Читать книгу Zersplittert - Teri Terry, Teri Terry - Страница 6

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Beim letzten Klingeln erscheint Mum im Schwesternzimmer.

»Hallo, Kyla.«

»Hi. Haben die dich angerufen?«

»Sieht so aus.«

»Tut mir leid. Mir geht’s gut.«

»Deswegen bist du auch mitten im Unterricht umgekippt und hier gelandet?«

»Na ja, also jetzt geht’s mir jedenfalls gut.«

Mum holt Amy und fährt mit uns nach Hause. Dort will ich gleich hoch in mein Zimmer.

»Kyla, warte. Komm, wir unterhalten uns ein bisschen.« Mum lächelt, aber es ist eines jener Lächeln, die nicht bis zu den Augen reichen. »Soll ich dir eine heiße Schokolade machen?«, fragt sie und ich folge ihr in die Küche. Sie plaudert nicht, als sie die Milch aufsetzt. Mum redet nie besonders viel, außer wenn sie etwas Konkretes zu sagen hat, so wie jetzt.

Mir wird mulmig. Ist ihr aufgefallen, dass ich mich verändert habe? Vielleicht kann sie mir helfen, wenn ich ihr alles erzähle, und …

Trau ihr nicht.

Nach dem Slating war ich ein leeres Blatt. Neun Monate habe ich im Krankenhaus gebraucht, um wieder zurechtzukommen; um zu lernen, wie man läuft, spricht und mit dem Levo umgeht. Dann wurde ich dieser Familie zugewiesen. Mit der Zeit habe ich in Mum eine Freundin gesehen, auf die ich mich verlassen kann. Aber wie lange kenne ich sie tatsächlich schon? Noch keine zwei Monate. Vor ein paar Tagen ist mir meine Zeit hier noch länger erschienen, weil ich außer dem Krankenhaus ja nichts kannte. Nun, da sich mein Blickfeld erweitert hat, weiß ich, dass man Leuten mit Argwohn und nicht mit Vertrauen begegnen sollte.

Mum stellt den Kakao vor uns auf den Tisch und ich wärme meine Hände an dem heißen Becher. »Was ist passiert?«, fragt sie.

»Ich bin wohl ohnmächtig geworden.«

»Aber wieso? Die Schwester meinte, dass du nichts gegessen hast, aber dein Pausenbrot ist auf mysteriöse Weise verschwunden.«

Ich schweige, nippe an meiner Schokolade und konzentriere mich auf die bittere Süße. Nichts, was ich als Erklärung hervorbringen könnte, ergibt viel Sinn – nicht mal für mich. Bin ich ohnmächtig geworden, weil ich mit der linken Hand geschrieben habe? Und dann dieser Traum, was hat er nur zu bedeuten?

»Kyla, ich weiß, wie schwer gerade alles für dich ist. Wenn du mit mir sprechen möchtest, kannst du das jederzeit, das weißt du, oder? Über Ben und alles andere. Weck mich, wenn du nicht schlafen kannst. Wirklich.«

Meine Augen füllen sich mit Tränen, als sie Bens Namen erwähnt, und ich blinzle wie wild. Wenn sie nur wüsste, wie schwer alles gerade wirklich ist; wenn sie die ganze Geschichte kennen würde. Ich möchte ihr alles erzählen, aber was würde sie von mir denken, wenn sie wüsste, dass ich möglicherweise jemanden umgebracht habe? Ihr macht es vielleicht nichts aus, nachts geweckt zu werden, aber Dad wohl schon.

»Wann kommt Dad zurück?«, frage ich, und plötzlich wird mir bewusst, dass er schon ziemlich lange weg ist. Er ist oft wegen seiner Arbeit unterwegs, installiert und wartet landesweit die Computer der Regierung. Aber normalerweise verbringt er mindestens eine oder zwei Nächte die Woche zu Hause.

»Es kann sein, dass er eine ganze Weile nicht mehr daheim sein wird.«

»Warum?«, frage ich und versuche, mir meine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

Sie steht auf und spült unsere Tassen.

»Du siehst aus, als brauchtest du dringend ein wenig Schlaf, Kyla. Warum legst du dich nicht noch mal hin vor dem Abendessen?«

Gespräch beendet.

Mitten in der Nacht verliere ich mich in verwirrenden Träumen: Ich renne, jage und werde gejagt – alles auf einmal. Als ich gefühlt zum zehnten Mal aufwache, boxe ich verzweifelt ins Kissen. Von draußen dringt ein leises Geräusch herein, ein Knirschen. Vielleicht bin ich diesmal doch nicht wegen eines Albtraums wach geworden?

Ich gehe zum Fenster und ziehe den Vorhang auf einer Seite zurück. Der Wind ist stärker geworden und hat Blätter durch den Garten geweht. Die Bäume scheinen plötzlich kahl. Der Sturm von gestern hat die Welt verändert. Orange und rote Flecken wirbeln durch die Luft und um ein dunkles Auto herum, das vor unserem Haus steht.

Die Autotür geht auf und eine Frau steigt aus; langes, lockiges Haar fällt ihr ins Gesicht. Ich halte vor Überraschung die Luft an. Kann das sein? Als die Frau die Autotür schließt und sich das Haar zurückstreicht, erkenne ich sie: Es ist Mrs Nix, Bens Mutter.

Ich klammere mich an den Fenstersims. Warum ist sie hier?

Vor Aufregung kann ich kaum noch klar denken. Vielleicht hat sie Neuigkeiten von Ben! Doch meine Hoffnungen werden sogleich zunichtegemacht. Ihr Gesicht sieht im Mondlicht verkniffen und bleich aus. Wenn sie irgendwelche Nachrichten hat, dann keine guten. Schritte knirschen auf dem Kies, dann klopft es leise an die Haustür.

Womöglich fordert Mrs Nix eine Erklärung von mir, was mit Ben passiert ist. Vielleicht wird sie Mum berichten, dass ich dort war, bevor die Lorder ihn mitgenommen haben. Bilder blitzen schmerzhaft in mir auf: Ben im Todeskampf, das Rütteln an der Tür, ehe seine Mutter hereinkam. Ich habe ihr nur erzählt, dass ich ihn mit dem abgeschnittenen Levo vorgefunden habe …

Das Rütteln an der Tür. Sie musste erst aufschließen, um reinzukommen. Ihr gegenüber habe ich behauptet, dass ich ihn so vorgefunden habe, aber sie weiß, dass es eine Lüge war. Wie hätte ich durch die verschlossene Tür kommen sollen?

Unten geht die Haustür auf und man hört Gemurmel.

Ich muss es wissen.

Lautlos schlüpfe ich aus dem Zimmer und die Treppen hinunter.

Der Wasserkessel pfeift leise und ich höre gedämpfte Stimmen. Sie sind in der Küche.

Behutsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Die Küchentür steht halb offen.

Etwas berührt mich am Bein und ich schrecke auf. Fast hätte ich laut aufgeschrien, doch es ist nur Sebastian. Schnurrend streicht er mir um die Beine.

Bitte sei still, flehe ich stumm und beuge mich hinab, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Dabei stoße ich mit dem Ellbogen an das Tischchen im Gang.

Ich halte den Atem an. Schritte! Schnell verstecke ich mich im dunklen Büro gegenüber.

»Es ist nur der Kater«, höre ich Mum sagen, dann bewegt sich etwas und ich höre ein leises Miauen. Mum schließt die Küchentür hinter sich. Ich schleiche mich wieder in den Gang und lausche abermals.

»Es tut mir so leid, was mit Ben passiert ist«, sagt Mum. Ich höre, wie Stühle gerückt werden. »Aber Sie hätten nicht herkommen sollen.«

»Bitte, Sie müssen mir helfen.«

»Ja, aber wie denn?«

»Wir haben alles versucht, um herauszufinden, was mit ihm passiert ist. Alles. Man sagt uns überhaupt nichts. Ich dachte, vielleicht können Sie …« Sie verstummt.

Mum hat Beziehungen, politische Beziehungen. Ihr Vater war Premierminister, bevor er ermordet wurde, und hat das System der Lorder eingeführt. Kann sie ihr helfen? Angestrengt spitze ich die Ohren.

»Es tut mir leid. Ich habe bereits für Kyla versucht, etwas herauszufinden. Aber ich renne da gegen eine Wand. Man sagt mir rein gar nichts.«

»Ich weiß nicht, an wen ich mich noch wenden soll.« Dann höre ich leises Schniefen und Schluchzen – sie weint. Bens Mutter weint.

»Hören Sie mir zu. Zu Ihrem eigenen Wohl müssen Sie aufhören, Fragen zu stellen. Vorerst zumindest.«

Mein Verstand schaltet sich aus und ich kann nichts dagegen tun. Meine Augen füllen sich mit Tränen, meine Kehle schnürt sich zu. Mum hat versucht, in Erfahrung zu bringen, was mit Ben passiert ist. Meinetwegen. Das hat sie mir nie gesagt, weil sie nichts herausgefunden hat. Was für ein Risiko sie eingegangen ist! Es ist gefährlich, Nachforschungen zu Geschehnissen anzustellen, in die Lorder involviert sind. Vielleicht sogar lebensgefährlich.

Und auch Bens Mutter setzt gerade viel aufs Spiel.

Während sie sich verabschieden, schleiche ich zurück in mein Zimmer. Zu der Erleichterung, dass Bens Mutter nichts von meiner Anwesenheit an jenem Tag gesagt hat, mischt sich Trauer. Mrs Nix leidet wie ich unter dem schrecklichen Verlust. Ben war seit mehr als drei Jahren ihr Sohn – seit er geslated wurde. Er hat mir gesagt, dass sie sich nahestanden. Ich sehne mich danach, zu ihr zu gehen, damit wir unseren Kummer teilen können, traue mich aber nicht.

Fest schlinge ich die Arme um mich. Ben. Ich flüstere seinen Namen, doch er kann nicht antworten.

Der Schmerz fühlt sich an, als wollte er mich zermalmen. Niedertrampeln. Mich in tausend Stücke reißen. Bislang hatte ich diese Gefühle immer unterdrücken müssen, sonst hätte mich mein Levo ausgeschaltet. Doch jetzt, da es nicht mehr funktioniert, ist der Schmerz dermaßen übermächtig, dass ich laut aufstöhne. Mir ist, als würde ich ohne Narkose operiert, es ist kein dumpfer Schmerz, sondern ein tiefer Schnitt mit dem Skalpell.

Ben ist weg. Trotz der wirren Erinnerungsfetzen funktioniert mein Gehirn jetzt besser. Er ist weg und kommt nicht wieder. Selbst wenn er das Abschneiden des Levos überstanden hat, gibt es keine Hoffnung, dass er die Lorder überlebt hat. Mit meinen Erinnerungen kehrt auch diese Erkenntnis zurück. Wen die Lorder einmal mitgenommen haben, kehrt nie mehr zurück.

Diese Einsicht tut so weh, dass ich sie wegschieben und mich davor verstecken will. Aber die Erinnerung an Ben will ich mir erhalten. Der Schmerz ist alles, was mir von ihm bleibt.

Seine Mutter tritt Augenblicke später aus der Haustür. Sie setzt sich ins Auto, und ehe sie losfährt, bleibt sie noch ein paar Minuten über das Lenkrad gebeugt sitzen. Als sie den Motor anlässt, fängt es leicht an zu regnen.

Sobald sie außer Sichtweite ist, mache ich das Fenster weit auf, beuge mich nach draußen und strecke die Arme in die Nacht. Kalte Tropfen fallen auf meine Haut und heiße Tränen laufen mir über das Gesicht.

Regen. Er erinnert mich an etwas Wichtiges, doch gleich darauf ist der Gedanke wieder verschwunden.

Zersplittert

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