Читать книгу Zersplittert - Teri Terry, Teri Terry - Страница 7

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Ich beuge mich über meine Skizze, zeichne wie wild Blätter und Äste und achte darauf, dass ich die rechte Hand benutze. Der neue Kunstlehrer, den die Schule jetzt endlich eingestellt hat, sieht weder gefährlich noch inspirierend aus. Er wirkt völlig uninteressant und kann Gianelli, dem Mann, den er ersetzen soll, überhaupt nicht das Wasser reichen. Aber solange ich irgendetwas zeichnen kann – selbst wenn es wie heute nur Bäume sind –, ist es mir egal, wie öde der Lehrer ist.

Er geht durch den Raum, macht ab und zu nichtssagende Kommentare, bis er bei mir stehen bleibt. »Hm … nun, das ist interessant«, sagt er und geht weiter.

Ich schaue auf das Papier vor mir. Ich habe einen Wald voller wütender Bäume gezeichnet, in dessen Schatten eine dunkle Gestalt mit leuchtenden Augen lauert.

Was würde Gianelli wohl davon halten? Er würde sagen: »Mach langsamer und arbeite sorgfältiger«, und er hätte recht damit. Aber die Wildheit der Zeichnung würde ihm trotzdem gefallen.

Ich fange von vorn an, das Kratzen des Kohlestifts auf dem Papier beruhigt mich. Die Bäume wirken freundlicher und diesmal blickt Gianelli selbst aus dem Schatten zu mir herauf. Niemand, außer mir, würde ihn erkennen. Denn ich weiß, was mit Leuten wie Gianelli passiert, die Vermisste zeichnen. Stattdessen male ich ihn, wie ich ihn mir als jungen Mann vorstelle. Nicht als den alten Mann, den die Lorder mitgenommen haben.

Eine Stunde später scanne ich meinen Schülerausweis an der Tür zur Stillarbeitsstunde ein und betrete das Klassenzimmer. Ich gehe nach hinten …

»Kyla?«

Ich bleibe stehen. Diese Stimme – hier? Ich drehe mich um. Nico lehnt am Lehrerpult vorn im Raum und grinst verschmitzt. »Hoffentlich geht’s dir heute wieder besser.«

»Mir geht’s gut, Sir«, sage ich und schaffe es, mich umzudrehen und zu meinem Platz zu gehen, ohne umzukippen.

Dass er den gelangweilten Aufsichtslehrer geben muss, der dafür sorgt, dass wir konzentriert lernen, ist eigentlich keine große Überraschung. Die Lehrerschaft wechselt die ganze Zeit durch, und es war klar, dass Nico früher oder später dran sein würde. Trotzdem hatte ich nicht schon so bald wieder mit ihm gerechnet. Ich muss die Hände einen Augenblick lang im Schoß zusammenpressen, damit sie weniger zittern.

Dann schlage ich meine Mathehausaufgabe auf, weil ich dabei ohne große Mühe so tun kann, als ob ich beschäftigt wäre. Den Blick aufs Heft gerichtet, halte ich den Stift in der rechten Hand. Nico hat einen Rotstift und ein Blatt Papier vor sich auf dem Tisch liegen. Trotzdem sehe ich, dass auch er nur so tut, als würde er arbeiten, dabei aber die ganze Zeit in meine Richtung schaut.

Das weiß ich natürlich nur, weil ich ihn beobachte. Seufzend mache ich mich an eine Gleichung mit einer Unbekannten.

Die Zahlen verschwimmen jedoch vor meinen Augen. Gedankenversunken kritzle ich am Rand der Seite herum, zeichne Weinranken und Blätter um das Datum, das ich wie immer oben auf die Seite geschrieben habe. Plötzlich springt mir das Datum direkt ins Auge. 3.11. Heute ist der 3. November.

Mit einem beinah hörbaren Klick geht mir ein Licht auf.

Heute ist mein Geburtstag. Ich wurde heute vor 17 Jahren geboren, aber außer mir weiß das niemand.

Eine Gänsehaut breitet sich über meinen Armen aus. Ich kenne mein richtiges Geburtsdatum und nicht nur das, das mir im Krankenhaus zugewiesen wurde, als meine Identität geändert und ich meiner Vergangenheit beraubt wurde.

Mein Geburtstag? Ich versuche, mir etwas darunter vorzustellen, aber mir fällt nichts weiter dazu ein. Kein Kuchen, keine Feste, keine Geschenke. Ich entsinne mich nur noch an das Datum, Erlebnisse kommen keine in mir hoch. Aber ich spüre, dass mehr dahintersteckt, ich noch mehr herausfinden und erfahren kann.

Einige meiner wiedererlangten Erinnerungen sind nüchterne Tatsachen. Als würde ich eine Akte über mich selbst lesen und mich an Auszüge erinnern. Gefühle sind keine damit verbunden.

Von der Vermissten-Webseite weiß ich, dass ich Lucy hieß und mit zehn Jahren verschwunden bin, aber ich habe keine Erinnerung an dieses Leben. Irgendwann später tauche ich dann mit Nico wieder auf. Und erst von da an schleichen sich Bruchstücke meiner Vergangenheit ein.

Nico ist derjenige, der womöglich die Antworten hat. Ich müsste ihm lediglich sagen, dass ich mich erinnern kann, wer er ist. Aber will ich sie wirklich hören?

Als es läutet, trödle ich noch herum, obwohl ich mir vorgenommen hatte, schnell zu verschwinden und die Entscheidung, ob ich mit ihm sprechen soll oder nicht, erst einmal zu verschieben. Ein Schauder – von was? Aufregung? Angst? – rieselt meinen Rücken hinab. Ich gehe langsam nach vorn, wo Nico an der Tür steht. Die anderen Schüler sind weg. Wir sind allein.

Geh einfach, sage ich zu mir selbst und will an ihm vorbeilaufen.

»Herzlichen Glückwunsch, Rain«, sagt er leise.

Ich drehe mich um. Unsere Blicke treffen sich.

»Rain?«, flüstere ich. Ich drehe und wende den Namen in meinem Mund. Rain – Regen. Eine andere Zeit und ein anderer Ort kommen zurück, klar und deutlich. Ich habe mir diesen Namen an meinem 14. Geburtstag selbst ausgesucht – ich erinnere mich! Es ist mein Name. Nicht Lucy, wie mich meine Eltern bei meiner Geburt genannt haben. Nicht Kyla, den Jahre später eine gleichgültige Krankenschwester in ein Formular eingetragen hat. Rain ist mein Name. Und es fühlt sich an, als ob der Klang dieses Namens endlich den letzten Widerstand in meinem Kopf weggepustet hätte.

Seine Augen werden groß und leuchten auf. Er kennt mich und weiß, dass ich ihn kenne.

Gefahr.

Adrenalin strömt durch meinen Körper und setzt ungeahnte Energien in mir frei. Kampf oder Flucht?

Im nächsten Augenblick sieht mich Nico an, als wäre nichts geschehen, und macht den Weg für mich frei. »Vergiss deine BioHausaufgaben für morgen nicht, Kyla«, sagt er mit einem Blick über meine Schulter.

Ich drehe mich um und sehe Mrs Ali. Hass durchströmt mich und dann Angst – aber das ist Kylas Angst. Ich habe keine Angst vor ihr. Rain fürchtet sich vor überhaupt nichts!

»Vergiss es nicht«, wiederholt Nico und lässt diesmal die bedeutungslose Hausaufgaben-Anspielung für Mrs Alis Ohren weg und verschwindet im Flur.

Vergiss es nicht …

»Wir müssen uns mal kurz unterhalten«, sagt Mrs Ali und lächelt; dann ist sie am gefährlichsten.

Aber das kann ich auch. Ich lächle zurück. »Natürlich«, antworte ich und versuche, den Jubel in meinem Inneren zu unterdrücken. Mein Name! Ich bin Rain.

»Ich werde dich nicht mehr zwischen den Schulstunden begleiten. Du kennst ja jetzt deine Wege in der Schule.«

»Dann vielen Dank für Ihre Hilfe«, erwidere ich, so süß ich kann.

Ihre Augen werden schmal. »Ich habe gehört, dass du während des Unterrichts herumhängst, traurig aussiehst und überhaupt nicht aufpasst. Aber heute scheinst du ganz glücklich zu sein.«

»Tut mir leid, dass es Beschwerden gab. Heute geht es mir viel besser.«

»Nun, Kyla, du weißt, wenn du etwas auf dem Herzen hast, kannst du jederzeit zu mir kommen.« Sie lächelt wieder und mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Vorsicht. Ihr offizieller Titel mag »Betreuungslehrerin« sein, aber sie ist viel mehr als das. Sie hat mich die ganze Zeit über beobachtet und jede klitzekleine Veränderung an mir wahrgenommen. Jedes auffällige Verhalten, das von dem abweicht, was von einem Slater erwartet wird. Jeder Hinweis darauf, dass ich wieder auf die schiefe Bahn gerate, kann dazu führen, dass ich von den Lordern abgeholt und zurückgegeben werde. Liquidiert.

»Alles ist gut, ehrlich.«

»Nun, dann sieh zu, dass es so bleibt. Du musst in der Schule dein Bestes geben, zu Hause und in der Gemeinschaft, um …«

»Meinen Vertrag zu erfüllen. Meine zweite Chance zu nutzen. Ja, ich weiß! Aber danke, dass Sie mich daran erinnert haben. Ich gebe mein Bestes.« Ich grinse, ich bin so glücklich, dass ich sogar einem Lorder-Spion mein Lächeln schenke. Dass Mrs Ali nicht mehr mein Schatten in der Schule sein wird, ist ein unerwartetes Geschenk.

Ihre Gesichtszüge schwanken zwischen Verwirrung und Wut. War meine Antwort übertrieben?

»Dann tu das«, sagt sie mit eiskalter Stimme. Offenbar gefällt es ihr besser, wenn ich in ihrer Gegenwart zittere.

Zu dumm, dass Rain nicht zittert.

Rot, Gold, Orange – die Eiche in unserem Vorgarten hat das Gras mit bunten Blättern überzogen und ich hole mir einen Rechen aus dem Schuppen.

Ich habe einen Namen.

Mit dem Rechen gehe ich auf die Blätter los, schiebe sie erst zu einem Haufen zusammen, um dagegenzutreten und wieder von vorn anzufangen.

Ich habe einen Namen! Einen, den ich selbst ausgewählt habe; das wollte ich sein. Die Lorder haben versucht, ihn mir zu nehmen, aber das ist ihnen nicht gelungen.

Ein Auto, das ich noch nie gesehen habe, hält auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Ein Junge, etwa in meinem Alter oder ein wenig älter, steigt aus. Er trägt eine weite Jeans und ein zerknittertes T-Shirt, als wäre er stundenlang gefahren oder als hätte er darin geschlafen – hoffentlich nicht beides gleichzeitig. Aber der Schlabber-Look steht ihm. Er holt eine Kiste aus dem Kofferraum und trägt sie ins Haus. Als er wieder zurückkommt, sieht er mich und winkt. Ich winke zurück. Kyla würde das nicht tun, sie würde wahrscheinlich einfach nur rot anlaufen. Doch Rain hat Mut. Dann trägt er noch eine Kiste rein.

Auf der anderen Seite des Autos wird er immer kleiner, und tut so, als würde er eine Treppe runtergehen. Er blickt sich um, ob ich ihm auch zusehe. Ich verdrehe die Augen zum Himmel. Er macht noch ein paar solcher Spielchen, während ich die Blätter auf eine Schubkarre lade, sie hinter das Haus fahre und reingehe.

»Danke, dass du dich um das Laub gekümmert hast«, sagt Mum.

»Der Garten sah chaotisch aus.«

»Kein Ding. Ich hatte Lust, irgendwas zu machen.«

»Dich zu beschäftigen?«

Ich nicke und ermahne mich, etwas weniger unternehmungslustig zu sein, ehe sie mich wegen Stimmungsschwankungen zur Kontrolle ins Krankenhaus bringt. Dieser Gedanke beunruhigt mich tatsächlich ziemlich und mein Lächeln fällt in sich zusammen.

Mum legt mir eine Hand auf die Schulter und drückt mich. »Wir essen, sobald …«

Die Tür geht auf. »Bin da!«, ruft Amy.

Kurz darauf sitzen wir am Tisch und hören uns einen ausführlichen Bericht über Amys ersten Tag in der Arztpraxis an.

Wie sich herausstellt, ist die Arbeit dort eine unglaubliche Quelle für Dorftratsch. Bald wissen wir, wer schwanger ist, wer nach zu viel Whiskey die Treppe runtergefallen ist und dass der neue Junge auf der anderen Straßenseite Cameron ist, der aus dem Norden Englands stammt und aus irgendwelchen Gründen bei seiner Tante und seinem Onkel wohnt.

»Es ist super, dort zu arbeiten. Ich kann es kaum erwarten, bis ich Krankenschwester bin«, sagt Amy ungefähr zum zehnten Mal.

»Hast du irgendwelche ekligen Krankheiten zu Gesicht bekommen?«, neckt Mum sie.

»Oder Verletzungen?«, füge ich hinzu.

»Oh! Ja, das habe ich ganz vergessen zu erzählen. Da kommt ihr nie drauf!«

»Was?«, frage ich.

»Es ist heute Morgen passiert, also hab ich es nicht gesehen, aber ALLES darüber gehört.«

»Na, dann erzähl mal!«, sagt Mum.

»Man hat einen Mann mit furchtbaren Verletzungen gefunden.«

»Oje«, meint Mum. »Was ist denn passiert?«

Mir schwant nichts Gutes.

»Das weiß keiner. Man hat ihn im Wald gefunden, am Ende des Dorfes, wo ihn jemand halb tot geprügelt haben muss. Er hatte Kopfverletzungen und litt an Unterkühlung. Sie vermuten, dass er schon seit ein paar Tagen da draußen lag. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt.«

»Hat er gesagt, wer ihn angegriffen hat?«, frage ich und versuche, meine Atmung unter Kontrolle zu halten und normal zu wirken.

»Nein, und er sagt vielleicht nie wieder was. Als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, lag er im Koma.«

»Wer ist es denn?«, fragt Mum, aber ich weiß es, ehe Amy es ausspricht.

»Wayne Best. Du weißt schon, der komische Maurer, der die Mauern für die Schrebergärten hochgezogen hat.«

Mum verbietet uns, in den Wald zu gehen oder uns von den Wegen zu entfernen. Sie fürchtet, irgendein Verrückter könnte frei herumlaufen.

Aber ich bin dieser Verrückte.

»Kann ich nach oben gehen?«, frage ich, weil mir plötzlich schlecht ist.

Mum dreht sich zu mir um. »Du bist ja ganz blass.« Sie legt mir eine warme Hand auf die Stirn. »Vielleicht hast du Fieber.«

»Ich bin ein bisschen müde.«

»Na, dann leg dich schlafen. Wir können den Abwasch übernehmen.«

Amy stöhnt und ich gehe die Treppe hoch.

Ich starre im Dunkeln die Wand an, während sich Sebastian wie ein warmes Band an meinen Rücken kuschelt.

Ich habe einen Mann ins Koma geschlagen. Oder besser: Rain hat es getan. Sie ist in jenem Augenblick zurückgekehrt. Wie konnte das nur passieren? Sind wir ein und dieselbe Person oder zwei in einer? Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich sie bin, als ob ich ihre Erinnerungen und ihre Persönlichkeit übernommen hätte. Manchmal, wie jetzt gerade, entgleitet sie mir, als hätte es sie nie gegeben. Aber wer war Rain wirklich? Und irgendwie gehört Lucy ebenfalls zu Rains Vergangenheit, nur wie?

Der gleiche Geburtstag verbindet uns alle: der 3. November. Ich hüte dieses Wissen wie ein Geheimnis in meinem Inneren. Egal, wie diese Teile von mir zusammenpassen, das ist der Tag, an dem ich auf die Welt gekommen bin.

Allmählich drifte ich in den Schlaf. Doch die Daten lassen mich nicht los, mit einem Schlag bin ich wieder hellwach.

Heute bin ich 17 geworden. Im September hat man mich aus dem Krankenhaus entlassen, in dem ich neun Monate lang war. Also wurde ich vor weniger als elf Monaten geslated und war zu diesem Zeitpunkt bereits 16. Es ist illegal, jemanden zu slaten, der über 16 Jahre alt ist. Es stimmt, dass Lorder hin und wieder ihre eigenen Gesetze brechen, wenn sie einen triftigen Grund dafür haben. Aber was für einen Grund gab es in meinem Fall?

Immer noch fehlen mir Verbindungen. Sobald ich das Gefühl habe, alles zu verstehen, sehe ich genauer hin, und schon entgleiten mir die Zusammenhänge. Als ließe sich die Vergangenheit nur aus den Augenwinkeln erhaschen.

Nico hätte bestimmt ein paar Erklärungen für mich parat, zumindest was Rain betrifft. Aber was würde er im Gegenzug dafür haben wollen?

Vielleicht ist es besser, wenn ich Rain einfach vergesse, mich von Ärger fernhalte und Nico links liegen lasse. Ihn meide und so tue, als sei nichts geschehen.

So oder so könnte Wayne noch alles verderben.

Du hättest ihn umbringen sollen.

Schhh.

Zersplittert

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