre Verzweiflung nachzulassen begann, empfand sie es als peinlich, von ihm gerettet worden zu sein wie ein ausgesetztes Schoßhündchen.
„Es gibt tatsächlich ein Schiff, mit dem Sie nach Kingston fahren könnten“, sagte er dann völlig unerwartet. „Ein Bekannter von mir ist dort Steward. Wenn Sie dem Kapitän genug Geld zahlen, nimmt er Sie mit. Aber wollen Sie das wirklich?“
Emily schluckte.
„Ich habe keine Wahl“, stellte sie fest. Auch dies nahm er hin, ohne Erstaunen zu zeigen oder genauer nachzufragen.
„Dann sollten wir das baldmöglichst regeln. Die Reise beginnt in zwei Tagen.“
Bis dahin würde sie sich in der Herberge verstecken müssen, beschloss Emily. Bei der Vorstellung, wie sehr ihr Leben sich danach ändern sollte, wurde ihr schwindelig. Der Anblick von Jamie Mortons Gesicht beruhigte sie ein wenig.
„Waren Sie denn schon in Jamaika?“, fragte sie spontan. Immerhin sollten dort viele Leute mit seiner Hautfarbe leben. Dennoch überraschte es sie, dass er nach kurzem Zögern nickte.
„Ich wurde dort geboren. In der Nähe von Montego Bay.“
Wo auch immer das liegen mochte.
„Wann kamen Sie denn nach England?“
Es tat wohl, so ein völlig normales Gespräch zu führen, als sei dies ein Tag wie jeder andere.
„Vor über dreißig Jahren. Ich war damals etwa vierzehn.“
„Und seitdem sind Sie nie wieder in Ihrer Heimat gewesen?“
Er schüttelte den Kopf. Emily kam eine Idee, wie sie ihre Angst vor dem Aufbruch ein wenig mindern könnte.
„Sie … Sie wollen nicht vielleicht mitkommen? Ich könnte die Reise vielleicht auch bezahlen. Und mein Mann, der ist Pastor. Er könnte Ihnen sicher irgendwo eine ordentlich bezahlte Anstellung besorgen.“
Sie hatte keine Ahnung, wovon Jamie in London lebte. Seine Kleidung schien sauber, die Hände wiesen nicht auf harte körperliche Arbeit hin. Ob er wohl lesen und schreiben konnte? Sie wagte nicht zu fragen.
„Es tut mir leid, ich kann Sie nicht begleiten“, erwiderte er sogleich. „In meiner Heimat wäre ich kein freier Mensch.“
Emily riss überrascht die Augen auf.
„Die Sklaverei ist doch abgeschafft!“
Das hatte sie von Jeremiah erfahren. Es war 1807 geschehen, ein Jahr vor ihrer Geburt. Die Abolitionisten hatten sich im Parlament nach einem langen, zähen Kampf durchgesetzt, es gab keinen Handel mit Gefangenen aus Afrika mehr, und Menschen mit Jamies Hautfarbe konnten sich frei bewegen.
„In England ist es so“, erklärte Jamie mit einem nachsichtigen Lächeln. „Aber nicht in den Kolonien. Wer dort als Sklave geboren wird, der bleibt es auch. Es dürfen nur keine neuen Sklaven mehr importiert werden.“
Emily schüttelte verwirrt den Kopf. Eine solche Regelung ergab nicht wirklich Sinn, aber es stand ihr nicht zu, darüber zu entscheiden.
„Das heißt, als Sie geboren wurden, da … da …“
Sie verstummte, denn auf einmal schmeckte die Frage bitter auf ihrer Zunge.
„Ich wurde als Eigentum von James Morton geboren, der eine Plantage in Saint James Parish besitzt, unweit von Montego Bay“, antwortete er jedoch recht gelassen. „Aber ich hatte von Anfang an Glück. Meine Eltern waren beide Hausdiener. Sie konnten daher zusammenleben, was für andere Sklaven kaum möglich war. Ich wurde nach dem Hausherrn benannt. Er hielt mich für begabt und brachte mir das Lesen bei, damit ich ihm bei der Verwaltung seiner Ländereien helfen konnte. Als er nach Bristol heimkehrte, nahm er mich mit. Ich war damals erst sechzehn. Zunächst fand ich das Klima hier furchtbar kalt und war dauernd krank. Aber allmählich gewöhnte ich mich daran. Ich bekam schöne Kleidung von Master Morton und wurde sogar mit ihm porträtiert. Die anderen Diener in seinem Haus hierzulande, die waren alle weiß. Ich hatte ein besseres Leben als die meisten von ihnen und hielt mich deshalb für privilegiert.“
Er lachte auf und nippte nochmals an seinem Bier.
„Erst mit der Zeit begriff ich, dass es trotzdem einen großen Unterschied gab. Sie bekamen Geld für ihre Arbeit. Ich nicht. Irgendwann, also als ich etwa zwanzig war, da bat ich meinen Herrn, mir ebenfalls Lohn zu zahlen. Er lehnte ab. Und deshalb beschloss ich schließlich, sein Haus zu verlassen. In England war das möglich.“
Emily musterte ihn mit neu erwachtem Interesse. Eine Lebensgeschichte wie seine hatte sie noch nie gehört.
„Sie gingen also weg, um als freier Mann zu leben. Das war eine kluge Entscheidung“, stellte sie fest.
Wieder lachte er.
„Ach Miss … ich meine Mrs Lawson, zunächst hielt ich mich auch für klug. Aber dann merkte ich, dass es nicht so leicht ist, für sich selbst zu sorgen. Die schönen Kleider und die saubere Arbeit, damit war es erst einmal vorbei. Ich schlug mich nach London durch und musste hier Lasten schleppen, um nicht zu verhungern. Dann hatte ich wieder Glück. Ein Schneider stellte mich ein, weil ich seine Bücher führen konnte, wie Master Morton es mir beigebracht hatte. Aber er bezahlte mich so schlecht, dass mir ständig der Magen knurrte. Bei meinem früheren Herrn hatte ich niemals hungern müssen. Dann starb der Schneider, und ich konnte seinen Betrieb übernehmen, weil es keinen Erben gab. Schließlich habe ich sogar geheiratet. Meine Frau, Gott sei ihrer Seele gnädig, war weiß. Eine Fabrikarbeiterin, der ich ein besseres Leben schenken konnte. All das wäre in meiner Heimat nicht möglich gewesen.“
Er verstummte und lächelte Emily aufmunternd an.
„Für jemanden wie Sie aber dürfte es in Jamaika leichter sein. Falls Ihr Mann nicht mehr lebt, werden andere um Sie werben. Es gibt nicht viele weiße Frauen auf der Insel.“
Dafür gab es sicher genug dunkelhäutige, überlegte Emily. Konnten die nicht heiraten? Ihr wurde immer mehr bewusst, dass sie keine Ahnung von der Insel hatte, zu der sie aufbrechen wollte.
„Ich weiß gar nicht, ob ich noch mal heiraten möchte“, sagte sie frei heraus. „Ich meine, mein Mann und ich, wir … standen uns nicht sehr nahe. Deshalb blieb ich hier, als er abreiste.“
Jamie Morton zeigte keinerlei Empörung, was sie erleichterte.
„Sind Sie sich denn sicher, dass Sie wirklich nach Jamaika fahren wollen?“, fragte er nur. „Wenn Sie eine Arbeit brauchen … Ich könnte Sie vielleicht beschäftigen. Ich kann nicht viel zahlen, aber Hunger hätten Sie nicht.“
Seine Großzügigkeit machte Emily verlegen. In der kurzen Zeit nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie erfahren, wie selten ehrlich gemeinte Hilfe sein konnte. Dieser Mann verhielt sich nicht wie Dr. Jitter, der ihr von Anfang an Unbehagen eingeflößt hatte. Seit sie ihm begegnet war, wollte sie einfach ihren Kopf an seine Schulter lehnen, um sich ein wenig ausruhen zu können.
Natürlich wagte sie das nicht. Sein Angebot weckte ein helles Gefühl von Hoffnung in ihr. Sie brauchte kein Gehalt, wenn sie nur ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hätte wie früher bei ihren Eltern. Wahrscheinlich würde Jamie Morton ihr auch die eine oder andere umgeworfene Vase vergeben. Schon wollte sie dankbar annehmen, als die Erinnerung eine dunkle Wolke in ihr Bewusstsein schob.
„Ich muss leider wirklich weg“, murmelte sie. „Ich … ich bin in Schwierigkeiten geraten. Ein angesehener Mann drohte mir, mich verhaften zu lassen. Aber ich habe nichts Schlechtes getan, wirklich nicht.“
Sie kam sich vor wie ein Kind, das beteuerte, zu Unrecht bestraft worden zu sein. Welchen Grund hätte Jamie Morton denn, ihr Glauben zu schenken?
Offenbar aber tat er es, denn er zog kein skeptisches Gesicht und fragte auch nicht weiter nach.
„Ich fürchte, bei einer Verhaftung könnte ich Ihnen kaum helfen. Mein Wort hätte nicht so viel Gewicht wie das eines angesehenen Mannes“, meinte er nur und klang dabei niedergeschlagen. „Sie sollten London wirklich verlassen. Wenn es keinen anderen Ort gibt, wo Sie Familie haben, bleibt tatsächlich nur Jamaika.“
Emily staunte, wie schnell er ihre Lage erfasst hatte. Dann fiel ihr ein, dass er selbst einmal auf der Flucht gewesen war. Daher hatte er wohl recht. Ihr blieb keine Wahl.
„Es wird schon gut gehen“, redete er weiter, als habe er auch ihre Angst begriffen. „Die Insel ist wunderschön. Für Menschen wie Sie gibt es dort viele Möglichkeiten.“
Emily nickte, obwohl die Angst immer noch in ihren Magen stach. Es war also endgültig beschlossen, dass sie aus der ihr vertrauten Welt verbannt werden sollte.
„Ich hätte noch eine Bitte“, sagte Jamie, nachdem er seinen Bierkrug geleert hatte. „Damals, als Master Morton mich nach England brachte, musste ich meine Familie verlassen. Ich habe ihnen niemals Briefe geschickt, denn sie können nicht lesen. Aber wenn Sie in Jamaika sind, könnten Sie vielleicht die Plantage der Mortons aufsuchen. Meine Eltern leben sicher nicht mehr, doch ich hatte zwei Brüder. Thomas und Paul. Vielleicht könnten Sie ihnen sagen, dass es mir hier in London gut geht. Und dass ich als freier Mann leben kann.“
„Das werde ich tun“, versprach Emily ohne Zögern. Nun, da sie eine Aufgabe hatte, konnte sie der Abreise etwas gefasster entgegensehen. Jamie Morton verhandelte mit der Wirtin, damit sie ihr kleines Zimmer noch bis zur Abreise behalten konnte. Es wurde weiterhin kein Geld verlangt, denn diese Cat schien eine Schwäche für den dunkelhäutigen Schneider zu haben.
„Ich würde Ihnen raten, nicht auf die Straße zu gehen“, meinte Jamie, bevor er in seinen Laden aufbrechen musste. „Falls nach Ihnen gesucht wird, meine ich. Sonst weiß niemand außer Cat und mir, wie Sie wirklich heißen, und wir werden beide den Mund halten, keine Sorge. Übermorgen hole ich Sie gegen Mittag ab und bringe Sie zu dem Schiff. Gibt es etwas, das ich für Sie kaufen sollte?“
Emily verneinte, denn auf die Schnelle wollte ihr nichts einfallen. Ihr ganzer Besitz befand sich in der zerbeulten Tasche, die sie gestern Nacht noch mit sich herumgeschleppt hatte. Ansonsten gab es viele Erinnerungen an ihre Kindheit, die sie wie einen Schatz in ihrem Herzen bewahren wollte, und schließlich den Umschlag mit Geld. Zunächst einmal sollte sie ihre verbleibenden Habseligkeiten durchsuchen, damit sie seine vermaledeite Adresse endlich fand.
„Ich hatte auch große Angst, als ich damals nach England fahren sollte“, teilte Jamie Morton ihr mit und strich zum Abschied kurz über ihren Arm. „Aber schließlich habe ich hier ein besseres Leben gefunden. Manchmal entscheidet das Schicksal für uns und schenkt uns dadurch unerwartete Möglichkeiten.“
Als er gegangen war, kehrte Emily auf ihr Zimmer zurück. Bis zu ihrer Abreise würde es ihr Gefängnis sein, denn sie durfte nicht noch einmal durch die Straßen ihrer Geburtsstadt laufen, um von ihr Abschied zu nehmen. In Wahrheit hatte sie aber niemals viel von London gesehen. Ihre Eltern hatten sie stets ermahnt, dass es im East End für ein junges Mädchen nicht sicher war, daher kannte sie kaum etwas außer der früheren Wohnung und der kleinen Kirche, die sie sonntags besucht hatten. Nun würde sie in die Fremde aufbrechen, ans andere Ende der Welt.
Sie warf sich wieder aufs Bett und zog sich die Decke über den Kopf. Wenn sie einfach liegen blieb, würde das Schiff ohne sie abfahren und sie musste einen anderen Ausweg finden.
Aber sie ahnte, dass die Angst, irgendwann Dr. Jitter über den Weg zu laufen, sie ständig begleiten würde, egal, wohin sie in dieser Stadt ging. Vielleicht war Jamaika kein so wildes Land, wie es klang. Immerhin hatte es einen so hilfsbereiten Menschen wie Jamie Morton hervorgebracht.