Читать книгу Zersplittert - Teri Terry, Teri Terry - Страница 8

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Am nächsten Tag gibt es im Biounterricht eine Überraschung. Der Neue, Cameron, steht in der Tür.

Als er mich entdeckt, steuert er direkt auf den leeren Stuhl neben mir zu. Grinsend setzt er sich.

Das ist Bens Platz. Ich verschränke die Arme vor der Brust, blinzle und würdige ihn keines Blickes. Der leere Platz neben mir war schmerzhaft für mich, aber wenn dort jemand sitzt, fühlt es sich noch schlimmer an.

Nico dreht sich zur Tafel um. Jedes Mädchen starrt ihn an. Starrt auf seinen knackigen Hintern in der engen Hose und auf die muskulösen Schultern und den Rücken, die sich bei jeder Bewegung unter dem dünnen Seidenhemd abzeichnen.

Dann wendet er sich wieder der Klasse zu und lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Was bedeutet das?«, fragt er und zeigt auf die Worte, die er gerade an die Tafel geschrieben hat: »Survival of the fittest«.

»Nur die Stärksten überleben«, meint ein Schüler.

»So kann man das sicherlich verstehen. Aber um zu gewinnen, muss man nicht unbedingt der Stärkste sein, sonst hätten die Dinosaurier unsere Vorfahren längst zum Mittagessen verspeist.« Er sieht sich im Raum um, bis sich unsere Blicke treffen. »Um zu überleben, muss man einfach nur der … der Beste sein.« Sein Blick hält meinen fest, während er die Worte langsam ausspricht.

Schließlich sieht er weg und klärt uns über die Evolution und Darwin auf. Ich versuche, mir Notizen zu machen und dabei so zu tun, als wäre ich woanders. Oder besser jemand anders. Ich muss einfach nur diese Stunde überstehen und hier rauskommen und …

Etwas landet auf meinem Heft. Ein Stück Papier? Ich falte es auseinander.

Darauf steht: Und so treffen wir uns wieder!

Ich schaue zu Cameron. Er zwinkert mir zu.

Ich verkneife mir ein Grinsen. Wir haben uns noch nicht getroffen, schreibe ich darunter. Dann strecke ich mich unauffällig und lasse dabei den Zettel auf sein Heft fallen.

Einen Augenblick später kommt der Zettel zurück. Ich schaue zu Nico – keine Reaktion, er redet immer noch von Dinosauriern.

Auf dem Papier steht: Doch, haben wir: Du bist die, die-auf-Blättern-springt. Ich bin der, der-schwere-Kisten-aus-dem Kofferraum-hievt. Auch bekannt als Cam.

Dann heißt er also Cam, nicht Cameron, wie bei Amys Dorftratsch. Und er ist genauso verrückt, wie er schon gestern gewirkt hat.

Ich kaue eine Weile auf meinem Bleistift herum. Ignorieren oder …

Ein Stift pikt mich in den Arm. Er ist anscheinend verrückt und ungeduldig. Aber ich weiß ja, wie es ist, die Neue zu sein und keinen zu kennen.

Okay. Also schreibe ich: Blätter-Frau, auch bekannt als Kyla.

Ich knülle das Papier zusammen und schnipse es zu ihm rüber.

»Glückwunsch!«, sagt eine Stimme rechts von mir. Nico. Er steht direkt neben unserer Bank und sieht mich an. Genau wie alle anderen Augenpaare im Klassenzimmer.

»Äh …«

»Du bist die glückliche Gewinnerin einer Stunde Nachsitzen während deiner Mittagspause. Jetzt pass für den Rest des Unterrichts auf.«

Hitze steigt mir ins Gesicht, aber nicht wegen der peinlichen Situation und weil mich alle beobachten, sondern weil Nico damit quasi »erwischt« sagt! Der Gepard hat zugeschlagen und ich kann nichts dagegen tun.

Cam protestiert ehrenhaft, dass es seine Schuld sei, aber Nico ignoriert ihn. Der Unterricht geht weiter, und ich starre auf die Uhr, die Minuten ziehen vorbei, und ich bete, dass sich noch jemand anders etwas zuschulden kommen lässt, damit wir nicht allein sind. Aber keine Chance. Nicht unter Nicos Argusaugen.

Es läutet und alle packen ihre Sachen. Cam steht mit betroffenem Gesicht auf. »Tut mir leid«, formt er mit den Lippen und folgt den letzten Schülern. Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.

Wir sind allein.

Nico starrt mich ausdruckslos an. Sekunden ziehen sich endlos in die Länge und ich bin … was – ängstlich? Aber eigentlich fühlt es sich anders an. Wie die Angst vor etwas, das schrecklich und aufregend zugleich ist, als würde man bei Sturm auf einem Bergkamm stehen oder sich von einer Klippe abseilen.

Er bedeutet mir mit einer Kopfbewegung, ihm zu folgen. Über den Flur gelangen wir zu einer Reihe von Büros.

Er schaut sich um, nimmt einen Schlüssel aus der Tasche und schließt eine der Türen auf.

»Komm«, sagt er. Kein Lächeln, nichts. Keinerlei Gefühlsregung.

Zögernd trete ich nach ihm ein, was bleibt mir auch anderes übrig. Angst steigt in mir auf. Er schließt die Tür ab, dreht mir mit einer schnellen Bewegung den Arm auf den Rücken und drückt mein Gesicht gegen die Wand.

»Wer bist du?«, zischt er leise. »Wer bist du!« Diesmal etwas lauter, aber kontrolliert, damit es niemand hören kann.

Er packt noch fester zu. Und als wäre der Schmerz in meiner Schulter der Auslöser, fällt es mir wieder ein. Ich bin woanders. Zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort. Wo Nicos unvorhergesehene Prüfungen wie diese hier die Unachtsamen erwischen. Aber ich weiß, wie ich entkommen kann! Mit einem Satz nach oben löse ich den Arm, fahre herum und ramme ihm die Faust in die harten Bauchmuskeln.

Lachend lässt er mich los und reibt sich den Bauch. »Ich musste sichergehen. Tut mir leid. Ist dein Arm in Ordnung?«

Auch ich muss lächeln. Ich lasse die Schulter kreisen. »Alles gut. Hättest du mich wirklich festhalten wollen, hättest du den Arm höher gezogen. Du wolltest mich ganz offensichtlich auf die Probe stellen.«

»Ja. Dieser Trick war nur für Rain.« Er lacht wieder und seine Augen glänzen. »Rain!«, wiederholt er, streckt die Arme aus, und ich gehe auf ihn zu, bis er mich in seiner warmen und festen Umarmung hält. Und ich habe das Gefühl, an den Ort zurückzukehren, an den ich gehöre, an dem ich immer sein sollte. Ein Ort, an dem ich weiß, wer und was ich bin, weil Nico es weiß.

Dann schiebt er mich auf Armlänge von sich weg und sieht mir abschätzend ins Gesicht.

»Nico?«, frage ich unsicher.

Er lächelt. »Du erinnerst dich. Gut! Ich wusste immer, dass du durchkommst, weil du etwas Besonderes bist, Rain.« Er schiebt mich auf einen Stuhl und setzt sich vor mich auf den Tisch. Dann nimmt er meine Hand und schaut auf mein Levo. »Hat doch geklappt, oder? Dieses Ding ist nutzlos.« Und er dreht an meinem Handgelenk: kein Schmerz, gar nichts. Das Level zeigt einen mittelglücklichen Wert an.

Mein Lächeln verblasst. »Was hat geklappt? Nico, bitte, erklär mir alles. Ich erinnere mich an Einzelheiten, aber in meinem Kopf herrscht ein furchtbares Durcheinander. Ich verstehe nicht, was mit mir passiert ist.«

»Sei nicht so ernst. Wir sollten uns freuen und feiern!« Und weil sein Strahlen so ansteckend und lebendig ist, erscheint jetzt auch auf meinem Gesicht wieder ein Lächeln. »Du musst mir sagen, was letztendlich deine Erinnerungen freigesetzt hat.«

Daran will ich gar nicht denken. Wenn er von Wayne erfährt, kümmert er sich darum wie um jede andere Gefahr, die einem der Seinen droht. Die Seinen. In meinem Inneren klammere ich mich an diese Zugehörigkeit.

»Du warst ein paar Mal nah dran, das konnte ich sehen. Ich dachte, diese ganze Geschichte mit Ben hat es ausgelöst.«

Ben. Bei dem Namen durchfährt mich ein heftiger Schmerz. Nico kann mir offenbar die Gefühle vom Gesicht ablesen.

»Wirf den Schmerz ab. Er macht dich schwach. Weißt du noch, wie das geht, Rain? Du bringst ihn zu einer Tür in deinem Kopf und verschließt ihn dahinter.«

Störrisch schüttle ich den Kopf. Ich will Ben nicht vergessen. Oder doch? Gedankenfetzen von gestern Abend drängen sich in mein Bewusstsein. Nico und seine Methoden sind gefährlich.

Ich spreche laut aus, was ich mir die ganze Zeit über zusammengereimt habe. »Du gehörst zu den RT, zu den Regierungsterroristen, oder?«

Er hebt eine Augenbraue. »Hattest du das etwa vergessen?« Er nimmt meine Hand. »Benutz nicht den Namen, den uns die Lorder gegeben haben, Rain. Wir sind Free UK. Wir sind die Zähne, die die Mitglieder von Freedom UK in der Zentralkoalition hätten zeigen sollen, was sie aber nie getan haben. Wir sind die Splitter, die wehtun, ich, aber genauso auch du. Die Lorder fürchten uns. Bald schon werden sie von hier verschwunden sein und dieses großartige Land wird wieder frei sein. Wir werden gewinnen!«

Ein Gesang aus der Vergangenheit hallt in meinem Kopf wider: Free UK! Free UK!

Und mir fällt ein, was Nico von den Dingen erzählt hat, die im Geschichtsunterricht weggelassen werden. Nachdem Großbritannien aus der EU ausgetreten war und die Grenzen geschlossen wurden, nachdem es all die Studentenaufstände und Zerstörungen in den 2020er-Jahren gegeben hatte, sind die Lorder hart gegen Aufständische, Banden und Terroristen vorgegangen, ganz egal wie alt sie waren. Für sie gab es nur Gefängnis oder Tod. Aber als sich alles etwas beruhigt hatte, mussten sie einen Kompromiss mit Freedom UK in der Zentralkoalition akzeptieren, woraufhin die härtesten Strafen für unter 16-Jährige abgeschafft wurden. Das Slating wurde erfunden, um Jugendlichen eine zweite Chance und ein neues Leben zu geben. Aber Freedom UK wurde zur Marionette der Lorder, die ihre Macht immer mehr missbrauchten. Also erhob sich Free UK im Gegenzug gegen das System und wehrte sich gegen die Unterdrückung durch die Lorder.

Um jeden Preis.

Die Zähne sind der Terror. Ich schüttle den Kopf, weil ein Teil von mir nicht wahrhaben will, was ich weiß. »Ich bin keine Terroristin, oder?«

»Nein, das ist keiner von uns. Aber du warst beim Kampf für die Freiheit auf unserer Seite, und das wärst du noch jetzt, wenn die Lorder dich nicht erwischt hätten und du nicht geslated und deiner Erinnerung beraubt worden wärst. Zumindest waren sie davon ausgegangen, sie hätten sie dir genommen.«

»Trotzdem bin ich hier. Und ich kenne dich. Ich erinnere mich an einiges. Aber ich …«

»Ist das nicht ein bisschen zu viel auf einmal für dich? Hör mir zu, Rain. Du musst nichts tun, was du nicht willst. Wir sind nicht wie die Lorder. Wir zwingen niemanden zu etwas.«

»Echt nicht?«

»Wirklich nicht. Ich bin nur froh, dass es dir gut geht und du wieder du selbst bist.« Er lächelt und umarmt mich noch einmal.

Immer mehr Erinnerungen schwappen an die Oberfläche. Nico ist nicht gerade bekannt für seine Zuneigungsbekundungen oder sein Lächeln. Beides ist so selten, dass es wie ein Geschenk für mich ist. So viel Anerkennung bekommt man von ihm nur, wenn man seiner Meinung nach genug geleistet hat. Wir haben immer um seinen Respekt gekämpft. Wir hätten dafür getötet – wir alle. Für ein kleines Lächeln hätten wir alles getan.

»Hör zu. Nur eine Sache. Ich muss unbedingt wissen, wie du das alles überstanden hast, damit wir auch anderen Slatern helfen können. Das willst du doch, oder?«

»Natürlich.«

»Ich habe hier etwas für dich«, sagt er und greift in die Schreibtischschublade. Sie hat ein Geheimfach, in dem ein dünnes und biegsames Metallgerät versteckt ist. »Schau, das ist ein Kommunikator, ein Kom. Du drückst auf diesen Knopf hier und wartest auf meine Antwort. Dann können wir miteinander sprechen. Du kannst mich jederzeit rufen, wenn du mich brauchst.«

Und noch während ich mich frage, wo ich dieses höchst verbotene Teil verstecken soll, zeigt er es mir. Er schiebt es unter mein Levo und befestigt es daran. Die dünnen Haken sind nicht zu sehen und kaum zu spüren.

»Hier kann es niemand finden. Selbst wenn du gescannt wirst, sieht es wie ein Teil deines Levos aus.«

Ich ziehe an meinem Levo; nicht einmal ich könnte mit Sicherheit sagen, dass sich das Kom daran befindet.

»Und jetzt ab mit dir. Hol dir was zu essen. Wir unterhalten uns, wenn du so weit bist.« Er streicht mir übers Gesicht. »Ich bin so froh, dass du wieder bei uns bist«, sagt er. Die Berührung sendet einen Stromschlag durch mich.

Er schließt die Tür auf. »Geh«, sagt er und ich laufe völlig benebelt weg. Nach ein paar Schritten drehe ich mich um, Nico lächelt und schließt dann die Tür. Ist verschwunden.

Mit jedem Schritt wird die Wärme und Freude, die ich in seiner Gegenwart empfunden habe, von Kälte und Einsamkeit abgelöst.

Bruchstückartig kehren die Erinnerungen zurück. Dieses Trainingscamp in meinem Traum mit Nico und Free UK? Es war echt. Ich habe mich in den Wäldern versteckt, mit anderen, die so sind wie ich. Wir haben gelernt, zu kämpfen und mit Waffen umzugehen. Alles, womit wir die Lorder angreifen können. Im Namen der Freiheit! Jedes Mädchen war in Nico verliebt und alle Jungs wollten sein wie er.

Nur ein paar Minuten mit ihm allein waren nötig und ich habe sofort empfunden wie damals. Sobald ich mich durch seine Augen gesehen habe, wusste ich wieder, wer ich bin. Wurde zu der Rain, die er gekannt hat. Insgeheim wünsche ich mir wohl, dass Nico erneut das Kommando übernimmt und mir sagt, was ich denken und tun soll. Dann muss ich mir das alles nicht selbst zurechtlegen.

Doch je weiter ich mich von ihm entferne, umso mehr macht mir dieser Gedanke Angst.

Zersplittert

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