Читать книгу Zersplittert - Teri Terry, Teri Terry - Страница 13

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»Kyla, warte!« Ich bleibe an der Bibliothekstür stehen und drehe mich um. Cam kommt angerannt.

»Wollen wir zusammen essen?« Er schaut sich nach links und rechts um und flüstert: »Ich habe Kuchen.«

»Hm, ich weiß nicht. Schoko?«

Er sieht in seine Tasche. »Heute mit Biskuit. Mein Onkel ist ein frustrierter Koch und backt für sein Leben gern.«

»Also gut«, sage ich. Süßes und Ablenkung kann ich gerade gut gebrauchen, denn ich muss die ganze Zeit an Bens Eltern denken und an das, was die Lorder ihnen und anderen angetan haben. Und dass ich später Nico treffen werde, dass wir etwas tun müssen.

Wir gehen über das Schulgelände und entdecken eine freie Bank. Als die Jungs, die auf der anderen Bank sitzen, uns kommen sehen, verteilen sie sich schnell auf beide Bänke.

»Wie nett«, sagt Cam.

»Daran habe ich mich schon gewöhnt. Bist du dir sicher, dass du mit mir gesehen werden willst?«

»Machst du Witze? Du bist doch echt süß.«

Ich lache. »Süß und geslated, vergiss das nicht.«

»Was haben die denn für ein Problem?« Er dreht sich um. »Soll ich denen mal eine Lektion verpassen?« Er geht in Boxerposition und reißt die Fäuste hoch.

»Allen drei? Was würdest du tun, wenn ich Ja sage?«

Er schaut sich um. »Wegrennen. Aber ich habe Mittel und Wege, es den Leuten heimzuzahlen, wenn sie am wenigsten damit rechnen.« Und er gibt ein übertriebenes Schurkenlachen von sich.

»Klar, natürlich.«

»Ist es dir egal, wie sie dich behandeln?«

»Früher nicht. Aber …« Ich unterbreche mich.

»Aber was?«

»Ständig verschwinden Leute aus meinem näheren Umfeld. Das könnte ein Grund für ihr Verhalten sein und irgendwie kann ich es ihnen auch nicht verübeln.«

»Verschwinden?« Sein Gesicht nimmt einen ernsten Ausdruck an. Anscheinend hat auch er eine andere Seite. »Das passiert überall.« Mich überrascht die Bitterkeit in seiner Stimme.

»Schau, da ist eine andere«, sage ich und zeige auf eine leere Bank hinter dem Verwaltungsgebäude. »Wenn du dich traust.«

»Lass mich kurz überlegen. Hast du ein tragbares Bermuda-Dreieck, das dir überallhin folgt?«

Ich blicke an mir hinab. »Hab ich heute wohl zu Hause vergessen.«

»Schmierst du mir Unsichtbarkeitscreme aufs Sandwich, wenn ich gerade nicht aufpasse?«

»Nein!«

»Dann werd ich’s riskieren.«

Den eigentlichen Grund, warum es mir nicht mehr so viel ausmacht, sage ich ihm nicht. Die Liste der Dinge, die mir Sorgen machen, ist wirklich und wahrhaftig lang genug. Dumme Schüler, die mich ignorieren, stehen da ganz weit unten.

Schweigend essen wir unsere Brote und dann holt er den Kuchen raus.

»Es sind ja zwei Stücke«, sage ich. »Hast du das etwa geplant?«

»Wer, ich? Nein. Ich wachse gerade und packe deshalb immer zwei Stück Kuchen ein. Aber ich teile gern.« Er reicht mir eines und ich nehme einen großen Bissen davon.

Er ist leicht, süß – lecker! »Ich wünschte, meine Mum würde gern backen.«

»Wie lang wohnst du schon hier?«

Ich sehe ihn von der Seite an. »Noch nicht lang. Knapp zwei Monate.«

»Fragst du dich manchmal, wer deine anderen Eltern waren?«

»Meine anderen Eltern?« Ich zögere, obwohl ich weiß, was er meint. Dieses Gespräch nimmt gerade eine völlig verbotene Richtung und handelt von Dingen, an die ich besser gar nicht erst denken, geschweige denn darüber reden sollte. Slater haben keine Vergangenheit; sie fangen neu an. Zurückblicken ist nicht erlaubt.

»Du weißt schon. Bevor du geslated wurdest.«

»Manchmal«, gebe ich zu.

»Würdest du sie ausfindig machen wollen, wenn du das könntest?«

Weil mir dieses Gesprächsthema unangenehm ist, beschäftige ich mich mit Kauen. Mein altes Leben zurückzuverfolgen, wäre vollkommen illegal. Es könnte bereits gefährlich sein, wenn jemand dieses Gespräch belauschen würde. Und wer weiß, wer gerade zuhört? Den Lordern würde ich es durchaus zutrauen, dass sie jede Bank in der Schule verwanzen. Sie und ihre Spione, wie Mrs Ali, sind überall.

»Und du?«, frage ich, als von meinem Kuchen nur noch Krümel übrig sind.

»Was?«

»Du hast gesagt, dass dein Vater abgehauen ist. Hast du noch Kontakt zu ihm?«

Der ernste Blick ist wieder zurück und das Schweigen dauert an.

»Kyla, hör zu.« Seine Stimme wird leiser. »Vorhin habe ich doch gesagt, dass überall Menschen verschwinden?«

Ich nicke.

»Mein Vater ist nicht abgehauen. Die Lorder haben ihn geholt. Sie sind mitten in der Nacht in unser Haus eingebrochen und haben ihn verschleppt. Seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört.«

»Oh, Cam.« Entsetzt starre ich ihn an. Nach außen hin wirkt er so sorglos, so unkompliziert. Aber auch er trauert um einen Menschen, der einfach so verschwunden ist. Wie Ben.

»Ja. Er war in ein paar Dinge verwickelt, die ihnen nicht gepasst haben. Hat was damit zu tun, Vermisste zu finden. Illegale Webseiten und so.«

MIA?

Ich sehe mich nervös um. Niemand ist in Hörweite, dennoch ist mir das Gespräch nicht ganz geheuer. »Und deine Mutter?«, frage ich dann doch.

»Uns hätten sie bestimmt auch noch geholt, wenn ihre Forschungsarbeit nicht sehr wichtig wäre. Viel weiß ich nicht darüber, aber die Lorder wollen, dass sie weitermacht. Mich haben sie zu meiner Tante und meinem Onkel gebracht, um sie bei der Stange zu halten.«

»Wie schrecklich. Es tut mir so leid. Ich hätte nicht fragen sollen.«

»Ist doch nicht deine Schuld. Du warst nicht nah genug dran, um deine geheimen Verschwindetechniken einzusetzen! Es sei denn, deine Kräfte wirken auch noch ein paar hundert Kilometer nördlich von hier.«

Und schon wieder macht Cam Witze. Aber er spielt mir nicht länger etwas vor. In ihm geht mehr vor, als ich mir je hätte vorstellen können.

»Hör zu«, sagt er. »Hast du Lust, später eine Runde mit dem Auto zu drehen? Ich würde wirklich gern reden. Aber hier ist das nicht möglich.«

Ich bin neugierig, aber trotzdem vorsichtig. Doch ich muss keine Entscheidung treffen, noch nicht. »Heute kann ich nicht. Muss heute länger bleiben.«

»Warum das?«

»Hab noch was zu erledigen.«

»Was?«

»Irgendwelche Sachen.«

»Was für Sachen?«

»Hey, Mr Neugierde, ich hab einfach noch zu tun, okay?«

Er schweigt. »Ich kann warten. Soll ich dich heimfahren?«

»Ich weiß nicht, wie lang es dauert.«

»Macht nichts. Ich hab sonst eh nichts vor.«

Ich versuche, es ihm auszureden. Sonst reite ich ihn womöglich noch rein und bringe ihn mit meinen magischen Fähigkeiten auch noch zum Verschwinden. Das will ich auf keinen Fall, seine Mutter hat schon genügend Probleme. Aber er lässt sich nicht davon abbringen, beim Wagen auf mich zu warten. Also sollte ich nachher lieber auftauchen, wenn ich nicht will, dass er bis morgen früh dort steht.

Der Flur ist leer. Ich klopfe einmal an; Nicos Tür geht auf. Ich gehe rein und er verschließt sie.

»Wie geht’s Tori?«, frage ich.

»Sie putzt ganz gut«, sagt er. »Sie braucht nur ein paar warme Mahlzeiten und muss ihren verstauchten Knöchel schonen, das genügt schon. Körperlich zumindest.«

»Sie hat keinen Ärger gemacht?«

»Nein, bisher nicht. Falls doch, wirst du’s sicher erfahren. Bald kann ich sie anderswo unterbringen, ich muss nur noch ein paar Details klären. Obwohl sie behauptet, dass sie kochen kann. Vielleicht behalte ich sie auch bei mir.«

Sie putzt ganz gut, sie kann kochen. Vor meinen Augen blitzt plötzlich eine Szene auf, wie Nico und Tori heute Abend bei einem gemütlichen Essen sitzen, im Schein der Kerzen, die ich auf dem Tisch gesehen habe, und mit einer offenen Flasche Wein.

Nico grinst, als würde er haargenau wissen, was ich denke, ein Lächeln, das bedeutet: selbst schuld.

Ich werde rot. Als er auf den Stuhl neben seinem Tisch zeigt, setze ich mich.

»Mir ist letzte Nacht etwas aufgefallen«, sagt er und nimmt auf dem anderen Stuhl Platz, den er sehr nah vor meinen zieht. Mein Blick ist fest auf seinen gerichtet. Auf die langen Wimpern, die zu dunkel scheinen für seine hellblaue Iris. Die Locke, die ihm in die Stirn fällt und die ich ihm am liebsten zurückstreichen würde.

Ich schlucke. »Was denn?«

Er beugt sich vor. »Rain ist zurück«, haucht er mir ins Ohr und mein ganzer Körper beginnt zu prickeln.

Er lächelt und lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, ein kleiner Schulhocker, der unter ihm lächerlich wirkt. »Sie ist wirklich wieder da. Ich war mir nicht sicher, wie viel von ihr in dir steckt. Aber was du letzte Nacht getan hast, das war sie, oder? Dich in der Nacht rauszuschleichen. Kyla hätte das nicht getan.«

»Nein, das hätte sie nicht«, sage ich, und mir wird klar, dass er recht hat. Ich habe mich verändert, ziemlich sogar. Ich bin immer noch dabei, mich zu verändern.

»Aber irgendetwas stimmt noch nicht so ganz.«

»Was denn?«, frage ich. »Ich werde daran arbeiten.«

»Wirst du das?« Er lächelt. »Diese ganze Tori-Geschichte. Die Rain, die ich kannte, hätte nicht riskiert, dass Free UK wegen eines einzelnen Mädchens auffliegt. Sie hätte einen Weg gefunden, damit umzugehen. Und dann gäbe es keine Tori und kein Problem mehr.«

Die Sicherheit der Gruppe steht an allererster Stelle: Die Aufmerksamkeit der Lorder zu erregen, muss mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln vermieden werden. Aber könnte sie – ich – Tori wirklich einfach so den Hals umdrehen? Oder ihr den Schädel einschlagen? Ich stelle mir vor, wie Toris Gesicht gegen den Baum prallt, und zucke zusammen. Nein. Das hätte ich niemals tun können. Oder doch? Ich hätte es beinahe getan – ich habe mich nur gebremst, weil ich sie erkannt habe. Bei diesem Gedanken flackern Erinnerungen an Gewehre, Schreie und Blut auf, die besagen ja, Rain hätte alles tun können. Dabei mag ich Tori noch nicht mal, warum habe ich ihr also geholfen?

»Sag mir, was du denkst«, fordert mich Nico in einem Ton auf, vor dem es kein Entrinnen gibt.

Ich versuche es. »Meine Gedanken kämpfen miteinander. Als wären da zwei Stimmen in meinem Kopf, die einen unterschiedlichen Blick auf die Geschehnisse haben.«

Er nickt nachdenklich.

»Bitte erklär mir, was mit mir passiert ist«, bettle ich. »Ich verstehe es nicht.«

Er zögert, dann lächelt er. »Erst muss ich dich noch ein paar Sachen fragen. Aber ich werde es dir erklären. Manchmal bist du mehr Kyla und manchmal mehr Rain. Das ist logisch, weil sich alles neu ordnet. Mit der Zeit wird Rain wieder übernehmen, sie ist die Stärkere.«

Ungewollt steigt ein Bild vor meinen Augen hoch: Lucy mit blutigen Fingern. Und Nico … mit einem Ziegel in der Hand.

Ich keuche und strecke verwundert meine linke Hand aus, dann drehe und wende ich sie. »Hast du das getan? Um aus mir eine Rechtshänderin zu machen?«

»Was getan?«

»Meine Finger verletzt.« Ich zögere. »Lucys Finger.«

Sein Blick schweift ab, er sieht weg. Stille folgt, einen Herzschlag lang, dann zwei. Er blickt mich wieder an: »Erinnerst du dich daran, Lucy zu sein?«

»Nein. Nicht wirklich, nur ab und zu in Träumen und sie ergeben keinen Sinn. Bitte, Nico, in meinem Kopf herrscht ein einziges Durcheinander. Was ist mit Lucy passiert?« Was ist mit meinem zehn Jahre alten Ich passiert?

Er zögert, denkt nach und nickt dann. »Okay. Du warst für mich etwas Besonderes, Rain. Aber wenn man auf der Seite der Freiheit steht, läuft man immer Gefahr, geschnappt zu werden. Ich wusste, dass ich einen Weg finden musste, um dich zu schützen, falls du den Lordern in die Hände fällst.«

»Wie denn?«

»Indem ich dich innerlich in zwei Teile aufgespaltet habe, damit einer überleben kann, falls du geslated wirst. Rain war stärker als Lucy, also hat sie überlebt.«

Und ich weiß sofort, was er meint. Ich habe es immer gewusst. Ich wurde zu zwei Personen, Lucy mit den Kindheitserinnerungen und Rain, deren Leben Nico und Free UK gehört hat. Allmählich fügen sich die Puzzleteile zusammen. Lucy wurde dazu gezwungen, Rechtshänderin zu sein. Als sie sich weigerte, hat Nico Gewalt angewendet. Rain dagegen war Linkshänderin. Wie geslated wird, hängt davon ab, ob jemand Rechts- oder Linkshänder ist, denn mit der Händigkeit ist auch verbunden, welche Gehirnhälfte dominiert. Aber wer war ich, als ich geslated wurde?

»Ich verstehe es immer noch nicht. Wenn Rain stärker war und die Kontrolle über mich besaß, warum haben die Lorder mich dann nicht als Rain geslated, also so, als wäre ich Linkshänderin?«

»Das ist das Schöne daran. Rain hat sich im Inneren versteckt, als du gefasst wurdest, darauf warst du konditioniert. Also war Lucy dominant.«

»Das heißt, die Lorder haben mich für eine Rechtshänderin gehalten. Von Rain wussten sie nicht. Als sie mir meine Erinnerungen genommen haben, haben sie nur einen Teil von mir erwischt.«

»Genau. Lucy ist weg, denn sie war schwach. Aber du, Rain, hast das Slating überlebt. Und nur auf den richtigen Augenblick gewartet, um dir einen Weg nach draußen zu bahnen.«

»Und das hier«, sage ich und drehe an meinem Levo, »funktioniert nicht mehr, weil ich wieder Rain bin – eine Linkshänderin. Es ist mit der falschen Seite meines Gehirns verknüpft.«

»Haargenau.« Er nimmt meine linke Hand in seine und küsst ganz sanft meine Fingerspitzen. »Es tut mir schrecklich leid, dass ich dir vor vielen Jahren so wehgetan habe. Aber es war die einzige Möglichkeit, dich zu schützen.«

Lucy ist für immer verschwunden. Deshalb kann ich mich nicht mehr an ihr Leben erinnern. Der Schmerz des Verlustes erfüllt mich und breitet sich in mir aus. Ein Großteil meines Lebens wurde zerstört und ist für immer verloren. Dafür ist ein anderer Teil von mir noch da: Nico hat mich gerettet. Ohne ihn wäre ich komplett verschwunden. Wüsste nicht einmal, dass ich alles verloren hatte.

»Danke«, flüstere ich. Und ich frage mich, ob Rain auch Kyla verdrängen wird. All ihre Hoffnungen und alles, was sie geliebt hat? Wie Ben? Ich kämpfe mit den Tränen. Nicht weinen. Nicht vor Nico. Bitte nicht! Angst und Schmerz ringen miteinander, denn Nico mag keine Schwäche.

Doch anstatt wütend zu werden, nimmt er meine Hand. »Was ist?«, fragt er sanft.

Ich umklammere seine Hand. Sie ist viel größer und stärker als meine, die er zerdrücken könnte.

»Ben«, flüstere ich.

»Erzähl mir von ihm. Ich weiß ein wenig, aber was ist wirklich mit ihm passiert?« Er betont wirklich, als wüsste er, dass es mehr als die offizielle Version gibt.

»Es war alles meine Schuld. Ich habe es getan.« Endlich spreche ich laut aus, was mich quält und mir auf der Seele brennt.

»Was hast du getan? Sag es mir.«

»Ich habe sein Levo abgeschnitten. Mit einer Flex.«

Und während ich ihm alles beichte, schiebt Nico seinen Stuhl neben meinen und legt mir den Arm um die Schultern. Bilder tauchen vor mir auf: Bens Todeskampf, wie ich wegrenne und ihn seinem Schicksal überlasse. Und wie sieht dieses Schicksal aus? Was ist aus ihm geworden? Habe ich seinen Tod verursacht oder ist er später durch die Lorder gestorben?

»Was ist mit ihm passiert?«, frage ich und meine Augen betteln um ein wenig Hoffnung.

»Du kennst doch die Antwort«, sagt Nico. »Du weißt, was die Lorder mit ihm gemacht haben, wenn er noch gelebt hat.«

Ich nicke und die Tränen laufen mir über die Wangen.

»Und du weißt doch, was sie mit seinen Eltern gemacht haben!«

»Ja.«

»Spürst du es, Rain? Die Wut in dir?«

Und sie erwacht zum Leben, ein Feuer, als hätte Nico selbst ein Streichholz hineingeworfen. Das Feuer flammt in meinem Kopf auf, heißer und wütender als die Feuersbrunst, die das Haus von Bens Eltern in Schutt und Asche gelegt hat. Heißer als alle Feuer zusammen, die die Lorder in dieser Nacht entfacht haben.

»Jetzt hör mir zu, Rain. Das bedeutet nicht, dass du Ben vergessen musst oder dass er dir nichts mehr bedeuten darf. Und du sollst auch nicht vergessen, was die Lorder mit seinen Eltern gemacht haben. Nichts musst du vergessen. Setze es ein, auf die richtige Art.«

Nutze deine Wut.

Sie überschwemmt mich wie eine Welle – glühende Hitze, die in jeden Muskel dringt, in jeden Knochen. Jeder Tropfen Blut in meinen Adern brennt.

Entschlossen packe ich die Armlehnen meines Stuhls. »Die Lorder müssen für das, was sie getan haben, bezahlen. Wir müssen sie aufhalten!«

Nico nimmt mein Gesicht in die Hände und blickt mir lange in die Augen. Schließlich nickt er. Sein Blick ist warm. Ein Schauer wandert über meine Haut und meinen Körper.

»Ja, Rain.« Er lächelt und beugt sich hinunter. Seine Lippen berühren sanft meine Stirn. »Aber eine Frage hast du noch nicht beantwortet. Wann hast du deine Erinnerungen zurückbekommen?«

Als mich Wayne im Wald angegriffen hat. Doch die Worte bleiben mir im Halse stecken. Wenn Nico von Wayne erfährt, schaltet er ihn aus. Aber warum in aller Welt sollte ich Wayne schützen? Hat er den Tod nicht verdient?

»Eigentlich hätte es passieren müssen, als du Ben mit den Lordern zurückgelassen hast. Das hätte genügen sollen. So ein Trauma sprengt für gewöhnlich alle Grenzen. Also, warum ist da nichts geschehen?« Nico spricht, als würde er mit sich selbst reden, als hätte er vergessen, dass ich noch da bin.

Ich fühle mich unbehaglich, während er mein »Trauma« analysiert. Aber wenn meine Erinnerungen an diesem Tag nicht zurückgekehrt sind, warum bin ich dann nicht wenigstens ohnmächtig geworden? Ich blicke auf mein nutzloses Levo.

Da fällt es mir wieder ein. »Ich weiß, warum«, sage ich. »Es lag an den Pillen.«

»Welche Pillen?«

»Den Happy Pills. Ben hat sie irgendwoher bekommen«, erkläre ich. Ich weiß nicht, warum ich ihm das Woher verschweige. Ben hatte die Pillen von Aiden, der zu MIA gehört, die die illegale Webseite ›Missing in Action‹ betreiben.

Nico nickt. »Das leuchtet mir ein. Sie blockieren zum Teil die Wirkung. Und als sie abgeklungen war, ist Rain in Erscheinung getreten.«

Er grinst breit und lacht dann. »Rain!« Er nimmt mich in den Arm. »Du warst immer mein besonderer Liebling, das weißt du.«

Mein Herz hüpft vor Freude. Nico hatte nie irgendwelche Beziehungen mit Mädchen in den Trainingslagern, zumindest wüsste ich nichts davon. Seine Macht war absolut, aber wir wollten ihn alle.

Er lehnt sich zurück. »Und jetzt hör zu. Du kannst etwas für mich tun. Hast du noch immer diese Arzttermine in London?«

Ich nicke. »Ja, jeden Samstag.« Das New London Hospital, wo ich geslated wurde, ist ein Machtsymbol der allumfassenden Kontrolle der Lorder und ein regelmäßiges Ziel für Anschläge von Free UK.

»Ich brauche Pläne. So genau wie möglich, von jedem Teil des Krankenhauses, den du kennst. Von innen und von außen. Kannst du die für mich zeichnen?«

»Natürlich«, sage ich, weil ich unbedingt etwas gegen die Lorder unternehmen möchte, auch wenn es nur ein kleiner Beitrag ist. Mühelos kann ich den Grundriss des Krankenhauses abrufen. Die Fähigkeit, mich an alle Details zu erinnern und sie genauestens zu verorten, ist mir so in Fleisch und Blut übergegangen, dass …

Auf einmal steigt eine Erinnerung an langen und ermüdenden Unterricht in mir hoch. »Das hast du mir beigebracht«, sage ich langsam, »wie man sich an Positionen und Orte erinnert und Karten zeichnet.«

Jeder Fehler wurde schlimm geahndet, daran erinnere ich mich mit Schrecken. Aber ich mache keine Fehler mehr.

Er lächelt. »Ja. Das war Teil deiner Ausbildung. Du kümmerst dich also darum?«

»Ja, das werde ich.«

»Dann ab mit dir.«

Bevor ich gehe, schaut er sich noch einmal im Flur um. »Die Luft ist rein, na los.«

Auf dem Sportplatz ziehe ich meine Runden, denn ich muss mich erst beruhigen, bevor ich mit Cam nach Hause fahre. Im Geist gehe ich das Gespräch mit Nico noch einmal durch.

Ich war seine Lieblingsschülerin!

Er hat mich umarmt. Wo seine Lippen meine Stirn berührt haben, spüre ich noch immer ein Prickeln.

Er hat mich gerettet.

Und obgleich er so viele Gründe hätte, mir böse zu sein, ist er es nicht!

Doch vor allem weiß ich endlich, wer ich bin. Weiß, woher ich komme und wohin ich gehöre. Was ich zu tun habe. Die Lorder sind gescheitert. Ich kann mich erinnern.

Um vor Freude nicht durchzudrehen, rase ich immer schneller um die Bahn, bis ein Pfiff meine Gedanken durchbricht. Ich fahre herum.

Cam.

Er klatscht und ich werde langsamer, drehe noch eine Runde zum Auslaufen und gehe dann zu ihm rüber.

»Wow, du kannst vielleicht laufen. War das dein dringendes Projekt?«

Keuchend zucke ich mit den Achseln. »Manchmal muss ich einfach laufen.« So vermeide ich eine direkte Antwort. Und das stimmt auch. Früher bin ich gelaufen, um mein Level oben zu halten. Neugierig schaue ich auf mein Levo. Der Wert zeigt immer noch ungefähr 6 an. Laufen hat mich früher bis auf 8 gebracht, aber mittlerweile ist das Ding ja nutzlos.

»Wollen wir nach Hause?«

Ich nicke. »Sorry, bin total verschwitzt«, sage ich grinsend. Zumindest habe ich nun eine Ausrede, warum ich so aufgekratzt bin.

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