Читать книгу Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 22

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»Zur Jugendherberge geht es dort entlang.« Kerstin Richter deutete auf das Hinweisschild am Ortseingang von Bergmoosbach. Sie saß ganz vorn im Bus und achtete auf den Weg.

»Schon gesehen.« Heinz Bodekind, der den Bus steuerte, nickte und ging langsam vom Gas.

»So, meine Lieben, wir sind gleich da!«, rief Kerstin und drehte sich zu den Mädchen des Schwabinger Fußballclubs um.

Die jungen Fußballerinnen, alle zwischen dreizehn und fünfzehn Jahre alt, die es sich auf den Sitzen bequem gemacht hatten, sahen ihre Trainerin nicht gerade begeistert an. Einige hatten noch Kopfhörer auf, die in ihren Smartphones steckten und die sie nur widerwillig abnahmen.

»Hier in dieser Einöde sollen wir drei Tage bleiben?«, wunderte sich ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Gelangweilt schaute es aus dem Fenster und betrachtete das Dorf, das sich in einem hügeligen Tal am Fuße der Allgäuer Alpen vor ihnen ausbreitete.

»Ich habe euch doch gesagt, dass wir aufs Land fahren.«

»Schon, aber nicht ans Ende der Welt«, murrten einige Mädchen und setzten ihre Kopfhörer wieder auf.

»Das wird schon«, raunte Heinz Bodekind Kerstin zu und lenkte den Bus in die Seitenstraße, die sich in sanften Serpentinen einen Hügel hinaufschlängelte.

»Ich hoffe es«, seufzte Kerstin und lehnte sich wieder in ihren Sitz. Sie bewunderte die Ruhe, die Herr Bodekind stets bewahrte. Er hatte den Bus der Mädchenfußballmannschaft schon gefahren, als sie selbst vor beinahe zwanzig Jahren dort spielte. Inzwischen war er Anfang sechzig und hatte die Leitung seines Busunternehmens an seinen Sohn abgegeben. Die Mädchen aber fuhr er immer noch selbst, und Kerstin hatte ihn vor einiger Zeit sogar zum Mannschaftsbetreuer ernannt, der zusammen mit ihr auf der Trainerbank sitzen durfte.

Kerstin hatte der Begegnung mit den Bergmoosbacher Mädchen gleich zugestimmt, als Anna Bergmann sie vor einigen Wochen anregte. Anna hatte früher mit ihr in derselben Mannschaft gespielt und sich vor einigen Jahren als Hebamme in Bergmoosbach niedergelassen. Kerstin freute sich auf das Wiedersehen mit ihr und auch auf Matthias Bremer, den Trainer der Bergmoosbacherinnen. Matthias und sie hatten zusammen die Sportschule besucht, sich dann aber aus den Augen verloren. Sie war gespannt, was aus dem damals so schüchternen jungen Mann geworden war.

»Auch noch so ein altes Waldhaus«, stöhnten einige Mädchen, als Heinz schließlich vor der Jugendherberge anhielt.

»Dann bin ich auf jeden Fall richtig, ein alter Mann und ein alter Kasten«, erklärte Heinz und stellte den Motor des Busses ab.

»Sehr witzig, Herr Bodekind«, murrten die Mädchen und schauten auf den ehemaligen Bauernhof, den die Gemeinde schon seit langem als Jugendherberge nutzte.

Auf Kerstin machte das aus dunklem Holz erbaute Haus mit seinen zwei Stockwerken, den weißen Sprossenfenstern und den hellgrünen Dachziegeln einen freundlichen Eindruck. Es lag umgeben von Tannen mitten auf einer Wiese, hatte einen Spielplatz mit Klettergerüst und Schaukeln und einen Grillplatz.

»Jetzt seht euch doch erst einmal um«, beruhigte sie die Mädchen, während sie ihren Rucksack aus dem Gepäckfach über ihrem Sitz nahm.

»Wozu? Hier gibt es nur Wald und Wiesen«, meldete sich das blonde Mädchen mit den Zöpfen wieder zu Wort.

»Bitte, Lizzy, nörgle nicht an allem herum. Ich bin sicher, die Bergmoosbacher Mädchen werden euch schon etwas bieten.«

»Was denn? Sollen wir ihre Kühe auf den Weiden besichtigen oder die Auswahl in ihrem Tante-Emma-Laden bewundern?«

»Lizzy hat recht, mir ist jetzt schon total langweilig«, schloss sich ein rothaariges Mädchen mit rundem Gesicht und Sommersprossen an.

»Danke, Inka«, sagte Lizzy und nickte.

»Okay, Leute, steigen wir aus.« Kerstin zählte innerlich bis zehn, zog den weißen Pulli glatt, den sie über ihrer Jeans trug, schlüpfte mit einem Arm unter die beiden Trageriemen des Rucksacks und verließ den Bus.

Nach und nach folgten ihr die Mädchen, auch wenn sie sich weiterhin genervt zeigten. Schließlich standen sie alle mit ihren Rucksäcken über den Schultern neben ihr auf dem Parkplatz.

»Keine Menschenseele weit und breit«, seufzte Lizzy.

»Wir sehen uns erst einmal unsere Zimmer an«, schlug Kerstin vor.

»Das Madl wird immer dünner«, murmelte Heinz besorgt, der noch hinter dem Steuer des Busses saß.

Die hellblaue Regenjacke mit der Kapuze war der kleinen schmalen Frau zu groß, beinahe verloren sah sie darin aus, dabei hatte sie ihr vor ein paar Wochen noch gepasst, wie sich Heinz erinnerte. Auch das schwarze Haar hatte seinen seidigen Glanz verloren, und ihre dunklen Augen versprühten nicht mehr dengleichen Glanz wie noch vor einigen Monaten. Vielleicht braucht sie nur wieder eine Auszeit, so wie damals vor zwei Jahren, als er sie zufällig in der Stadt traf und sie ihm erzählte, dass sie für ein Vierteljahr verreisen würde. Als er sie dann später nach ihrer Rückkehr wiedersah, schien sie vollkommen erholt.

»Es wird schon nichts sein«, beruhigte er sich, während er durch den Bus lief und alles einsammelte, was die Mädchen liegen gelassen hatten.

»Willkommen in Bergmoosbach, Frau Richter, Madls.« Margot Wendelstein, die Herbergsmutter, stand in dem weiten Eingangsbereich und begrüßte die Schwabinger Fußballerinnen.

Margot war eine stattliche Frau mit dunklen kurzen Locken. Das grüne Dirndl spannte ein wenig in der Taille, aber das schien sie nicht zu stören. Sie war bester Laune, und ihr Lächeln stimmte sogar die missmutigen Mädchen ein wenig freundlicher.

»Auf den ersten Blick ist es ja ganz nett hier«, stellte Inka fest, und die anderen Mädchen nickten dazu.

Helle Dielen und helle Wände, eine schöne alte Holztreppe, die in die anderen Stockwerke hinaufführte, und ein Empfangstresen aus gemasertem Kiefernholz, hinter dem Fotografien der Gegend und einige Kinderzeichnungen hingen.

»Jetzt richtet euch erst einmal ein.« Margot verstellte den Eingang zum Aufenthaltsraum, als eines der Mädchen auf die geschlossene Tür zusteuerte.

»Wo sind unsere Zimmer?«, erkundigte sich Kerstin.

»Ihr seid an diesem Wochenende die einzigen Gäste, ihr habt den ganzen ersten Stock für euch. Es gibt dort auch zwei Einzelzimmer, eines für Sie und eines für den netten Herrn«, sagte Margot, als Heinz mit einer Reisetasche hereinkam.

»Herr Bodekind, unser Fahrer, Frau Wendelstein«, machte Kerstin die beiden miteinander bekannt.

»Guten Tag, Frau Wendelstein.« Heinz reichte Margot die Hand und betrachtete sie mit einem charmanten Lächeln.

Sie gefällt ihm, dachte Kerstin.

»Wer übernachtet mit wem im Zimmer?«, fragte Lizzy und baute sich vor den anderen Mädchen auf.

»Du hast wohl das Kommando?«

»Sie ist unsere Mannschaftskapitänin und unsere Torkönigin«, antwortete Inka der Herbergsmutter.

»Mei, die unsrige hat auch schon einige Tore geschossen. Sie kommt aus einem großen Verein«, erzählte Margot stolz.

»Aha, woher denn? Vielleicht aus Kaufbeuren oder Ottbeuren oder einer anderen niedlichen kleinen Stadt?«, fragte Lizzy, sichtlich überzeugt davon, dass sie keine Überraschung erwartete.

»Geh, in Toronto hat sie gespielt«, erwiderte Margot und sah in die Runde.

»Toronto, tatsächlich«, murmelte Lizzy und musste erst einmal schlucken. »Sehen wir uns die Zimmer an, Leute!«, rief sie und lief die Treppe hinauf.

»Echt Toronto?«, hakte Inka bei Margot nach.

»Ja, unsere Emilia ist dort geboren.«

»Interessant«, sagte Inka beeindruckt und eilte an Heinz vorbei, der schon auf halber Treppe hinauf in den ersten Stock war.

»In unserem Alter geht es ein wenig gemächlicher vorwärts«, seufzte er, als Inka ihn beinahe umrannte und er gerade noch zur Seite ausweichen konnte.

»Deshalb haben wir auch mehr Gespür für die Feinheiten«, erwiderte Margot, die den kleinen Vorfall beobachtet hatte.

»Was ich als sehr angenehm empfinde, Frau Wendelstein.«

»In einer Viertelstunde gibt es Kaffee und Kuchen für alle, in gemütlicher Atmosphäre, ganz ohne Hetze.«

»Ich werde es den anderen ausrichten.«

»Mei, so ein sympathisches Mannsbild«, flüsterte Margot und schaute Heinz noch eine Weile nach.

So wie der Empfangsbereich waren auch die Zimmer im ersten Stock mit hellen Kiefernmöbeln eingerichtet. In den drei Gemeinschaftsräumen standen Stockbetten, und in den Einzelzimmern, die beide ein eigenes Bad hatten, war das Bett so breit, dass auch zwei Personen bequem darin Platz finden konnten. Dunkelblaue Bettwäsche und hellblaue Gardinen sorgten für ein wenig Farbe.

Nachdem Heinz den Mädchen verkündet hatte, dass ihre Herbergsmutter mit Kuchen auf sie wartete, beeilten sie sich, ihre Sachen auszuräumen. Als aktive Sportlerinnen mussten sie keine Kalorien zählen, und Kuchen stand bei ihnen besonders hoch im Kurs.

*

»Leute, das müsst ihr euch ansehen!«, rief Lizzy, die wenig später als erste in den Aufenthaltsraum stürmte.

»Wow, das nenne ich einen Empfang«, erklärte Inka und blickte genauso erstaunt wie ihre Mannschaftskameradinnen auf die Mädchen des Bergmoosbacher Fußballvereins, die sie mit einem riesigen Willkommensbanner und Applaus begrüßten.

»Hallo, Anna!« Kerstin hatte ihre Jugendfreundin entdeckt, die inmitten der Mädchen stand. In Jeans und T-Shirt, das brünette Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, war sie ihr unter den Teenagern nicht gleich aufgefallen. »Ich freue mich, dich zu sehen, so einen Empfang haben wir gar nicht erwartet, danke«, sagte sie und umarmte Anna.

»Wenn wir schon einen Münchner Verein bei uns zu Gast haben, dann wollen wir dieses Treffen auch gebührend würdigen.«

»Schwabinger Verein«, wurde Anna von Lizzy verbessert.

»Klar, Leopoldstraße, Cafés und Clubs«, meldete sich ein Mädchen aus Bergmoosbach zu Wort.

»Und coole Boutiquen, die gibt es bei euch auf dem Land eher nicht«, entgegnete Lizzy und schaute auf das Mädchen mit den kurzen blonden Haaren, das ganz in Schwarz gekleidet war.

»Ich komme aus Hannover.«

»Das scheint dann wohl auch eine ziemlich farblose Gegend zu sein«, sagte Lizzy und rümpfte die Nase.

»Sind in Schwabing alle so arrogant wie du?«

»Lass es gut sein, Doro«, mischte sich ein großes schlankes Mädchen mit kastanienfarbenem Haar ein.

»Ich lasse mich aber nicht runterputzen, Emmi.«

»Aha, du bist die aus Toronto.« Lizzy hatte das Wappen auf Emilia Seefelds grünem T-Shirt entdeckt. Blau mit zwei weißen Balken und einem rotem Ahornblatt.

»Du kennst dich aus«, entgegnete Emilia.

»Wir haben gute Schulen in Schwabing.«

»Offensichtlich legt man dort aber nicht viel Wert auf gutes Benehmen. Hoffentlich spielt ihr wenigstens fair.«

»Werden wir sehen. Welche Position, Hannoveranerin?«, wandte Lizzy sich an Doro.

»Ich stehe im Tor«, erklärte Doro selbstbewusst. »Wer steht bei euch im Tor?«

»Ich«, antwortete Inka und stemmte die Arme angriffslustig in die Hüften.

»Am Sonntag auf dem Platz werden wir euch von unseren Qualitäten überzeugen«, sagte Doro.

»Große Chancen solltet ihr euch nicht ausrechnen«, entgegnete Inka.

»Mädchen, bitte, es geht um ein Freundschaftsspiel! Setzt euch hin und lernt euch erst einmal kennen«, bat Kerstin.

»Ein guter Vorschlag«, sagte Anna und sorgte dafür, dass an jedem Tisch Mädchen aus Bergmoosbach und aus Schwabing saßen. Sie hatte die Aufgabe einer zusätzlichen Betreuerin für die beiden Mannschaften übernommen, um Kerstin und Matthias in den nächsten Tagen ein wenig zu entlasten. »Margots Kuchen wird die Gemüter schnell beruhigen«, raunte sie Kerstin zu, als sie sich beide allein an einen Tisch setzten und die Mädchen sich über den selbst gebackenen Apfelstrudel mit Schlagsahne hermachten.

»Im Gegensatz zu meinen Mädchen finde ich die Ruhe und Abgeschiedenheit dieser Gegend sehr schön. Aber wo ist eigentlich Matthias?«, fragte Kerstin und schaute sich in dem Aufenthaltsraum mit seinen Kiefernholzmöbeln und weiß-blauen Gardinen um.

»Er gibt nachmittags Turnunterricht für die Vorschulkinder. Ich denke, er wird gleich da sein. Und nun erzähle mir ein bisschen von dir, wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen. Ich war überrascht, als ich neulich wegen dieses Freundschaftsspiels in unserem alten Verein anrief und hörte, dass du jetzt dort Trainerin bist. Du warst doch diejenige, die immer betont hat, dass sie niemals zur Trainerin tauge.«

»Ich habe auch behauptet, dass ich nie Lehrerin werden könnte, aber offensichtlich lag ich da falsch«, antwortete Kerstin lachend.

»Wie lange trainierst du die Mannschaft schon?«

»Seit etwa einem Jahr. Die Schule, in der ich unterrichte, ist nur ein paar Straßen vom Fußballplatz entfernt, und einige Mädchen aus der Mannschaft waren damals schon bei mir im Sportunterricht. Sie wussten, dass ich eine Trainerlizenz besitze, und als ein neuer Trainer für die Mädchenmannschaft gesucht wurde, haben sie mich vorgeschlagen. Was ist mit dir, hast du schon mal daran gedacht, dich zur Trainerin ausbilden zu lassen?«

»Ich besuche gerade einen Lehrgang, aber behalte es bitte für dich. Außer Matthias weiß niemand davon«, sagte Anna leise.

»Ich schweige«, erklärte Kerstin mit verschwörerischer Miene. »Ich habe es übrigens nie bereut, dass ich diese Ausbildung gemacht habe, auch wenn es Arndt lieber wäre, ich würde die Vereinsarbeit einschränken.«

»Du sprichst von deinem Freund, diesem Autohausbesitzer, den du am Telefon erwähnt hast.«

»Das Autohaus Weißmüller hat nur Luxusmarken im Angebot, dementsprechend ist auch die Kundschaft. Arndt wird häufig zu Empfängen eingeladen, vorzugsweise an den Wochenenden. Er drängt mich jedes Mal, ihn zu begleiten. Wenn wir ein Spiel haben, geht das aber nicht.«

»Drängen klingt nicht gut.«

»Nein, ist es auch nicht. Wir sind jetzt seit eineinhalb Jahren zusammen, aber ich gewöhne mich einfach nicht daran. Ich meine, Arndt ist charmant und großzügig und er kann auch sehr liebevoll sein, sonst hätte ich mich nicht auf ihn eingelassen, aber inzwischen ist diese Liebe ziemlich abgekühlt. Er fühlt sich in dieser Scheinwelt der Heucheleien und Lobhuldigungen wohl, ich nicht.«

»Das heißt?«

»Ich denke daran, mich von ihm zu trennen.«

»Hast du es ihm schon gesagt?«

»Noch nicht, aber ich werde dieses Gespräch nicht mehr lange hinauszögern.«

»Matthias ist da«, sagte Anna und schaute auf den silberfarbenen Volvo, der vor der Jugendherberge anhielt. »Geh ihm doch entgegen, dann habt ihr ein paar Minuten für euch allein. Er freut sich schon auf euer Wiedersehen.«

»Das heißt, er erinnert sich an mich?«

»Er wusste sofort, wer du bist, und meinte, dass er es damals sehr bedauert habe, dass er nie eine Chance bei dir hatte.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass er diese Chance je gesucht hat.«

»Wer was nicht richtig eingeschätzt hat, das könnt ihr in den nächsten Tagen klären«, erwiderte Anna lächelnd.

»Erst mal sehen, was aus dem guten Matthias geworden ist. Wenn er immer noch so schüchtern wie damals ist, wird wohl kein richtiges Gespräch in Gang kommen.«

»Ich glaube, da hat sich einiges verändert.«

»Ich bin gespannt«, sagte Kerstin und ging nach draußen, um Matthias zu begrüßen.

»Hallo, Anna, wie geht es dir?«

»Herr Bodekind, ich freue mich.« Anna erkannte den Busunternehmer sofort wieder, an den sie nur gute Erinnerungen hatte. »Setzen Sie sich zu mir«, bat sie ihn.

Kerstin schaute erwartungsvoll über den Parkplatz vor der Jugendherberge. Der Bus versperrte ihr den Blick auf den Wagen, mit dem Matthias gekommen war. Sie konnte nicht sehen, ob er schon ausgestiegen war.

»Hallo, Kerstin.«

»Ja?« Überrascht sah sie den jungen Mann an, der hinter dem Bus hervorkam.

Er trug Jeans und ein weißes Hemd, war groß und sportlich, hatte dunkelblondes Haar, blaue Augen und ein selbstbewusstes Lächeln.

»Matthias?«

»Habe ich mich so sehr verändert?«

»Ja, das hast du«, gab sie unumwunden zu, als er näherkam.

»Ich hoffe, zu meinem Vorteil«, sagte er und nahm sie freundschaftlich in die Arme.

»Zumindest bist du nicht mehr so schüchtern wie damals.«

»Ich war nie schüchtern, nur ein wenig zurückhaltend.«

»Sehr zurückhaltend.«

»Gut, dann eben sehr zurückhaltend.«

»Besonders gegenüber den Mädchen.«

»Du meinst, ich hätte mehr auf sie zugehen sollen?«

»Schon.«

»Interessant, darüber sollten wir uns in den nächsten Tagen noch mal unterhalten.«

»Gern, aber jetzt gehen wir erst einmal zu den anderen«, sagte Kerstin und hakte sich bei Matthias unter. »Mädels, das ist Matthias Bremer, der Trainer der Bergmoosbacherinnen«, stellte sie ihn gleich darauf ihrer Mannschaft vor.

Nachdem die Mädchen ihn mit einem Applaus begrüßt hatten, machte sie Matthias mit Heinz Bodekind bekannt, und sie setzten sich zu ihm und Anna an den Tisch.

»Schmeckt er dir nicht?«, fragte Matthias, als Kerstin den Teller mit dem Kuchen beiseiteschob, obwohl sie nur ein kleines Stück davon gegessen hatte.

»Doch, er ist köstlich, ich habe nur keinen großen Hunger.«

»Ich glaube, die jungen Damen sind sich nicht ganz einig«, sagte Heinz und machte die beiden Trainer und Anna auf das erneute Streitgespräch zwischen Lizzy, Emilia, Doro und Inka aufmerksam, die zusammen an einem Tisch saßen.

»Emmi, du bist dran«, sagte Doro auf einmal so laut, dass alle es hören konnten.

»Wo willst du hin, Emilia? Was ist los?!«, rief Anna dem Mädchen nach, das ziemlich aufgebracht schien und davonstürmen wollte.

»Ich muss mit unserem Mannschaftsarzt sprechen. Lizzy glaubt, dass wir uns auf dem Dorf keinen Arzt leisten können.«

»Glaube ich auch nicht«, beteuerte Lizzy erneut.

»Habt ihr denn einen Mannschaftsarzt?«, fragte Anna und schaute Lizzy an.

»Klar, wir wohnen schließlich in Schwabing, da gibt es viele engagierte Ärzte, die uns sogar mit großzügigen Spenden unterstützen«, erklärte das Mädchen von oben herab.

»Ich bin gleich zurück.« Emilia zückte ihr Telefon und verließ den Aufenthaltsraum.

»Ihr habt wirklich einen Mannschaftsarzt?«, fragte Kerstin leise und sah Anna überrascht an.

»Ihr doch offensichtlich auch.«

»Lizzys Onkel ist Augenarzt und gehört zu den Förderern unseres Vereins. Er sitzt während unserer Heimspiele neben mir auf der Trainerbank und kümmert sich um Schürfwunden und so etwas. Wenn es mehr ist, ruft er einen Krankenwagen. Wen habt ihr?«

»Emilia hat von ihrem Vater gesprochen. Er hat vor einiger Zeit die Landarztpraxis ihres Großvaters übernommen, aber ehrlich gesagt, er weiß noch gar nicht, dass er unsere Mannschaft betreut«, gab Anna leise zu.

»Verstehe, sie will ihn dazu überreden«, entgegnete Kerstin lächelnd. »Was hat die Familie bewogen, Kanada den Rücken zu kehren?«

»Sebastians Frau ist im letzten Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen, danach hat er sich entschlossen, wieder nach Bergmoosbach zurückzukehren. Was für Emilia nicht leicht war, sie musste sich hier bei uns erst einmal zurechtfinden.«

»Sie scheint aber recht selbstbewusst zu sein, sie lässt sich zumindest von unserer verwöhnten Prinzessin nichts gefallen.«

»Du meinst Lizzy?«, fragte Anna.

»Richtig, ihre Eltern sitzen beide im Vorstand einer Münchner Bank. Geld spielt in dieser Familie keine Rolle. Lizzy bekommt alles, was sie sich wünscht. Nur auf dem Fußballplatz muss sie sich selbst beweisen, aber das tut sie mit großer Leidenschaft.«

»O ja, das tut sie, sie ist schon zweimal hintereinander Torschützenkönigin des Jahres geworden«, erzählte Heinz Bodekind voller Stolz.

»Hast du euren Mannschaftsarzt erreicht?«, fragte Lizzy mit spöttischem Blick, als Emilia wenig später zurückkam.

»Du wirst ihn gleich kennenlernen.«

»Lass gut sein, Emilia, du musst uns nicht länger etwas vormachen. Woher solltet ihr einen Mannschaftsarzt haben?«

»Warte es ab«, erklärte Emilia und setzte sich wieder zu Lizzy an den Tisch.

Die Bergmoosbacher Mädchen konnten sich natürlich denken, von wem Emilia sprach, aber sie behielten es für sich, um ihr nicht den Spaß zu verderben, die Schwabinger zu überraschen.

»Noch jemand einen Nachschlag?«, fragte Margot, die mit einem Tablett aus der Küche kam, auf dem ein warmer Apfelstrudel lag.

»Ja, bitte, hier!«, tönte es aus allen Ecken, und das war genau die Antwort, die Margot erwartet hatte und die ihr ein zufriedenes Lächeln entlockte.

*

Das Haus der Seefelds mit seinen lindgrünen Fensterläden erhob sich auf einem sanften Hügel am Ortsrand von Bergmoosbach. Die Praxisräume waren in einem Anbau untergebracht, der an den Hof grenzte, und die Bank, die dort den Stamm der alten Ulme umspannte, nutzten die Patienten gern als gemütliches Freiluftwartezimmer.

Sebastian Seefeld stand am Fenster der hellen Landhausküche und schaute auf den Steingarten. Veilchen, roter Rhododendron, Enzian und Edelweiß zeigten sich dort in ihren schönsten Farben.

»Ich glaube, ich habe mich gerade von meiner Tochter überfahren lassen«, sagte er und wandte sich seinem Vater zu, der am Kopfende des rustikalen Esstisches saß, in der aktuellen Ausgabe des Bergmoosbacher Tagblattes blätterte und einen Espresso trank.

»So würde ich es nicht sehen, du hilfst ihr aus einer Verlegenheit«, entgegnete Benedikt Seefeld.

»In die sie sich ohne Not hineinmanövriert hat.« Sebastian strich die dunkle Haarsträhne zurück, die ihm in die Stirn fiel, und stützte sich mit beiden Händen auf die Lehne des braunen Lederstuhls, der am anderen Ende des Esstisches stand.

»Sie wurde herausgefordert, und sie hat sich gewehrt.«

»Emilia findet in dir immer einen Fürsprecher, Vater.«

»Stimmt«, sagte die kleine rundliche Frau in dem hellblauen Dirndl, die in diesem Moment die Küche betrat.

Traudel Bruckner, die gute Seele des Hauses Seefeld, die zur Familie kam, als Sebastians Mutter kurz nach seiner Geburt starb. Seitdem sorgte Traudel für die Familie und schenkte ihr ihre ganze Liebe.

»Ihr beide haltet wie immer zusammen«, seufzte Sebastian.

»Emilia verlangt nichts Unrechtes von dir«, sagte Traudel.

»Außerdem könntest du dir überlegen, ob es nicht tatsächlich eine gute Idee wäre, wenn du die Mädchen zu ihren Spielen begleitest«, schlug Benedikt vor.

»Ich verstehe aber nicht viel von Fußball.«

»Das würde sich dann schon ändern. Es genügt für den Anfang, wenn du einen Bänderriss von einer Verstauchung unterscheiden kannst«, antwortete Benedikt, und ein schalkhaftes Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des gut aussehenden sportlichen Mannes mit dem silbergrauem Haar.

»Du übernimmst die Nachmittagssprechstunde?«, vergewisserte sich Sebastian noch einmal bei seinem Vater.

»Kein Problem, ich freue mich darauf, mal wieder ein bisschen mit meinen alten Patienten zu plaudern.«

»Sie wird auch ihre Freude haben.« Traudel schaute auf die Frau in dem grauen Faltenrock und der weißen Bluse, die die Auffahrt zur Praxis heraufmarschierte.

»Unsere Gerti hat eben Sehnsucht nach mir«, stellte Benedikt fest, während Traudel der Sprechstundenhilfe ein wenig mürrisch nachblickte. Gerti Fechner, die schon seit dreißig Jahren in der Praxis angestellt war, himmelte Benedikt ohne Scheu an, und das verübelte sie ihr. Schließlich war Benedikt ihre heimliche Liebe, die sie mit niemandem zu teilen gedachte.

»Ich fahre zur Jugendherberge«, sagte Sebastian und ließ die beiden allein.

»Steht ein Hausbesuch an?«, fragte Gerti, als er gleich darauf über den Hof zur Garage lief.

»Nein, ich nehme mir heute frei.«

»Ist recht«, antwortete sie lächelnd.

*

»Doktor Seefeld, das ist aber nett von Ihnen, dass Sie vorbeischauen«, sagte Doro und tat ganz überrascht, als Sebastian den Aufenthaltsraum der Jugendherberge betrat.

»Respekt, ihr habt offensichtlich das große Los mit eurem Mannschaftsarzt gezogen«, stellte Inka fest, und die Schwabinger Mädchen nickten anerkennend.

»Seefeld? Heißt du nicht auch Seefeld?«, wandte sich Lizzy an Emilia.

»Gut aufgepasst.«

»Mit ihm kann dein Onkel nicht mithalten, Lizzy«, flüsterte Inka.

»Hallo, das ist mein Vater.« Emilia stupste Inka in die Seite, die Sebastian wie die anderen Mädchen auch unverblümt anstarrte.

»Okay, aber du weißt schon, dass er ziemlich gut aussieht.«

»Ja, weiß ich, aber es ist peinlich, wenn ihr ihn so anglotzt.«

»Trotzdem Freunde?« fragte Inka und streckte Emilia die Hand hin.

»Einverstanden, aber vor dem Tor hört die Freundschaft auf.«

»Klar«, antwortete Inka lachend.

»Auch Freunde?«, wandte sich Emilia an Lizzy.

»Freunde«, sagte Lizzy und reichte Emilia die Hand.

»Deine Anwesenheit hat ein kleines Wunder bewirkt«, sagte Anna, als Sebastian zu ihr und den anderen an den Tisch kam und sie die neue Eintracht unter den Mädchen bemerkte.

»Ich wünschte, ich könnte auch große Wunder vollbringen, das würde mir manchmal sehr helfen.«

»Du gibst dein Bestes, mehr geht nicht«, sagte Anna und dann machte sie ihn mit Kerstin und Heinz Bodekind bekannt.

»Doktor Seefeld, wie schön, dass Sie uns auch einmal besuchen. Darf ich Ihnen einen Apfelstrudel bringen?«, fragte Margot, die aus der Küche kam.

»Aber nur ein kleines Stück, Frau Wendelstein.«

»Geh, wenn schon das Wunder eintrifft, dass Sie zu uns heraufkommen, dann gibt es auch ein ordentliches Stück«, erklärte Margot, und schon brachte sie ihm ein großes Stück Apfelstrudel mit Sahne.

»Schon wieder ein Wunder, das du ausgelöst hast. Wie soll man da noch mithalten können?«, stöhnte Matthias und spielte den Verzweifelten, während Sebastian sich den Kuchen schmecken ließ.

»Wieso? Du kommst doch gerade auch in den Genuss eines Wunders. Vor einer Stunde hattest du noch keinen Mannschaftsarzt und jetzt sitzt er neben dir.«

»Du lässt dich wirklich darauf ein?«, fragte Matthias verblüfft.

»Mein Vater meinte, es wäre sogar eine gute Idee, mich auf Dauer darauf einzulassen.«

»Da stimme ich ihm sofort zu«, sagte Matthias.

»Was haltet ihr davon, wenn wir einen Spaziergang machen? Wir könnten hinunter ins Dorf gehen, damit meine Mädchen wissen, wo sie die nächsten Tage verbringen.« Kerstin hatte das Gefühl, dass sie unbedingt an die frische Luft musste, wenn sie nicht auf der Stelle einschlafen wollte.

»Das sollten wir unbedingt tun, schon wegen des Apfelstrudels«, sagte Anna und schaute auf ihren Teller, auf dem sie nur ein paar Krümel übriggelassen hatte. »Obwohl, wenn ich dich so ansehe, hast du sicher genug Bewegung«, stellte sie mit einem kurzen Blick auf Kerstin fest.

»Sie isst auch kaum etwas«, sagte Heinz, und seine Worte klangen beinahe vorwurfsvoll.

»Das stimmt nicht, Herr Bodekind, ich bin nur nicht so für Süßes«, erwiderte Kerstin. Dass sie in letzter Zeit nicht so viel Appetit hatte und oft müde war, das lag nur daran, dass sie ständig mit etwas beschäftigt war. Die Schule, der Sportverein, die Events, zu denen sie Arndt mitschleppte. Es ließ sich alles erklären und hatte nichts mit dieser Krankheit zu tun, die sie vor zwei Jahren für einige Wochen außer Gefecht gesetzt hatte.

»Woran denkst du?«, fragte Anna und stupste Kerstin an.

»Ich dachte, dass ich mal wieder richtig ausschlafen sollte.«

»Dazu wirst du die nächsten Tage aber sicher nicht kommen.«

»Das habe ich auch nicht vor«, antwortete Kerstin und streifte Matthias mit einem liebevollen Blick. »Was ist mit Ihnen, Herr Bodekind, kommen Sie mit uns?«, wandte sie sich an Heinz.

»Geh, jetzt lasst mir halt auch ein bissel Gesellschaft«, sagte Margot, die in der Küchentür stand und sich umschaute, ob noch jemand nach einem Stück Apfelstrudel verlangte.

»Ihr habt es gehört«, sagte Heinz und strahlte Margot an.

»Da besteht wohl eine gewisse Anziehungskraft, Herr Bodekind«, flüsterte Anna.

»Das denke ich auch«, schloss sich Kerstin gleich an.

»Geht spazieren, ihr beiden«, entgegnete Heinz lachend.

»Mädchen, wir machen einen Spaziergang!«, rief Kerstin.

»Wir sollen durch den Wald laufen?«, murrte Lizzy.

»Bei uns gehören Spaziergänge zum Fitnessprogramm. Gleichmäßiges Laufen, Atemübungen, die Farben der Natur in sich aufnehmen, das steigert die Leistungsfähigkeit enorm«, sagte Sebastian und schaute die Mädchen mit festem Blick an.

»Neue wissenschaftliche Erkenntnisse?«, fragte Lizzy.

»Nein, altes Wissen«, antwortete Sebastian lächelnd.

»Altes Wissen der Indianer?«, wollte Inka wissen.

»Richtig, der Großvater meiner Freundin Izusa ist Medizinmann. Papa hat eine Menge von ihm gelernt«, erzählte Emilia.

»Du hast eine indianische Freundin?«

»Nicht nur eine.«

»Was heißt Izusa?«

»Es bedeutet weißer Stern«, erwiderte Emilia, und als sie diese Worte aussprach, konnte Sebastian das Strahlen in den Augen seiner Tochter sehen.

Emilia und Sebastian wurden nun von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Alle wollten unbedingt mehr von Izusa und ihrem Großvater hören. Als sie die Jugendherberge gleich darauf verließen, wären am liebsten alle Mädchen gleichzeitig neben den beiden hergelaufen, um nichts von dem zu verpassen, was sie erzählten. Auch Anna schloss sich ihnen an, während Matthias und Kerstin in ihr eigenes Gespräch vertieft waren und kaum noch auf die anderen achteten.

»Ich glaube, wir haben sie aus den Augen verloren«, stellte Kerstin plötzlich fest, als sie aufschaute und niemand mehr auf dem verschlungenen Waldweg vor ihnen zu sehen war.

»Keine Sorge, die Mädchen sind schon alt genug, um eine Weile auf sich selbst aufzupassen. Außerdem sind Anna und Sebastian bei ihnen.«

»Das ist richtig, aber letztendlich trage ich die Verantwortung für meine Mädchen.«

»Trägt auch jemand Verantwortung für dich? Ich meine, lebst du in einer festen Beziehung?«

»Du meinst, ob ich bald heirate?«

»Ja, das meine ich.«

»Nein, das habe ich nicht vor.« Sie hatte vor, sich von Arndt zu trennen, und das bedeutete, dass sie schon so gut wie frei war. »Was ist mit dir? Hast du jemanden?«, fragte sie.

»Die Frau, die sich auf mich einlässt, müsste das Abenteuer lieben, sie müsste den Wunsch haben, mit mir zusammen die Welt zu bereisen.«

»Und die hast du noch nicht gefunden?«

»Bisher nicht.«

»Was tust du, wenn du dich verliebst und diese Frau keine Lust auf Abenteuer hat?«

»Dann ist sie nicht die richtige für mich. Liebst du das Abenteuer?«, fragte er und betrachtete sie mit einem herausfordernden Lächeln.

»Ich entdecke gern neue Dinge«, sagte sie leise, und auf einmal spürte sie ein Kribbeln in der Magengegend, ihr Blick begann zu flackern und sie musste unwillkürlich schlucken. »Welche Abenteuer planst du denn?«, fragte sie und schaute vor sich auf den mit Moos bewachsenen Weg.

»Ich denke schon seit längerem darüber nach, als Sportlehrer auf einem Kreuzfahrtschiff anzuheuern. Ich könnte ein bisschen Geld verdienen und mir gleichzeitig ferne Länder ansehen. Es wäre eine generationsübergreifende Entscheidung, weißt du.«

»Was genau heißt das?«

»Das heißt, wenn ich keine Abenteuer erlebe, werde ich meinen Enkelkindern später keine spannenden Geschichten aus meinem Leben erzählen können.«

»Geschichten, die du gemeinsam mit ihrer zukünftigen Großmutter erleben möchtest.«

»So stelle ich mir das vor«, entgegnete Matthias und betrachtete sie aus den Augenwinkeln.

Kerstin verspürte erneut einen Stich, als sie es bemerkte, und sie fragte sich, warum sie Matthias während ihrer Studienzeit nicht mehr Beachtung geschenkt hatte. »Ich finde es schön, dass wir beide uns wieder getroffen haben«, sagte sie.

»Ja, Kerstin, das finde ich auch schön«, antwortete er mit sanfter Stimme. »Weißt du eigentlich, dass ich einmal sehr verliebt in dich war?«

»Davon habe ich nie etwas bemerkt, du hast es wohl perfekt verborgen.«

»Vielleicht hielt ich dich für unerreichbar.«

»Hallo! Wo bleibt ihr denn?!«, hörten sie die Mädchen von weiter unten auf dem Weg rufen.

»Wir sind gleich bei euch!«, antwortete Kerstin und beschleunigte ihre Schritte.

»Was ist?«, erkundigte sich Matthias erschrocken, als ihr die Beine kurz wegsackten und er sie gerade noch auffangen konnte.

»Ich bin nur gestolpert«, sagte sie und richtete sich wieder auf. »Du hast schnell reagiert, danke.«

»Es gehört zu unserem Beruf zu erkennen, wenn jemand das Gleichgewicht verliert.«

»Stimmt, trotzdem danke.« Ich bin nicht gestolpert, mir haben die Beine versagt, dachte sie, und dabei spürte sie die Angst, die ihr die Kehle zuschnüren wollte. Andererseits liefen sie einen abschüssigen sandigen Weg hinunter, da konnte jeder leicht ausrutschen. Nein, es gab keinen Grund, das Schlimmste anzunehmen, es war alles ganz harmlos.

»Ihr habt euch wohl viel zu erzählen«, sagte Lizzy, als Kerstin und Matthias wieder zu ihnen aufschlossen.

»So ist es, Süße«, antwortete Kerstin lächelnd.

»Das freut mich für euch«, entgegnete Lizzy und wandte sich wieder ihren Freundinnen zu, die noch immer Sebastian und Emilia umringten.

»Beeindruckend, wie interessant andere einen Menschen finden, der etwas zu erzählen hat«, stellte Matthias fest.

»Wenn er die Gabe besitzt, seine Erlebnisse spannend wiederzugeben, dann schon«, stimmte Anna ihm zu, die am Ende der fröhlichen Wandergruppe herlief und so alle im Blick hatte.

»Du magst ihn sehr, nicht wahr?«, fragte Kerstin leise, als sie sah, wie Anna Sebastian anschaute.

»Bergmoosbach in seiner ganzen Schönheit.« Anna gab vor, die Frage nicht gehört zu haben und lenkte die Aufmerksamkeit der Gäste aus Schwabing auf den Marktplatz, als sie in diesem Moment aus dem Wald heraustraten.

»Ich fühle mich gerade wie in einer perfekten Filmkulisse«, stellte Kerstin fest, als sie über den Platz mit dem alten Kopfsteinpflaster liefen, der von den hübsch restaurierten Häusern mit ihren Lüftlmalereien umgeben war.

Auch der alte Brunnen mit dem steinernen Bären, der ein aus Marmor gehauenes Honigglas in der Pfote hielt, zog die Blicke der Schwabinger auf sich.

»Niedlich, ihr wohnt in einer Art Bilderbuchland.« Lizzy beugte sich über den Brunnenrand und tauchte ihre Hände ins Wasser.

»Vorsicht, wenn du in den Brunnen fällst, dann verwandelst du dich in einen Frosch«, warnte Emilia sie.

»Geht das Märchen nicht so, dass die Prinzessin den Frosch küsst und er sich in einen Prinzen verwandelt?«

»Die Prinzen haben wir schon alle rausgefischt«, erklärte Doro mit einem breiten Lächeln.

»Na dann, was habt ihr denn sonst so zu bieten? Drogerie, Schreibwarenladen, Blumengeschäft, Supermarkt, obwohl eher ein Supermärktchen«, verbesserte sich Lizzy.

»Hier gibt es eben nur das, was die Leute wirklich brauchen, keinen unnötigen Schnickschnack«, verteidigte Emilia das Angebot im Dorf.

»Langweilig«, stöhnte Lizzy.

»Ihr habt echt keine Ahnung, bei uns ist immer etwas los. Wir haben sogar ein Kino«, erzählte Doro stolz.

»Okay, wie wäre es, wenn ihr uns ein bisschen herumführt?«, schlug Inka vor.

»Kein Problem«, antwortete Emilia. »In den Seitenstraßen gibt es auch noch einige kleine Geschäfte, einen Schuster, einen Geigenbauer …«

»Ich glaube, ich war noch nie bei einem richtigen Schuster«, unterbrach eines der Schwabinger Mädchen Emilias Aufzählung.

»Dann nutze die Gelegenheit.«

»Ich denke, das könnte interessant werden. Dürfen wir gehen, Kerstin?«, wandte sich Lizzy an ihre Trainerin.

»Aber ihr bleibt im Dorf.«

»Alles klar«, antworteten die Mädchen.

»Gut, dann viel Spaß. Wir treffen uns in einer Stunde wieder hier am Brunnen. Lizzy, kann ich mich auf dich verlassen?«

»Ja, ja, natürlich«, murmelte Lizzy genervt.

»Bis dann, Kerstin«, verabschiedeten sich die Mädchen und liefen in kleinen Gruppen über den Marktplatz, während Kerstin sich neben Matthias auf den Brunnenrand setzte, auf dem schon Anna und Sebastian saßen.

»Hier geht niemand verloren, da kannst du unbesorgt sein.« Anna war Kerstins besorgte Miene nicht entgangen.

»Lizzy kann ich nicht wirklich trauen. Als wir vor ein paar Wochen in Innsbruck waren, konnte ich sie gerade noch aus dem Bus holen, mit dem sie nach Wien fahren wollte«, erzählte Kerstin.

»Da wird sie hier keine Freude haben. Busse und Züge, die bei uns halten, fahren nur bis in die Kreisstadt«, versicherte ihr Matthias.

»Hallo, Doktor Seefeld, haben Sie heute keine Sprechstunde?«, wunderte sich die Frau in dem grauen Dirndl, die mit einem Einkaufskorb aus der Drogerie kam.

»Mein Vater hat die Sprechstunde übernommen, Frau Draxler. Wollten Sie denn heute zu mir?«

»Nein, das nicht, ich hab mich nur ein bissel gewundert, dass sie während der Sprechstunde hier unterwegs sind, aber wenn der Herr Doktor Sie vertritt. Da schau her, der Matthias heut in Begleitung«, stellte Elvira Draxler fest, und weil sie gegen das Licht schaute, kniff sie die Augen zusammen, um Matthias und die junge Frau an seiner Seite besser sehen zu können.

»Das ist Kerstin Richter, die Trainerin unserer Gastmannschaft. Ich hoffe, dass Sie auch am Sonntag zum Spiel kommen, Frau Draxler«, entgegnete Matthias mit einem charmanten Lächeln.

»Freilich komm ich. Jeder, der nur irgendwie kann, wird unsere Madl am Sonntag unterstützen, das ist doch Ehrensache. Nichts für ungut, Frau Richter, die Ihrigen sind bestimmt auch recht gute Fußballerinnen, aber es sind halt die unsrigen, die gegen sie spielen. Da sind wir schon parteiisch«, erklärte Elvira.

»Wenn ich hier wohnen würde, dann wäre es mir auch eine große Freude, für dieses wundervolle Dorf mit seinen liebenswerten Einwohnern zu spielen.«

»Mei, das haben Sie aber schön gesagt«, entgegnete Elvira mit einem strahlenden Lächeln. »Ich wünsche Ihnen noch viel Spaß bei uns, Frau Richter, und lassen Sie sich von dem Matthias ein bissel was von der Gegend zeigen. Das machst du doch, oder?«, wandte sie sich mit einem Augenzwinkern an den Bergmoosbacher Trainer.

»Genau das habe ich vor, Frau Draxler.«

»So ist es recht, also dann noch einen schönen Tag. Ja, mei, andere haben ja heute auch ein bissel ihren Spaß«, fügte sie mit einem Blick auf Anna hinzu. »Ich pack’s dann wieder«, sagte sie und rauschte davon.

»So gut gelaunt sieht man unser Nachrichtenmagazin selten«, stellte Matthias amüsiert fest.

»Euer Nachrichtenmagazin?«, fragte Kerstin.

»Elvira Draxler sieht alles, hört alles …«

»… und verbreitet alles«, setzte Anna Matthias‘ Aufzählung fort.

»Mit tatkräftiger Unterstützung des Landfrauenvereins …«

»… deren zweite Vorsitzende sie ist«, vollendete Anna Sebastians Antwort. »Ich möchte zu gern wissen, was ihre gute Laune ausgelöst hat. Kerstins Bewunderung für Bergmoosbach hat ihr sicher gefallen, aber sie kam schon auffällig zufrieden aus der Drogerie.«

»Warum hast du sie nicht einfach gefragt?«, wollte Sebastian wissen.

»Du weißt doch, ich bin immer noch die Zugezogene. Mir vertraut sie sich vermutlich erst in etwa zwanzig Jahren an, wenn ich dann noch hier wohne.«

»Du denkst an Veränderung?«, fragte Matthias.

»Im Moment nicht, aber wer weiß denn schon, was die Zukunft bringt«, erwiderte Anna und streifte Sebastian mit einem kurzen Blick.

»Ihr könntet eure Frau Draxler fragen«, schlug Kerstin vor.

»Sie ist kein Orakel«, entgegnete Anna.

»Vielleicht doch. Wenn sie so viel über die Bergmoosbacher weiß, dann kann sie ihre Informationen miteinander verknüpfen und zumindest erahnen, was in der Zukunft passiert.«

»Kerstin, das ist eine sehr interessante Überlegung«, sagte Matthias.

»Elvira Draxler, das Orakel von Bergmoosbach, ich glaube, das würde ihr gefallen«, stellte Anna lachend fest.

»Wir sollten sie es aber besser nicht hören lassen, sonst sitzt sie irgendwann bei uns im Wartezimmer und stellt ihre eigenen Diagnosen.«

»Keine Sorge, Sebastian, so lange Gerti bei euch ist, wird das niemals passieren. Sie würde Elvira in so einem Fall gefesselt und geknebelt vor die Tür setzen und nicht mehr in die Praxis lassen«, erwiderte Anna und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

»Auf jeden Fall, so würde es ausgehen«, stimmte Matthias Anna amüsiert zu.

Auch Kerstin musste herzlich lachen. Mit Arndt habe ich niemals so viel Spaß, dachte sie, und das bestärkte sie erneut in ihrem Entschluss, sich endlich von ihm zu trennen.

»Doktor Seefeld, das ist aber gut, dass ich Sie treffe.« Die ältere Dame in dem rostfarbenen Dirndl, die aus der Drogerie kam, hängte zwei vollgepackte Einkaufstaschen an die Lenkstange ihres Fahrrades, löste es aus dem Ständer, der den Namenszug der Drogerie trug, und kam zum Brunnen. »Wissen Sie, Herr Doktor Seefeld, mich plagt in der letzten Zeit in der Früh das Sodbrennen. Ich weiß gar nicht mehr, was ich dagegen tun soll«, sagte sie und zuckte ratlos die Schultern.

»Wann tritt dieses Sodbrennen denn auf, Frau Bachmeier? Vor dem Frühstück oder danach?«, erkundigte sich Sebastian.

»Immer danach.«

»Was essen Sie zum Frühstück?«

»Ein bissel einen Speck, zwei drei hartgekochte Eier, einen Johannisbeerensaft, wegen der Vitamine, Brot, dazu noch einen Kaffee.«

»Versuchen Sie es mit Rühreiern, Brot und nur Kaffee.«

»Keinen Speck, keinen Saft?«

»Und keine hart gekochten Eier.«

»Nie mehr?«

»Nicht alles zusammen.«

»Früher hab ich’s aber vertragen.«

»Im Alter werden wir alle ein wenig empfindlicher, Frau Bachmeier.«

»Geh, Herr Doktor, da meinen Sie sich aber noch nicht«, entgegnete Frau Bachmeier lachend.

»Sehen Sie meine Tochter an, dann wissen Sie, wo ich stehe.«

»Ja, die Emilia, so ein hübsches Madl, manchmal hab ich schon gedacht, ich seh die Carla, wenn die Kleine mit ihren Freunden durchs Dorf spaziert. Ihre Mutter, Herr Doktor, war ein Madl, nach dem sich alle umgedreht haben, bildschön war sie«, fügte Frau Bachmeier hinzu und schien für einen Moment in der Vergangenheit gefangen. »Haben Sie schon gehört, wer den Preis gewonnen hat?«, fragte sie und schaute wieder auf.

»Welchen Preis?«, wollte Anna wissen.

»Den die Drogerie ausgerufen hat. Seit einer Woche gibt es dort Lose an der Kasse. Der Hauptgewinn ist ein Wellnesstag im Hotel Sonnenblick, mit Gesichtspflege, Massagen und so was.«

»Elvira Draxler hat das große Los gezogen, richtig?«

»Geh, Frau Bergmann, dann hat sie es Ihnen schon erzählt?«

»Sagen wir, sie hat es uns verraten.«

»So, verraten, aha. Also dann, noch einen schönen Tag. Ich muss dann wieder, mein Alois wartet auf seinen Nachmittagskaffee.« Frau Bachmeier stieg auf ihr Fahrrad, und als sie gleich darauf über das Kopfsteinpflaster fuhr, schwankte das Rad gefährlich von einer Seite auf die andere.

Sebastian amtete erleichtert auf, als sie endlich die asphaltierte Straße erreichte und die Fahrt über den Marktplatz ohne Blessuren für sie ausgegangen war.

»Wenn du noch etwas von deinem freien Nachmittag haben willst, dann solltest du schnell verschwinden, sonst entwickelt sich das hier noch zu einer Freiluftsprechstunde«, sagte Matthias und machte Sebastian auf die beiden Bergmoosbacherinnen in den hellblauen Dirndln aufmerksam, die mit ihren Einkaufstüten aus dem Supermarkt kamen und geradewegs auf den Brunnen zusteuerten.

»Die Lohmeier Zwillinge, das gibt gleich doppelt Arbeit«, flüsterte Anna und sah auf die Frauen, die nicht voneinander zu unterscheiden waren.

»Was hältst du davon, wenn wir mal wieder unser Patenkind besuchen?«, schlug Sebastian ihr vor.

»Ein Spaziergang zum Mittnerhof?«

»Daran habe ich gedacht.«

»Gute Idee«, erklärte sich Anna sofort einverstanden.

»Also dann, gehen wir.« Sebastian sprang vom Brunnenrand, reichte Anna die Hand und half auch ihr herunter.

»Wenn ihr Unterstützung braucht, ihr habt meine Handynummer«, verabschiedete sie sich von Kerstin und Matthias.

»Wo geht er hin?«, fragten die Lohmeier Zwillinge gleichzeitig, als sie gleich darauf den Brunnen erreichten.

»Spazieren, aber die Praxis ist geöffnet. Wenn es also etwas Dringendes gibt, Frau Lohmeier und Frau Lohmeier, dann hilft Ihnen Doktor Benedikt Seefeld sicher gern«, sagte Matthias.

»Es gibt aber nichts Dringendes«, antworteten die beiden, rückten ihre grauen Lodenhütchen zurecht und marschierten im Gleichschritt weiter.

»Anna und Sebastian Seefeld haben ein gemeinsames Patenkind?«, fragte Kerstin, als sie schließlich allein mit Matthias auf dem Rand des Brunnens saß.

»Sie haben dem Jungen in einer stürmischen Nacht draußen auf dem Mittnerhof gemeinsam auf die Welt geholfen.«

»Und sonst?«

»Was meinst du?«

»Ist da mehr zwischen ihnen?«

»Sebastian trauert noch um seine Frau.«

»Es muss grauenvoll sein, jemanden zu verlieren, den man liebt. Vielleicht wäre es besser, sich erst gar nicht zu verlieben.«

»Eltern, Kinder, Großeltern, Freunde, es wird immer jemanden geben, den du liebst.«

»Aber ich muss mich nicht verlieben. Dieser Liebe kann ich aus dem Weg gehen.«

»Nein, das kannst du nicht, weil sie sich nicht ankündigt, sie ist irgendwann einfach da. Und sie ist es wert, ein Risiko einzugehen.«

»Das sind nur Worte.«

»Du warst noch nie richtig verliebt, nicht wahr?«

»Kann man auch falsch verliebt sein?«, fragte sie und versuchte ein Lächeln.

»Falsch würde ich es nicht nennen, aber manchmal ist es eben nur der Hauch von Liebe, den wir spüren, nichts, was wirklich bis dorthin dringt, ganz tief in unsere Seele«, sagte er und berührte die zarte Haut zwischen ihrem Hals und ihrem Dekolleté.

»Danke, ich glaube, ich weiß, was du meinst.« Behutsam schob sie seine Hand zur Seite. Ich weiß sogar sehr genau, was du meinst, dachte sie, weil sich Matthias‘ Berührung ganz wundervoll angefühlt hatte und sie sich wünschte, dass er sie in seine Arme nehmen würde. Sie spürte plötzlich eine Sehnsucht, die sie noch nie zuvor empfunden hatte, auch nicht für Arndt. »Matthias, du irrst dich, wenn du sagst, dass es nur manchmal ein Hauch von Liebe ist. Ich denke, es ist meistens nur ein Hauch, nur manchmal ist es mehr.« Kerstin drehte sich zur Seite und tauchte ihre Hände in das Brunnenwasser, ließ sie ein paar Mal hin und her gleiten, so als hätte sie sich an etwas verbrannt und müsste ihre Haut kühlen.

Matthias hätte sie gern gefragt, was sie jetzt gerade empfand, warum sie sich von ihm abwandte, obwohl er doch spürte, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, aber dazu blieb ihm keine Zeit mehr. Die Mädchen kamen zurück.

»Matthias, wir möchten gern heute Abend ins Kino gehen«, verkündete Emilia, die sich bei Lizzy untergehakt hatte und zuerst den Brunnen erreichte.

»In welchen Film?«

»Dirty Dancing«, verkündete Lizzy aufgeregt.

»Ich glaube es nicht, diesen Film habt ihr doch schon zwanzigmal oder ich weiß nicht, wie oft gesehen«, stöhnte Kerstin, die gleich aufschaute, als die Mädchen über den Platz gelaufen kamen.

»Fünfzigmal«, verkündete Inka, eine Zahl, die von anderen noch getoppt wurde.

»Wie oft hast du ihn gesehen?«, wollte Matthias von Kerstin wissen.

»Keine Ahnung, vielleicht fünfzehnmal oder auch öfter«, gab Kerstin kleinlaut zu.

»Ihr könntet mitkommen«, schlug Inka vor.

»Es ist also euer Ernst?«, vergewisserte sich Kerstin.

»Ja«, antworteten die Mädchen einstimmig.

»Du könntest mich wieder loslassen«, bat Lizzy und versuchte, sich von Emilia zu lösen.

»Nein, auf keinen Fall, Emilia, sie hechtet sonst gleich wieder einem Bus hinterher«, mischte sich Inka ein, während sie das Band löste, mit dem sie ihr rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

»Lizzy, bitte nicht schon wieder«, sagte Kerstin und schaute das Mädchen fassungslos an.

»Keine Sorge, ich wurde bereits aufgeklärt, dass die Busse nur bis Marktoberndorf fahren und nicht nach Wien.«

»Wieso schon wieder Wien?«

»Weil dort ihr Freund wohnt.«

»Klappe.« Lizzy fuhr wütend herum, als eines der Schwabinger Mädchen ihr Geheimnis ausplauderte.

»Warum fährst du nicht mit deinen Eltern nach Wien, wenn du ihn besuchen willst?«, fragte Emilia leise.

»Meine Eltern? Die haben doch nie Zeit, die wissen gar nichts über mich. Du kannst wirklich froh sein, dass du einen Vater hast, der sich für dich interessiert.«

»Das bin ich auch, aber meine Mutter fehlt mir, weißt du. Ich wäre glücklich, wenn sie noch da wäre. Und wenn meine Mutter keine Zeit für mich hätte, dann würde ich mir Zeit für sie nehmen. Ich würde mich einfach an sie dranhängen, bis ihr klar würde, dass ich auch noch da bin.«

»Das ist eine abgefahrene Idee«, sagte Inka und schnalzte anerkennend mit der Zunge.

»Ziemlich abgefahren«, stellte Lizzy nachdenklich fest.

»Wann fängt denn der Film heute Abend an?«, wollte Kerstin wissen.

»Um halb sieben. Wir aus Bergmoosbach dürfen auf jeden Fall ins Kino, es fehlt nur noch Ihre Erlaubnis, Frau Richter«, sagte Emilia.

»Wenn ihr euch alle einig seid, werde ich euch dieses Vergnügen nicht verderben. Ich würde sagen, die Schwabinger gehen jetzt zurück zur Jugendherberge, essen später dort zu Abend, und dann treffen wir uns kurz nach sechs vor dem Kino«, schlug Kerstin vor.

»Vorschlag angenommen!«, riefen die Mädchen, und die Schwabinger verabschiedeten sich erst einmal von ihren neuen Freundinnen.

»Sollten wir sie nicht doch ins Kino begleiten? Ich meine, wir haben die Aufsichtspflicht«, wandte sich Matthias an Kerstin.

»Ich glaube nicht, dass sie für diesen Film unsere Aufsicht brauchen.«

»Sicher?«

»Du willst also mitgehen?«

»Ja, schon.«

»Wegen der Aufsichtspflicht.«

»Natürlich, nur deshalb.«

»Gut, dann bis heute Abend«, sagte Kerstin und verabschiedete sich mit einer freundschaftlichen Umarmung von Matthias.

»Interessanter Mann, Trainerin. Du hast doch erzählt, dass ihr zusammen an der Sporthochschule wart. Hat es damals auch schon zwischen euch gefunkt?«, wollte Inka wissen, die auf dem Weg zur Jungendherberge neben Kerstin herlief.

»Wie kommst du darauf, dass etwas zwischen uns ist?«, fragte Kerstin verwundert.

»Weil die Energiestöße, die zwischen euch hin und her schießen, für jeden spürbar sind.«

»Unsinn.«

»Nein, das ist kein Unsinn. Liebe ist Energie, und weil es eine starke Energie ist, will Lizzy nach Wien, wegen der Energiequelle dort, die sie anzieht.«

»Hör auf zu plappern, sonst zeige ich dir gleich, was eine starke Energiequelle ist.« Lizzy, die ein Stück voraus war, drehte sich um und drohte Inka mit der Faust.

»Wenn ihr vorhabt, aufeinander loszugehen, dann bleiben wir heute Abend in der Jugendherberge.«

»Wir gehen doch nicht aufeinander los, wir sind doch ein Team. Stimmt’s, Prinzessin?«

»Noch ein Wort, Inka, und ich tauche dich heute Abend in den Brunnen auf dem Marktplatz, bis du als Frosch wieder herauskrabbelst.«

»Lizzy, Inka, es reicht.«

»Alles klar, Trainerin«, sagte Inka lächelnd.

»Wir sind brav«, schloss sich auch Lizzy gleich an.

*

Auch zu groß, dachte Kerstin, als sie in das blaue Kleid mit dem gelben Blumenmuster schlüpfte. Die Träger rutschten ihr von den Schultern, und in der Taille war es um einige Zentimeter zu weit.

»Wir müssen los!«, rief Lizzy und klopfte an die Zimmertür.

»Geht schon nach unten, ich bin gleich bei euch!« Ein paar Minuten Zeit wollte Kerstin sich noch nehmen. So wollte sie auf keinen Fall herumlaufen.

Schnell tauschte sie das Kleid mit einem knöchellangen hellen Baumwollrock, den sie mit einem Band in der Taille verstellen konnte, und zog den roten Seidenpulli mit dem runden Ausschnitt und den kurzen Ärmeln an, den sie sich vor ein paar Tagen in der Kinderabteilung eines Modehauses gekauft hatte.

»Soll ich euch nach dem Kino abholen?«, fragte Heinz Bodekind, der im Türrahmen des Aufenthaltsraumes stand, als Kerstin die Treppe herunterkam.

»Das ist nicht nötig, danke, Herr Bodekind.«

»Wenn die Madln sie heute nicht mehr brauchen, dann könnten Sie doch nachher ein Glas von unserem Bergmoosbacher Honigbier versuchen«, sagte Margot, die mit zwei Gläsern Eistee in der Hand hinter Heinz auftauchte.

»Wir kommen allein zurecht, Herr Bodekind, machen Sie sich einen schönen Abend«, sagte Kerstin und ließ die beiden allein.

»Also dann, hocken wir uns ein bissel in den Garten, da ist’s in den Abendstunden am schönsten«, versicherte Margot ihrem Gast und hielt ihm die Tür an der Rückseite des Hauses auf, die direkt in den Bauerngarten mit seinen bunten Blumen und Kräuterbeeten führte.

»Wie ich sehe, sind alle da«, stellte Kerstin fest, als die Mädchen, die vor der Jugendherberge gewartet hatten, sich um sie versammelten.

Wie am Vormittag trugen sie alle noch ihre Jeans, hatten aber ihre bequemen weiten T-Shirts gegen leichte Pullis oder langärmelige Blusen getauscht.

»Dann los, meine Damen«, forderte Kerstin ihre Mannschaft auf und ließ die Mädchen vorausgehen, damit sie sie alle im Blick hatte.

Zwanzig Minuten später trafen sie vor dem Kino ein, das nur ein paar Schritte vom Marktplatz entfernt in einer Seitenstraße lag. Matthias wartete bereits vor dem gelb gestrichenen Gebäude, dessen Eingang von einer roten Markise überdacht wurde. Nach und nach trafen die Bergmoosbacher Mädchen ein, auch sie hatten ihre T-Shirts gegen Blusen und Pullis getauscht, und einige hatten sich die Wimpern getuscht und zartes Lipgloss aufgetragen.

»Ich soll Ihnen von Anna ausrichten, dass sie und Papa zu einer Hausgeburt mussten, sonst wäre sie mitgekommen«, sagte Emilia, die mit Doro zusammen ankam.

»Schade, dass sie keine Zeit hat, aber wir sind ja noch eine Weile hier.«

»Das hat Anna auch gesagt.«

»Hallo, was ist denn hier los?«, fragte der große blonde Junge, der in Begleitung zweier gleichaltriger Freunde, einer so groß wie er, der andere einen Kopf kleiner, vor dem Kino stehen,blieb und die Mädchenversammlung musterte.

»Nichts, was euch interessieren wird, Markus«, entgegnete Emilia und warf ihr langes brünettes Haar mit einer eleganten Handbewegung zurück.

»Woher willst du das denn wissen?«

»Dirty Dancing«, antwortete Emilia mit einem schelmischen Lächeln.

»Okay, du hast recht, das ist nichts für uns, obwohl, für dich würde ich den Film aushalten.«

»Musst du aber nicht. Nächste Woche läuft ein neuer Actionfilm, den können wir uns zusammen ansehen.«

»Auf jeden Fall, dann bis Sonntag auf dem Sportplatz. Viel Spaß, Mädls«, sagte Markus Mittner, der große Bruder von Annas und Sebastians Patenkind, küsste Emilia auf ihr Haar und zog mit seinen beiden Begleitern weiter.

»Dein Freund?«, fragte Lizzy.

»Ja, das ist mein Freund«, antwortete Emilia stolz, als die anderen Mädchen Markus mit bewundernden Blicken nachschauten.

»Ich war schon ewig nicht mehr im Kino, und mit dir war ich es noch nie«, stellte Matthias fest, als er und Kerstin den Mädchen gleich darauf in das mit blauem Neonlicht beleuchteten Foyer folgten.

»Dann haben wir nun die Chance, es nachzuholen«, sagte Kerstin und fühlte sich für einen Moment ebenso jung wie die Mädchen, die fröhlich plaudernd vor dem Tresen standen, um sich mit Popcorn und Getränken zu versorgen.

Nachdem die Karten gelöst waren, betraten sie den Kinosaal. Er war nicht sehr groß, es gab vielleicht nur hundertfünfzig Sitze, wie Kerstin schätzte. Die Wände waren mit blauem Samt bezogen, die gepolsterten blauen Sitze hatten hohe Lehnen, boten genügend Beinfreiheit und die Leinwand war riesig groß. Während die Mädchen sich auf den vorderen Reihen einrichteten, um ganz dicht am Geschehen zu sein, wie sie erklärten, zogen Kerstin und Matthias die letzte Reihe vor.

»Als ich ein Teenager war, war das immer meine bevorzugte Reihe«, flüsterte Matthias, als das Licht bald darauf ausging.

»Ich kann mir schon denken, warum.«

»Sprichst du aus Erfahrung?«

»Schon«, antwortete Kerstin lächelnd, während die Mädchen atemlos auf die Leinwand starrten und der Filmmusik lauschten. »Was machst du?« Sie schaute auf die Armlehne, die ihren und Matthias‘ Sitz voneinander trennte und die er einfach nach hinten klappte.

»Die letzte Reihe hat offensichtlich noch immer die gleiche Bestimmung, sie erleichtert die erste Annäherung«, antwortete er lächelnd. »Soll ich die Lehne wieder herunterklappen?«

»Lass nur, so haben wir ein bisschen mehr Platz.«

»Sicher, in unserem Alter lassen wir uns ohnehin nicht mehr von einer Armlehne beeinflussen.«

»Nein, das tun wir nicht.« Matthias‘ Nähe gab ihr das Gefühl, geborgen zu sein, nichts schien ihr noch etwas anhaben zu können. Sogar die Gedanken an die böse Krankheit, die sie in den letzten Tagen immer wieder überfielen, beunruhigten sie nicht mehr.

»Tut mir leid.« Sie wollte sich gleich wieder aufrichten, als ihr irgendwann die Augen zufielen und ihr Kopf an Matthias‘ Schulter sackte.

»Es ist in Ordnung, bleib«, bat er sie.

»Aber ich kann doch jetzt nicht schlafen.«

»Doch, das kannst du«, entgegnete er leise und legte seinen Arm um sie, damit sie es bequemer hatte. Er hielt sie zärtlich umschlungen, bis die Mädchen am Ende des Films begeistert applaudierten, so als wäre das Erlebnis ganz neu für sie gewesen.

»Wow, das ist interessant«, flüsterte Lizzy, als das Licht anging und sie sich zu Kerstin und Matthias umdrehte.

»Ist sie mit jemandem zusammen?«, fragte Emilia, die Lizzys Blick folgte und sah, wie Kerstin sich die Augen rieb und allmählich wieder zu sich kam.

»Mit unserem Hauptsponsor, aber wie ernst es mit den beiden wirklich ist, weiß niemand so genau.«

»Außerdem passt er nicht zu ihr, er ist so ein richtiger Adabei«, mischte sich Inka ein.

»Ein was?«, fragte Emilia.

»Ein Wichtigtuer, Adabei auf gut bayerisch.«

»Am besten verlieren wir kein Wort über ihn«, sagte Inka.

»Okay, reden wir mit den anderen.« Lizzy gab den Schwabinger Mädchen ein Zeichen, ihr zu folgen.

»Was gibt es denn hier zu besprechen?«, erkundigte sich Kerstin, als sie und Matthias nach den Mädchen aus dem Kinosaal kamen.

Während die Bergmoosbacher bereits nach draußen gegangen waren, bildeten Lizzy und ihre Mannschaftskameradinnen einen Kreis und fassten sich an den Händen, so als hätten sie sich gerade etwas versprochen.

»Wir wollen brave Mädchen sein, daran müssen wir uns eben hin und wieder erinnern«, antwortete Inka mit einem unschuldigen Lächeln.

»Wenn es funktioniert, soll es mir recht sein«, erwiderte Kerstin, auch wenn sie das merkwürdige Gefühl hatte, dass es hier gerade um etwas anderes gegangen war als dieses einfache Versprechen, nicht aus der Reihe zu tanzen. »Habt ihr für morgen schon Pläne?«, wollte sie wissen, nachdem sie alle das Kino verlassen hatten und die Mädchen noch in kleinen Gruppen zusammenstanden und sich miteinander unterhielten.

»Wir wollen uns morgen um halb eins auf dem Marktplatz treffen. Wir sind eingeladen«, beantwortete Inka Kerstins Frage.

»Eingeladen? Wohin?«

»Zum Mittagessen bei den Bergmoosbachern. Jede nimmt eine von uns mit zu sich nach Hause, und danach gehen wir alle zusammen auf Besichtigungstour durch das Dorf.«

»Bei uns ist es gar nicht so langweilig, wie die Leute aus der Stadt immer glauben. Wie ich es auch geglaubt habe«, fügte Emilia mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.

»Ich finde, euer Vorhaben ist eine gute Idee. Habt ihr schon ausgemacht, wer mit wem geht?«

»Jede geht mit ihrem Zwilling, das heißt die beiden Torfrauen, die beiden Stürmerinnen.«

»Alles klar, jetzt gehen die Damen aber erst einmal mit mir. Auf geht’s!«, rief Kerstin und klatschte in die Hände, damit auch alle ihr zuhörten.

»Ich begleite euch«, erklärte Matthias.

»Das musst du nicht, wir finden den Weg.«

»In ein paar Minuten wird es dunkel. Ich will nicht schuld daran sein, wenn ihr euch verlauft.«

»Dann sollten wir dein Angebot wohl nicht ausschlagen.«

»Eigentlich haben wir noch nicht alles geklärt. Für morgen Abend haben wir auch schon einen Plan«, verkündete Emilia den beiden Trainern.

»Der wäre?«, fragte Matthias.

»Wir dachten an ein Lagerfeuer mit Würstchen rösten oben auf dem Grillplatz der Jugendherberge. Wir räumen auch hinterher alles wieder auf.«

»Wenn Margot Wendelstein damit einverstanden ist, dann spricht nichts dagegen«, stimmte Matthias Emilias Vorschlag zu.

»Da du die Schwabinger zur Jugendherberge begleitest, könntest du das doch gleich mit Frau Wendelstein klären.«

»Ja, das könnte ich.«

»Tust du es auch?«, fragte Emilia mit einem unschuldigen Augenaufschlag.

»Aber ja, natürlich. Ein Lagerfeuer würde mir auch gefallen«, antwortete Matthias und hielt die Mädchen nicht länger hin, die sich dann auch gleich voneinander verabschiedeten.

Die Sonne stand schon tief im Westen, als die Schwabinger zusammen mit Matthias den Hügel zur Jugendherberge hinaufliefen. Der Himmel verfärbte sich allmählich, wurde violett, schließlich glutrot und ließ den Tannenwald mit seinen Moosen und Farnen wie eine verwunschene Welt erscheinen.

»Abgefahren«, hörte Kerstin die Mädchen sagen, die immer ein Stück vorausliefen und sich nicht ein einziges Mal nach ihr und Matthias umdrehten. An der Jugendherberge angekommen, gaben sie vor, schrecklich müde zu sein, verabschiedeten sich von Matthias und wünschten Kerstin eine gute Nacht.

»So schnell gehen sie sonst nicht ins Bett«, wunderte sich Kerstin, als sie und Matthias schließlich allein vor der Jugendherberge standen.

»Vielleicht wollen sie uns ein bisschen Zeit schenken.«

»Warum sollten sie das tun?«

»Sie besitzen feine Antennen.«

»Und empfangen was?«

»Das weißt du sehr gut, Kerstin.« Matthias nahm sie in seine Arme und zog sie sanft an seine Brust.

»Matthias, bitte, wir kennen uns doch kaum«, flüsterte sie.

»Das ist nicht wahr, wir kennen uns schon sehr lange.«

»Wir haben uns inzwischen aber verändert.«

»Ich weiß, aber ist es nicht gerade diese Veränderung, die zu etwas Neuem führen könnte?«

»Vielleicht.«

»Lasst euch nicht stören, ich schließe nur die Läden«, sagte Margot, die um das Haus herumging und die blauen Holzläden vor den Fenstern im Erdgeschoss zuklappte.

»Nein, Sie stören nicht, wir wollten Sie ohnehin etwas fragen.« Kerstin hatte sich schnell von Matthias gelöst.

»Um was geht’s?«, wollte Margot wissen.

»Die Mädchen würden morgen gern ein Lagerfeuer auf dem Grillplatz veranstalten. Wäre das für dich in Ordnung?«, fragte Matthias.

»Freilich, es sind doch sonst keine anderen Gäste da, die etwas dagegen haben könnten.«

»Danke, Margot, die Mädchen werden sich freuen.«

»Mei, die Madl sollen doch ihren Spaß haben. Gute Nacht, ihr beiden, ich geh noch ein bissel in den Garten«, verkündete die Herbergsmutter, die ihre dunklen Locken ordnete, bevor sie hinter dem Haus verschwand.

»Es sieht so aus, als würde da jemand auf sie warten«, flüsterte Matthias.

»Vermutlich Heinz Bodekind«, antwortete Kerstin ebenso leise.

»Wir könnten nachsehen.«

»Auf keinen Fall.«

»Nein, wir sind nicht neugierig«, erwiderte Matthias lachend. »Sag, was hältst du davon, wenn wir beide morgen im Biergarten zusammen Mittagessen?«, fragte er und umfasste ihre Hand.

»Ich werde die Mädchen ins Dorf begleiten, dann können wir uns auf dem Marktplatz treffen.«

»Ich werde da sein, bis morgen, Kerstin«, verabschiedete er sich und ließ ihre Hand los. Dieses Mal werde ich nicht zulassen, dass du einfach wieder aus meinem Leben verschwindest, dachte er, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war.

»Nicht einmal ein Kuss zum Abschied«, flüsterte Inka, die mit Lizzy am Fenster stand und den anderen Mädchen in ihrem Zimmer Bericht erstattete über das, was sie auf der Wiese vor der Jugendherberge beobachteten.

»Vielleicht tun sie es ja morgen«, sagte das Mädchen, das oben auf dem Stockbett gleich neben dem Fenster lag.

»So wie es zwischen den beiden funkt, passiert noch was«, erklärte Inka, felsenfest davon überzeugt, dass es nur so ausgehen konnte. »Aber vielleicht stellt Arndt Weißmüller die Unterstützung für unseren Verein ein, wenn Kerstin ihm den Laufpass gibt.«

»Geschenkt, unsere Bank kann sich ruhig noch ein wenig mehr engagieren«, erklärte Lizzy.

»Die Landluft scheint dir echt gut zu bekommen, du bist so verträglich«, stellte Inka fest.

»Vielleicht sollte ich öfter aufs Land fahren.« Lizzy ließ sich unten in das Stockbett neben dem Fenster fallen, verschränkte die Hände unter ihrem Nacken und schloss die Augen.

»Und wenn meine Mutter keine Zeit für mich hätte, dann würde ich mir Zeit für sie nehmen«, hörte Lizzy Emilia wieder sagen und dabei flog ein Lächeln über ihr Gesicht.

Kerstin stand im Nachthemd am geöffneten Fenster ihres Zimmers und schaute auf die Berge am Horizont, die im Mondlicht beinahe weiß erschienen. Ich werde ihm nicht aus dem Weg gehen, ich will bei ihm sein, dachte sie, und ihre Gedanken an Matthias ließen sie eine Wärme empfinden, die ihren ganzen Körper durchströmte.

*

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück verordnete Kerstin den Mädchen ein wenig Balltraining auf der Wiese, danach schickte sie sie unter die Dusche, und kurz nach zwölf machten sie sich auf den Weg hinunter ins Dorf. Heinz blieb bei Margot Wendelstein, die ihn zu Braten und Knödel eingeladen hatte.

Ich muss darauf achten, regelmäßiger zu essen, dachte Kerstin. Die helle Jeans, die sie sich erst vor vier Wochen gekauft hatte, war schon wieder zu weit und hielt nur noch mit einem Gürtel, was sie mit dem langen weißen Pulli glücklicherweise verbergen konnte.

Er sieht so gut aus, dachte sie, als sie eine halbe Stunde später mit den Mädchen den Marktplatz erreichte und Matthias auf der Rathaustreppe saß. Die helle Hose, das dunkle T-Shirt, das dunkelblonde Haar und diese schönen blauen Augen, in denen sie versank, als er aufschaute, ließen ihr Herz schneller schlagen.

»Hallo, Kerstin«, sagte er und kam ihr entgegen.

»Hallo, Matthias.« Auf einmal war da etwas Fremdes zwischen ihnen, so als müsste sie erst eine unsichtbare Tür öffnen, um den Matthias, mit dem sie am Abend zuvor im Kino war, wieder zu finden. »Wo treffen wir uns denn heute wieder?«, wandte sie sich an die Mädchen, die schon von ihren Bergmoosbacher Freundinnen erwartet wurden.

»Mein Vater und Anna besorgen das Essen für heute Abend, wir kommen dann so gegen sechs alle zur Jugendherberge«, erzählte Emilia Kerstin, was sie mit Sebastian besprochen hatte.

»Gut, dann kümmern wir uns um die Getränke«, erklärte Matthias.

»Super, dann bis später«, verabschiedete sich Emilia und zog mit Lizzy davon, die bei den Seefelds zu Mittagessen würde.

»Jetzt sind wir auf uns allein gestellt«, sagte Matthias, als die Mädchen sich vom Marktplatz aus in alle Richtungen entfernten.

»Ich hoffe, wir können mit dieser Freiheit umgehen.«

»Finden wir es heraus.«

»Sehr gern.« Die Tür ist wieder offen, dachte Kerstin, als Matthias sie mit einem liebevollen Lächeln anschaute und ihre Hand umfasste. »Du gehörst wohl zu den bekannten Persönlichkeiten in Bergmoosbach«, stellte sie erstaunt fest, weil fast jeder, dem sie auf dem Weg zum Biergarten begegneten, Matthias grüßte.

»In Bergmoosbach kennen wir uns alle, das hat nichts zu bedeuten, obwohl …«

»Obwohl?«, hakte Kerstin nach, als er mit einem nachdenklichen Lächeln auf den Lippen innehielt.

»Die Mädchenfußballmannschaft ist inzwischen das Aushängeschild unseres Vereins. Zuerst haben alle über Annas Idee, sie ins Leben zu rufen, gelächelt, aber inzwischen gibt es keinen freien Platz mehr am Spielfeldrand, wenn wir ein Heimspiel haben.«

»Ich habe gehört, dass ihr noch kein Heimspiel verloren habt.«

»Wir haben auch alle Auswärtsspiele gewonnen.«

»Ihr seid ein gefährlicher Gegner.«

»Nein, wir sind nicht gefährlich, nur ziemlich gut. Hallo, Frau Kornhuber«, grüßte er die staatliche Frau in dem dunklen Dirndl, die auf der Straße an ihnen vorbeiradelte, als sie nur noch wenige Meter vom Biergarten entfernt waren.

»Grüß Gott, Matthias, grüß Gott, Frau Richter«, antwortete sie freundlich. »Da hat die Draxlerin schon recht, nettes Madl, sehr nett«, murmelte sie und trat kräftig in die Pedale.

»Ich bin dieser Frau noch nie begegnet. Woher weiß sie, wer ich bin?«, fragte Kerstin erstaunt.

»Frau Kornhuber ist die Vorsitzende des Landfrauenvereins.«

»Und du hast mich gestern Frau Draxler, eurem menschlichen Nachrichtenmagazin vorgestellt, verstehe. Offensichtlich hat sie mich treffend beschrieben.«

»Ohne Zweifel«, antwortete Matthias und betrachtete Kerstin voller Zuneigung.

Auch als sie gleich darauf den Biergarten betraten, der zur Brauerei Schwartz gehörte, folgten ihnen die Blicke der Einheimischen, die neben den Touristen dort zu Mittag aßen.

»Da drüben wär’s doch recht schön für euch«, sagte die Kellnerin in dem weinroten Dirndl, die vollgepackt mit Maßkrügen über den Hof lief. Sie lächelte freundlich und schaute zu den kleinen Tischen, die mit viel Abstand zueinander direkt am Bachufer standen.

»Danke, Irmgard!«, rief Matthias. »Offensichtlich sind wir in den Augen der Bergmoosbacher ein Paar«, flüsterte er Kerstin zu, als sie sich für den Tisch entschieden, der am Ende der Reihe neben einer dichten Lorbeerhecke stand.

»Wie kommst du denn darauf?«, fragte sie verblüfft.

»Im Gegensatz zu den meisten Besuchern eines Biergartens, die gegen Gesellschaft nichts einzuwenden haben und die langen Tische bevorzugen, sitzen junge Paare lieber hier am Bach. Irmgard hat uns geradewegs hierher geschickt.«

»Macht es dir etwas aus, dass sie uns für ein Paar halten?«, wollte Kerstin wissen, nachdem sie das Essen bei Irmgard bestellt und die freundliche Frau sie eingehend gemustert hatte.

»Nein, es macht mir nichts aus. Dir?«

»Nein, mir auch nicht.«

»Dort gewinnen Sie den Honig, mit dem sie ihr Honigbier brauen«, sagte Matthias, als Kerstin ihren Blick zur Seite wandte und auf das weiße Gebäude mit der hübschen Lüftlmalerei schaute, das in dem Rapsfeld auf der anderen Seite des Baches stand.

»Bergmoosbach ist wirklich ein idyllisches Fleckchen Erde, ein Ort, der dich für eine Weile deine Sorgen vergessen lässt.«

»Hast du denn Sorgen, Kerstin?«

»Nein, im Moment habe ich keine«, antwortete sie und wandte sich ihm wieder zu. Sein Lächeln, seine zärtlichen Blicke, es war alles gut. »Ziemlich große Portion«, sagte sie, als Irmgard kurz darauf die beiden Teller mit den dampfenden Knödeln und dem knusprigen Braten brachte.

»Mei, Herzl, das können Sie schon vertragen«, sagte sie und klopfte Kerstin sanft auf den Rücken.

»Nach unserem letzten Heimspiel habe ich meine Fußballmannschaft hier zum Essen eingeladen. Die Mädchen meinten, die Portionen könnten ruhig größer sein«, erzählte Matthias, nachdem Irmgard wieder gegangen war.

»Ich weiß, nach einem Spiel sind sie wie kleine ausgehungerte Löwen. So, und nun möchte ich ein bisschen mehr über dich erfahren. Ich meine, deine Zukunftspläne kenne ich ja bereits, aber wie ist es dir in den letzten Jahren ergangen?« Sie mochte seine sanfte Stimme, sie wollte ihm einfach nur ein wenig zuhören.

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Nach meinem Studium habe ich zwei Jahre als Bergführer gearbeitet, und als hier an der Schule ein Sportlehrer gesucht wurde, habe ich mich beworben und die Stelle bekommen.«

»Bergführer klingt interessant. Da hast du doch sicher einiges erlebt.«

»Allerdings.«

»Zum Beispiel?«, fragte sie, während sie einen Knödel vorsichtig mit der Gabel zerteilte.

»Lass mich mal überlegen.« Er kramte eine Weile in seinen Erinnerungen, und dann erzählte er ihr von den kleinen Abenteuern mit seinen oft unerfahrenen Kunden, ihren Panikanfällen und ihren Eingeständnissen, sich selbst überschätzt zu haben.

Kerstin hörte ihm aufmerksam zu und zwang sich, dabei etwas zu essen. Irgendwann hatte sie einen Knödel und ein wenig Braten geschafft. Nachdem Matthias seinen Teller geleert hatte, quälte sie sich nicht länger und schob auch ihren zur Seite.

»Wie wäre es mit einem Spaziergang?«, fragte Matthias, nachdem er das Essen bezahlt und Irmgard ein ordentliches Trinkgeld obendrauf gelegt hatte.

»Liebend gern«, willigte Kerstin sofort ein, als sie plötzlich wieder die merkwürdige Müdigkeit überfiel, die ihr dieses kleine Glück stehlen wollte, an dem sie sich gerade festzuhalten versuchte.

»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Matthias, als sie wenig später am Bach entlangliefen, weil er Kerstin einen Spaziergang zum Sternwolkensee vorgeschlagen hatte.

»Mir geht es gut«, versicherte sie ihm.

»Wirklich?«

»Ganz bestimmt. Wo geht es denn nun zum See?«

»Hier entlang«, sagte er und legte seinen Arm behutsam um ihre Schultern.

Der See, den die Bergmoosbacher schon seit Urzeiten Sternwolkensee nannten, weil sich in klaren Nächten die Milchstraße in ihm spiegelte, war in hüglige Wiesen eingebettet. Kleine Buchten, von Birken und Ahornbäumen beschattet, luden zu verschwiegenen Begegnungen ein. Im Westen zogen sich dunkle Tannenwälder die Höhen hinauf, bis sie an die Berge mit ihren schneebedeckten Gipfeln stießen.

»Lass uns ein paar Minuten hierbleiben«, bat Kerstin, nachdem sie eine Weile um den See herumgegangen waren.

Sie setzte sich auf einen abgesägten Baumstamm in der Nähe des Ufers und bedeutete Matthias, neben ihr Platz zu nehmen. Ich muss jeden Moment des Glücks bewahren, solange ich das noch kann. Irgendwann, wenn es kein neues Glück mehr für mich gibt, dann werden diese Erinnerungen mein größter Schatz sein, dachte sie.

Kinder plantschten im flachen Wasser, beobachtet von ihren Eltern, die ihre Decken auf der Wiese mit den gelb leuchtenden Trollblumen ausgebreitet hatten. Kerstin schaute dem kleinen Jungen zu, der mit einem roten Sonnenhütchen auf dem Kopf und einem Sandeimerchen voll Wasser aus dem See kam, sie anlächelte und ihr im Vorbeilaufen aus Versehen Wasser auf die Füße kippte.

»Tschuldigung«, sagte er und sauste zu der jungen Frau im Bikini, die bäuchlings auf einer Decke lag und in einem Buch las.

»Mama, hab Wasser verschüttet«, erzählte er aufgeregt und setzte sich neben seine Mutter.

»Alles gut, nichts passiert«, sagte Kerstin, als die Frau aufschaute und sie ansah.

»Nichts passiert«, wiederholte der Junge lachend, während seine Mutter ihn in ein Badetuch einhüllte.

»Willst du irgendwann Kinder haben?«, fragte Matthias.

»Ich habe immer von einer Familie geträumt«, sagte Kerstin.

»Hast du diesen Traum inzwischen aufgegeben?«

»Ich mache mir nicht mehr so viele Gedanken über die Zukunft.«

»Das sagst ausgerechnet du?«, wunderte sich Matthias. »Nur wer weiß, was er will, kann es auch erreichen. Eine gute Planung ist schon der halbe Weg zum Ziel. Das waren deine Wahlsprüche während unseres Studiums.«

»Daran erinnerst du dich noch?«, fragte Kerstin erstaunt.

»Ich erinnere mich daran, weil du es gesagt hast. Du warst damals die Sonne, um die ich mich bewegt habe.«

»Du machst mich verlegen, Matthias.«

»Das macht nichts, ein bisschen leiden darfst du auch. Ich habe damals sehr darunter gelitten, dass du mich nicht wirklich wahrgenommen hast.«

»Du hast es gut überstanden, glaube ich.«

»Es geht so«, antwortete er lächelnd. »Was hast du vor?«, fragte er, als Kerstin die weißen Turnschuhe auszog und ihre Hosenbeine hochkrempelte.

»Ich möchte das Wasser spüren«, sagte sie und lief zum See. Sie wollte nicht an Vergangenes denken, sie wollte einfach nur den Augenblick genießen. »Komm, es ist gar nicht kalt!«, rief sie und wandte sich zu Matthias um.

»Du möchtest also durchs Wasser spazieren?«, fragte er, als er gleich darauf bei ihr war.

»Ja, unbedingt«, erwiderte sie und legte ihre zarte kleine Hand in seine. Auf einmal fühlte sich das Leben wieder ganz leicht an. Sie spürte den feinen Sand unter ihren Füßen, die sanften Wellen streichelten ihre Haut, Matthias hielt sie fest und die eisigen Berggipfel am Horizont erschienen so mächtig, als könnten sie die Menschen in diesem Tal vor jedem Kummer beschützen.

»Es sieht aus, als tanzten kleine Sterne über das Wasser«, sagte sie und schaute auf den in der Sonne glitzernden See. »Was machst du?«, fragte sie verblüfft, als Matthias sie losließ, ein paar Schritte in den See hineinlief und seine Hände ins Wasser tauchte.

»Ich schenke dir so viele Sterne, wie ich tragen kann«, sagte er, richtete sich wieder auf und kam zu ihr zurück. »Willst du dieses Geschenk annehmen?«

»Ja, das will ich«, antwortete Kerstin und fing das Wasser, das er aus dem See geschöpft hatte, in ihren Händen auf. »Leider kann ich sie nicht festhalten«, seufzte sie und sah zu, wie das Wasser allmählich wieder zwischen ihren Fingern hindurch zurück in den See tropfte.

»Das ist doch nur das Wasser, das Licht der Sterne bleibt bei dir, und wenn du dich später an mich erinnerst, dann wirst du es sehen können. Zumindest hoffe ich das.«

»Danke, Matthias.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange.

»Mehr habe ich nicht zu bieten, was die Sterne betrifft. Die vom Himmel kann ich dir leider nicht holen.«

»Diese Sterne sind ebenso besonders, ich kenne nämlich niemanden, der solche Sterne besitzt, wie du sie mir gerade geschenkt hast.«

»Ein besonderes Geschenk für eine außergewöhnliche Frau.«

»Ich bin nicht außergewöhnlich.«

»Doch, das bist du«, sagte er und nahm sie an die Hand.

Sie verbrachten den ganzen Nachmittag am See, liefen durchs Wasser oder saßen am Ufer im Gras. Und plötzlich war die Vergangenheit wieder da, und sie erinnerten sich an so viele Dinge aus ihrer gemeinsamen Studienzeit, die sie schon längst vergessen glaubten.

»Manchmal ist es nur die Vergangenheit, die zwei Menschen verbindet, und wenn sie die miteinander aufgearbeitet haben, dann begreifen sie, dass sie sich in der Gegenwart fremd geworden sind«, stellte Kerstin fest, als sie irgendwann nebeneinander auf einem umgestürzten Baumstamm saßen.

»Denkst du, dass es bei uns so sein wird?«

»Nein, Matthias, ich glaube, dass uns die Gegenwart bereits mehr verbindet als unsere gemeinsamen Erinnerungen.«

»Das empfinde ich genauso.«

»Ich glaube, es wird Zeit, sonst kommen wir noch zu spät zu unserem Grillabend.« Kerstin machte ihn auf die Kirchenglocken aufmerksam, die aus dem Dorf bis zu ihnen herüberschallten.

»Schon fünf?«, wunderte sich Matthias. Er wäre gern noch länger mit Kerstin allein geblieben. Sie anzusehen, ihre Stimme zu hören, das machte ihn unendlich glücklich. »Was ist mit dir?«, fragte er erschrocken, als sie aufstand, sich aber gleich wieder fallen ließ und sich an die Stirn fasste.

»Ich bin nur zu schnell aufgestanden, es geht schon wieder«, versicherte sie ihm, als er ihr die Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.

»Wirklich?«

»Es ist alles in Ordnung, wir können gehen«, beteuerte sie erneut und schob die Zweifel, dass dieser Schwindel mehr zu bedeuten hatte, erst einmal von sich. »Wo holen wir die Getränke?«, wollte sie wissen.

»In der Brauerei Schwartz. Sie versorgt Bergmoosbach schon seit Generationen nicht nur mit Bier, sondern auch mit Wasser und Limonade. Wir kaufen gern vor Ort ein, bei den Menschen, die wir persönlich kennen.«

»Das klingt, als gehörten alle, die in Bergmoosbach leben, zu einer großen Familie.«

»So ähnlich könnte man es sagen, was aber nicht bedeutet, dass wir immer alle einer Meinung sind. Natürlich gibt es auch hin und wieder Ärger, aber wenn es darauf ankommt, dann halten wir zusammen.«

»Und doch planst du fortzugehen.«

»Ich werde irgendwann zurückkehren.«

»Das kann ich gut verstehen«, entgegnete Kerstin und ließ ihren Blick über die weiten Rapsfelder wandern.

Matthias hatte seinen schon recht betagten Volvo auf dem Parkplatz der Brauerei abgestellt und musste jetzt nur noch die Getränkekästen einladen, die sie zur Jugendherberge mitnehmen wollten.

»Du kannst ruhig schon einsteigen«, sagte er und hielt Kerstin die Beifahrertür auf.

»Danke, das nehme ich gern an.«

»Ich dachte, ich hole je zwei Kästen Wasser, Malzbier, Zitronen- und Himbeerlimonade. Meinst du, das reicht?«

»Aber ja, außerdem gibt es in der Jugendherberge auch Getränke zu kaufen. Wir werden auf keinen Fall verdursten müssen«, versicherte sie ihm.

»Gut, dann bis gleich«, sagte er, schloss die Wagentür, nachdem Kerstin eingestiegen war und lief über den Hof zum Getränkeverkauf.

Es ist ihm wirklich ernst mit seiner Weltreise, dachte sie, als sie den Stapel Hochglanzprospekte auf dem Rücksitz des Volvos liegen sah. Sie bewarben ausschließlich Schiffsreisen, angefangen von einer Fahrt entlang der Fjorde Norwegens bis zu einer Reise an Bord eines Luxusschiffes von Southampton nach Sydney. Als sie Matthias mit einem Rollwagen zurückkommen sah, auf den er die Getränkekästen geladen hatte, schaute sie schnell nach vorn. Er sollte nicht denken, dass sie neugierig war.

Matthias hatte die Kästen schnell eingeladen. Ein junger Mann im dunkelroten Overall mit dem aufgedruckten Namenszug der Brauerei übernahm den Getränkewagen, und Matthias stieg zu ihr ins Auto.

»Ist dir nicht gut, du bist ganz blass«, fragte er, als er kurz zu ihr herüberschaute, bevor er den Motor des Volvos anließ.

»Ich bin immer blass, das ist normal bei mir.«

»Habe ich etwas Falsches gesagt, Kerstin?«, fragte Matthias, als sie dann auf dem Weg zur Jugendherberge kaum ein Wort mit ihm sprach.

»Nein, du hast nichts Falsches gesagt, und du hast auch nichts Falsches getan, ich bin nur ein wenig müde, das ist alles.«

»Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, damit du wieder munter wirst. Die Mädchen möchten den Abend bestimmt nicht ohne dich verbringen, und Anna freut sich auch schon auf deine Gesellschaft.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich wäre traurig, wenn du heute Abend nicht dabei wärst.«

»Das kann ich nicht zulassen«, antwortete sie lächelnd.

Die Mädchen waren noch nicht da, als sie kurz darauf die Jugendherberge erreichten. Während Matthias die Getränke auslud und in den Aufenthaltsraum trug, damit sie nicht in der Sonne standen, ging Kerstin auf ihr Zimmer. Sie wollte sich kurz unter die kalte Dusche stellen, das würde ihre Lebensgeister sicher wieder wecken.

»Oh Gott«, stöhnte sie laut auf, als sie sich nach dem Duschen abtrocknete und die blauen Flecken an ihren Beinen entdeckte. Einen Augenblick lang versuchte sie sich einzureden, dass sie sich irgendwo gestoßen hatte, aber sie wusste gleich, dass sie sich dabei nur etwas vormachte. Als ihr wieder schwindlig wurde, hüllte sie sich in das große weiße Handtuch, das auf dem Waschbecken lag, verließ das Badezimmer und legte sich auf ihr Bett. »Es darf nicht sein«, flüsterte sie, und dann schossen ihr die Tränen in die Augen.

*

Eine halbe Stunde nach Matthias und Kerstin traf Anna mit den Mädchen an der Jugendherberge ein. Sie hatten unterwegs schon fleißig Holz gesammelt und legte es auf dem Grillplatz ab. Kurz darauf kam Sebastian. Im Kofferraum seines Geländewagens standen Körbe mit Würstchen, Weißbrot und den Kartoffeln, die sie im Feuer backen wollten. Sofort waren Mädchen von beiden Mannschaften zur Stelle, die ihm halfen, die Körbe zum Grillplatz zu tragen, der inzwischen im Schatten des angrenzenden Tannenwaldes lag.

»Dann können wir ja gleich anfangen«, sagte er, als er die Äste und Zweige sah, die neben der Feuerstelle, einem von weißen Steinen eingefassten Kreis in der Mitte des Grillplatzes, ordentlich aufeinandergestapelt waren. »Würdet ihr mir bitte zuerst ein paar dickere Äste heraussuchen und mir danach die Zweige anreichen«, bat er die Mädchen, die sich alle um ihn versammelten.

»Sehr gern, Doktor Seefeld«, antworteten sie ihm und machte sich gleich an die Arbeit.

»Sagtest du nicht, Kerstin wollte nur kurz duschen gehen?«, erkundigte sich Anna bei Matthias, dem sie half, die Partybänke um die Feuerstelle aufzustellen, die er mit Margots Erlaubnis aus dem Keller geholt hatte.

»Sie müsste eigentlich auch längst wieder da sein.«

»Soll ich mal nachsehen, was los ist?«

»Ja, bitte, tu das«, stimmte Matthias Anna sofort zu.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sebastian, der sich kurz umschaute und sah, dass Anna in die Jugendherberge hineinging.

»Ich hoffe es«, antwortete Matthias und baute die nächste Bank auf.

»Kerstin!«, rief Anna, nachdem sie an die Tür geklopft hatte und keine Antwort bekam. »Kerstin, was ist los?!« Als sie immer noch nichts hörte, öffnete sie vorsichtig die Tür. »Du meine Güte, was ist denn mit dir?«, fragte sie erschrocken.

Kerstin saß in ein großes weißes Badehandtuch eingehüllt auf dem Bett und starrte sie mit verweinten Augen an. Sie zögerte nicht länger und betrat das Zimmer. Leise schloss sie die Tür hinter sich und setzte sich neben Kerstin aufs Bett. »Sag mir, was passiert ist«, bat sie und streichelte ihr über das Haar.

»Das ist passiert.« Kerstin deutete auf die blauen Flecken an ihren Beinen.

»Oh nein.« Anna musste erst einmal schlucken, als sie die gleichen Flecken auch an Kerstins Rücken entdeckte. Es waren kleine Blutergüsse, die so typisch für eine Leukämieerkrankung waren.

»Ich dachte, ich hätte die Krankheit besiegt«, sagte Kerstin, während sie leise aufschluchzte.

»Wann war das?«, fragte Anna und nahm sie tröstend in die Arme.

»Vor zwei Jahren.«

»Was hast du damals unternommen?«, wollte Anna wissen, und dann hörte sie genau zu, was Kerstin ihr erzählte.

Dass sie nach der Diagnose niemandem etwas erzählt hatte, auch nicht ihrer Familie, dass sie eine längere Studienreise vorgeschoben hatte, die sie nie antrat, und stattdessen zu einer Freundin in die Schweiz gereist war.

»Sie ist Ärztin in einer großen Klinik in Zürich, sie wollte damals, dass ich zu ihr komme. Es war eine gute Entscheidung, ich wurde wunderbar versorgt, und ich wurde gesund.«

»Du kannst diese Krankheit wieder besiegen«, sagte Anna, als Kerstin die Tränen über das Gesicht liefen.

»Wenn es mich noch einmal erwischt, dann brauche ich einen Spender, das haben mir die Ärzte schon prophezeit.«

»Noch steht die Diagnose nicht fest.«

»Lass es gut sein, Anna, ich will mir nicht länger etwas vormachen. Ich habe die Anzeichen lange genug ignoriert«, sagte Kerstin und schluckte die Tränen erst einmal hinunter. »Ich will auf jeden Fall noch bis nach dem Spiel durchhalten. Ich möchte den Mädchen dieses Ereignis nicht verderben, und ich will wenigstens noch ein paar Stunden mit Matthias verbringen, ehe ich mich der Wahrheit stelle.«

»Du hast dich in ihn verliebt.«

»Ja, das habe ich. Ich glaube, ich bin überhaupt zum ersten Mal wirklich verliebt. Leider ist es aber kein guter Zeitpunkt für die Liebe.«

»Es ist sogar ein sehr guter Zeitpunkt, weil die Liebe unendlich stark macht. Und jetzt hole ich Sebastian.«

»Warum?«

»Weil er wissen sollte, was mit dir los ist, damit er dir helfen kann, solltest du Hilfe brauchen.«

»Ich will aber nicht, dass die Mädchen oder Matthias etwas davon mitbekommen.«

»Matthias hat mich gebeten, nach dir zu sehen. Was soll ich ihm sagen?«

»Ich hatte einige Gespräche zu führen, was ja auch stimmt.«

»Gut, dann werde ich ihm das so ausrichten.«

»Ich habe Angst, Anna.«

»Ich weiß, Kleines. Es tut mir unendlich leid.« Nun musste auch Anna mit den Tränen kämpfen. »Bitte, sprich mit Sebastian, Kerstin.«

»Gut, einverstanden, schicke ihn zu mir.«

»Das mache ich, bis nachher.«

»Warum wieder ich?«, flüsterte Kerstin, nachdem Anna gegangen war. Sie fühlte sich so hilflos. Am liebsten hätte sie sich in Matthias‘ Arme geflüchtet, aber genau das konnte sie nicht tun. Diese Liebe, von der sie geträumt hatte, würde es nicht geben. Matthias wollte die Welt bereisen, die Liebe zu einer kranken Frau würde ihm diesen Traum zerstören. Das würde sie niemals zulassen.

*

Matthias stand am Fenster des Aufenthaltsraumes und reichte den Mädchen Getränke nach draußen, als Anna wieder zum Grillplatz kam. Die Sonne war schon beinahe hinter den Bergen verschwunden und Sebastian hatte das Feuer bereits angezündet. Er saß im Schneidersitz davor, hatte die Ärmel seines grauen Hemdes hochgeschoben, die Ellbogen auf seinen Knien abgestützt und den Kopf in seine Hände sinken lassen. Er beobachtete die Flammen und lauschte dem Knistern des Holzes, das in der Glut zerfiel, und schien mit seinen Gedanken weit fort zu sein.

Anna war wie gebannt von seinem Anblick, sah nur noch ihn vor sich, wie das Feuer vor ihm aufloderte und ihn in goldenes Licht tauchte. Doch dann dachte sie wieder an Kerstin, und ihr wurde ganz elend zumute.

»Sebastian.« Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und wartete, bis er sich umwandte.

»Was kann ich für dich tun, Anna?«

Sie zuckte zusammen, als sich das Feuer in seinen hellen grauen Augen wiederspiegelte. »Kerstin ist auf ihrem Zimmer, erster Stock, gleich neben der Treppe. Würdest du bitte nach ihr sehen?«, bat sie ihn.

»Schlimm?«

»Ja, ich denke schon. Pass auf, dass es niemand mitbekommt.«

»Alles klar. Legst du bitte Holz nach?«

»Sicher, ich kümmere mich darum«, sagte Anna und steckte die weiße Leinenbluse in den Bund ihrer Jeans, bevor sie sich auf den sandigen Boden setzte.

Sebastian war froh, dass er sein Auto direkt vor dem Eingang der Jugendherberge geparkt hatte. Da alle anderen sich jetzt neben dem Haus aufhielten, konnte er seine Arzttasche unbeobachtet aus dem Wagen holen.

Kerstin zuckte zusammen, als es an der Tür klopfte.

»Frau Richter, darf ich reinkommen?«, hörte sie Sebastian leise fragen.

»Ja, bitte«, antwortete sie und umklammerte die Bettkante mit ihren Händen. Egal, was er ihr raten würde, sie würde jetzt auf keinen Fall in ein Krankenhaus gehen. »Hat Anna Ihnen schon etwas gesagt, Doktor Seefeld?«, wollte sie wissen, als er das Zimmer betrat.

»Nein, aber ich denke, ich weiß, warum ich hier bin«, sagte er, als er die vielen kleinen Blutergüsse an ihrem Rücken und ihren Beinen sah.

»Es ist nicht das erste Mal, wissen Sie.«

»Wann war das erste Mal?« Sebastian zog sich einen Stuhl zum Bett hin, holte das Blutdruckmessgerät aus seiner Tasche und legte ihr die Manschette an.

Kerstin zögerte nicht, ihm ihre Geschichte zu erzählen. Sebastian Seefeld war ihr von Anfang an sympathisch gewesen und als Arzt weckte er sofort ihr Vertrauen. Sie war Anna dankbar, dass sie ihn zu ihr geschickt hatte.

»Bin ich wirklich auf einen Spender angewiesen?«, fragte sie ihn, nachdem sie ihm alles gesagt hatte und er sie, soweit es ihm in diesem Moment möglich war, untersucht hatte.

»Ohne eine genaue Analyse Ihres Blutes möchte ich mich ungern festlegen.«

»Ich werde mich nächste Woche untersuchen lassen, bis dahin muss ich durchhalten.«

»Es geht Ihnen aber im Moment nicht wirklich gut, Frau Richter, sonst wäre ich nicht hier.«

»Ich werde bis nach dem Spiel durchhalten, das schaffe ich«, versicherte sie ihm und versuchte ein Lächeln.

»Gut, aber wenn irgendetwas ist, dann melden Sie sich bei mir, auch in der Nacht. Versprechen Sie mir das?«

»Ja, das verspreche ich Ihnen, vielen Dank, Herr Doktor Seefeld. Es geht mir schon ein wenig besser.«

»Sie sollten aber auf jeden Fall etwas essen, damit Sie sich nicht zusätzlich schwächen. Sie brauchen in den nächsten Wochen viel Kraft.«

»Ich habe aber keinen Hunger.«

»Nehmen Sie vor jedem Essen ein paar Tropfen davon.« Sebastian gab ihr ein weißes Fläschchen, das mit einem Korken verschlossen war.

»Was ist das?«

»Ein altes Hausmittel, eine Mischung aus Ingwer, Kümmel, Wermut, Pfefferminz und Wacholderbeeren.«

»Sie vertrauen auf Kräuter?«

»Auch die modernen Medikamente basieren auf den Wirkstoffen der Natur. Unsere Traudel ist eine Kräuterexpertin, sie hat uns schon einige Male mit dem Erfolg ihrer Medizin beeindruckt.«

»Und das bei zwei Ärzten im Haus.«

»Eine gute Leistung, das denke ich auch.« Sie kann schon wieder ein bisschen lachen, das ist gut, dachte Sebastian. »Wir sehen uns dann gleich am Lagerfeuer«, sagte er und berührte sie noch einmal tröstend am Arm, bevor er ihr Zimmer verließ.

Nachdem Sebastian gegangen war, nahm Kerstin die Tropfen, die er ihr gegeben hatte, und ging noch einmal ins Badezimmer. Sie trug ein wenig Make-up und Rouge auf, tuschte ihre Wimpern und benutzte einen zartroten Lippenstift. Um ihrem Haar mehr Fülle zu geben, beugte sie sich nach vorn, bürstete es kräftig über den Kopf, bevor sie sich wieder aufrichtete und es mit den Händen ordnete. Das sieht doch schon viel besser aus, dachte sie und schlüpfte in ihre Jeans und einen langärmeligen roten Pullover.

*

Als sie wenig später die Treppe hinunterging und der Duft nach gerösteten Würstchen durch die geöffnete Haustür von draußen hereinzog, verspürte sie sogar ein wenig Hunger.

»Leute, unsere Trainerin ist aufgetaucht!«, rief Inka, die zuerst auf Kerstin aufmerksam wurde. »Wo warst du denn die ganze Zeit?«

»Ich hatte ein paar wichtige Gespräche zu führen.«

Sebastian nickte ihr aufmunternd zu. Er lehnte am Stamm der alten Eiche, die neben dem Grillplatz stand, und schnitt mit einem Taschenmesser die Stöcke zurecht, auf die die Mädchen ihre Würstchen spießten und über das Feuer hielten.

»Wie war denn euer Tag? Hattet ihr Spaß?«, wandte sie sich an ihre Mannschaft.

»Oh ja, hatten wir«, antwortete Lizzy als erste.

»Wir haben niedliche Kälbchen gesehen.«

»Und kleine Schweinchen.«

»Wir sind durch den Bach gewatet, um den Weg abzukürzen.«

»Stimmt, das klingt nach viel Spaß«, sagte Kerstin, als nun alle gleichzeitig auf sie einredeten.

»Wir waren auch im Rathauskeller, da übt eine Band, und zwar die netten Jungs, die wir gestern vor dem Kino getroffen haben«, erzählte Inka, und als sie lächelte, schienen die Sommersprossen in ihrem runden Gesicht hin und her zu hopsen.

»Und ich bin von der lieben Traudel gemästet worden. Knödel, Braten, Pudding und Kuchen«, sprudelte es aus Lizzy heraus.

»Offensichtlich hast du aber schon wieder Hunger«, stellte Kerstin lächelnd fest, als Lizzy sich auch einen Stock von Sebastian geben ließ.

»Ich brauche eben viel Energie.«

»Deshalb kriegst du den Ball morgen trotzdem nicht in mein Tor«, erklärte Doro selbstbewusst, die wie immer ganz in Schwarz gekleidet und in der Dämmerung kaum auszumachen war.

»Wir werden sehen«, entgegnete Lizzy unbeeindruckt.

»Komm zu uns«, forderte Anna Kerstin auf. Sie und Matthias saßen auf einer Bank am Feuer und wickelten die Kartoffeln, die sie backen wollten, in Alufolie.

»Ich habe dich vermisst«, raunte Matthias ihr zu, als Anna zur Seite rutschte, damit sich Kerstin in die Mitte der Bank setzen konnte. »Ich hoffe, diese Gespräche, die dich aufgehalten haben, waren nicht unangenehm für dich.«

»Nein, es ist alles gut. Es tut mir nur leid, dass es so lange gedauert hat«, entschuldigte sie sich.

»Jetzt bist du ja da«, sagte er und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange.

Ich hätte zu gern mehr Zeit mit dir verbracht, dachte sie und schluckte ihre Tränen hinunter, als Matthias sie mit seinen wundervollen blauen Augen anschaute. Sie wünschte ihm so sehr, dass seine Träume Wirklichkeit wurden, deshalb musste sie dafür sorgen, dass er Kerstin Richter vergaß. »Ich helfe euch«, sagte sie und riss ein Stück Folie von der Rolle ab, die in dem Korb vor Anna lag, und wickelte die nächste Kartoffel ein.

»Ihr seid echt fleißig«, sagte Emilia, die die Kartoffeln abholte, um sie ins Feuer zu legen.

»Wir hoffen, dass wir auch etwas abbekommen.«

»Ich werde mich sofort darum kümmern, Trainer.« Emilia strich sich das Haar aus der Stirn und zwinkerte Matthias fröhlich zu, bevor sie die Kartoffeln in einen Korb packte und zum Feuer trug. Es dauerte nicht lange, da kam sie zurück und drückte Anna, Kerstin und Matthias je ein geröstetes Würstchen in die Hand.

»Das ging schnell, danke.«

»Du weißt doch, Matthias, wir reagieren sofort, wenn unser Trainer einen Wunsch äußert.«

»Ja, klar, immer«, antwortete Matthias schmunzelnd. Nur allzu oft plapperten seine Mädchen auch während des Trainings munter drauflos, und er hatte seine Mühe, bis sie endlich auf seine Anweisungen hörten.

Kerstin wunderte sich, wie gut es ihr in dieser großen Gesellschaft schmeckte, so gut, dass sie später sogar noch eine Backkartoffel schaffte. Sie wusste selbst nicht, wie es ihr gelang, die Angst vor dem, was ihr bevorstand, zu bändigen. Sie konnte sogar mit den anderen lachen.

Auch Margot und Heinz kamen für eine Weile ans Feuer, und die Mädchen versorgten sie mit Essen und Getränken, bis die beiden sich wieder in den Garten hinter das Haus zurückzogen.

Als die ersten Sterne am Nachthimmel funkelten, setzten sich alle dicht ans Feuer auf den Boden, und Emilia brachte ihren Vater dazu, von seinem ersten Lagerfeuer in einer indianischen Siedlung zu erzählen.

»Er hat eine wundervolle Stimme, und er ist ein begabter Geschichtenerzähler«, flüsterte Kerstin Anna zu, als Sebastian irgendwann eine Pause einlegte, sich etwas zu trinken holte und die Mädchen sofort wild durcheinander redeten, weil sie sich immer etwas mitzuteilen hatten.

»Glaube mir, ich kenne seine Vorzüge«, sagte Anna.

Ich habe mich nicht getäuscht, sie liebt ihn, dachte Kerstin, als sie dieses Strahlen in Annas Augen erkannte.

»Papa, bitte, noch eine Geschichte«, bat Emilia, als Sebastian sich wieder zu ihnen ans Feuer setzte.

»Einmal wurde ich zu einer weisen alten Frau gerufen«, begann Sebastian auch gleich wieder mit einer neuen Erzählung.

»Bitte, ein wenig lauter«, baten einige Mädchen.

»Die weise Frau sprach ganz leise, so wie Indianer mit ihren Kindern sprechen, damit sie genau zuhören und ihre Augen schließen, damit die Worte zu Bildern werden und das Gesagte in ihrem Gedächtnis haften bleibt.« Obwohl Sebastian nicht lauter als zuvor sprach, hörten alle gebannt zu, was er ihnen über die Gebräuche der Indianer zu berichten wusste, und irgendwann schlossen alle die Augen, auch Anna und Kerstin. Matthias aber schaute nur auf Kerstin, es war allein ihr Anblick, den er in seinem Gedächtnis bewahren wollte.

Nach einer Weile wurde es Kerstin auf dem Boden zu unbequem, die Gelenke schmerzten sie und es war ihr auch zu kühl geworden. Matthias half ihr auf, zog eine Bank näher ans Feuer und hängte ihr seine Jacke um.

Sebastian hatte inzwischen seine Erzählstunde beendet, und die Mädchen unterhielten sich wieder eifrig miteinander. Auch ihm war es inzwischen auf dem Boden zu unbequem geworden, und er setzte sich auf eine Bank, ein Stück von Matthias und Kerstin entfernt, um die beiden nicht zu stören.

»Ist der Platz neben dir noch frei?«, fragte Anna.

»Bitte sehr«, antwortete er lächelnd.

»Möchtest du?« Sie zeigte ihm die Flasche Himbeerlimonade, die sie sich gerade geholt hatte.

»Du willst sie mit mir teilen?«

»Machen wir das nicht hin und wieder? Ich meine, uns ein Getränk teilen.«

»Wir teilen auch hin und wieder unsere Gedanken.«

»Was ich sehr schön finde.«

»Ich finde das auch schön, Anna«, sagte Sebastian und trank einen Schluck von der Himbeerlimonade.

»Ich denke, Kerstin sollte Matthias nicht im Ungewissen lassen«, kam Anna auf das zu sprechen, was ihr gerade am meisten Sorgen machte.

»Ich verstehe, dass sie es nicht will. In ihrer Vorstellung würde sie von einer begehrenswerten Frau zu einer bedauernswerten. Sie möchte, dass Matthias sie liebt, nicht bemitleidet.«

»Aber muss sie deshalb gleich wieder aus seinem Leben verschwinden?«

»Hat sie das vor?«

»Ich glaube schon.«

»Wenn Matthias es ernst mit ihr meint, dann wird er sie nicht einfach so gehen lassen.«

»Das hoffe ich.« Anna hielt seinen Blick einen Moment lang fest. Sie fragte sich, was er wohl tun würde, wenn sie eines Tages einfach aus seinem Leben verschwinden würde.

»Wir lassen das Feuer jetzt ausgehen«, verkündete Sebastian bald darauf. Es war bereits halb zehn, und gleich würden die Eltern aus dem Dorf eintreffen, um ihre Töchter abzuholen.

»Der Abend ist zu Ende?« Beide Fußballmannschaften zeigten sich enttäuscht.

»Ihr wollt morgen doch ausgeruht sein, nehme ich an«, sprang Matthias Sebastian gleich bei.

»Es ist nur ein Freundschaftsspiel, Trainer«, murrte Doro.

»Das ihr aber gewinnen wollt. Oder nicht?«

»Klar wollen wir gewinnen.«

»Wir auch«, sagte Kerstin, »und deshalb aufräumen, und dann ab ins Bett«, forderte sie ihre Mädchen auf.

»Gehen wir mit gutem Beispiel voran.« Matthias klappte die Bank zusammen, auf der er und Kerstin gerade noch gesessen hatten, und nahm sich dann gleich die nächste Bank vor.

Da nun allen klar wurde, dass es keinen Aufschub mehr geben würde, beteiligten sich die Mädchen an der Aufräumaktion, so wie sie es versprochen hatten. Bald darauf wurden die Bergmoosbacher Mädchen abgeholt, und der Grillplatz leerte sich. Die letzten, die ins Dorf zurückfuhren, waren Sebastian und Emilia, die Doro und Anna mitnahmen.

»Wir sehen uns morgen auf dem Platz!«, wurden sie von den Schwabingern verabschiedet, die geschlossen vor dem Eingang der Jugendherberge standen und ihnen winkten.

»Doktor Seefeld interessiert sich wenigstens für das, was seine Tochter macht«, sagte Lizzy so leise, dass es nur Inka hören konnte.

»Denk daran, was Emilia gesagt hat, interessiere dich für deine Eltern«, erinnerte Inka ihre Freundin an Emilias Ratschlag.

»Es wird Zeit.« Kerstin wollte sich nun auch von Matthias verabschieden.

»Du musst uns nicht ins Bett bringen, Kerstin, wir schaffen das allein, gute Nacht, Herr Bremer«, sagte Lizzy. »Leute, wir gehen rein!«, rief sie den anderen zu, die ihr auch gleich kichernd und glucksend ins Haus folgten.

»Was war das denn?«, fragte Kerstin und schüttelte ungläubig den Kopf über den plötzlichen Aufbruch ihrer Mannschaft.

»Es war ihre Art, uns mitzuteilen, dass wir noch ein wenig Zeit miteinander verbringen sollen. Komm, gehen wir ein Stück«, forderte Matthias sie mit einem zärtlichen Blick auf.

»Hier ist es stockdunkel.« Kerstin zögerte, weiter mit ihm zu gehen, als er sie an die Hand nahm und in den Wald hinter dem Grillplatz führte.

»Mach kurz die Augen zu«, bat er sie.

»Willst du mir auch eine Geschichte erzählen, die in meinem Gedächtnis haften bleiben soll? So wie die Indianer das tun?«

»Nein, ich möchte dir etwas zeigen.«

»Ja, bitte, zeige mir etwas Schönes.« Etwas, woran ich mich erinnern will, wenn mir nur noch meine Träume bleiben, dachte sie wehmütig und schloss die Augen.

»Die Augen wieder öffnen«, sagte er leise.

»Matthias, das ist wirklich unglaublich schön«, flüsterte sie beeindruckt von dem Anblick, der sich ihr gleich darauf bot.

Sie standen am Rande des Hügels, schauten auf das Tal und den nächtlichen Himmel. Der Sternwolkensee lag direkt zu ihren Füßen im Mondschein, und die Milchstraße, die sich wie eine gewaltige Wolke bis zum Horizont spannte, spiegelte sich in seinem Wasser.

»Wir Menschen sind so winzig und unbedeutend neben der Kraft und Schönheit der Natur«, sagte Kerstin.

»Nein, das sind wir nicht, wir gehören auch zu dieser Natur. Wenn ich dich ansehe, dann sehe ich die gleiche Schönheit, eine Schönheit, die mir unendlich viel bedeutet. Damit meine ich nicht nur dein Äußeres, ich meine dich, so wie du jetzt vor mir stehst, mit diesem überraschten Blick und dieser leisen Wehmut in deinen Augen.«

»Vielleich irrst du dich, vielleicht gibt es diese Kerstin gar nicht, die du gerade siehst. Oder sie ist nur eine Momentaufnahme.«

»Nein, das glaube ich nicht«, entgegnete er und nahm sie behutsam in seine Arme.

»Du solltest das nicht tun«, sagte sie, als er sie zärtlich an sich zog und ihr das Haar aus der Stirn strich.

»Du willst, dass ich dich wieder loslasse?«

»Nein, Matthias, viel lieber möchte ich, dass du mich festhältst, aber ich weiß nicht, ob es gut für dich ist.«

»Doch, das ist es.«

Nur noch dieses Mal, dachte sie und wehrte sich nicht mehr gegen seine Berührung. Sie würde dieses Gefühl für immer in sich bewahren, diese tiefe Wärme, die sie empfand, als sie seine Lippen auf ihrem Mund spürte.

»Könntest du dir vorstellen, mit mir zusammen die Welt zu bereisen?«, fragte er sie, als er sie nach dem Kuss noch immer in seinen Armen hielt. »Wir könnten zusammen arbeiten, wunderschöne Orte besuchen, und vielleicht würden wir uns sogar entschließen, an einem dieser Orte zu bleiben.«

»Sagtest du nicht, dass du wieder nach Bergmoosbach zurückkommen wirst?«

»Irgendwann schon, aber wenn du bei mir wärst, dann könnte das sehr viel später sein.«

»Es klingt verlockend, mit dir die Welt zu bereisen.«

»Wirst du darüber nachdenken?«

»Ich werde davon träumen.«

»Das ist ein Anfang.«

»Wir machen doch gerade auch eine Reise. Ich meine, wenn wir an den Himmel schauen, dann sehen wir das Universum mit all diesen Sternen, die so unendlich weit entfernt sind, wie wir es uns gar nicht vorstellen können.«

»Dann werden wir uns mit dem Universum begnügen, bis du dich für eine Reise um die Erde entschieden hast«, sagte er und betrachtete sie sehnsuchtsvoll.

»Es geht vorwärts«, flüsterte Lizzy, die wieder als Beobachtungsposten am Fenster stand.

Sie hatte gewartet, bis die beiden hinter den Tannen hervorkamen, und sah nun zu, wie sie sich mit einem leidenschaftlichen Kuss voneinander verabschiedeten, bevor Matthias in seinen Wagen stieg.

»Dann ist Weißmüller vermutlich bald Geschichte«, erklärte Inka zufrieden und streckte sich auf ihrem Bett aus.

»Ja, hoffentlich«, stimmten die anderen Mädchen ihr zu.

*

Nach einem kräftigen Frühstück mit Rühreiern, Müsli, belegten Brötchen und Obst stiegen Kerstin und die Schwabinger Mädchen am nächsten Morgen zu Heinz Bodekind in den Bus.

»Ich komm dann zum Spiel!«, rief Margot, die in der Tür der Jugendherberge stand, ihnen winkte und dabei Heinz anschaute, der sein Fenster geöffnet hatte und sie mit einem liebevollen Lächeln betrachtete.

»Ihr denkt daran, was ich euch gesagt habe, Bergmoosbach mag ein Dorf sein, aber das bedeutet nicht, dass wir aus der Stadt automatisch gewinnen«, erinnerte Kerstin ihre Mannschaft daran, das bevorstehende Spiel wenigstens ein bisschen ernst zu nehmen.

»Mal sehen, was sie draufhaben«, sagte Lizzy und setzte genau wie die anderen Mädchen ihre Kopfhörer auf, um noch ein paar Minuten Musik zu hören.

Die Hauptsache, es wird ein schönes Spiel, dachte Kerstin. Auch wenn sie sich natürlich wünschte, dass ihre Mannschaft siegte, es war nur ein Freundschaftsspiel, und niemand musste sich am Ende über das Ergebnis ärgern. Ganz entspannt lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schaute auf die Berge.

Als ein Sonnenstrahl direkt auf ein Schneebrett fiel, funkelte der Gipfel in strahlend hellem Licht und verschwamm vor ihren Augen. So wird es sein, wenn ich gehen muss, alles wird sich einfach auflösen, und irgendwann wird sich niemand mehr an mich erinnern, dachte sie.

Der Fußballplatz lag am Ortsrand neben dem Festplatz. Der Rasen war kurz und gleichmäßig gemäht, und es gab eine Tribüne mit 100 Sitzplätzen. Auch das Vereinshaus sah einladend aus, weiß gestrichen mit hellroten Dachziegeln und roten Fensterläden. Matthias und seine Mannschaft waren schon auf dem Platz, um sich warm zu machen, als die Schwabinger eintrafen. In ihren dunkelroten Trikots mit der Aufschrift Brauerei Schwartz, ihrem größten Sponsor, liefen die Bergmoosbacherinnen über den Rasen.

Nachdem die Schwabinger ihre blauen Trikots mit dem Schriftzug des Autohauses Weißmüller angezogen hatten, beanspruchten auch sie einen Teil des Platzes, damit sie sich auf das Spiel vorbereiten konnten. Die Mädchen beider Mannschaften taten so, als seien sie sich zuvor noch nie begegnet, die neuen Freundschaften, die sie geschlossen hatten, mussten erst einmal hinten anstehen, jetzt zählte nur die eigene Mannschaft. Auch Kerstin und Matthias begrüßten sich nur mit einem kurzen Handschlag, danach zogen sich beide auf ihre Trainerbank zurück.

»Zuerst Dehn- uns Streckübungen, danach ein bisschen laufen, und dann will ich Inka im Tor Bälle halten sehen!«, wies Kerstin die Mädchen an.

Auf beiden Seiten des Feldes herrschte die gleiche Routine wie vor jedem Spiel, alle wussten genau, was sie zu tun hatten. Als sie schließlich wieder in die Kabinen gingen, um sich auf die Begegnung einzustimmen, waren alle bestens gelaunt.

»Besiegen wir die Bergmoosbacher!«, rief Lizzy, als ihre Mannschaft in der Kabine noch einmal einen Kreis bildete, bevor sie nach draußen gingen.

In der Kabine auf der anderen Seite des Gangs standen zur selben Zeit die Bergmoosbacher Mädchen in einem Kreis zusammen und versicherten sich gegenseitig, dass sie die Schwabinger besiegen würden. Danach nahmen beide Mannschaften im Gang Aufstellung und folgten der Schiedsrichterin, einer unscheinbaren kleinen Frau mit blonden Dauerwellen, die in der Nachbargemeinde zu Hause war.

»Wahnsinn«, murmelten die Schwabinger Mädchen, als sie die vielen Zuschauer sahen, die inzwischen eingetroffen waren.

Auf der sonnigen Tribüne war kein Platz mehr frei, und am Spielfeldrand drängten sich mehrere Zuschauerreihen.

»Ein echtes Heimspiel«, sagte Matthias, der genau wie Kerstin hinter seiner Mannschaft herging.

»Von diesem Andrang können wir nur träumen«, erwiderte Kerstin beeindruckt.

Nachdem die Schiedsrichterin Lizzy und Emilia mit Hilfe einer Münze hatte entscheiden lassen, wer auf welcher Seite des Platzes zuerst spielte, konnten auch die Trainer und ihre Begleitung ihre Plätze einnehmen. Kerstin und Heinz auf der linken Bank, Matthias und Sebastian auf der rechten.

»So sehr ich dich als Arzt auch schätze, ich hoffe, dass der zubleibt«, sagte Matthias, während Sebastian seinen Arztkoffer unter die Holzbank schob.

»Es gibt nichts, was ich mir in den nächsten zwei Stunden mehr wünsche, abgesehen natürlich von einem Sieg für unsere Mannschaft«, antwortete Sebastian und wandte sich sofort dem Spielfeld zu, als die Schiedsrichterin die Begegnung anpfiff.

Erst ging es eine Weile hin und her, bis Emilia unter großem Jubel des Publikums zum ersten Spurt auf das gegnerische Tor ansetzte, der aber von den Verteidigerinnen der Schwabinger energisch gestoppt wurde. Der Ball ging an Lizzy, die nun ihrerseits ihr Glück vor dem Tor von Doro versuchte. Doro hechtete nach dem Ball und fing ihn rechtzeitig ab, eine Aktion, die die Zuschauer lautstark bejubelten. Obwohl sich nun alle mächtig anstrengten, gelang in der ersten Halbzeit niemandem ein Tor.

Nach der Pause verließen die Mädchen mit neuen Anweisungen ihrer Trainer die Kabinen. Unabhängig voneinander verfolgten beide die gleiche Taktik, die Stürmerinnen sollten erst einmal unterstützt werden, damit es zu einem Tor kam. Wieder wurden es aufregende Minuten mit vielen Torchancen.

»Die beiden Torhüterinnen stehen sich in nichts nach«, stellte Sebastian beeindruckt von Doros und Inkas Leistungen fest.

»Das ist richtig, ohne Glück geht heute gar nichts«, sagte Matthias, der ständig aufsprang, um den Mädchen etwas zuzurufen.

Kurz vor dem Abpfiff eroberte Emilia erneut den Ball und stürmte auf Inkas Tor zu.

»Emilia! Emilia!«, brüllten die Zuschauer.

»Was macht sie?!«, rief Sebastian, als Emilia noch weit vom Tor entfernt im vollen Lauf plötzlich anhielt und den Ball in einem hohen Bogen über die Abwehr der Schwabinger hinwegschoss.

Anna, Benedikt, Traudel und Gerti sprangen von ihren Tribünenplätzen auf und hielten gespannt die Luft an. Dann kam die Erlösung.

»Ja!«, rief Matthias und sprang in die Höhe, als der Ball so hoch auf das Tor zuflog, dass Inka keine Chance hatte, ihn zu fangen, und er hinter ihr ins Tor rauschte.

Gleich danach pfiff die Schiedsrichterin das Spiel ab und die Bergmoosbacher bejubelten ihre Mannschaft, die sich vor ihnen verbeugte und sich feiern ließ. Matthias lief aufs Spielfeld, um seine Mädchen zu beglückwünschen, während Kerstin zu ihrer Mannschaft ging, um sie zu trösten.

Die Schwabinger sahen ein wenig verdutzt aus, hatten sie doch fest mit einem Sieg gerechnet.

»Was ist?!«, rief Inka, als Kerstin plötzlich auf den Boden sackte, nachdem sie den Ball zur Seite gekickt hatte, der noch auf dem Rasen lag.

»Ich glaube, ich habe mir gerade den Fuß verdreht«, sagte sie, als sie einen stechenden Schmerz verspürte.

»Doktor Seefeld, Kerstin hat sich verletzt!«, rief Lizzy, als die Mädchen alle in die Hocke gingen und ihre Trainerin besorgt anschauten.

Sebastian, der das Spielfeld schon verlassen wollte, machte auf dem Absatz kehrt und lief über den Platz. Die Zuschauer, die erst jetzt mitbekamen, dass etwas passiert sein musste, verstummten und schauten auf die junge Frau in dem blauen T-Shirt, die mit schmerzverzerrter Miene auf dem Rasen saß.

Matthias stob über den Platz zu ihr, und auch Anna verließ die Tribüne, um nach Kerstin zu sehen, genau wie Heinz Bodekind und die Bergmoosbacher Mädchen, die sich um die Trainerin der Schwabinger versammelten.

»Was ist passiert?«, fragte Sebastian und kniete sich neben Kerstin aufs Gras.

»Nur der Fuß«, versicherte sie ihm.

»Können Sie auftreten?«

»Ich helfe ihr.« Matthias umfasste sie unter den Achseln und hob sie behutsam hoch.

»Es geht nicht.« Kerstin zuckte sofort zurück, als sie versuchte ihren rechten Fuß aufzustellen.

»Was kann es sein?«, wollte Matthias von Sebastian wissen.

»Ich vermute, eine Bänderdehnung.« Sebastian war in die Hocke gegangen, um sich Kerstins Fuß noch einmal genau anzusehen. »Wir müssen das Gelenk kühlen.« Er nahm ein Kühlpad aus seiner Arzttasche, knetete und schüttelte es, bis sich die Flüssigkeiten in dem Pad miteinander verbanden und es eiskalt wurde. Danach wickelte er es in ein Tuch, legte die Kompresse auf Kerstins Gelenk und befestigte sie mit einem Verband.

Der Schmerz ließ sofort nach, als Kerstin die Kälte spürte. »Es wird schon besser«, stellte sie erleichtert fest.

»Der Fuß muss aber trotzdem genauer untersucht werden, um eine sichere Diagnose zu bekommen.«

»Sie meinen, ich soll in ein Krankenhaus?« Das konnte er ihr nicht antun. Sie wollte nicht in ein Krankenhaus, nicht heute.

»Es wäre das Beste.« Ich weiß, du hast Angst, dachte Sebastian, als Kerstin ihn mit ihren großen dunklen Augen entsetzt ansah, aber gerade in ihrem Zustand musste jede Verletzung sofort abgeklärt werden. Experimente konnte sie sich nicht leisten.

»Ich fahre dich, Kerstin«, erklärte Matthias, der sie noch immer festhielt.

»Aber du musst dich um die Mädchen kümmern.«

»Keine Sorge, das übernehme ich«, versicherte ihr Anna.

»Ich bin doch auch da«, schloss sich Heinz an.

»Wir werden dir ganz bestimmt keinen Ärger machen, wir sind doch schon groß.« Lizzy betrachtete ihre Trainerin voller Mitgefühl und spielte mit den Spitzen ihres blonden Haars, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

»Du hast es gehört, du musst dir keine Gedanken machen.« Matthias zögerte nicht länger. Er nahm Kerstin einfach auf seine Arme, trug sie durch das Vereinshaus zu seinem Wagen, der vor der Tür zur Straße parkte, und half ihr auf den Beifahrersitz.

»Würdest du mir bitte noch meine Handtasche aus der Kabine holen?«, bat Kerstin ihn.

»Sicher, ich bin gleich wieder da.« Matthias warf das leichte Jackett, das er zu Jeans und dunkelrotem T-Shirt trug, auf den Rücksitz des Volvos und eilte ins Vereinshaus.

»Ich schreibe Ihnen eine Überweisung und bitte auch um ein großes Blutbild mit dem Hinweis auf unseren Verdacht«, sagte Sebastian, der Kerstin und Matthias zum Auto begleitet hatte.

»Sie werden mich dann nicht mehr gehen lassen«, entgegnete Kerstin und kämpfte mit den Tränen.

»Niemand wird Sie gegen Ihren Willen festhalten, aber Sie sollten mit Doktor Sander sprechen. Er hat eine Zeit lang in den USA gearbeitet und hat viel Erfahrung.«

»In was? Wie man einen Fuß röntgt? Warum sprichst du nicht weiter?«, fragte Matthias, der in diesem Moment zurückkam und Kerstin ihre cognacfarbene Umhängetasche in den Schoss legte. »Um was geht es hier wirklich?« Er konnte sich vorstellen, dass Kerstin Schmerzen hatte, aber diese Tränen, die ihr über die Wangen liefen, hatten nichts mit ihrem Unfall auf dem Spielfeld zu tun, da war er absolut sicher. Kerstin kannte diese typischen Sportverletzungen, sie würde darauf nicht derart verzweifelt reagieren.

»Es ist Ihre Entscheidung«, sagte Sebastian, als Kerstin ihn verunsichert anschaute.

»Kerstin, bitte, was ist los?«, fragte Matthias.

»Matthias, ich habe Leukämie«, sagte sie und senkte den Blick. Es war Zeit, dass er die Wahrheit erfuhr.

»Du wirst dagegen kämpfen, hörst du.« Matthias ging neben ihr in die Hocke, umfasste ihre Hände, zog sie an seinen Mund und küsste sie zärtlich. »Du wirst dich nicht ergeben.«

»Vielleicht muss ich es dieses Mal aber tun.«

»Was heißt dieses Mal?«

»Fahren wir, ich erzähle es dir unterwegs«, sagte sie, als Sebastian ihr die Überweisung für das Krankenhaus reichte.

»Ich werde Doktor Sander anrufen, einverstanden?«

»Ich kann ja mal mit ihm reden«, willigte Kerstin in Sebastians Vorschlag ein. »Sagen Sie den Mädchen aber bitte erst einmal nichts davon. Ich möchte ihnen die Abschiedsparty nicht verderben.«

»In Ordnung, wir bleiben in Verbindung«, sagte Sebastian.

»Weiß er es?«, fragte Anna, die die Mädchen in die Umkleidekabinen geschickt hatte und aus dem Vereinshaus kam, als der Volvo mit Matthias am Steuer losfuhr.

»Sie hat es ihm gesagt. Ich werde jetzt nach Hause fahren und mit Moritz telefonieren. Soweit ich weiß, hat er heute Dienst, und ich möchte, dass er sich persönlich um Kerstin kümmert.«

»Danke, Sebastian.« Moritz Sander gehörte zu Sebastians Freundeskreis, und Anna war ihm schon einige Male bei den Seefelds begegnet. Wenn Sebastian ihm vertraute, dann sollte Kerstin das auch tun.

»Ich komme danach zur Jugendherberge«, sagte Sebastian und streifte die schöne junge Frau in dem dunkelroten Kleid mit seinem Blick, bevor er zu seinem Wagen ging, der auf dem Parkstreifen vor dem Vereinshaus stand.

*

Matthias ließ sich von Kerstin nicht nach Hause schicken. Sooft sie ihm auch in den letzten Stunden erklärt hatte, dass er ruhig gehen könnte, er war geblieben, und er würde nicht von ihrer Seite weichen, bis sie mit Doktor Sander gesprochen hatte. Sie saßen nun schon eine ganze Weile auf dem Sofa im Vorzimmer von Doktor Sander, einem gemütlichen hellen Raum im obersten Stockwerk der Klinik. Eine Krankenschwester hatte ihnen Kaffee gebracht und sie um ein wenig Geduld gebeten, da Doktor Sander noch im Haus unterwegs sei. Nachdem sie zuvor zwei Stunden in dem überfüllten Wartesaal der Notaufnahme verbracht hatten, war dieses Vorzimmer eine Oase der Erholung.

Inzwischen konnte Kerstin auch schon wieder vorsichtig mit ihrem Fuß auftreten. Das Röntgenbild hatte Sebastians Verdacht bestätigt. Sie hatte sich eine leichte Bänderdehnung zugezogen und sollte den Fuß eine Zeit lang schonen.

»Ich würde am liebsten weglaufen, Matthias.« Sie schaute aus dem Fenster und betrachtete die Berge, die in den makellos blauen Himmel ragten. »Aber weit würde ich ohnehin nicht mehr kommen. Es ist vorbei, es ist sinnlos, noch irgendetwas zu planen«, flüsterte sie, und wieder liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

»Gar nichts ist vorbei.« Matthias legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Wir schaffen das«, sagte er.

Nein, nicht wir, dachte sie, das will ich doch gerade nicht. Sie würde seine Träume nicht zerstören, sie musste ihn dazu bringen, dass er sie allein ließ. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sich die Tür des Arztzimmers öffnete. Für einen kurzen Moment keimte wieder Hoffnung in ihr auf, vielleicht stand es gar nicht so schlimm um sie, vielleicht war es nur ein kleiner Rückfall, nichts Bedeutendes, etwas, was sich mit Medikamenten leicht wieder in Ordnung bringen ließ.

»Frau Richter?«, fragte der junge Mann in der weißen Hose und dem weißen Poloshirt, der gleich darauf das Vorzimmer betrat.

»Ja, ich bin Kerstin Richter«, antwortete sie.

»Moritz Sander«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

Moritz war eine attraktive Erscheinung, groß, schlank, blondes Haar, dunkelblaue Augen, und er besaß die gleiche Gabe wie Sebastian Seefeld – er konnte mit einem einzigen Lächeln sein Gegenüber für sich gewinnen. Noch ehe Kerstin mit ihm gesprochen hatte, fasste sie schon Vertrauen zu ihm.

»Matthias Bremer«, stellte Matthias sich dem jungen Arzt vor, der auch ihm die Hand reichte.

»Ich habe schon von Ihnen gehört, Herr Bremer. Emilia meinte neulich, dass Sie sich mit Ihrem ehemaligen Trainer in Toronto durchaus messen können.«

»Ich nehme das als Kompliment.«

»So war es gedacht«, entgegnete Moritz Sander freundlich.

»Haben Sie schon das Ergebnis meiner Blutentnahme?« Kerstin hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen. Sie wollte jetzt die Wahrheit wissen.

»Gehen wir in mein Sprechzimmer«, sagte Moritz.

»Nicht nötig, sagen Sie mir einfach, wie es aussieht.« Matthias sollte hören, was Doktor Sander ihr zu sagen hatte.

»Also gut.« Moritz setzte sich auf den Sessel gegenüber dem Sofa, schob den runden Buchenholztisch ein wenig zur Seite und schlug die Beine übereinander. »Es tut mir leid, Frau Richter, aber Ihre Vermutung hat sich bestätigt, Sie sind an Leukämie erkrankt«, antwortete er geradeheraus und sah Kerstin dabei offen an.

»Doktor Seefeld hat Ihnen gesagt, dass es schon das zweite Mal ist?«

»Ja, das hat er.«

»Wie stehen meine Chancen?« Es war ausgesprochen, sie wusste, woran sie war. Sie musste sich damit abfinden.

»Die beste Chance wäre ein geeigneter Spender.«

»Wenn ich ihn nicht finde? Die Wahrheit, Doktor Sander, bitte.«

»Dann müssen Sie trotzdem an eine Heilung glauben.«

»Das heißt, mir bliebe allein die Hoffnung?«

»Es gibt alternative Behandlungen.«

»Die nicht sehr erfolgsversprechend sind.«

»Nein, nicht immer, aber darüber sollten Sie sich jetzt erst einmal keine Gedanken machen. Die Aussicht, einen Spender zu finden, ist recht gut. Wenn Sie bereit wären, sich mir anzuvertrauen, dann würde ich die entsprechenden Datenbanken abfragen und Sie noch einmal gründlich untersuchen.«

»Das heißt, ich müsste hierbleiben?«

»Ich kann Ihnen sofort ein Zimmer zur Verfügung stellen. Falls wir einen Spender finden, könnten wir dann umgehend mit den Vorbereitungen beginnen.«

»Welche Art Vorbereitungen?«, wollte Matthias wissen.

»Wir müssen zuerst die kranken Zellen in Frau Richters Blut abtöten, bevor wir die Spenderzellen übertragen.«

»Chemotherapie?«

»Oder Bestrahlung, das kann ich noch nicht sagen.«

»Das klingt nicht nach einem Spaziergang.«

»Ist es auch nicht, aber wenn alles nach Plan verläuft, dann kann der Spuk bereits nach drei Monaten vorbei sein, und Sie können wieder ganz normal leben«, wandte sich Moritz an Kerstin. »Das Krankenhaus können Sie sogar schon nach drei Wochen verlassen, wenn alles gut geht.«

»Haben Sie ein Einzelzimmer frei?«, fragte Kerstin.

»Das bekommen Sie ohnehin. Da ihr Immunsystem während der Behandlung ziemlich runtergefahren wird, sollten Sie möglichst wenig Kontakt zu anderen Menschen haben.«

»Also gut, ich bleibe«, willigte Kerstin ein. Wie es aussah, bestimmte ab sofort wieder diese elende Krankheit, was sie zu tun hatte.

»Wir unterhalten uns nach den anstehenden Untersuchungen noch einmal ausführlich über das, was auf Sie zukommt, und auch über die Alternativen, falls kein Spender zur Verfügung steht. Eine Schwester wird sie gleich auf Ihr Zimmer bringen. Wir sehen uns dann morgen wieder«, verabschiedete sich Moritz von Kerstin und Matthias, bevor er auf den Gang hinausging.

»Es wird die Hölle werden«, flüsterte Kerstin.

»Ich bin bei dir«, sagte Matthias und nahm sie in seine Arme.

*

In Bergmoosbach feierten die beiden Fußballmannschaften inzwischen ihr Abschiedsfest, so wie Anna und Matthias es schon vor Tagen mit Margot ausgemacht hatten. Nach dem Mittagessen in der Jugendherberge hatten die Mädchen Tische und Stühle im Aufenthaltsraum beiseitegeschoben und die kleine Musikanlage angeschlossen, die Margot für solche Feiern bereithielt. Es wurde getanzt und geredet und es wurden Telefonnummern ausgetauscht. Als später am Nachmittag Markus mit einigen Freunden ›zufällig‹ an der Jugendherberge vorbeikam, wurden sie eingeladen, mitzufeiern, was die Jungen sich nicht zweimal sagen ließen. Auch Anna mischte sich unter die fröhlichen Teenager, während Heinz, der sich mit Margot in den Garten hinter dem Haus zurückgezogen hatte, nur hin und wieder hereinkam, um nachzusehen, ob Anna Unterstützung brauchte.

»Alles in Ordnung«, antwortete sie jedes Mal, weil die Teenager einfach nur ihren Spaß hatten, ohne dabei über die Stränge zu schlagen.

Sebastian kam erst am späten Nachmittag zur Jugendherberge. Als Anna seinen Wagen auf den Parkplatz fahren sah, ging sie ihm entgegen, um sich nach Kerstin zu erkundigen, bevor die Mädchen ihn mit ihren Fragen bestürmten.

»Was den Unfall betrifft, ist sie mit einer leichten Bänderdehnung davongekommen, aber sonst gibt es keine guten Nachrichten«, sagte er und lehnte sich an die Motorhaube des Geländewagens.

»Bleibt sie in der Klinik?«

»Moritz hat sie davon überzeugt. Morgen nehmen sie ihr noch einmal Blut ab, und sobald sie alle Merkmale bestimmt haben, durchsucht Moritz die internationale Datenbank nach einem geeigneten Spender.«

»Was wirst du den Mädchen sagen?«

»Dass wir auf Matthias‘ Rückkehr warten müssen, bevor wir mehr erfahren. Kerstin wird sicher mit ihm darüber sprechen, was sie über sich preisgeben möchte. Bis dahin respektieren wir ihren Wunsch, die Mädchen nicht zu beunruhigen.«

»Papa, was ist mit Kerstin?«, wollte Emilia auch gleich wissen, als ihr Vater und Anna zu ihnen kamen.

»Wir müssen warten, bis Matthias zurück ist.«

»Ihr habt es gehört, und jetzt habt weiter Spaß. Kerstin möchte, dass ihr eure Abschiedsparty genießt«, sagte Anna.

»Du weißt etwas, das sehe ich dir an, aber ich werde es für mich behalten«, flüsterte Emilia ihrem Vater ins Ohr und lief wieder zu Markus, mit dem sie gerade hatte tanzen wollen.

Niemand durchschaut mich so gut wie meine Kleine, dachte Sebastian und sah dem bildhübschen Mädchen in der weißen Jeans und dem gelben Pulli nach, aber dann fiel sein Blick auf Anna, die neben ihm stand und ihn beobachtete. In diesem Moment wurde ihm bewusst, dass auch sie mehr über ihn wusste, als er ihr gegenüber aussprach.

Die Mädchen begnügten sich zunächst mit Sebastians Erklärung, und da sie alle von einem harmlosen Unfall ausgingen, machte sich auch niemand Sorgen um Kerstin. Erst als es auf acht Uhr zuging und sie den Aufenthaltsraum wieder aufräumten, fragten sie sich, warum weder Kerstin noch Matthias sich meldeten.

Als Margot mit Heinz‘ Unterstützung das Abendessen, Schupfnudeln mit Käsesoße und Salat, austeilte, kam Lizzy zu Sebastian an den Tisch und bat ihn, im Krankenhaus anzurufen, um sich nach Kerstin zu erkundigen.

»Da stimmt doch etwas nicht, wenn es so lange dauert«, sagte sie und sah Sebastian mit ihren großen blauen Augen skeptisch an.

»Herr Bremer ist da!«, rief Inka und stürzte zum geöffneten Fenster, als der Volvo auf den Parkplatz einbog. »Wo ist unsere Trainerin?!«, rief sie, als nur Matthias aus dem Wagen stieg.

»Sie bleibt heute Nacht im Krankenhaus.« Kerstin hatte ihn gebeten, den Mädchen erst morgen die Wahrheit zu sagen. Nur Heinz sollte es gleich erfahren, damit er sich darauf vorbereiten konnte, dass er mit der Mannschaft allein nach Hause fahren musste.

»Aber verheimlichen werde ich meine Krankheit dieses Mal nicht. Ich will mich nicht wieder verstecken, dazu fehlt mir dieses Mal die Kraft«, hatte sie ihm erklärt.

»Was ist denn mit ihrem Fuß?«, fragte Lizzy, als Matthias gleich darauf hereinkam.

»Sie hat sich eine Bänderdehnung zugezogen.«

»Das ist aber nicht wirklich schlimm. Oder?«

»Nein, das ist bald wieder in Ordnung.«

Mit dieser Aussage waren alle erst einmal zufrieden, und Lizzy setzte sich wieder zu Emilia und ihren Freundinnen an den Tisch.

»Komm zu uns, Matthias, du kannst sicher eine große Portion Schupfnudeln vertragen«, mutmaßte Margot und wollte auch gleich in die Küche laufen. Sie saß mit Heinz, Anna und Sebastian an dem runden Tisch neben dem Eingang zur Küche, ihrem privaten Bereich, den sie nur mit Gästen teilte, die ihr besonders am Herzen lagen.

»Danke, ich habe keinen Hunger mehr, ich habe schon mit Kerstin im Krankenhaus gegessen«, sagte Matthias und setzte sich auf den freien Platz neben Anna.

»So eine Bänderdehnung lässt sich doch auch zu Hause kurieren. Warum hast du das Madl nicht gleich wieder mitgebracht?«, wollte Margot wissen.

»Es geht nicht um diese Verletzung. Kerstin ist sehr krank, deshalb muss sie in der Klinik bleiben.«

»Was ist mit ihr?«, fragte Heinz alarmiert.

»Kerstin hat Leukämie.« Matthias spürte, wie sich alles in ihm zusammenkrampfte, als er diese schreckliche Wahrheit aussprach.

»Sie wird es schaffen.« Anna streichelte mitfühlend über seinen Arm, als die Tränen in seine Augen traten.

»Sie ist nicht besonders zuversichtlich«, sagte Matthias und erzählte seinen Freunden von Kerstins Zweifeln, ob sich überhaupt ein Spender finden würde. Als er die fragenden Blicke der Mädchen bemerkte, wechselte er schnell das Thema und gab sich fröhlich.

Nach dem Abendessen nahmen die beiden Fußballmannschaften voneinander Abschied. Die Mädchen umarmten sich und versprachen, sich bald wiederzusehen. Nachdem die Bergmoosbacher Eltern ihre Töchter abgeholt hatten, machten sich auch Matthias, Sebastian und Emilia auf den Heimweg. Anna blieb in dieser Nacht in der Jugendherberge. Sie wollte Heinz nicht allein die Verantwortung für die Mädchen übertragen, und sie wollte ihm beistehen, wenn er der Mannschaft erklärte, wie es um ihre Trainerin stand.

*

Schon am nächsten Abend mussten alle die bittere Wahrheit akzeptieren. Es hatte sich kein Spender für Kerstin gefunden. Matthias und Anna, die sie am Nachmittag im Krankenhaus besucht hatten und auf dem Rückweg bei den Seefelds vorbeischauten, saßen mit Sebastian, Benedikt und Traudel auf der Terrasse, als der Anruf von Doktor Sander kam.

»Hat sie denn eine so seltene Blutgruppe?«, fragte Matthias, nachdem sie sich alle von ihrem ersten Schreck über diese Nachricht erholt hatten.

»Nein, die Blutgruppe ist auch nicht entscheidend. Es sind bestimmte Merkmale des Immunsystems, die zueinander passen müssen. Das scheint in Kerstins Fall schwierig, leider«, sagte Sebastian.

»Das heißt, das war es?«, fragte Matthias entsetzt.

»Es kann sein, dass schon morgen ein Spender registriert wird, der zu ihr passt, und wenn das so ist, dann wird Moritz das sofort erfahren. Solange müssen wir auf eine medikamentöse Behandlung vertrauen.«

»Die vermutlich keinen Erfolg hat.« Matthias hatte sich inzwischen über diese Krankheit informiert, er wusste, dass Kerstin ein Wunder brauchte, um zu überleben.

»Hat Moritz schon mit ihr gesprochen?« wollte Anna wissen.

»Nein, ich habe ihn gebeten, bis morgen zu warten, weil ich der Meinung bin, dass wir nicht so schnell aufgeben sollten.«

»Was genau heißt das, mein Sohn?«, fragte Benedikt.

»Wir suchen hier vor Ort nach einem Spender.«

»Viele Leute fürchten sich vor einer Blutentnahme, das wird in Bergmoosbach nicht anders sein«, bemerkte Matthias nachdenklich.

»Diese Furcht ist unbegründet, es genügt ein Wattestäbchen mit einer Speichelprobe«, erklärte ihm Benedikt.

»Wie hoch ist das Risiko für einen möglichen Spender?«, wollte Matthias wissen.

»Gering.«

»Üblicherweise erfolgt eine Spende heutzutage über eine Bluttransfusion«, erklärte ihm Benedikt, der im Laufe seines langen Berufslebens schon bei einigen Patienten diese Krankheit erkannt hatte.

»Der Spender erhält vier Tage lang Spritzen mit einem bestimmten Präparat, das bewirkt, dass vermehrt Stammzellen in sein Blut wandern. Ist dieser Prozess abgeschlossen, kann die Transfusion stattfinden.«

»Das klingt einfach.«

»Es ist auch nicht sehr belastend. Manchmal treten grippeähnliche Symptome auf, die lassen sich mit Schmerzmitteln aber gut in den Griff bekommen. In seltenen Fällen kann es allerdings Komplikationen mit der Milz geben, die dann möglicherweise sogar entfernt werden muss.«

»Von was sprecht ihr?«, fragte Emilia, die mit Nolan über die Wiese heraufkam.

Freudig kläffend sprang der Hund nach seinem Spaziergang um jeden herum, den er auf der Terrasse antraf.

»Sitz, Nolan!«, rief Sebastian, als der Hund zum dritten Mal um seinen Stuhl herumstob. »Brav«, lobte er ihn, als er seinem Kommando folgte und sich ruhig verhielt.

»Was ist los? Gibt es noch weitere schlechte Nachrichten?«, fragte das Mädchen. Inzwischen wusste fast jeder in Bergmoosbach, wie krank die Trainerin der Schwabinger Mädchen war, und alle drückten ihr fest die Daumen, dass sie wieder gesund wurde.

»Es wurde kein Spender für Kerstin gefunden«, klärte Sebastian seine Tochter auf.

»Das heißt, sie muss sterben?« Emilia stopfte die Hände in die Taschen ihrer Jeans, kreuzte die Beine und ließ ihren Kopf sinken, bis ihr Gesicht von ihren langen Haaren beinahe verdeckt war.

»So weit ist es noch nicht, Spatz.«

»Was können wir tun, Papa?« Emilia schaute wieder auf und wischte die Tränen fort, die ihr über die Wangen rollten. Kerstin tat ihr so leid.

»Komm her, Kleines, ich sage dir, was wir tun werden.« Sebastian zog das Mädchen auf seinen Schoss, um es zu trösten.

»Sobald ein Termin für den Test feststeht, könnte ich ihn in der Schule bekannt machen, dann kämen sicher auch einige Eltern«, schlug Emilia vor, nachdem Sebastian sie in sein Vorhaben eingeweiht hatte.

»Gute Idee, Schatz«, stimmte er ihr zu.

»Ich werde gleich morgen die Draxler Elvira anrufen und ihr von dem Test erzählen, dann spricht sich die Sache schnell herum«, versicherte Traudel den anderen.

»Die Damen, die morgen zur Schwangerschaftsgymnastik zu mir kommen, werde ich auch zur Verbreitung der Nachricht einspannen.«

»Und ich werde mit der örtlichen Presse und dem Rundfunk sprechen, damit sie uns unterstützen«, verkündete Matthias, was er tun würde.

»Wenn viele Leute kommen, werden wir in der Praxis aber nicht genug Platz haben«, gab Traudel zu bedenken.

»Vielleicht können wir das Gemeindehaus nutzen, darum werde ich mich kümmern«, sagte Benedikt.

»Wäre es auch möglich, dass du morgen Vormittag die Sprechstunde übernimmst? Dann könnte ich zu Kerstin ins Krankenhaus fahren und mit ihr und Moritz alles besprechen«, wandte sich Sebastian an seinen Vater.

»So machen wir es, mein Junge«, erklärte sich Benedikt sofort einverstanden.

*

Bevor Sebastian am nächsten Morgen zu Kerstin in die Klinik fuhr, hatte sein Vater bereits die Zusage, dass sie am kommenden Wochenende das Gemeindehaus zur Verfügung hatten, auch Matthias war schon informiert und kümmerte sich um die Presse.

Das wird ihr hoffentlich Mut machen, dachte Sebastian, als er in der Klinik ankam und mit dem Aufzug zu Moritz‘ Station hinauffuhr. Bevor er seinen Freund aufsuchte, ging er zu Kerstin. Sie lag in einem großen hellen Zimmer mit duftigen weißen Gardinen und einem eigenen kleinen Bad. Das Bett stand dicht am Fenster und bot ihr einen weiten Blick über die Stadt und die Berge. Es gab eine gemütliche Sitzecke und einen Esstisch mit zwei Stühlen. Auf ihrem Nachttisch stand eine Vase mit gelben und weißen Rosen.

»Guten Morgen, Frau Richter, wie geht es Ihnen?«, fragte Sebastian.

»Doktor Sander war gerade hier, ich habe wohl Pech gehabt«, sagte Kerstin und wandte sich Sebastian zu. Ihre Haut schien beinahe weiß, ihre dunklen Augen wirkten noch größer als sonst, aber sie war vollkommen ruhig. »Ich werde versuchen, mich damit abzufinden.«

»Es ist zu früh, um aufzugeben.« Sebastian zog sich einen Stuhl zu ihr ans Bett, setzte sich und erzählte ihr, was sie in Bergmoosbach vorhatten.

»Ich danke Ihnen für Ihren Einsatz, Doktor Seefeld, aber wenn wir weltweit keinen Spender finden konnten, wie groß ist die Chance, ihn ausgerechnet in Bergmoosbach zu finden?«

»Sie mag klein sein, aber sie besteht, und deshalb werden wir das durchziehen.«

»Doktor Sander meinte, er könnte mir auf jeden Fall noch ein bisschen Zeit verschaffen. Ich werde deshalb noch ein paar Tage hierbleiben, wenn sich also jemand findet, ich bin hier«, antwortete Kerstin und zwang sich zu einem Lächeln.

»Das ist die richtige Einstellung.«

»Hallo, mein Schatz, ich bringe dir deine Sachen.«

Sebastian drehte sich um und sah den Mann in dem eleganten hellen Anzug verwundert an, der mit einem Strauß roter Rosen und einem Koffer das Zimmer betrat. Er hatte sein dunkles Haar mit Gel aus dem Gesicht gekämmt, trug eine teure Armbanduhr und von Hand gefertigte braune Lederschuhe.

»Hallo, Arndt«, begrüßte Kerstin ihren Besucher, der sich über sie beugte und sie auf den Mund küsste.

»Und Sie sind?«, wandte sich Arndt Sebastian zu, während er den Koffer neben dem Kleiderschrank abstellte.

»Doktor Seefeld, darf ich Ihnen Arndt Weißmüller vorstellen, wir werden uns demnächst verloben«, machte Kerstin die beiden miteinander bekannt.

»Verloben?«, fragte Sebastian erstaunt.

»Hat Sie Ihnen gar nicht von mir erzählt? Dabei bin ich doch ganz ansehnlich«, entgegnete Arndt schmunzelnd. »Von Ihnen hat sie mir allerdings schon erzählt, nur Gutes«, fügte er hinzu. »Und? Haben wir einen Spender gefunden?«, wandte er sich wieder an Kerstin.

»Nein, zurzeit gibt es niemanden mit den passenden Merkmalen«, sagte Kerstin und wich Sebastians Blick aus. Ihr war klar, dass er sich nun fragen musste, was das mit ihr und Matthias hätte werden sollen, wenn sie doch vorhatte, sich zu verloben. Aber da musste sie jetzt durch. Sie hatte die ganze Nacht darüber nachgedacht, was sie tun konnte, um Matthias‘ Gefühle für sie erkalten zu lassen. Die beste aller Möglichkeiten erschien ihr diese Verlobung mit Arndt. Glücklicherweise hatte sie ihm noch nicht gesagt, dass sie sich von ihm trennen wollte, und würde es nun auch noch eine Weile hinauszögern. So lange, bis Matthias jede Hoffnung, sie für sich gewinnen zu können, aufgegeben hatte.

»Was ist? Woran denkst du?«, fragte Arndt, als sie aus dem Fenster starrte und mit ihren Gedanken weit weg schien.

»Doktor Seefeld hat noch nicht aufgegeben«, sagte Kerstin und erzählte Arndt von Sebastians Vorhaben.

»Ich werde jetzt mit Doktor Sander darüber sprechen. Passen Sie gut auf sich auf, Frau Richter.« Sebastian berührte ihre Hand und drückte sie sanft, bevor er zur Tür ging.

»Vielen Dank, dass Sie sich so für Kerstin einsetzen«, sagte Arndt, der Sebastian die Tür aufhielt.

»Ich würde Sie gern noch etwas fragen, Herr Weißmüller.«

»Sicher, ich bin gleich zurück, Liebling!«, rief Arndt und folgte Sebastian hinaus auf den Gang. »Worum geht es?«, fragte er.

»Ich nehme an, dass Sie sich auch testen lassen werden. Um Ihnen den Weg nach Bergmoosbach zu ersparen, können wir das auch gleich hier in der Klinik erledigen«, schlug Sebastian vor.

»Tut mir leid, aber ich werde mich nicht testen lassen«, erklärte Arndt, und in seiner Stimme war nicht die Spur eines Zweifels zu erkennen.

»Es ist nur ein Abstrich, ohne jegliches Risiko«, entgegnete Sebastian verwundert über Arndts ablehnende Haltung.

»Das weiß ich, aber die Mühe können wir uns trotzdem ersparen, da ich mich niemals als Spender malträtieren lassen würde.«

»Aber es geht um Ihre zukünftige Verlobte, und wenn Sie nicht ihr helfen können, dann vielleicht irgendwann einem anderen Menschen, der in der gleichen Lage ist wie jetzt Kerstin.«

»Es ist meine Entscheidung, Doktor Seefeld.«

»Sicher, aber vielleicht sollten Sie diese Entscheidung noch einmal überdenken.«

»Ich werde zunächst etwas anderes tun. Ich werde mich mit dem behandelnden Arzt über Kerstins Gesundheitszustand unterhalten. Als ihr zukünftiger Ehemann erwarte ich, dass ich Auskunft bekomme. Ich denke, ich werde Sie begleiten«, erklärte Arndt. Er schaute kurz in Kerstins Zimmer, teilte ihr mit, dass er Doktor Sander aufsuchen würde, und folgte Sebastian zum Arztzimmer.

Nun muss ich es ihm sagen, dachte Kerstin, als Matthias wenig später das Zimmer betrat.

»Hallo, Kerstin, ich habe zwei Freistunden. Ich dachte, ich nutze sie sinnvoll und besuche dich. Wie geht es dir heute?«, erkundigte er sich und küsste sie zärtlich auf die Stirn.

»Ganz gut.«

»Du hast Besuch?«, fragte er und schaute auf den leeren Stuhl neben ihrem Bett.

»Doktor Seefeld war gerade da. Er hat mir wieder ein wenig Hoffnung gemacht«, antwortete sie und betrachtete ihn wehmütig. Es fiel ihr so schwer, diese Worte auszusprechen, die sie ihm nicht ersparen konnte.

»Ich bin froh, dass er diese Aktion auf die Beine stellt.« Matthias setzte sich zu ihr aufs Bett und umfasste ihre Hände. »Wir schaffen das, Kerstin, du wirst wieder gesund«, versicherte er ihr.

»Matthias, ich muss dir etwas sagen.«

»Ja?«

»Ich bin nicht frei, ich werde mich bald verloben, deshalb bitte ich dich, nicht mehr zu mir zu kommen.«

»Das ist ein Scherz, Kerstin, nicht wahr?« Es konnte nur ein Scherz sein, alles andere ergab keinen Sinn. Gleich würden sie beide herzlich darüber lachen.

»Matthias, das ist Arndt Weißmüller, wir sind schon seit langem zusammen«, sagte sie ganz ruhig, als der Mann in dem hellen Anzug das Zimmer betrat und Matthias musterte. »Arndt, das ist Matthias Bremer, der Trainer der Bergmoosbacher Mädchen.«

»Freut mich, Herr Bremer«, sagte Arndt und schüttelte Matthias die Hand.

»Ich gehe dann besser. Ich wünsche dir alles Gute.« Matthias wollte nur noch weg.

»Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Arndt verwundert, als Matthias aus dem Zimmer stürmte.

»Nein, es ist alles gut. Was hast du mit Doktor Sander besprochen?«, fragte Kerstin und musste die Tränen hinunterschlucken, die sie so gern geweint hätte, weil ihr dieser Abschied von Matthias entsetzlich wehtat.

»Er hat mir versichert, dass es immer eine Möglichkeit gibt zu helfen, auch wenn sich kein Spender findet.«

»Möglichkeiten, die mir helfen, eine Weile auszuhalten, die mir aber keine Heilung versprechen.«

»Das wird schon, Süße. Ich werde mich schon um dich kümmern«, versprach er mit großzügiger Miene.

»Was hast du vor?«, fragte sie, als Arndt sich zu ihr aufs Bett setzte und sein Handy zückte.

»Ich mache ein Foto von uns beiden.« Er beugte sich zurück und drückte auf den Auslöser.

»Das bleibt aber unter Verschluss, so möchte ich mich niemandem präsentieren.« Kerstin gefiel dieses Foto überhaupt nicht, auf dem sie und Arndt nebeneinander zu sehen waren. Er braun gebrannt und sie kalkweiß im Gesicht.

»Meine arme kleine Prinzessin, du bist noch immer eine Schönheit. So, und jetzt räume ich deine Sachen in den Schrank. Bitte, ein Foto von deinem fleißigen Helfer«, bat er lächelnd und reichte ihr sein Handy, während er den Koffer öffnete.

»Hast du gewusst, dass Kerstin sich bald verloben wird?«, fragte Matthias, als er Sebastian auf dem Parkplatz vor der Klinik traf.

»Ich habe es erst vorhin erfahren. Ich war gerade bei ihr, als Herr Weißmüller hereinplatzte.«

»Ich durfte ihn auch kennen lernen.«

»Es tut mir leid, Matthias. Ich weiß, dass du sie sehr gern hast.«

»Nein, Sebastian, ich liebe sie, und ich dachte, sie würde für mich genauso empfinden, aber offensichtlich habe ich mich getäuscht.« Matthias malte unsichtbare Kreise mit seiner rechten Fußspitze auf den Boden und starrte vor sich her.

»Es geht ihr nicht gut, Matthias, vielleicht will sie dich nur nicht mit ihrer Krankheit belasten«, sprach Sebastian aus, was er vermutete.

»Arndt Weißmüller ist kein Phantom, das sie erfunden hat, um mich von meiner Sorge um sie freizusprechen. Dieser Arndt existiert, er hat mir die Hand geschüttelt. Das wiederum bedeutet, sie hat mir etwas vorgemacht oder sie hat sich selbst etwas vorgemacht. Wie auch immer, sie hat sich für diesen Arndt entschieden. Das muss ich akzeptieren.«

»Willst du dich jetzt nicht mehr testen lassen?«

»Doch, natürlich, ich werde auch weiterhin kräftig die Werbetrommel rühren. Es geht doch nicht um meine Befindlichkeiten, es geht darum, dass Kerstin gesund wird, und alles, was ich dafür tun kann, werde ich auch tun.«

»Verzeih, dass ich dir diese Frage überhaupt gestellt habe«, entschuldigte sich Sebastian. Matthias hatte nichts mit diesem Egoisten Arndt Weißmüller zu tun, er war ausschließlich an Kerstins Wohl interessiert. »Wir sehen uns, bis dann«, verabschiedete er sich von Matthias und stieg in seinen Wagen. Sie gibt dem Falschen den Vorzug, dachte er, als er losfuhr und im Rückspiegel sah, mit welch sehnsuchtsvollem Blick Matthias zu Kerstins Fenster hinaufschaute.

*

Die Bergmoosbacher hatten Kerstin auf dem Fußballplatz gesehen, und Sebastian hatte damit gerechnet, dass sie zahlreich ins Gemeindehaus kommen würden, um sich testen zu lassen, aber mit diesem Andrang hatte er nicht gerechnet. Auch in den Nachbarorten sprachen die Leute über das Schicksal der jungen Trainerin, und viele wollten helfen.

Im großen Saal des Gemeindehauses, einem schönen alten Fachwerkbau gleich hinter dem Rathaus gelegen, kümmerten sich Sebastian, Benedikt, Gerti und Anna um die Proben. Sie trugen weiße Kittel und Handschuhe und wussten genau, was zu tun war. Alles ging reibungslos vonstatten. An beiden Enden des Raumes war ein langer Tisch aufgebaut, an dem einen standen Sebastian und Anna, an dem anderen Benedikt und Gerti. Emilia und Traudel hatten die Aufgabe, darauf zu achten, dass nicht vor einem Tisch zu großer Andrang herrschte, während an dem anderen Leerlauf war.

Anstrengend wurde es für die beiden gegen Mittag, als das Sonnenlicht durch die südlichen Fenster hereinfiel, den Raum aufheizte und nun jeder an den Tisch von Sebastian und Anna drängte, der an der Nordseite des Saales im Schatten lag.

»Glück gehabt«, sagte Traudel, als bald darauf Wolken aufzogen und die Sonne sich hinter ihnen versteckte. Sie zupfte die Puffärmel der weißen Bluse zurecht, die sie unter ihrem Dirndlmieder trug, und wandte sich wieder der Eingangstür zu, durch die die nächsten Freiwilligen hereinströmten.

»Heute Abend falle ich todmüde ins Bett, dieses ewige Stehen ist total nervig«, seufzte Emilia und lehnte sich an einen der Holzpfeiler, die in der Mitte des Raumes bis zur Decke reichten.

»Schön, dass auch ihr euch für eine rege Teilnahme eingesetzt habt«, wandte sich Traudel an Elvira Draxler, die mit einigen Damen des Landfrauenvereins im Gefolge gleich darauf in den Saal hereinmarschierte.

»Das ist doch selbstverständlich, so einem netten Madl helfen wir gern«, erklärte Elvira.

»Du kannst dorthin«, sagte Traudel und machte Elvira eine große Freude, als sie auf den Tisch deutete, an dem Benedikt Seefeld stand, den sie wie viele Damen ihres Alters anhimmelte.

Matthias, der zu den ersten am Morgen gehört hatte, die sich als Spender zur Verfügung stellen wollten, blieb den ganzen Tag im Gemeindehaus. Er sammelte die verschlossenen Glasröhrchen mit den Abstrichen an den Tischen ein und lagerte sie in den Kartons, die sie in einem kühlen Nebenraum aufbewahrten.

Bis zum späten Nachmittag kamen die Menschen aus Bergmoosbach und den umliegenden Dörfern, um sich an der Aktion für Kerstin zu beteiligen. Am frühen Abend holte ein Kleintransporter des Labors, das mit der Klinik zusammenarbeitete, die gepackten Kartons ab. Der Inhaber des Labors war Mitglied im Bergmoosbacher Golfclub und mit Benedikt befreundet. Er hatte versprochen, die Auswertung zu beschleunigen.

Sebastian telefonierte nun jeden Tag mit Moritz, um sich nach Kerstins Gesundheitszustand zu erkundigen, und Moritz versicherte ihm, dass sie stabil sei und dass einer Übertragung nichts im Wege stand, sollte sich ein Spender finden.

Anna fuhr, so oft es ihr möglich war, zu Kerstin ins Krankenhaus, und sie telefonierte jeden Tag mit Matthias, der sich große Sorgen um Kerstin machte. Ein paar Tage nach dem Test im Gemeindehaus traf sie sich mit ihm im Café auf dem Marktplatz, und sie bestärkten sich gegenseitig, dass alles gut werden würde. Sie hatten einen der Tische erobert, die unter der dichtbelaubten Kastanie standen, was bei der spätsommerlichen Hitze sehr angenehm war.

»Ich begreife es immer noch nicht, dass sie mir erst Hoffnungen macht und mich dann zurückstößt«, sagte Matthias, nachdem er von der kühlen Zitronenlimonade getrunken hatte, die Anna und er sich bestellt hatten.

»Sie wollte sich auf einen Traum einlassen, aber es war ein Traum, den sie nicht leben kann, hat sie heute zu mir gesagt.«

»Sie hätte es wenigstens versuchen können. Das ist Sebastian, vielleicht gibt es Neuigkeiten. Hallo, Sebastian«, meldete er sich sofort, als sein Handy läutete und die Nummer der Praxis Seefeld aufleuchtete.

»Matthias, könntest du gleich in die Praxis kommen?«, fragte Sebastian.

»Ich bin schon unterwegs. Ich muss los, Sebastian möchte etwas mit mir besprechen. Vielleicht hat er noch eine andere Idee, wie wir Kerstin helfen können.«

»Du bist eingeladen«, sagte Anna lächelnd, als Matthias sein Portemonnaie zückte.

»Das nächste Mal zahle ich«, entgegnete Matthias und eilte davon. Er war sicher, dass Sebastian ihn nicht zu sich bestellt hätte, wenn es nicht wichtig wäre. »Tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst«, entschuldigte er sich, als er beinahe mit Emilia zusammenstieß, die mit einem Paket Druckerpapier aus dem Schreibwarenladen kam.

»Nichts passiert«, erwiderte das Mädchen, die ihren Trainer kurz zuvor noch zusammen mit Anna im Café gesehen hatte und jetzt auf dem Weg zu den beiden gewesen war. »Hallo, Anna, was ist denn mit Matthias los?«, wollte Emilia wissen und blieb neben dem Brunnen stehen, als ihr gleich darauf auch die junge Hebamme entgegenkam.

»Er hat einen Termin mit deinem Vater.«

»Schade, dass er schon fort ist, ich wollte euch beiden etwas zeigen.«

»Und was?«, fragte Anna.

»Sieh dir das an.« Emilia legte das Druckerpapier auf den Brunnenrand und zog ihr Smartphone aus der Tasche ihrer Jeans. »Lizzy hat mich auf einen interessanten Zeitungsartikel aufmerksam gemacht.« Sie rief die Internetseite einer Münchner Zeitung auf und gab Anna das Telefon.

»Der Mann ist wohl gar nicht von sich eingenommen.« Anna konnte kaum glauben, was sie da sah.

»Arndt Weißmüller, ein Mann mit Anstand und Herz«, lautete die Schlagzeile über dem Artikel.

Darunter waren zwei Fotos abgebildet. Das eine zeigte Arndt zusammen mit Kerstin auf ihrem Krankenbett, auf dem anderen stand er mit einem Koffer in der Hand vor dem Schrank neben ihrem Bett.

»Trotz der schweren Krankheit von Kerstin R. hält Arndt Weißmüller zu ihr und wird auch die geplante Verlobung nicht absagen.« Das war der erste Satz in dem nachfolgenden Bericht, den jemand verfasst hatte, der beeindruckt von Arndt Weißmüllers Großherzigkeit in den höchsten Tönen über ihn schrieb.

»Lizzy meint, der Kerl benutzt Kerstins Krankheit als Werbung für sich und seinen Laden.«

»Womit sie recht hat. Tu mir einen Gefallen, Emilia, zeige das Matthias lieber nicht«, bat Anna das Mädchen.

»Stimmt, es würde ihm nur wehtun. Schade, dass aus den beiden nichts geworden ist. Die Schwabinger finden, dass dieser Arndt überhaupt nicht zu Kerstin passt. Ich würde zu gern wissen, ob er sich auch als möglicher Spender für sie hat testen lassen. Bei uns in Bergmoosbach habe ich ihn jedenfalls nicht gesehen. Du?«

»Nein, ich habe ihn auch nicht gesehen.«

»Ich denke, ich werde mal Papa und Opa fragen, ob sie sich an ihn erinnern. Bis bald, Anna, ich habe es ein bisschen eilig, ich muss noch ein Referat ausdrucken.«

»Über was hast du denn geschrieben?«

»Weiße Blutkörperchen. Unsere Klasse wollte mehr über Kerstins Krankheit wissen, deshalb besprechen wir jetzt dieses Thema.«

»Ich wünsche dir viel Erfolg, grüße deine Familie.«

»Auf bald«, sagte Emilia uns sauste davon.

Eine gute Idee der Biologielehrerin, dieses Thema aufzunehmen, für das sich ihre Schüler gerade ohnehin interessierten, dachte Anna. Wie schön wäre es, wenn sich am Ende alle mit Kerstin über ihre Heilung freuen könnten.

*

Sebastian war allein, als Matthias die Praxis betrat. Die Sprechstunde war bereits vorbei, Gerti war schon gegangen und die Tür zum Sprechzimmer stand offen. Sebastian saß hinter seinem Schreibtisch und bat Matthias, davor Platz zu nehmen.

»Gibt es Neuigkeiten, die Kerstin betreffen?«, fragte er, als Sebastian sich in seinem Sessel zurücklehnte und ihn aufmerksam anschaute.

»Ja, die gibt es, wir haben einen Spender für sie gefunden.«

»Das ist eine wirklich gute Nachricht.« Sie wird gesund werden, dachte Matthias, und er hatte das Gefühl, als fiele eine große Last von ihm ab. »Wer der Spender ist, darfst du mir sicher nicht verraten.«

»In diesem Fall schon.«

»Das heißt?«

»Du bist der Spender, Matthias.«

»Ich?«, wiederholte Matthias verblüfft.

»Du bist der einzige, der infrage kommt.«

»Wann geht es los?«

»Du bist dir vollkommen sicher, dass du die Prozedur auf dich nehmen willst?«

»Ja, das bin ich.«

»Ich werde dir aber trotzdem noch einmal alles genau erklären, bevor du die Einwilligung unterschreibst.«

»Wenn es nötig ist, allerdings habe ich eine Bitte.«

»Die wäre?«

»Ich möchte auf keinen Fall, dass außer dir und Doktor Sander jemand erfährt, dass ich der Spender bin. Ich will nicht, dass Kerstin glaubt, mir dankbar sein zu müssen, und ich will auch nicht, dass jemand für mich lügen muss, sollte sie sich nach dem Spender erkundigen.«

»Du kannst dich darauf verlassen, es bleibt unter uns«, versicherte ihm Sebastian.

»Hast du Doktor Sander schon angerufen, damit er Kerstin die gute Nachricht überbringt?«

»Noch nicht.«

»Dann tue es, jede Minute Hoffnungslosigkeit ist eine Minute zu viel Angst für sie.«

»Okay, dann unterhalten wir uns danach.«

»Kein Problem, ich laufe nicht weg«, sagte Matthias. Ich kann der Frau, die ich schon so lange liebe, helfen, wieder gesund zu werden, ich gehe nirgendwo hin, bis ich das geschafft habe, dachte er.

*

»Anna, stell dir vor, eure Suche in Bergmoosbach war erfolgreich. Ich nehme an, du weißt schon, dass ein Spender für mich gefunden wurde.« Kerstin war völlig aufgelöst vor Freude, als Anna sie am nächsten Vormittag besuchte.

»Ja, ich habe es gehört, es ist eine wunderbare Nachricht.« Sebastian hatte sie am Abend zuvor angerufen und ihr davon erzählt.

»Doktor Sander meinte, der Spender besteht darauf, anonym zu bleiben. Das finde ich sehr schade, ich würde ihm gern danken.«

»Jetzt werde erst einmal wieder gesund. Vielleicht ändert er seine Meinung später noch, dann kannst du ihm immer noch danken.« Anna hatte den Verdacht, dass dieser Spender möglicherweise Matthias war. Dass Sebastian ihn am Tag zuvor so dringend hatte sprechen wollen und kurz darauf die Nachricht die Runde machte, dass ein Spender gefunden war, das schien gut zusammen zu passen.

»Schau, was sie mir geschickt haben.« Kerstin deutete auf das Foto ihrer Fußballmannschaft mit den Unterschriften der Mädchen, das Arndt ihr vorbeigebracht hatte und das an der Wand gegenüber dem Bett hing.

»Alle sind in Gedanken bei dir, das wird dir helfen, schnell wieder gesund zu werden.«

»Heinz Bodekind hat mich auch angerufen, er wird wohl jetzt öfter nach Bergmoosbach fahren.«

»Um Margot Wendelstein zu besuchen, nehme ich an.«

»Die beiden mögen sich.«

»So wie Matthias und du.«

»Wie geht es ihm, Anna?«

»Er würde dich gern mal wieder besuchen.«

»Besser nicht.«

»Aber er liebt dich, Kerstin.«

»Ich liebe ihn auch.«

»Warum stehst du nicht dazu?«

»Weil eine Spende nicht unbedingt bedeutet, dass ich gesund werde. Es kann noch so viel passieren, weißt du. Ich möchte nicht, dass Matthias sich mit einer kranken Frau belastet.«

»Und Arndt?«

»Arndt ist ein guter Freund. Wenn ich dazu in der Lage wäre, dir zu helfen, dann würde ich keine Sekunde zögern, dich zu retten, hat er mir erst gestern versichert.«

»Du willst also tatsächlich mit diesem Mann dein Leben verbringen?«

»Darüber denke ich nach, wenn ich weiß, ob ich überhaupt noch ein Leben haben werde.«

»Du schaffst das«, machte Anna ihr erneut Mut.

»Wir werden sehen. Die nächsten Tage werde ich keinen Besuch empfangen dürfen. Mein Immunsystem wird heruntergefahren, damit mein Blut die Spenderzellen nicht gleich wieder vernichtet«, sagte Kerstin, als Anna sich bald darauf von ihr verabschiedete.

»Wir denken an dich«, versicherte ihr Anna und nahm sie noch einmal in die Arme.

Den Zeitungsartikel, den Emilia ihr gezeigt hatte, erwähnte sie nicht. Wenn Kerstin an Arndt glauben wollte, dann durfte sie ihr diesen Glauben jetzt nicht nehmen. Emilia hatte auch mit ihrem Großvater, Traudel und Gerti gesprochen, ob jemand Arndt am Tag des Testes in Bergmoosbach gesehen hatte, aber niemand konnte sich daran erinnern. Sebastians Bemerkung, dass er sich überall testen lassen konnte oder auch nicht, deutete Anna damit, dass er mehr wusste, aber nicht darüber sprechen konnte. Aber was auch immer sie in den nächsten Tagen über Arndt Weißmüller herausfanden, sie und die Seefelds hatten beschlossen, Kerstin auf keinen Fall damit zu belasten. Sie benötigte ihre ganze Kraft, um die Behandlung gut zu überstehen.

In Bergmoosbach hatte sich die gute Nachricht schnell herumgesprochen und Kerstins Gesundheitszustand war erst einmal das wichtigste Thema im Dorf. Matthias ging vier Tage lang jeden Morgen vor der Sprechstunde zu Sebastian in die Praxis und ließ sich von ihm die notwendigen Spritzen geben. Als es dann soweit war, fuhr er in die Klinik zu Doktor Sander und spendete das Blut, das Kerstin retten sollte. Zwei Wochen später erhielt Sebastian während seiner Vormittagssprechstunde den erlösenden Anruf. Kerstin war auf dem Weg der Besserung. Er rief sofort Anna an, und sie verabredeten, Kerstin am Abend zu besuchen, danach sprach er mit Matthias, der vor Freude über diese Nachricht erst einmal kein Wort herausbrachte.

»Wenn ich sie doch nur sehen könnte, wenigstens für einen Augenblick«, sagte er, als er sich wieder gefangen hatte.

»Anna und ich fahren heute Abend zu ihr, wir werden ihr ausrichten, dass du an sie denkst«, versprach ihm Sebastian.

*

»Ohne dich wäre es vermutlich nicht gut ausgegangen«, sagte Anna, als Sebastian ihr auf dem Parkplatz der Klinik aus dem Auto half.

»Wir haben alle unseren Teil dazu beigetragen. Ohne dich hätte ich gar nicht erfahren, dass Kerstin krank ist. Nur wegen der Bänderdehnung hätte ich sie sicher nicht in die Klinik eingewiesen.«

»Du gehörst also nicht zu den Ärzten, die Menschen in die Augen schauen und wissen, was sie haben?«

»Ich kann erkennen, ob jemand müde, erschöpft, vielleicht sogar krank ist, aber nicht mehr. Obwohl, nein, das ist doch noch nicht alles.« Sie ist wunderschön, dachte er und betrachtete die junge Frau in der roten Jeans und dem weißen Seidenpulli, die ihr langes brünettes Haar zurückwarf und ihn mit ihren geheimnisvollen grünen Augen anschaute.

»Was kannst du noch sehen?«, fragte Anna und versank in seinen hellen grauen Augen.

»Manchmal kann ich das Feuer der Seele erkennen«, flüsterte er und streichelte über ihr Haar.

»Dann solltest du achtgeben, dass es keine Flammen schlägt und du dich daran verbrennst.«

»Irgendwann werde ich dieses Risiko eingehen.«

»Ich habe Kerstin unseren Besuch angekündigt, gehen wir zu ihr«, sagte Anna, weil sie seinem Blick nicht länger standhalten konnte.

Als sie wenig später Kerstins Zimmer betraten, war Arndt schon bei ihr. Kerstin saß aufrecht im Bett, war längst nicht mehr so blass wie noch vor zwei Wochen und schien auch nicht mehr ganz so zerbrechlich.

»Arndt und ich haben uns gerade verlobt«, verkündete sie und zeigte Anna und Sebastian den Ring mit dem kleinen Diamanten, den Arndt ihr an den linken Ringfinger gesteckt hatte.

Ich finde immer noch, dass er der Falsche ist, dachte Anna, gratulierte den beiden aber dann ebenso freundlich, wie Sebastian es tat.

»Wir haben in den letzten Wochen unseren Umsatz ordentlich steigern können. Die Leute kommen aus der ganzen Stadt, um bei uns zu kaufen und zollen mir ihren Respekt, wegen meiner Treue zu dir«, erzählte Arndt voller Stolz. »Die Leute hören es einfach zu gern, wenn ich Ihnen versichere, dass ich alles für meine geliebte Kerstin tue.«

»Was genau meinen Sie mit Alles?«, fragte Anna. Sie konnte dieses selbstgefällige Gerede kaum noch ertragen.

»Alles bedeutet, dass ich für meine Kleine an meine Grenzen gehen würde«, antwortete Arndt und streichelte Kerstin über das Haar.

»Aha, bis nach Bergmoosbach, um sich als möglicher Spender registrieren zu lassen, haben Sie es aber nicht geschafft.« Anna wurde erst klar, was sie da gerade ausgesprochen hatte, als Sebastian sie verblüfft anschaute.

»Stimmt das?«, fragte Kerstin und sah Arndt prüfend an.

»Bergmoosbach ist nicht der Nabel der Welt, Schatz.«

»Dann hast du dich woanders testen lassen? Hier im Krankenhaus oder in München, richtig?«

»Ich äh …«

»Wenn Sie sich nicht mehr erinnern können, wo es war, kein Problem. Ich könnte es über die Datenbank herausfinden.« Sebastian zückte sein Telefon und stellte eine Verbindung zum Internet her. So einfach würde er Arndt Weißmüller nicht davonkommen lassen, zumal er Kerstin nun die Augen über diesen Mann öffnen konnte, ohne seine ärztliche Schweigepflicht zu verletzen.

»Du hast dich nicht testen lassen«, stellte Kerstin unendlich enttäuscht fest. Sie kannte Arndt lange genug, sie wusste, dass er gerade nach Ausflüchten suchte, weil es ihm unangenehm war, die Wahrheit zuzugeben.

»Ich sagte, ich tue alles für dich, was mir möglich ist.«

»Dieser harmlose kleine Test wird doch im Rahmen Ihrer Möglichkeiten gewesen sein«, sagte Anna.

»Aber nicht das, was vielleicht danach gekommen wäre. Auch wenn das Risiko eines Spenders gering sein mag, es bleibt ein Risiko. Ich bin nicht verantwortlich für Kerstins Krankheit, warum sollte ich also mein eigenes Leben aufs Spiel setzen?«

»Weil Menschen, die sich lieben, über diese Art Risiko hinwegsehen«, erwiderte Anna und schüttelte über Arndts Ausflüchte den Kopf.

»Verzeihung, ich komme wohl ungelegen«, entschuldigte sich Matthias, der in diesem Moment das Zimmer betrat.

»Du kommst nicht ungelegen, Matthias.« Auch wenn Kerstin dagegen angekämpft hatte, sie hatte ständig an Matthias gedacht. Als sie ihn nun wieder vor sich sah, wurde die Sehnsucht nach ihm unermesslich groß. »Arndt, ich möchte, dass du gehst«, sagte sie.

»Aber Liebling, wir sind verlobt.«

»Nein, sind wir nicht.« Sie zog den Ring mit dem Diamanten wieder von ihrem Finger und gab ihn Arndt zurück.

»Du solltest es dir noch einmal überlegen. Bei mir wärst du gut aufgehoben, ich würde mich auch um dich kümmern, wenn es dir wieder schlechter geht.«

»Mit einem täglichen Bericht in der Zeitung? Sehen Sie nur, wie aufopfernd Arndt Weißmüller sich um die Todgeweihte kümmert?«, fragte Anna.

»Was meinst du damit?«, wollte Kerstin wissen.

»Das meine ich.« Anna gab ihr ihr Telefon und rief den Zeitungsbericht auf, den Emilia ihr vor zwei Wochen gezeigt hatte.

»Verschwinde, Arndt«, forderte Kerstin ihn nun ganz energisch auf.

»Kerstin, übereile nichts.«

»Geh!«

»Bitte sehr.« Sebastian hielt ihm die Tür auf, als er sich nicht länger widersetzte.

»Und Sie …«

»Was? Habe ich irgendetwas gesagt, was ich nicht hätte sagen dürfen?«

»Machen Sie doch, was Sie wollen«, schnaubte Arndt und rauschte davon.

»Ich habe es nicht mehr ausgehalten, Kerstin, ich wollte einfach nur sehen, wie es dir geht. Du siehst schon so viel besser aus«, sagte Matthias.

»Ich bin froh, dass du hier bist«, antwortete sie, und als er zu ihr ans Bett kam, umfasste sie seinen linken Arm in Höhe des Ellbogens und drückte ihn sanft. »Was ist?«, fragte sie, als er kurz zusammenzuckte.

»Nichts, es ist alles gut«, versicherte er ihr.

»Nein, ist es nicht«, erwiderte sie, als Anna ihr zunickte. »Matthias?«, fragte sie erstaunt, als sie den Ärmel des weißen T-Shirts vorsichtig hochgeschoben hatte und den Bluterguss um die Einstichstellen in seiner Armbeuge sah.

»Ich habe keine besonders guten Adern«, sagte er, als sie auch den anderen Ärmel hochschob und sich ihr derselbe Anblick bot.

»Ihr habt sicher einiges zu besprechen, auf bald«, verabschiedete sich Anna.

»Nehmt euch Zeit, miteinander zu reden«, bat Sebastian die beiden und verließ mit Anna das Zimmer.

»Du hast das auf dich genommen, obwohl ich dich fortgeschickt habe«, flüsterte Kerstin, und die Tränen traten ihr in die Augen.

»Ich liebe dich, Kerstin, ich will, dass du lebst und glücklich bist. Auch wenn du nicht mit mir glücklich sein kannst und einen anderen Mann liebst, heißt das nicht, dass ich nichts mehr für dich empfinde.«

»Ich möchte aber nichts lieber, als mit dir glücklich zu sein. Das wollte ich, seitdem wir uns wieder getroffen haben.«

»Und Arndt?«

»Ich habe ihn nie wirklich geliebt, Matthias.«

»Warum wolltest du dann mit ihm zusammen sein?«

»Weil ich dich liebe.«

»Was genau soll das denn heißen?«

»Das heißt, dass ich deinem Glück nicht im Weg stehen wollte«, sagte sie und erzählte ihm von ihrer Angst, dass er mit ihr an seiner Seite den Traum von seiner Weltreise nicht mehr in die Tat umgesetzt hätte.

»Dieser Traum wird kein Traum bleiben, wir beide werden ihn gemeinsam Wirklichkeit werden lassen.«

»Du willst immer noch mit mir die Welt bereisen?«

»Ja, das will ich, nachdem …«

»Nachdem?«, hakte sie leise nach, als er innehielt.

»Nachdem du meine Frau geworden bist. Willst du meine Frau werden, Kerstin?«, fragte er und nahm sie zärtlich in seine Arme.

»Ja, Matthias, ich will«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Brust. Ich bin endlich angekommen, dachte sie und fühlte sich vollkommen glücklich.

*

»Woher wusstest du es?«, wollte Sebastian von Anna wissen, als sie über den Parkplatz zu seinem Auto gingen. Ihm war nicht entgangen, wie sie Kerstin dazu ermuntert hatte, Matthias‘ kurzem Schmerz auf den Grund zu gehen.

»Ich war mit Matthias im Café, als du ihn zu dir in die Praxis gerufen hast. Am Abend hieß es dann, dass ein Spender gefunden wurde.«

»Das war dann wohl keine große Herausforderung mehr für dich.«

»Nein, war es nicht.«

»Traudel möchte, dass du heute mit uns zu Abend isst.«

»Nur Traudel?«

»Nein, wir alle«, antwortete Sebastian und betrachtete sie mit einem liebevollen Lächeln.

Noch bevor sie das Haus der Seefelds erreichten, erhielt Anna einen Anruf von Kerstin, die ihr von Matthias‘ Heiratsantrag erzählte und dass er es war, der sie gerettet hatte. Jetzt war es offiziell, und jeder durfte es wissen.

An diesem Abend brannte noch lange Licht in der Küche der Seefelds, und da es ein Freitag und am nächsten Tag keine Schule war, durfte auch Emilia länger aufbleiben.

»Es gibt noch ein Happy End, das auch Papa zu verdanken ist«, erzählte Emilia, als sie in diesem Moment eine SMS von Lizzy erhielt.

»Was ist ihm denn noch gelungen?«, fragte Anna und streifte Sebastian mit einem zärtlichen Blick.

»Lizzy hat sich gewünscht, dass ihre Eltern ein bisschen mehr Zeit mit ihr verbringen, so wie Papa mit mir. Ich habe ihr geraten, dass sie ihnen das so lange sagen muss, bis sie es begreifen. Das hat sie wohl gemacht. Sie ist gerade mit ihnen in Wien und sie ist super happy, weil sie sich schon mit ihrem Freund treffen durfte, der dort wohnt.«

»Und das ist mein Verdienst?«, fragte Sebastian.

»Wuff«, machte Nolan, der langausgestreckt neben Emilias Stuhl lag.

»Da hast du die Antwort, mein Sohn«, sagte Benedikt, und dann mussten alle über Nolans passenden Kommentar herzlich lachen.

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