Читать книгу Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 37
ОглавлениеDie Hintertür der gemütlichen Landhausküche im Doktorhaus wurde schwungvoll aufgerissen, und ein junges Mädchen trat ein. »Hallo, Familie!« Schulrucksack und Schuhe landeten im Abstellraum, man hörte Wasser zum Händewaschen rauschen und gut gelauntes Plaudern. »Ratet mal, was wir ab jetzt neu in Bergmoosbach haben!« Emilia Seefeld, die vierzehnjährige Tochter des jungen Landdoktors, schaute auffordernd in die Runde, die am gemütlichen alten Eichentisch saß.
Traudel Bruckner, langjährige Haushälterin und das Herz der Familie, lächelte freundlich. Obwohl sie bereits wusste, was in Zukunft mit zur Bergmoosbacher Gemeinschaft gehören würde, sagte sie: »Na, Madl, erzähl mal. Worüber freust du dich denn so?«
»Wir bekommen ein ganz tolles Buchgeschäft!«, informierte das junge Mädchen sie. »So eines, wo man sitzen und lesen kann, wo es auch Kaffee und selbstgebackene Kleinigkeiten gibt. Die Frau, die diesen Laden eröffnen will, zieht gerade ein. Sie hat das Haus von Frau Bräuer gemietet; ihr wisst schon, wo früher der Friseursalon Glamour von dieser zickigen Lisa gewesen ist.«
Die Erwachsenen am Tisch wechselten einen raschen Blick. Die Friseurin Lisa Ecker und ihr intrigantes Lügengespinst, das für großen Kummer gesorgt hatte, waren ihnen noch allzu gut in Erinnerung.
»Schön, dass jetzt neues Leben in diese Räume einzieht«, sagte Benedikt Seefeld, der Vater des jungen Landdoktors, zufrieden.
»Wird bestimmt gut, wenn man von der Besitzerin auf ihren Laden schließen kann«, antwortete Emilia und bediente sich ausgiebig vom leckeren Kartoffel-Gurken-Salat und dem Geselchten. Sie grinste verschmitzt. »Auffallen wird er bestimmt! Diese Elisabeth Faber, der er gehört, fällt auch auf.«
»Klingt interessant! Ich bin gespannt darauf, diese neue Bergmoosbacherin kennenzulernen«, erwiderte ihr Vater Sebastian.
Dieses Kennenlernen sollte schneller als gedacht erfolgen, und der Anlass dazu waren ein zu Tode erschreckter Junge, sein Mountain Bike und dessen defekte Bremse.
Elisabeth Faber stand vor dem Haus, das sie gemietet hatte, und strahlte. Sie war eine Frau mit sahneweißer Haut, gesprenkelt mit unzähligen, feinen Sommersprossen, grau-blauen Augen und einer wilden, roten Lockenmähne, die sie zu einem Ährenzopf geflochten hatte. Sie trug einen langen Rock aus flatterndem, schwarzem Stoff, unter dem ein Tüllunterrock und altmodische Knopfstiefeletten hervor blitzten, ein weißes Männerhemd mit aufgekrempelten Ärmeln und einen Glockenhut, an dem eine Rose aus zerknitterter, dunkelgrüner Seide prangte.
»Jesses!«, war der einzige Kommentar, welcher der Kioskbesitzerin Afra beim Anblick der eigenwillig gekleideten Frau einfiel. »Eine Zigeunerin.«
»Ja, sehr hübsch, gell?« Traudel, welche gerade neue Zeitschriften für die Praxis gekauft hatte, lächelte amüsiert. »Sie weiß halt, was sie mag und was ihr steht. Das ist eine Frau, die in ausgefallener Kleidung genauso gut ausschaut wie im Dirndl.«
»Die im Dirndl? Nie im Leben!«, antwortete Afra entschieden.
»Abwarten!« Traudel nahm die Zeitschriften in Empfang und ging zum Doktorhaus hinüber. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie die Frau beide Arme weit ausbreitete und sich spielerisch im Kreis drehte.
Es war eine freundliche Willkommensgeste, mit der Elisabeth Faber ihre neue Heimat begrüßte. Vom ersten Augenblick hatte sie die bewaldeten Hügel, den rauschenden Bach, der sich in den Sternwolkensee ergoss, die saftigen Weiden und das Alpenpanorama im Hintergrund geliebt. Die Häuser mit ihren tief herabgezogenen Dächern und umlaufenden Balkonen, den Marktplatz mit seinem Kopfsteinpflaster und dem alten Brunnen, die ruhige Herzlichkeit der Menschen. Hier kann ich neue Wurzeln schlagen, hatte sie gedacht, als sie in den Ort im Allgäu zurückkehrte, in dem sie als Kind ihre Ferien verbracht hatte.
Jetzt war sie wieder hier, als gestandene Frau von Ende Dreißig, mit Lebenserfahrung und Zukunftsplänen im Gepäck. Sie musterte kritisch die Bank, die vor den Schaufenstern ihres zukünftigen Geschäftes stand. Das ursprüngliche schreiende Pink, in dem sie gestrichen worden war, hatten Sonne und Regen zu einem angenehmen Altrosé verblassen lassen.
»Du kannst erst einmal so bleiben, ich habe genug anderes zu streichen«, murmelte die junge Frau halblaut vor sich hin. »In die Blumenkübel rechts und links von dir pflanze ich weiße Blumen, dann passt das schon.«
»Du führst also immer noch Selbstgespräche!«, sagte plötzlich eine tiefe, warme Männerstimme in ihrem Rücken.
Elisabeth fuhr überrascht herum. »Henning!«
»Ich freu mich auch, dich zu sehen, Elli«, antwortete der Mann. Er beobachtete zärtlich-amüsiert ihre offensichtliche Verwirrung.
Elisabeth holte tief Luft. »Henning! Was tust du denn hier in Bergmoosbach?«
»Dich besuchen, Elli.« Seine braunen Augen waren genauso warmherzig wie sein Lächeln. »Und schauen, wie du dir deinen alten Traum vom eigenen Buchgeschäft erfüllst.«
Inzwischen hatte die junge Frau sich von ihrer anfänglichen Überraschung erholt. In einer unbewussten Abwehrgeste verschränkte sie die Arme vor der Brust. »Woher weißt denn du von meinen Plänen?«
Sein freundliches Lächeln gewann an Tiefe und Ernsthaftigkeit. »Ich habe in dem Buchhandel in Rosenheim nachgefragt, in dem du gearbeitet hast. Dort sagte man mir, dass du nach Bergmoosbach ziehen und ein eigenes Geschäft eröffnen willst.«
»So, sagte man das.« Elisabeth runzelte leicht die Stirn. »Und weshalb interessiert es dich überhaupt?«
Sein Blick hüllte sie in Aufrichtigkeit und Wärme ein. »Weil du es bist, Elli! Ich möchte wissen, wie es dir geht, wie du lebst.«
»Gut, danke der Nachfrage!«, antwortete sie kurz angebunden und wies auf den weißen Umzugswagen, den sie gemietet hatte. »Wie du siehst, habe ich viel zu tun. Servus, Henning.« Sie wandte sich ab und wollte zu den Freunden hinübergehen, die den Transport ihrer Sachen begleitet hatten.
»Ähm, wart doch mal, nicht so schnell, Elli!«, rief er. »Kannst du nicht Hilfe gebrauchen?«
Die junge Frau drehte sich mit schwingenden Rocksäumen um und musterte den Mann: seine schlanke Erscheinung, die gepflegte, helle Sommerkleidung, die glänzenden Schuhe aus teurem Leder. »Der Herr Astrophysiker Doktor Henning Faber will Möbel und Bücherkartons schleppen?«, fragte sie mit einem gewissen Spott in der Stimme.
»Elli, ich bitte dich! Nur weil ich Wissenschaftler bin und mein Geld mit Kopfarbeit verdiene, bin ich noch lange kein Weichei, das im praktischen Leben nicht mit anpacken kann!«
»Ach? Und was war das mit …?«
Gellende Schreie unterbrachen den Satz der jungen Frau. »Weg, weg, weg!« Alles geschah blitzschnell, und in einem Wirbel aus blitzenden Fahrradspeichen, einem vor Entsetzen verzogenen Kindergesicht, einem fliegenden Körper und Ellis jähem Sturz auf das Pflaster!
Für einen Moment herrschte lähmende Stille, dann klang lautes Wehgeschrei aus der Hecke, in welcher der junge Radfahrer gelandet war: »Aua, aua, mein Bein, mein Bein!«
»Elli! Ist dir etwas passiert?« Henning kniete neben der jungen Frau, ganz blass um die Nase. »Elli!«
»Ne-nein, mir nicht«, stotterte die junge Frau. Sie schaute auf ihren rechten Arm, welcher der Länge nach aufgeschürft war und blutete. »Es ist nichts gebrochen, das sind nur Hautverletzungen, nichts Schlimmes. Dem Radfahrer ist offensichtlich mehr passiert!«
Hennig half ihr vom Boden hoch und hielt sie ein wenig länger, als dafür nötig gewesen wäre, in den Armen. »Elli, bist du sicher, dass nicht mehr passiert ist?«
»Doch, schon«, murmelte sie. Mit zitternden Knien wankte sie zu der Bank vor ihrem Geschäft und setzte sich. »Das ist nur der Schreck, der arme Unglücksrabe in der Hecke braucht viel mehr Hilfe.«
»Die bekommt er schon«, beruhigte sie der Mann. Er half Elli, die Blutung, so gut es ging, mit Papiertaschentüchern zu stoppen. »Du musst unbedingt zum Arzt, die Wunde muss gereinigt und desinfiziert werden.«
»Ja, gleich«, stimmte sie leise zu. Irgendwie hatte ihr Kopf den altvertrauten Platz an seiner Schulter gefunden, und Elli schloss für einen Moment die Augen. Dann richtete sie sich abrupt auf und rückte ein Stückchen zur Seite. »Lassen wir dem Arzt doch Zeit, sich um den verletzten Jungen zu kümmern.« Die Abschürfung an ihrem Arm brannte zwar wie Feuer, aber sie wusste, dass es nichts Gefährliches war und sie warten konnte.
Der Unfall hatte sich in Sichtweite der Praxis des Landdoktors abgespielt, und Doktor Seefeld war sofort über den Marktplatz gestürmt, um Erste Hilfe zu leisten. Seine junge Sprechstundenhilfe Caro begleitete ihn und assistierte bei der Erstversorgung des weinenden Jungen. Wie er unter Schluchzen hervorstieß, hatten bei seinem alten Fahrrad die Bremsen versagt, und mit immer größer werdender Geschwindigkeit war er die abschüssige Straße mitten in den Verkehr hinein gerast! Um nicht unter ein Auto zu kommen, hatte er das Fahrrad in die Ligusterhecke neben Ellis Geschäft gelenkt und dabei die junge Frau mit zu Boden gerissen.
»Du konntest nichts anderes tun, Bernhard«, sagte Doktor Seefeld beruhigend zu dem Jungen. »Es hätte noch viel, viel Schlimmeres passieren können, du hast einen Schutzengel an deiner Seite gehabt. Zwar hast du dir das Bein gebrochen, aber das wird im Krankenhaus wieder gerichtet, und in ein paar Wochen hast du die ganze Angelegenheit vergessen. Die junge Frau, die du über den Haufen gefahren hast, schaue ich mir gleich an. So wie es aussieht, ist ihr nichts Schlimmes passiert, das ich nicht mit ein paar Pflastern beheben kann.«
Während sich der Landdoktor um den Jungen gekümmert und etwas gegen dessen Schmerzen unternommen hatte, hatte seine Assistentin Caro den Rettungswagen gerufen und die Eltern des Zwölfjährigen informiert. Jetzt kniete die Mutter neben ihrem Sohn, und von der Landstraße herauf hörte man die Sirene des Rettungswagens. »Alles gut, Bernhard! Jetzt sind die Kollegen da und kümmern sich um dich.«
»Es tut mir so leid, ich wollte das doch nicht!«, stammelte der Junge.
»Es war ein Unfall mit einem glimpflichen Ausgang, und niemand macht dir einen Vorwurf! Wenn deine Bremsen versagt haben, dann trifft dich keine Schuld«, antwortete der Landdoktor entschieden. Er trat zur Seite, um Platz für seine Kollegen zu machen. Als der Junge auf der Trage lag und in den Wagen gehoben werden sollte, klopfte er ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Und ich möchte bitte mein Autogramm auf deinen Gips setzen, junger Mann!«
Bernhard grinste ein wenig schief, aber sehr erleichtert zurück. »Klar! Ich komm dann mal bei Ihnen in der Praxis vorbei.«
»Ich bitte darum!« Mit einem freundlichen Lächeln und einem beruhigenden Händedruck für die aufgelöste Mutter wandte Doktor Seefeld sich ab. Sein Blick fiel auf die leicht zerzaust aussehende junge Frau, die mit blutendem Arm auf der Bank hockte. »Guten Tag! Ich bin Sebastian Seefeld, der Arzt hier im Ort. Ich würde mir gern Ihren verletzten Arm anschauen.«
»Hallo! Ich bin Elisabeth Faber, und mir ist nichts wirklich Schlimmes passiert«, antwortete Elli mit einem tapferen Lächeln.
Doktor Seefeld musterte sie eindringlich nach möglichen Anzeichen einer Gehirnerschütterung oder anderen Verletzungen. »Den Arm muss ich gründlich reinigen und desinfizieren. Meine Praxis ist dort drüben, auf der kleinen Anhöhe jenseits des Marktplatzes. Können Sie dorthin gehen?«
»Natürlich.« Elli richtete sich auf und straffte ihren Rücken. »Außer ein paar blauen Flecken und Prellungen hab ich nichts abbekommen.«
»Und die Abschürfungen an deinem Arm, das sieht böse genug aus!«, warf Henning ein.
Elli winkte ab. »Das wird schon wieder! Ich bin gleich drüben bei Ihnen, Herr Doktor.«
»Ich komme mit!« Wie selbstverständlich griff Henning stützend nach ihrem unverletzten Arm.
»Tatsächlich?« Elli musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und entzog sich seinem fürsorglichen Halt. »Solltest du nicht zumindest vorher fragen?« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie hinüber zu ihren Umzugshelfern, gab genaue Anweisungen und schloss sowohl das Geschäft als auch ihre kleine Wohnung darüber auf. Dann klemmte sie sich ihre große Handtasche aus verschlissenem Brokat unter den unverletzten Arm und marschierte unter den interessierten Blicken der Nachbarschaft hinüber in die Arztpraxis.
»Den Schneid lässt sie sich ja nicht abkaufen, die Zugezogene!«, murmelte die alte Frau Beierle, die im Leben schon einiges mitgemacht hatte und sich den Schneid ebenfalls nicht abkaufen ließ.
»Wenn sie diesen Start in ihr Bergmoosbacher Leben heil übersteht, dann wird sie alles andere auch schaffen!«, antwortete Fanny Lechner zuversichtlich. Ihr gehörte der kleine Supermarkt des Ortes, und sie wusste, was es heißt, allein für ein Geschäft sorgen zu müssen.
»Aber man wüsste halt doch gern, wer dieser gut aussehende Mann mit den braunen Haaren ist, der sie jetzt hinüber zum Landdoktor begleitet«, bemerkte die Kioskbesitzerin Afra. Dann bekam sie plötzlich ganz schmale Augen. »Meint ihr, dass sie in ihrem Laden auch Zeitschriften verkaufen wird, so wie ich?«
»Afra, es ist ein Buchladen!«, seufzte Fanny.
»Na und? Wer weiß denn, was ihr noch so einfallen wird, dieser Zugereisten!«, konterte Afra spitz. »Wenn’s Kaffee und Kuchen in ihrem Buchgeschäft geben soll, warum dann nicht auch noch Zeitschriften?«
Fanny schüttelte nur amüsiert den Kopf und ging in ihr Geschäft zurück.
Drüben in der Praxis Seefeld winkte die ältere Sprechstundenhilfe Gerti Fechner die Patientin mit ihrem blutigen Arm gleich durch ins Behandlungszimmer. Zu dem besorgten Mann, der Elisabeth begleitete, sagte sie: »Bitte, nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz, Herr …?«
»Faber, Henning Faber. Ich bin der Ehemann.«
»Hallo?« Ellis Kopf flog herum, und in ihren blau-grauen Augen zog ein Gewittersturm auf. »Mein Ex-Ehemann, bitte sehr! Auf deinen Wunsch hin wurden wir geschieden, schon vergessen?« Für Diskretion hatte sie jetzt nicht die Nerven und knallte die Tür zum Behandlungszimmer hinter sich ins Schloss.
»Ähm …«, Henning Faber räusperte sich und verbarg rasch seine Verlegenheit hinter einer aufgeschlagenen Zeitschrift.
Gerti und Caro waren durch und durch professionelle Mitarbeiterinnen, die nichts gehört hatten. Die vier anderen wartenden Patienten warfen sich bedeutungsvolle Blicke zu. So, so, einen Ex-Mann hatte sie also, diese neue Buchhändlerin! Und zwar einen, der bemerkenswert besorgt ausschaute …
Doktor Seefeld untersuchte seine Patientin sorgfältig auf weitere Verletzungen und versorgte ihren Arm. »Sie hatten Glück im Unglück«, stellte er abschließend fest. »Es ist nichts Ernstes, obwohl diese Hautabschürfungen unangenehm genug sind. Es tut mir leid, dass Sie hier einen derartig schwungvollen Start hatten.«
Elli musste lachen. »Mit ein paar Blessuren zu Beginn kann es doch nur besser weitergehen, oder? Ich habe jedenfalls nicht vor, beim Streichen der Wände von der Leiter zu fallen oder ein Elektrokabel anzubohren!«
»Das ist lobenswert!« Ein jungenhaftes Grinsen spielte auf Sebastians markanten Gesichtszügen, aber dann wurde er wieder ernst. »Haben Sie schon Kontakte zu den Nachbarn hier geknüpft? Gibt es Menschen, die Sie um Hilfe bitten können, wenn Sie welche brauchen?«
»Ja, ich kenne die Hebamme Anna Bergmann von früher, und mit dem Zimmermann Benjamin Lauterbach habe ich auch schon Kontakt aufgenommen. Die Eingangstür vom Laden ist völlig verzogen, das bekomme ich allein nicht hin.«
»Anna Bergmann und Ben Lauterbach«, wiederholte der Arzt mit einem leisen Lächeln. »Dann kann nichts mehr schiefgehen!«
»Sie kennen sie?«
Sebastian Seefeld nickte. »Anna ist nicht nur eine ausgezeichnete Kollegin, sondern auch eine sehr gute Freundin der Familie. Und Ben Lauterbach ist ein sympathischer, erfahrener Zimmermann, an dessen Arbeiten Sie Ihre Freude haben werden.«
Elli musterte den Arzt nachdenklich. »Hier scheint wohl jeder jeden zu kennen, oder?«
»So in etwa«, schmunzelte Sebastian. Er legte die letzte Kompresse auf und fixierte den Verband. »Bitte kommen Sie morgen zum Verbandwechsel, wir müssen jeden Tag schauen, ob sich die Wunden entzünden oder gut abheilen. Und überanstrengen Sie sich nicht beim Tragen, Pinseln und Renovieren!«
»Bestimmt nicht!« Elli erwiderte seinen festen Händedruck und rückte den alten Hut auf ihrem üppigen Haarschopf zurecht. »Jetzt wird erstmal zu Ende ausgeladen, und danach gehen meine fleißigen Umzugshelfer und ich in den Biergarten auf eine zünftige Brotzeit! Die haben wir uns dann redlich verdient!«
»Guten Appetit!«, wünschte der Landdoktor und verabschiedete seine Patientin.
Elli ließ sich einen Termin für den Verbandwechsel geben und wollte dann gehen, als sie ihren früheren Ehemann im Wartezimmer entdeckte. »Du bist ja immer noch hier?«
»Ich wollte wissen, wie es dir geht, und dich nach Hause begleiten, wenn es dir recht ist«, antwortete Henning Faber so würdevoll wie möglich.
Elli schaute ihm fest in die Augen, deren samtiges Dunkel ihr früher einmal Schmetterlinge in den Bauch gezaubert hatte. »Danke der Nachfrage, es geht mir gut. Und mein Heimweg ist weder so lang noch so gefährlich, als dass ich deine Begleitung brauche. Ich komme sehr gut allein zurecht! Servus, Henning!« Sie nickte ihm nicht unfreundlich, aber sehr entschieden zu und ließ ihn bei der alten Ulme vorm Praxiseingang stehen.
Henning Faber ließ sich auf die weiß gestrichene runde Bank sinken, welche den mächtigen Baumstamm umspannte, und schaute seiner ehemaligen Frau mit einem unergründlichen Blick hinterher. Irgendwann stieß er einen tiefen Seufzer aus und strich sich mit einer unbewussten Geste durch sein dichtes, glänzendes Haar. »Ach, Elli, worauf habe ich mich damals bloß eingelassen«, murmelte er. Tief in Gedanken versunken machte er sich auf den Weg zurück in sein Hotel am schönen Sternwolkensee.
*
Benjamin Lauterbach packte sein Werkzeug zusammen und ließ die Eingangstür des Ladens ins Schloss fallen. Der Zimmermann nickte zufrieden, die Tür ließ sich widerstandslos öffnen und schließen. »Ich bin fertig, Frau Faber, und gehe jetzt«, rief er zur Leiter hinauf, auf der Elisabeth arbeitete.
»Prima, danke, Herr Lauterbach!« Elli strahlte ihn an. »Ich freue mich, dass Sie so schnell kommen konnten, und auch, dass die Ausbesserungsarbeiten dann doch nicht so umfangreich waren wie befürchtet.«
Ben Lauterbach lachte verschmitzt. »Ja, das war ausnahmsweise anders herum, als man es sonst von Handwerkern gewohnt ist.«
»Bis hoffentlich bald, Herr Lauterbach!«, rief Elli von der Leiter und winkte mit ihrem Farbpinsel. Sie zwinkerte ihm vergnügt zu. »Ich habe auch eine Abteilung mit wunderschönen Kinderbüchern.«
Er winkte zurück. »Meine Frau und ich kommen bestimmt, und dann werden wir mit unseren Zwillingen Ihre Kinderecke unsicher machen.«
»Bange machen gilt nicht!«, lachte Elli zum Abschied. Dann wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu und verteilte konzentriert den Rest der blauen Wandfarbe. Sie beachtete nicht weiter, dass ein Besucher ihren Laden betrat und sich interessiert umschaute.
Henning Faber stand in der geöffneten Tür und bewunderte das, was seine geschiedene Frau aus dem ehemaligen Friseursalon gemacht hatte. Den scheußlichen Fußbodenbelag hatte sie herausgerissen und die alten Holzdielen freigelegt. Alle Wände waren in einem tiefen, leuchtenden Königsblau gestrichen, vor dem teilweise bereits schlichte, weiße Bücherregale aufgebaut worden waren. Türen und Fensterrahmen waren weiß lackiert, und um den wohnlichen Charakter ihres Geschäftes zu unterstreichen, wollte Elli naturfarbene Baumwollvorhänge neben die Schaufensterscheiben hängen. Die schlichte silberne Gardinenstange hatte sie schon angebracht. In einer Ecke des Raumes waren silberne Sterne und ein Halbmond an die Decke gemalt.
Jetzt bemerkte Elli den Mann und winkte ihm von ihrer Leiter aus zu. »Hallo, Henning! Nur noch ein paar Pinselstriche, dann bin ich fertig.« Sie klang sehr zufrieden.
»Es sieht jetzt schon toll aus, Elli!«, antwortete er mit aufrichtiger Bewunderung.
»Hat auch sehr viel Arbeit bedeutet!«, entgegnete sie. Ihre grau-blauen Augen funkelten amüsiert. »Es gibt diese Romane, in denen Frauen einen heruntergekommenen Laden renovieren, und wie durch Zauberei ist alles mit einem Eimer voller leuchtender Farbe erledigt.«
Henning schaute zu ihr auf. Sie trug Latzhose und altes T-Shirt, beides ursprünglich weiß und nun mit blauer und silberner Farbe gesprenkelt. Ihre wilden Locken hatte sie mit einem bunten Schal im Nacken gebändigt, und auf ihrer hübschen Nasenspitze prangte ein dunkelblauer Farbklecks.
Seine Augen lächelten. »Du hast Farbe im Gesicht«, sagte er zärtlich.
»Das hat die Heldin im Roman auch immer, und dann fällt sie von der Leiter direkt in die Arme ihres Liebsten«, antwortete Elli trocken und stieg unfallfrei auf den Fußboden herab.
»Und dann küssen sie sich?« Hennings Stimme war angenehm wie sanftes Streicheln.
»Ja – im Roman!« Elli schob ihn mit dem Ellbogen zur Seite und setzte ihren leeren Farbeimer ab. »Vorsicht, dass du deine hellen Klamotten nicht beschmierst!«
Henning hob in gespielter Verzweiflung die Hände in die Luft. »Elli, du warst schon immer zupackend und praktisch, aber bist du jemals so unromantisch gewesen?«
Sie zuckte kurz mit den Schultern, und jetzt war ihr neckender Tonfall nicht ganz frei von Schärfe. »Keine Ahnung, ich erinnere mich nicht so genau.« Dann schaute sie ihn fest an. »Du bist gekommen, um mir zu helfen? Gut, dann trage bitte die Leiter und mein Malerwerkzeug in den alten Schuppen hinten im Hof.«
»Das will ich gern tun, aber zunächst möchte ich wissen, wie es dir geht, Elli. Was macht dein Arm? Und spürst du noch anderes, das dir vielleicht zunächst nicht aufgefallen ist?«
Überrascht von seinem plötzlichen Interesse antwortete die junge Frau: »Ein paar blaue Flecke, das ist alles. Und die Abschürfungen heilen gut, Doktor Seefeld ist sehr zufrieden. Was fällt mir sonst noch auf? Dass ich einen Mordshunger habe! Ich setz mich gleich raus und esse Leberkäsesemmeln. Wenn du magst, setz dich zu mir.«
»Du frühstückst also immer noch nicht vernünftig!«, stellte der Mann kopfschüttelnd fest.
Elli sah aus, als ob sie dazu etwas zu sagen hätte, aber dann klappte sie den Mund wieder zu und marschierte wortlos mit Semmeltüte und Wasserflasche aus ihrem Laden.
Nachdem Hennig Leiter und Handwerkszeug im Schuppen verstaut hatte, setzte er sich zu der jungen Frau hinaus auf die Hausbank vor ihrem Schaufenster. Auf eine Leberkäsesemmel hatte er zwar keinen Appetit – »Danke, im Gegensatz zu dir habe ich morgens reichlich gefrühstückt!« –, aber er schien trotzdem gern zu bleiben und ihr beim Schmausen zuzuschauen.
Elli saß im Schneidersitz auf ihrer Bank und ließ sich nach getaner Arbeit die Semmel gut schmecken. Es ging bereits auf die Mittagszeit zu, und auf den Straßen des kleinen Ortes herrschte reger Betrieb. Touristen bummelten und fotografierten, Einheimische gingen einkaufen, holten ihre Kleinen vom Kindergarten drüben bei der Kirche ab oder führten ihre Hunde aus. Das sommerliche Bild der idyllischen Gassen wurde nur wenig getrübt durch die Anhäufung von Sperrmüll, denn heute war der halbjährliche Abfuhrtermin. Altes, Zerbrochenes und Kartons häuften sich an den Straßenrändern.
Henning schaute seine Ex-Frau von der Seite an. »So wie ich dich kenne, bist du bestimmt schon losgezogen, um nach versteckten Schätzen Ausschau zu halten.«
Elli grinste. »Natürlich! Ich habe einen tollen alten Spiegel gefunden, der kommt ins Geschäft. Und einen alten Pflanztisch aus Metall, wunderschön und nur mäßig verrostet. Der steht schon im Hinterhof. Ich sage dir, in einem Jahr habe ich den in einen verzauberten Garten verwandelt!«
»Glaube ich dir aufs Wort!« Henning sah die funkelnden Augen seiner ehemaligen Frau und wusste, welche Bilder jetzt durch ihren Kopf zogen. Es berührte ihn tief zu erkennen, wie vertraut sie ihm in allen schicksalhaften Veränderungen geblieben war. Ihre Träume und Wünsche, ihre Vorlieben und Abneigungen –, er kannte sie alle. Verwundert stellte er fest, wie bei diesem Gedanken sein Herz schneller zu schlagen begann. Vier Jahre waren seit der unglückseligen Trennung vergangen, und er fühlte sich Elisabeth so nah wie in ihrer gemeinsamen Zeit.
»Elli?«, begann er tastend. Wie von selbst verfing sich eine ihrer lockigen Haarsträhnen in seiner Hand. Das vertraute, seidige Gefühl in seinen Fingerspitzen durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag. »Es war nicht alles schlecht mit uns, nicht wahr?«
»Hm?«, machte Elli. Weder ihre Gedanken noch ihr Blick waren auf ihren Ex-Mann gerichtet, sie begutachtete gerade einigen Krimskrams, der in wenigen Metern Entfernung am Straßenrand stand. »Guck mal, ist dieser alte Nähtisch nicht wunderhübsch? Der hat heute in der Früh noch gar nicht hier gestanden.« Sie sprang auf und ging zu dem kleinen verschrammten Möbelstück mit den Messingknöpfen an der Schublade. »Der ist doch zauberhaft, diese Möbel gibt es heutzutage gar nicht mehr! Den poliere ich mir auf, und dann wird es der perfekte Nachttisch neben meinem großen Metallbett!«
Henning unterdrückte einen Seufzer und ging zu Elli hinüber, die einige Kartons zur Seite räumte, um an ihr Schätzchen heranzukommen. Das große Sperrmüllauto war schon bis auf wenige Meter herangekommen, unter grässlichem Knirschen und Krachen der Presse wurden die abgestellten Sachen vernichtet.
Traudel vom Doktorhaus kam gerade mit Nolan, dem jungen Familienhund, vorbei, als Elli den kleinen Nähtisch vom Straßenrand zurücktrug. »Na, haben Sie noch etwas Schönes gefunden?«, versuchte sie, den Lärm der Presse zu übertönen.
Elli nickte begeistert.
»Nolan, komm weiter!«, befahl Traudel dem heftig bellenden Junghund. »Der Lärm hier macht dich ja ganz verrückt.«
Aber Nolan gehorchte nicht, sondern tobte weiter an der kurzen Leine herum und bellte wie verrückt in Richtung der Kartons. Es war der kleine, braune, mit Paketband fest umwickelte, der seine Aufmerksamkeit erregte. Wie wild versuchte er, den zu erreichen.
»Jetzt holen Sie mal Ihren Hund hier weg, das Gebell macht einen ja ganz narrisch!«, knurrte einer der Müllmänner böse und begann, die Kartons und anderen Kleinkram in die Presse zu werfen.
Verzweifelt heulte Nolan auf und versuchte, sich loszureißen.
Dann fiel bei Elisabeth der Groschen! »Er meint diesen hier!«, schrie sie und riss den kleinen Karton im letzten Augenblick aus den Händen des Müllmanns. Der zuckte nur die Achseln, legte den Hebel um, und die Presse begann von neuem ihr Zerstörungswerk.
»Meine Güte, was war das denn?« Ratlos schaute Henning von einem zum anderen.
»Keine Ahnung! So hat Nolan sich noch nie aufgeführt«, antwortete Traudel. Der Hund saß jetzt brav am Straßenrand, die Ohren gespitzt und seine wachen Augen wie gebannt auf Elli und die Schachtel in ihren Händen gerichtet.
»Irgendetwas ist hier drinnen, das er gewittert haben muss!«, sagte Elli. »Aber was? Der Karton wiegt so gut wie nichts, was kann da schon drinnen sein?« Entschlossen entfernte sie die Klebestreifen, klappte den Deckel auf – und schnappte entsetzt nach Luft. In dem Kasten lag halb erstickt und bewegungslos ein winziges schwarzes Katzenkind! »Wer tut denn so etwas? Das Kleine wäre in der Presse gelandet, wenn wir es nicht im letzten Augenblick gefunden hätten!« Voller Mitleid hielt sie das Kätzchen in ihren Händen. Es war so winzig und zerbrechlich, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Nolan stand jetzt dicht neben ihr und versuchte, einen Blick auf das zu erhaschen, was die Frau in ihren Händen hielt. Elli senkte ihre Hände und hielt dem jungen Hund das stille Kätzchen entgegen.
Nolan beschnupperte es von allen Seiten, stupste es ganz sanft mit der Nase an, und dann begann er vorsichtig, das winzige Kätzchen zu lecken. Und die Menschen trauten ihren Augen und Ohren nicht! Das fast schon leblose Tierchen streckte sich, kringelte sich der warmen Berührung durch die Hundeschnauze entgegen und begann, leise, aber unüberhörbar zu schnurren!
»Ich fass es nicht!«, staunte Elli.
»Guter Nolan! Bist der Allerbeste!« Gerührt und stolz streichelte Traudel den großen Hund, der so unglaublich sanft und behutsam mit dem schwachen Kätzchen umging. »Du holst das Kleine ins Leben zurück, gell?«
»Ja, ohne dich wäre ich nicht auf diesen Karton aufmerksam geworden«, antwortete Elli.
»Aber letztendlich bist du es gewesen, der Nolans Signale richtig gedeutet hat!«, erinnerte Henning. »Was wirst du denn jetzt mit dem Kätzchen tun?«, fragte er weiter, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Aufpäppeln!«, antwortete Elli wie aus der Pistole geschossen. »Gibt es hier in der Nähe einen Tierarzt, der das Kleine untersuchen und mir Tipps zur Aufzucht geben kann?«
Traudel schüttelte bedauernd den Kopf. »Der nächste Tierarzt ist in der Kreisstadt, aber ich habe eine Idee. In diesen Wochen macht eine Tierärztin aus Norddeutschland hier Urlaub. Ich kenne sie, und wenn Sie wollen, rufe ich sie an und frage, ob sie sich das Kleine mal anschaut. So wie ich Rieke Wagenfurth einschätze, tut sie das trotz ihres Urlaubs gern.«
»Danke, Frau Bruckner, das ist sehr nett!«
»Dann komm, Nolan, lass uns nach Hause gehen, ich muss mich um die Tierärztin kümmern. Und außerdem kommt Emilia gleich von der Schule heim, und ich muss ihr sofort erzählen, was du heute geleistet hast!« Mit stolz erhobenen Häuptern schritten Traudel und ihr kluger Hund davon.
Elli hatte sich inzwischen wieder auf ihre Bank gesetzt. Das Katzenbaby lag an ihrem Hals, das winzige Schnäuzchen tief zwischen der weichen Haut und ihren seidigen Haaren verborgen, und schnurrte wie ein winziges Nähmaschinchen. Elli lachte glücklich. »Keine Ahnung, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, es heißt in jedem Fall Dante!«, verkündete sie strahlend.
»Du wirst für dieses Baby mit dem großen Namen allerhand brauchen, was du in Bergmoosbach nicht einkaufen kannst. Soll ich in die Kreisstadt fahren und das für dich erledigen? Du weißt schon: Körbchen, Decke, Katzenklo und Einstreu und so weiter.«
»Das würdest du tun?« Elli schaute den Mann ehrlich überrascht an. »Deine kostbare Zeit dafür opfern, Dinge für ein Haustier einzukaufen?«
»Ich bin im Urlaub!«, erinnerte er sie und griff behutsam nach ihrer Hand. »Und außerdem, Elli, ist viel Zeit vergangen zwischen damals und heute. Ich habe vieles gelernt. Es ist kein Opfer mehr für mich, wenn ich mich um diese Dinge des Lebens kümmere, die ich früher unwichtig fand. Ich tue es wirklich gern! Für das hilflose kleine Tierchen, aber auch für dich!«
»Danke, Henning!« Sie hatte ihre Hand nicht fortgezogen, und nun verschränkten sich ihre Finger mit seinen. Ganz wie von selbst. Wie früher.
Henning lächelte auf ihre verschränkten Hände herab. »Sowie ich alles beisammen habe, komme ich zurück. Dein kleines Waisenkind soll es doch gemütlich bei dir haben.« Er stand auf und umfasste Elli mit einem liebevollen Blick: ihre strahlenden Augen, das wirre Haar, ihre unordentliche Arbeitskleidung, das Kätzchen, das wie ein winziger Pelzkragen um ihren Hals hing. »Steht dir übrigens sehr gut, die oder der kleine Dante!«, sagte er mit einem verschmitzten Augenzwinkern.
Elli lachte und winkte zum Abschied. »Rothaarige Frauen und schwarze Katzen gehören doch schon seit alten Zeiten zusammen!«, rief sie ihm vergnügt hinterher. Sie wusste, dass ihre ausgesprochen gute Laune nicht nur daher rührte, dass sie einem Kätzchen das Leben gerettet und einen neuen Gefährten gefunden hatte.
Nein, es war auch der Mann. Der Henning von früher hätte verständnislos über ihr sentimentales Verhalten den Kopf geschüttelt und sich an seinen Schreibtisch zurückgezogen. Zu den hochwissenschaftlichen Papieren, die immer so viel wichtiger gewesen waren als sie.
Der Henning von heute fuhr los und besorgte Aufzuchtmilch und Katzenstreu, ohne dass er darum gebeten werden musste.
»Dante, es geschehen noch Zeichen und Wunder«, flüsterte Elli dem schnurrenden Plüschbällchen ins Ohr.
Dann stand sie auf und ging in ihren Laden zurück, um mit dem Aufbau der nächsten Regale weiterzumachen. Für Dante holte sie einen neuen Karton, den sie mit einem ihrer weichen Schals auspolsterte, und wollte das Kätzchen darin ablegen.
Und damit begannen die Schwierigkeiten: sowie Dante den direkten Körperkontakt zu Elli verlor, begann das Tier so herzzerreißend zu schreien, dass die junge Frau es keine zwei Minuten aushielt. Kein beruhigendes Zureden half, Dante plärrte voller Angst und Verzweiflung nach seiner Ersatzmama!
Nach einer halben Stunde hin und her zwischen Karton und Bücherregal, hatte Elli die Nase voll. »Okay, du hast gewonnen, Baby! Dann eben so!« Die junge Frau nahm ihren großen Schal, wickelte ihn so um ihren Körper, dass eine Art Tasche entstand, und schob Dante hinein. Sofort war Ruhe. Jetzt lag das Kätzchen in einer Schlaufe zwischen dem T-Shirt und dem Oberteil der Latzhose und schlief selig. »Und ich hab beide Hände frei und kann das nächste Bücherregal zusammenbauen!«, stellte Elli fest und machte sich zufrieden ans Werk.
*
Am Morgen ihres Eröffnungstages fand die junge Frau die beiden Pflanzkübel links und rechts der Bank mit zwei üppig blühenden, weißen Hortensien bestückt vor. Auf der Eingangsstufe zu ihrem Geschäft stand eine große Gießkanne aus Weißblech, daran hing mit einer grünen Schleife befestigt ein Brief. Er war von ihrem ehemaligen Mann, und mit warmherzigen Worten wünschte er ihr viel Glück und den verdienten Erfolg mit ihrem Geschäft. Er schrieb, er könne sich vorstellen, dass dieser Tag sehr aufregend und anstrengend für sie sei, und dass sie abends wahrscheinlich zu müde zum Ausgehen sein werde. Ob er sie deshalb am nächsten Tag zum Essen einladen dürfe, um ihre Geschäftseröffnung zu feiern?
Staunend ließ Elli sich auf die Eingangsstufe sinken und starrte noch immer auf die schöne Karte in ihrer Hand. »Was sagen wir denn dazu, mein Kleiner?«, fragte sie Dante, der sofort auf ihren Schoß gesprungen war und sich dort häuslich eingerichtet hatte. »Seit wann ist Henning denn nicht nur nett, sondern auch einfühlsam?« Ein wenig geistesabwesend streichelte sie das seidige Fell des Katerchens und ließ zu, dass ihre Gedanken in die Vergangenheit schweiften. Doch ehe sie sich zu tief in süßen und bitteren Erinnerungen verlieren konnte, schüttelte sie energisch den Kopf und sprang auf die Füße. Heute hatte sie anderes zu tun, als sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen! Sie arbeitete an einer soliden, tragfähigen Zukunft, und dort war kein Platz für einen Henning Faber.
Oder?
Am Abend dieses Tages war Elisabeth tatsächlich müde, erschöpft und sehr glücklich. Zur Eröffnung waren viele Leute in ihr Geschäft gekommen, Einheimische und auch Touristen. Einige Damen aus der dörflichen Gemeinschaft hatten zwar gemeint, zu einer Tasse Kaffee und etwas Süßem solle man ins Café Bernauer gehen, nicht in eine Buchhandlung, aber auch diese Skeptikerinnen waren unter Ellis Kundschaft gewesen. Man musste doch halt mal schauen, wie diese Zugereiste ihre Sache so machte!
Und Elli machte ihre Sache sehr gut. Ihr Geschäft wirkte gemütlich und wohnlich, ihr Sortiment war umfangreich, und natürlich war auch der kleine Dante ein Anziehungspunkt. Das Katerchen lag inmitten der Bücher und schlief selig, oder er kringelte sich wie ein kleiner Pelzkragen um Ellis Hals und beobachtete wachsam den Trubel um sich herum. Bereits am Ende des ersten Tages war er für alle Kunden nur ›die Bücherkatze‹. Unter diesem Namen sollte er zu einem Bergmoosbacher Wahrzeichen werden. Wie ein treuer Hund folgte er der jungen Frau auf Schritt und Tritt durch den Ort, und ein erhöhtes Plätzchen im Schaufenster wurde zu seinem Lieblingsplatz.
Gerade als Elli das Geschäft abschließen wollte, wurde ein pinkfarbenes Mountain Bike abgestellt, und Anna Bergmann kam herein. Sie stellten ihren großen Rucksack mit der Hebammenausrüstung zur Seite und zeigte Elli einen Korb, der mit einem Leinentuch bedeckt war.
»So, meine Liebe, du tust jetzt mal gar nichts mehr, außer deinen Laden abzuschließen!«, ordnete sie vergnügt an. »Und dann gehen wir rauf in deine Wohnung, du legst die Beine hoch, und wir beide futtern diesen Korb leer. Du hattest einen langen Tag mit Büchern, ich mit Babys, aber jetzt ist Feierabend.«
»Schön, dass du mich verwöhnst!«, seufzte Elli dankbar. »Ich bin nämlich fix und fertig.«
»Aber auch zufrieden?«
»Zufrieden und glücklich!«
Die beiden Freundinnen gingen hinauf in Ellis kleine, noch lange nicht fertig eingerichtete Wohnung und machten es sich gemütlich. Sie hockten sich auf das alte Sofa mit den vielen Decken und Kissen, Dante kuschelte sich zwischen sie, und dann stießen die beiden Frauen mit einer Maß auf den Erfolg dieses Tages an.
»Du hast dein Sortiment wirklich gut zusammengestellt«, sagte Anna anerkennend. »Es ist für jeden Geschmack etwas dabei.«
»Es sind viele Touristen hier, und ich denke, im Urlaub möchten sie etwas Abwechslungsreiches und nicht zu Tiefsinniges lesen. Kurzgeschichten, Romane, Krimis und Schönes übers Allgäu. Deshalb habe ich neben Bildbänden und Sachbüchern auch Heimatromane bestellt, und gerade die sind heute gut gekauft worden.«
»Und du hast auch eine tolle Auswahl an Krimis«, sagte Anna, die selbst gern welche las. »›Narbengeld‹ von Til Tilsner war ja der absolute Knüller! Ich kann kaum abwarten, dass sein nächstes Buch herauskommt.«
»Nächste Woche ist es auf dem Markt. Es heißt ›Beute‹, und es wird mal wieder ein unglaublicher Wirbel um diesen neuen Tilsner veranstaltet.«
»Hm, das klingt ja, als ob du Til Tilsner und seine Bücher nicht magst?«, fragte Anna erstaunt. »Er ist doch der Stern am Krimihimmel.«
»Na, ja, seine Bücher sind schon gut«, musste Elli zugeben. »Aber er selbst scheint ein ziemlich arroganter Mann zu sein. Ich habe ihn einmal als Zuhörerin bei einer Lesung in München erlebt und fand, dass er ein selbstverliebter Fatzke ist.«
»Hallo?« Anna ließ ihre Brezen sinken. »Wenn er ein so unangenehmer Zeitgenosse ist, warum liegen ihm dann die Frauen in Scharen zu Füßen? Er schwirrt doch andauernd durch die Klatschpresse und hat immer eine andere Schöne im Schlepptau.«
»Keine Ahnung, was die alle an ihm finden.« Elli zuckte mit den Schultern und bestrich ungerührt die nächste Scheibe Landbrot mit Obaztem. »Mir ist er zu schön und zu grantig.«
Anna musste lachen. »Schön und grantig, was für eine Mischung!« Sie schwieg einen Moment und spielte in Gedanken versunken mit den Brotkrumen auf ihrem Teller. Dann sagte sie bedächtig: »Ist dir eigentlich schon einmal die Ähnlichkeit zwischen diesem Til Tilsner und deinem Ex-Mann aufgefallen?«
»Was?« Elli starrte ihre Freundin mit offenem Mund an. »Entschuldige bitte, spinnst du jetzt? Wie kommst du denn darauf!«
»Sie sind beide groß und schlank, haben dunkle Haare und dunkle Augen, und beide sind gut aussehende Männer«, zählte Anna bedächtig auf.
»Und da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf«, erwiderte Elli prompt. »Henning ist nett!«
»Ach!« Anna musterte ihre Freundin mit ehrlichem Interesse. »Henning! Nett?«
»Jawohl! Und einfühlsam!« Elli warf mit Schwung ihre rote Haarmähne über die Schulter zurück. »Geworden!«
»Erzähl mal!«
Und Elli erzählte ihrer staunenden Freundin von Hennings plötzlichem Auftauchen und dieser neuen, einfühlsamen Seite, die er ihr gegenüber an den Tag legte.
»Donnerwetter! Dann muss er sich aber geändert haben, nachdem er dich für deine beste Freundin verlassen hat! Sind er und diese Maja eigentlich immer noch zusammen, haben sie geheiratet?«
»Keine Ahnung! Er trägt jedenfalls keinen neuen Ehering.«
»Hm, und diese Kleinigkeit ist dir natürlich gleich aufgefallen?«, lächelte Anna.
»Ja, schon«, musste Elli zugeben. »Und irgendwie erstaunt mich das. Ganz im Ernst: ich habe seit Jahren nicht mehr an Henning gedacht.«
»Und nun ist er hier, und die alten Gefühle sind wieder erwacht?«, fragte Anna behutsam.
»Nein!« Annas Antwort kam schnell und entschieden. »Aber genau das ist es, was mich verwirrt. Ich weiß nicht, was ich von ihm halten soll! Er fühlt sich in mich ein, interessiert sich ehrlich für meinen Alltag, ist umsichtig … All das habe ich mir früher so sehr von ihm gewünscht!«
»Und nun?«
»Absolut keine Ahnung! Morgen Abend will er mit mir die Eröffnung feiern; ich warte einfach ab, wie es sein wird. Wie er sein wird, und was er von sich erzählt.«
»Das klingt vernünftig«, stimmte Anna zu und dann gähnte sie herzhaft. »Jetzt bin ich auch fix und alle. Heute früh um vier hab ich einem kleinen Mädchen auf die Welt geholfen, und mittags kam bei der Haslingerin ihr kleiner Bub an. Ich glaube, jetzt hab ich wirklich Schlaf verdient, und außerdem hab ich Sehnsucht nach meiner Betty.«
Betty war ihr junges, grau-schwarz getigertes Kätzchen.
»Verständlich!«, lächelte Elli mit einem Blick auf ihren schnurrenden Dante.
Die Freundinnen verabschiedeten sich. Elli ging ins Bad hinüber, um ihren Tagesabschluss mit einem gemütlichen Schaumbad zu krönen, und die junge Hebamme schob ihr Rad über den Marktplatz hinüber zur Apotheke, über der sie ihre Wohnung hatte.
Und wie insgeheim erhofft, tauchten die Gestalten eines Mannes und seines Hundes am Ende der Gasse auf, die hinauf zum Doktorhaus führte. Doktor Seefeld machte die Abendrunde mit Nolan.
»Hallo, Anna!«, grüßte Sebastian freudig. »Bist du so spät noch beruflich unterwegs?«
»Hallo, Sebastian!« Annas hoffte, dass man ihr den beschleunigten Herzschlag nicht anmerkte. »Die beiden Babys, die heute angekommen sind, schlafen schon längst und ihre Mamas hoffentlich auch. Ich komme eben von Elisabeth Faber, wir haben ihren Anfang hier gefeiert.«
»Es ist schön, wenn man bei einem Neubeginn nicht allein ist, sondern auf Menschen stößt, die sich für das interessieren, was man tut«, antwortete Sebastian.
Anna antwortete mit einem Lächeln. Sie beide dachten an ihre eigene Zusammenarbeit und unter welch dramatischen Umständen die begonnen hatte.
»Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, wie sehr ich mich freue, dass du meine Kollegin bist, Anna?« In Sebastians grauen Augen tanzte das Licht der aufgehenden Sterne.
»Ungefähr ein halbes Dutzend mal«, antwortete Anna leise. »Und ich bitte dich, niemals damit aufzuhören.«
»Mit Vergnügen!«, erwiderte Sebastian. Ganz kurz legte er seine Hand auf Annas, die ihren Fahrradlenker umfasst hielt. »Gute Nacht und schlaf schön, Anna Bergmann.«
»Du auch, Sebastian Seefeld.« Sie umarmte ihn mit ihrem Lächeln.
Für diesen Abend trennten sich die Wege des verwitweten Doktors und der jungen Hebamme, die einander Kollegen, gute Freunde und vielleicht auch schon ein bisschen mehr geworden waren.
*
Zwei Tage später musste Anna den Landdoktor zu einer ihrer jungen Mütter rufen. Wie es leider vorkommen kann, war unter den Verwandten, die unbedingt sofort das Baby besuchen wollten, eine Tante mit einer starken Erkältung gewesen. Prompt hatte sie die junge Mutter, die nach einer Kaiserschnittentbindung noch geschwächt und schonungsbedürftig gewesen war, angesteckt.
Als sie wieder im Auto saßen, schüttelte die junge Hebamme empört ihren Kopf. »So etwas Rücksichtsloses! Wer besucht denn eine Wöchnerin mit ihrem Baby, wenn er einen Infekt hat? Denken die Leute überhaupt nicht mit? Und dann dieser Ehemann! Er hätte Tante Veronika schon an der Haustür abweisen müssen, wenn seine Frau noch zu schwach ist, sich gegen solche Besuche durchzusetzen!«, schimpfte sie.
»Ich bin ganz auf deiner Seite«, antwortete Sebastian. »Aber du weißt, wie hier der Familienzusammenhalt ist. Hätte man den Besuch der Tante zu diesem Zeitpunkt abgelehnt, wäre das als persönliche Kränkung empfunden worden.«
»Soll sie doch schmollen!«, murrte Anna. »Lieber eine beleidigte Tante als eine Wöchnerin und ihr Neugeborenes, beide mit einem heftigen Infekt!«
Unwillkürlich musste Sebastian lächeln. Er liebte Annas Temperament und ihr Engagement. Sie war von ganzem Herzen bei ihrem Beruf, ebenso wie er sein Leben als Arzt empfand. Mit einem Blick zur Uhr sagte er: »Vor der Nachmittagssprechstunde habe ich noch etwas Zeit. Hast du Lust, noch einen Kaffee zu trinken? Vielleicht bei Frau Fabers ›Lesezeichen‹? Ich habe gar nicht gewusst, wie nett man dort auf der Bank sitzen und es sich gutgehen lassen kann.«
Anna strahlte ihn an. »Kaffee bei Elli, das klingt perfekt!«
Wenig später hatte Sebastian seinen Wagen abgestellt, und er und Anna schlenderten über den Marktplatz hinüber zu Ellis Buchhandlung. Der Doktor besorgte zwei Tassen Cappuccino und setzte sich zu Anna in den Sonnenschein. Die junge Frau zog die Beine an und saß im Schneidersitz, das Gesicht der Sonne zugewandt. Goldene Lichter tanzten auf ihren brünetten Haaren, und ihre grünen Augen funkelten vor lauter Lebensfreude.
Das Paar genoss die entspannte Stimmung in der schönen Umgebung. Die Sonne schien auf den kopfsteingepflasterten Platz, auf dem Kinder spielten, die umliegenden Häuser mit ihren Geschäften wirkten farbenfroh und lebendig, und am sprudelnden Brunnen küsste sich ein Liebespaar.
Leider störte plötzlich eine weibliche Stimme die ruhige halbe Stunde, welche der Landdoktor und die Hebamme miteinander teilten. »Grüß Gott, Sebastian! Hallo, Anna.« Miriam Holzer stand vor der Bank, in der einen Hand eine modische, große Handtasche, in der anderen mehrere Schnellhefter. »Sebastian, wir haben uns ja ewig nicht mehr gesehen!«
»Genau genommen das letzte Mal vor drei Tagen, als du in der Praxis warst«, antwortete Sebastian Seefeld trocken.
Miriam lachte leise auf und schüttelte mit einer gekonnten Bewegung ihre wunderhübsch kolorierte Blondmähne über die Schulter zurück. »Ich habe so viel Arbeit, da fliegen die Tage nur so dahin«, zwitscherte sie und wedelte mit den Schnellheftern. Der Blick aus ihren großen, blauen Augen galt jetzt Anna. »Nicht jede Berufstätige hat das Glück, Kaffeepäuschen einlegen zu können, wenn es grad gut passt!«
Sebastian lächelte seine alte Klassenkameradin freundlich an. »Ja, es passt ausgesprochen gut mit Anna und mir.«
»Ähm, Sebastian.« Miriam trat dichter zu ihm und senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern. »Liegen dir meine Untersuchungsergebnisse schon vor?«
Doktor Seefeld blieb unverändert freundlich, obwohl ihm Miriams Gehabe auf die Nerven zu gehen begann. Sie sprach von den Ergebnissen einer simplen Blutuntersuchung, als handle es sich um Proben bei einer höchstwahrscheinlich ernsthaften Erkrankung. Diese Frau ließ wirklich keine Gelegenheit aus, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
»Bitte ruf in der Praxis an. Gerti oder Caro werden dir deine Werte durchsagen«, antwortete er bestimmt.
»Aber, Sebastian, ich will nicht von einer deiner Helferinnen …«
»Aber was macht der denn!« Annas überraschter Ausruf unterbrach Miriams Protest.
Alle Blicke flogen zu einem Auto, das sich ganz offensichtlich durch die engen Gassen auf den Marktplatz verirrt hatte und sich hupend und nicht gerade im Schritttempo seinen Weg zu bahnen versuchte. Nach seinem Fahrstil zu urteilen, schien der Fahrer schwer irritiert und gereizt zu sein, er schrammte an zwei Blumenkübeln entlang, streifte den Bordstein und setzte den Wagen mit einem hässlichen, metallischen Knirschen auf einen buckeligen Stein auf. Mit einem Ruck kam das Auto zum Stehen, die Tür flog auf, und ein Mann sprang auf die Straße. »Verdammtes Provinznest!«, brüllte er. »Eure Verkehrsführung ist lebensgefährlich!«
Mit zwei, drei langen Schritten war Doktor Seefeld neben dem Mann und musterte ihn eindringlich. »Sind Sie verletzt?«
»Was? Nein! Aber mein Auto, gucken Sie sich mein Auto an!«
»Das ist nur ein Blechschaden. Seinen Sie froh, dass Sie niemanden in einen Unfall verwickelt haben!«
»Was? Nur ein Blechschaden? Nur?« Der Mann steigerte sich in einen regelrechten Wutanfall hinein. »Sehen Sie diesen Wagen? Das ist ein Oldtimer, nicht einfach irgendein Auto und …«
»Und Sie sollten sich jetzt beruhigen!« Doktor Seefeld warf seine natürliche Autorität in die Waagschale, um das öffentliche Aufsehen, das der Mann erregte, möglichst klein zu halten. »Kommen Sie mit zu der Bank dort drüben, damit Sie den Reparaturdienst und Ihre Versicherung anrufen können. Alles andere wird sich finden.«
»Mann, Sie haben vielleicht Nerven! Was, glauben Sie, kann der Reparaturdienst eines Provinznestes für meinen Wagen tun?«, höhnte der Mann.
»Das Rad haben wir bereits erfunden, und wir arbeiten auch nicht mehr mit Feuerstein und Faustkeilen«, antwortete Sebastian trocken. »Rufen Sie die Autowerkstatt an, dort wird man Ihnen weiterhelfen können.«
Der Mann schien tatsächlich durch Sebastians Ruhe und Humor etwas besänftigt zu sein und zückte sein Handy. Als er feststellte, dass sein Akku leer war, holte er tief Luft und wollte zu einem neuen Ausbruch ansetzten, aber Anna schnitt ihm resolut das Wort ab. »Gehen Sie in die Buchhandlung! Die Besitzerin lässt Sie sicher telefonieren, und falls Sie es brauchen, werden Sie sich auch von dort ein Taxi rufen können.«
Der Mann knurrte etwas, was mit gutem Willen als flüchtiger Dank ausgelegt werden konnte, und verschwand im ›Lesezeichen‹.
»Reizender Zeitgenosse!«, sagte Sebastian kopfschüttelnd.
Anna lachte. »Ja, er macht seinem Ruf tatsächlich alle Ehre.«
Interessiert schaute der Arzt sie an. »Du kennst den Mann?«
»Aus den Zeitungen«, antwortete Anna. »Das ist Til Tilsner!«
»Was? Der berühmte Krimiautor?« Miriam spitzte sofort die Ohren.
»Genau der!«
»Til Tilsner hier in Bergmoosbach!« Miriam sah ergriffen aus. »Das muss man sich mal vorstellen!«
»Seine Vorstellung eben fand ich nicht so bewundernswert«, stellte Sebastian klar. »Der Mann mag ja gute Krimis schreiben, aber an seinem Benehmen muss er noch arbeiten.« Der Landdoktor musste jetzt dringend wieder in seine Praxis und verabschiedete sich von den beiden Frauen. Auch Anna ging, und Miriam stieg im eleganten Stöckelschritt über die Eingangsstufe zum ›Lesezeichen‹ hinauf. Die Familie Holzer war tonangebend in der Gemeinde, und es verstand sich von selbst, dass sie Kontakt zu dem berühmten Autor aufnehmen würde! Da war es nur gut, ihn sich schon einmal aus der Nähe anschauen zu können.
Til Tilsner hatte in denkbar schlechter Laune Ellis Geschäft betreten. Für die Schönheit und besondere Atmosphäre des Ladens hatte er überhaupt keinen Blick, er sah nur eine dörfliche Buchhandlung. Und eine junge Frau in einem schwarzen Kleid, das ihre helle Haut und die rote Haarkrone zum Leuchten brachte. »Könnte ich bitte Ihr Telefon benutzen? Mein Handy ist außer Funktion, und ich muss einen wichtigen Anruf erledigen«, sagte er ohne ein einziges Wort der Begrüßung.
Elli musterte ihn von Kopf bis Fuß. Sie hatte ihn sofort erkannt und fand sein Auftreten unmöglich. »Ihnen auch einen guten Tag!«, antwortete sie herausfordernd. »Es ist doch immer wieder nett, wenn Kunden mit einem freundlichen Gruß zur Tür hereinkommen.«
»Ich bin kein Kunde«, blaffte Til Tilsner, »ich möchte nur kurz telefonieren.«
»Öffentliche Telefone finden Sie in der Post am Bahnhof. Über den Marktplatz und dann einfach geradeaus, das können Sie gar nicht verfehlen«, antwortete Elli mit funkelnden Augen.
»Was? Sie sind …« Plötzlich stockte der Mann. Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und durch die Haare. Seine angespannten Schultern sackten herab, und er holte einmal tief Atem. »Bitte entschuldigen Sie!«, sagte er zögernd. »Ich glaube, ich habe mich ziemlich unmöglich verhalten. Ich …, es geht mir nicht gut, aber das ist keine Entschuldigung für Unhöflichkeit. Sind Sie so freundlich und lassen Sie mich Ihr Telefon benutzen, bitte?«
Ellis Zorn verrauchte. »Bitte, setzten Sie sich doch, Sie sehen wirklich ziemlich blass aus. Sie hatten eben Ärger mit unseren Grenzsteinen, nicht wahr? Ist Ihnen wirklich nichts passiert?«
»Danke, es geht schon.« Til Tilsner gelang ein kleines Lächeln, von dem er gar nicht wusste, wie verloren und gleichzeitig hinreißend es aussah. »Ich glaube, in erster Linie bin ich wütend auf mich selbst, weil ich meinen Wagen festgefahren habe.«
»Kann doch jedem mal passieren.« Elli zuckte mit den Schultern und reichte ihm das Telefon. »Rufen Sie halt die Werkstatt an, und Ihr Auto ist im Handumdrehen wieder fit.«
Til Tilsner schaute sie zweifelnd an. »Das ist ein Wagen aus dem Jahr 1962! Wo sollen denn in diesem Kaff die Ersatzteile herkommen?«
Elli zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Internet? Postvertrieb? Wir Hinterwäldler können das, vertrauen Sie uns!«
»So etwas Ähnliches hat der Mann da draußen auch gesagt«, murmelte der Autor, und dann konzentrierte er sich auf seinen Anruf.
Inzwischen hatte Elli Zeit, den eigenwilligen Besucher genauer zu mustern. Til Tilsner war groß und schlank, er hatte markante Gesichtszüge, braune Augen und dunkle Haare. Unwillkürlich fielen Elli die Worte Annas über die Ähnlichkeit zwischen Henning und diesem Fremden wieder ein. Sie musste ihrer Freundin zustimmen, vom Typ her ähnelten sich ihr geschiedener Mann und der Autor. Aber die Gesichtszüge Til Tilsners wirkten härter, und seine Hautfarbe war blasser als Hennings. Er trug modische, gut geschnittene und offensichtlich teure Sommerbekleidung. Als Dante faszinierte Blicke auf die glänzenden Schuhe des Mannes warf, zog er seine Füße mit den edlen Lederschuhen sofort unter den Stuhl zurück. Bloß keinen Kratzer im italienischen Chic!
Elli hob das Kätzchen vorsichtshalber hoch und drückte es gegen ihre Brust. Sofort kletterte Dante auf ihre Schultern und legte sich wie ein kleiner Pelzkragen um ihren Nacken.
Til Tilsner schüttelte den Kopf und reichte mit einem gemurmelten Dank das Telefon zurück. Wohin hatte das Schicksal ihn nur verschlagen! Hoffentlich konnte er diesen Ort bald wieder verlassen. »Es wird nichts mit sofortiger Weiterfahrt. Können Sie mir hier ein erstklassiges Quartier empfehlen?«
»Ich wüsste keines, das nicht sehr gut und gemütlich ist«, antwortete Elli. »Aber es ist Sommer, und es sind viele Gäste in Bergmoosbach. Ich fürchte, Sie werden ziemlich lange suchen müssen. Vielleicht beginnen Sie beim Sonnenhof? Das ist gleich links, am Ende der Gasse.«
»Alles voller Sommerfrischler, mir bleibt auch nichts erspart!« Til Tilsner verdrehte die Augen. »Aber danke für Ihre Hilfe; vielleicht sieht man sich noch mal?«
»Vielleicht«, antwortete Elli mäßig interessiert und ging hinüber in die Kinderbuchecke, um die neuen Bücher weiter einzuräumen.
Ebenso grußlos, wie er gekommen war, verließ der Mann das Geschäft.
Miriam, die ihn mit großen Kulleraugen angestaunt hatte, fuhr zu Elli herum. »Frau Faber! Wissen Sie denn nicht, wer das ist?«
»Til Tilsner, na und?«
»Na und? Mir fehlen die Worte! Sie haben einen Buchhandel und lassen diesen Starautor einfach so zur Tür heraus marschieren? Was sind Sie nur für eine Geschäftsfrau!«
»Eine, die sich nicht einfach anblaffen lässt!«, entgegnete Elli kühl.
Miriam Holzer schluckte eine Antwort hinunter und stolzierte aus dem Geschäft. Wenn die Buchhändlerin sich diesen Fang entgehen lassen wollte, bitte schön. Sie selbst formulierte in Gedanken bereits eine Einladung zu einem eleganten Essen, bei dem die örtliche Prominenz anwesend sein würde. Zum Beispiel Bürgermeister Xaver Talhuber nebst Gattin und Doktor Sebastian Seefeld, selbstverständlich ohne die lästige Hebamme Anna!
*
Hennig kam etwas vor Ladenschluss, um Elli zu dem vereinbarten Essen abzuholen. Während die junge Frau letzte Kunden bediente, schaute der Mann sich interessiert um. Seiner geschiedenen Frau war es gelungen, das Geschäft wie ein gemütliches Zimmer zum Lesen einzurichten. Man bekam ganz einfach Lust, in den Büchern zu stöbern und sie zu sich nach Hause zu holen. Er blätterte sich durch einen faszinierenden Bildband der Alpen, schaute sich neue Romane an und beobachtete dann einen kleinen Jungen, der in der Kinderbuchecke saß und versuchte, sich durch ein Bilderbuch zu blättern. Das war nicht ganz einfach, denn der rechte Arm des Kleinen war bis zu den Fingerspitzen bandagiert. Henning platzierte sich auf eines der Kinderstühlchen und bot dem Blondschopf seine Hilfe an. Der Junge nickte erfreut, und Henning und er blätterten sich durch die Abenteuer eines großen Bären und eines kleinen Bären, dessen beste Freundin ein Häschen namens Lotta war.
Aus dem Augenwinkel beobachtete Elli die beiden. Sie konnte kaum glauben, was sie sah: Henning beschäftigte sich liebevoll und aufmerksam mit einem kleinen Kind. Was für eine Veränderung! Der Henning von früher hatte keine Kinder gewollt, sie passten nicht in sein Leben, das der Wissenschaft und seiner Karriere gewidmet war.
»Du hast dich verändert«, sagte sie versonnen, nachdem sie die Ladentür endlich abgeschlossen hatte.
»Ja, in manchen Dingen schon.«
Elli sah aus, als ob sie noch etwas sagen wollte, aber dann schüttelte sie nur leicht den Kopf. »Und du lässt mich nicht warten, sondern kommst sogar zu früh«, stellte sie fest. »Ich muss noch mein eines Schaufenster umgestalten, morgen kommt der neue Tilsner auf den Markt, da muss alles bereit sein.«
Henning half ihr, die Bücherkartons aus dem Hinterzimmer zu holen, und mit wenigen, geübten Bewegungen gestaltete Elli das Schaufenster so um, dass es der perfekte Rahmen für den neuen Krimi ›Beute‹ des Starautors wurde. Während sie arbeitete, betrachtete Henning das große Portrait des Schriftstellers, welches mit im Fenster ausgestellt werden sollte.
»Das ist ein sehr gut aussehender Mann; er hat, wie man so schön sagt, das gewisse Etwas«, stellte Henning fest.
»Was immer das auch sein mag, Freundlichkeit ist es bestimmt nicht!«, antwortete Elli.
Ihr Ex-Mann grinste. »Ja, man hört und liest so einiges.«
»Was durchaus der Wahrheit entspricht! Er ist zufällig hier in Bergmoosbach, und ich kann dir sagen, sein Einstand war nicht gerade rühmlich. Ich erzähle es dir nachher, jetzt gehe ich mich etwas frisch machen, und dann können wir endlich los.«
Henning setzte sich in einen Sessel und begann, in dem neuen Krimi zu lesen, während Elli nach oben in ihre kleine Wohnung lief. Als sie wieder in das Geschäft trat, war Henning völlig überrascht von ihrem Aussehen.
»Donnerwetter! Du hast dich aber auch geändert. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass du irgendwann ein Dirndl trägst!« Bewundernd schaute er die junge Frau an. Elli hatte ihr schwarzes Flatterkleid vom Flohmarkt gegen ein fliederfarbenes Dirndl mit heller Schürze eingetauscht und sah bezaubernd aus.
Sie lachte. »Früher hätte ich mir das auch nicht vorstellen können, aber hier habe ich so schöne Dirndl gesehen, dass ich ganz begeistert war. Ich kann dir nachher eines im Schaufenster zeigen, das schaut aus, als sei es für mich gemacht. Aber bis ich mir das leisten kann, muss ich noch viele, viele Bücher verkaufen. Bis dahin tut’s dieses auch.«
»Elli, du siehst hinreißend aus!« Hennings aufrichtige Bewunderung stand offen in seinem Gesicht geschrieben. »Ich freue mich, mit einer so schönen Frau auszugehen.«
»Was sind denn das für Sprüche? Mit Maja an deiner Seite hast du doch wohl auch eine gute Figur gemacht«, antwortete sie unbeabsichtigt scharf.
Maja mit den langen schwarzen Haaren und den Augen, die aussahen, als wären sie aus grünem Eis, war Elisabeths beste Freundin gewesen. Sie hatten sich in der Schule kennengelernt und waren seitdem eine verschworene Gemeinschaft. Elli heiratete Henning, wenig später Maja ihren Freund Konrad. Die Paare verstanden sich gut und unternahmen vieles gemeinsam.
Bis Elli ihren Mann mit ihrer beste Freundin im Bett überraschte und es sich herausstellte, dass die beiden seit Monaten eine heftige Affaire miteinander hatten. Diesen Vertrauensbruch konnte Elli nicht verzeihen, und in ihre Trauer mischte sich ungeheure Wut über Hennings abgeschmacktes Verhalten: Ehemann geht fremd mit bester Freundin! Sie hatte das Gefühl, als sei ihr Leben auf einmal ein schlechter Roman und es dauerte lange, bis sie sich davon befreien konnte.
»Sprechen wir nicht von Maja, nicht jetzt, Elli!«, bat Henning eindringlich.
Sie machte eine unbestimmte Handbewegung, so als wollte sie etwas zur Seite wischen, und schob Henning zur Tür hinaus.
»Ich habe in der Kreisstadt bei dem Franzosen, der dort eröffnet hat, einen Tisch bestellt. Er soll fantastisch kochen!« Verwirrt bemerkte er den enttäuschten Gesichtsausdruck seiner Frau.
»Schade, Henning«, antwortete sie. »Ich habe mich auf einen Abend in Bergmoosbach gefreut. Es ist mein neues Zuhause, und ich hätte meine Eröffnung gern hier gefeiert.«
Er legte freundschaftlich den Arm um ihre Schultern. »Das ist doch kein Problem, Elli. Ich sage den Tisch ab, und du bestimmst, wo wir heute Abend hingehen.«
»Dann möchte ich in das Steg-Haus! Es ist ein Hotel mit Restaurant direkt am Sternwolkensee; während man auf der Terrasse sitzt, schaut man über das Wasser und hat das Alpenpanorama im Hintergrund.«
»Klingt verlockend!« Mit einer freundlichen Entschuldigung sagte er den Tisch im La France ab, anschließend gingen sie hinunter an den Sternwolkensee, der im Licht der sinkenden Sonne golden leuchtete.
Und fraglos gingen sie Hand in Hand, und es fühlte sich vertraut und gut an.
*
Im Doktorhaus gab es auch etwas zu feiern. Traudel, die gute Seele der Familie, hatte Geburtstag. Da immer sie es war, die im Alltag und an Festtagen die Hauptarbeit erledigte, hatte Benedikt Seefeld darauf bestanden, die Familie und enge Freunde zu einer Feier einzuladen. Traudel sollte keinen Finger rühren und alles nur genießen. Auf der Terrasse am Sternwolkensee war eine Tafel für zwölf Personen festlich eingedeckt und wartete mit weißem Leinen, Kerzen und Blumensträußen auf Familie Seefeld und ihren Ehrengast.
Traudel Bruckner trug ein taubenblaues Festtagsdirndl, das ihre rundliche Figur wunderhübsch zur Geltung brachte. Ihr Augenstern Emilia hatte darauf bestanden, dass Traudel Blumen im Haar tragen sollte, und hatte für sich selbst auch einen zarten Kranz gebunden. Sie sah hinreißend aus, und ihr Freund Markus konnte kaum die Augen von ihr abwenden.
Benedikt Seefeld hielt eine innige Dankesrede auf Traudel, die so fraglos nach dem Tod seiner jungen Frau ins Haus gekommen war und das Leben der zerbrochenen kleinen Familie wieder zusammengefügt hatte. Als er geendet hatte, schimmerten Tränen in Traudels dunklen Augen. Seit so vielen Jahren lebte sie mit ihrer stillen Liebe zu Benedikt, dem charmanten Doktor mit den silbernen Haaren. In Augenblicken wie diesem fühlte sie sich ihm so nahe, wie sich zwei Menschen, die ein langes Stück des Lebenswegs gemeinsam gegangen waren, nur sein konnten.
Elli blickte lächelnd zum Tisch der Seefelds hinüber. »Sie sehen so glücklich aus«, sagte sie versonnen. »Obwohl das Leben dieser Familie so schwere Prüfungen auferlegt hat, sind sie nicht daran zerbrochen. Ihr Glück und ihre Zufriedenheit strahlen auf die Menschen in ihrer Umgebung aus.«
»Was ist denn in ihren Familien geschehen?«, erkundigte sich Henning.
»Sowohl der Vater, Benedikt Seefeld, als auch der Sohn haben ihre Ehefrauen sehr früh durch den Tod verloren.«
»Das tut mir leid.« Henning schaute ernst auf die Frau, die einmal seine Ehefrau gewesen war. »Es muss furchtbar sein, wenn eine glückliche Ehe auf diese endgültige Weise endet.«
Elli fühlte einen Stich im Herzen, aber es tat längst nicht mehr so weh wie früher. »Es gibt andere Umstände, eine Ehe zu beenden, aber auch die sind endgültig«, erwiderte sie schlicht.
Henning griff nach ihren Händen. »Elli, ich habe damals einen großen Fehler gemacht. Du weißt nicht, wie sehr ich den bereut habe!«
Die junge Frau schaute ihn prüfend an. »Und was sagt Maja dazu?«
Henning senkte den Kopf, aber er ließ ihre Hände nicht los. Er musste Ellis Gegenwart ganz einfach körperlich spüren. »Es war ein Fehler«, wiederholte er leise. »Es hat nicht geklappt mit Maja und mir.«
»Ach!« Nein, Elli wollte den leisen, triumphierenden Unterton in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Und wie lange hast du gebraucht, bis du das bemerkt hast?«
»Zu lange!« Jetzt schaute Henning ihr ins Gesicht, und Elli erkannte sein ehrliches Bedauern.
»Wir haben uns nach zwei Jahren getrennt.«
»Und danach?«
»Ein, zwei flüchtige Bekanntschaften. Es war nie etwas Ernstes, ich wollte keine dauerhafte Beziehung.«
Elli spielte in Gedanken versunken mit ihrem Weinglas, dann schüttelte sie leicht den Kopf. »Henning, dieses ist mein Abend. Wir wollten meinen Neustart und meine Selbstständigkeit in Bergmoosbach feiern. Ich möchte jetzt nicht über deine Vergangenheit sprechen!«
Henning hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie sanft. »Recht hast du. Auf dich, deinen Mut, deinen Geschäftssinn und den Erfolg des ›Lesezeichen‹!« Er hob sein Glas.
»Vielleicht sollte ich das Auftauchen dieses Starautors als gutes Zeichen werten?«, sagte Elli leichthin. »Er sitzt übrigens dort drüben am Ecktisch, schräg hinter Emilia Seefeld. Und ich habe das Gefühl, dass er schon eine gewisse Weile zu uns herüberschaut.«
»Wundert mich kein bisschen«, lächelte Henning. »Du siehst bezaubernd aus, Elli.«
Die junge Frau lachte amüsiert auf. »Spinner! So mürrisch und gelangweilt, wie er dreinschaut, hat er bestimmt etwas ganz anderes im Kopf als mein Aussehen.«
Und damit hatte Elisabeth nicht ganz unrecht.
Til Tilsner haderte mit seinem Schicksal, das ihn durch eigene Unachtsamkeit im ländlichen Bergmoosbach festhielt. Natürlich hätte er einen Leihwagen mieten und weiterfahren können, aber er wollte seinen Oldtimer nicht unbeaufsichtigt in der dörflichen Reparaturwerkstatt stehen lassen. Wer weiß, was man dort mit ihm anstellen würde! Außerdem fühlte der Mann sich nicht wohl. Zu den unklaren Beschwerden, die ihn seit Langem plagten, waren immer wieder heftige Kopfschmerzattacken hinzugekommen. Die Vorstellung, sich jetzt mit einem fremden Wagen auf die Weiterreise begeben zu müssen, erschreckte ihn. Das Steg-Haus war wirklich ein erstklassiges Hotel, wie er widerwillig zugeben musste. So etwas hatte er in der dörflichen Umgebung nicht erwartet.
Außerdem würde morgen sein neuer Krimi auf den Markt kommen, und in diesem Provinznest gab es tatsächlich eine Buchhandlung. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann saß deren aufmüpfige Besitzerin ein paar Tische entfernt und unterhielt sich. Der Autor nahm sie näher in Augenschein.
Zweifelsohne eine attraktive Frau mit einer Wolke aus widerspenstigen, roten Haaren und feinen Gesichtszügen, aber sie trug ein Dirndl. Til Tilsner konnte die landesübliche Tracht nicht ausstehen. Andererseits konnte ihm egal sein, wie sie herumlief. Sie interessierte ihn nicht als Frau, sondern als Buchhändlerin. Was hätte ihm Besseres passieren können, um die langweilige Wartezeit hier zu verkürzen?
Kurz entschlossen stand er auf und ging zu dem Nachbartisch hinüber. »Guten Abend! Hätten Sie einen Moment Zeit? Ich habe Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
Elisabeth musterte den Autor nicht unfreundlich, aber mit deutlicher Zurückhaltung. »Ich höre?«, antwortete sie kühl.
Til Tilsner zog einen Stuhl zu sich heran und setzte sich unaufgefordert an den Tisch. »Wie Sie sicherlich wissen, erscheint morgen mein neues Buch. Ich bin gezwungen, ein paar Tage hier im Ort zu bleiben, und könnte etwas Zeit erübrigen. Ihre Buchhandlung ist zwar sehr klein und liegt deutlich hinter denen, in denen ich normalerweise lese, aber dafür würde ich eventuell unter meiner üblichen Honorarforderung bleiben. Ich biete Ihnen die Chance, in Ihrem Geschäft eine Lesung abzuhalten.«
Elisabeth sagte zunächst gar nichts, sondern musterte Til Tilsner nur mit einem spöttischen Blick. Dann öffnete sie ihre Handtasche und reichte ihm ihre Visitenkarte. »Ich werde darüber nachdenken«, antwortete sie. »Meine Telefonnummer steht auf der Karte, am besten erreichen Sie mich morgen ab zehn Uhr.«
Dem Krimiautor blieb der Mund offen stehen vor Verblüffung. Kein begeisterter Dank? Kein Jubel, weil er in ihrem Geschäft anwesend sein würde? Und um allem die Krone aufzusetzen, beugte sich jetzt der andere Mann am Tisch leicht vor und sagte: »Pardon, ich glaube, Sie hatten sich nicht vorgestellt, Herr …?«
»Tilsner. Til Tilsner«, antwortete der Schriftsteller pikiert.
»Angenehm. Faber«, stellte Henning sich vor, ohne mit der Wimper zu zucken. »War nett, Sie kennenzulernen. Meine Frau und ich wünschen Ihnen noch einen schönen Abend, Herr Tilsner.«
»Ähm, ja, danke gleichfalls«, stotterte Til, noch immer fassungslos über diese Art der Begegnung. Er erhob sich und verschwand im Hotel.
Elli schüttelte den Kopf, und dann konnte sie das Lachen nicht mehr unterdrücken. »Tja, das scheint der Herr Starautor nicht gewohnt zu sein, dass man nicht vor Begeisterung nach Luft schnappt, wenn er einen mit seiner Anwesenheit beehrt. Er ist einfach unmöglich!« Ihre Augen funkelten vor Vergnügen. »Und du hast so getan, als ob du nicht weißt, wer er ist. Dabei hatte ich ihn dir doch gezeigt.«
Henning schmunzelte. »Ich mag es nicht, wenn man sich unaufgefordert an unseren Tisch setzt. Und ich mag es nicht, wie selbstverständlich er über dein Geschäft verfügt. Er brauchte einfach einen kleinen Dämpfer.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, antwortete Elli, »und ich finde, du hast prima mitgespielt. Aber, mein Lieber, zum zweiten Mal muss ich dich daran erinnern: ich bin nicht mehr deine Frau!«
Henning wurde wieder ernst. »Damit hast du leider recht.«
Elisabeth leerte ihr Glas und griff nach ihrer Tasche. »Es war ein schöner Abend mit dir, aber jetzt möchte ich nach Hause gehen. Danke für die Einladung und gute Nacht, Henning.«
»Ich bringe dich selbstverständlich nach Hause, Elli.«
Die junge Frau seufzte leicht. »Danke, aber nein danke. Gute Nacht!« Sie winkte noch einen freundlichen Abschiedsgruß zu den Seefelds hinüber, die ebenfalls am Aufbrechen waren, und ging.
Ellis Nachhauseweg war begleitet von sommerlicher Stille und fernem Wetterleuchten. Sie ging durch die mittlerweile vertrauten Gassen und überquerte den Marktplatz. In einiger Entfernung hörte sie Stimmen, die sich unterhielten, und leises Lachen. Familie Seefeld ging denselben Weg, bis sie am Marktplatz abbogen.
»Elli, warte, wir können das letzte Stückchen zusammen gehen«, hörte sie ihre Freundin Anna rufen.
Die beiden Frauen verschränkten die Arme miteinander und schlenderten die letzten Meter gemeinsam über den Platz hinüber zu den benachbarten Häusern, in denen sie wohnten. »Hattest du einen schönen Abend bei der Geburtstagsfeier?«, erkundigte Elli sich.
»Ja, sehr!« Anna seufzte tief.
»Hm, lass mich raten: das hat eventuell auch mit einem gewissen Sebastian Seefeld zu tun?«
»Eventuell …«, antwortete die junge Hebamme mit einem ganz bestimmten Lächeln.
»Du?« Ihre Freundin wurde plötzlich ernst. »Ist das was Ernstes, was du für den jungen Doktor empfindest?«
»Ja, das ist es«, antwortete Anna ruhig. »Aber er weiß nichts von der Tiefe meiner Gefühle und soll es auch noch nicht wissen. Ich kann mich da auf dich verlassen? Für ihn ist es noch zu früh.«
»Und für mich ist es, glaube ich, zu spät«, sagte Elli leise.
»Du meinst, für dich und Henning?«
»Er sagt, die alte Geschichte tut ihm leid, und er bemüht sich tatsächlich sehr um mich.« Elli schwieg nachdenklich.
Anna blieb stehen und schaute ihre Freundin an. »Was wäre, wenn er wieder auf dich zukommt? Wenn Henning sich von neuem in dich verliebt?«
»Ganz ehrlich?« Gedankenverloren zwirbelte Elli eine ihrer Haarsträhnen um den Finger. »Ich weiß es nicht, Anna, ich weiß es wirklich nicht.«
»Wie gut, dass du es heute Nacht nicht entscheiden musst. Dein Ex-Mann ist ja noch länger auf Urlaub hier, und ihr werdet bestimmt noch mehr Zeit zusammen verbringen. Vielleicht findest du es dann heraus. Gute Nacht, Elli.«
»Gute Nacht, Anna, schlaf schön.«
Elisabeth ging zu ihrem Haus hinüber. Überrascht bemerkte sie eine Gestalt, die auf der Bank vor ihrem Geschäft saß. Die meisten Häuser des Dorfes lagen im Dunkel, und der Marktplatz war zu dieser Zeit unbeleuchtet, aber dennoch erkannte sie sofort ihren geschiedenen Mann. »Henning! Was tust du hier?«
Er stand auf und trat zu ihr. »Ich bin einen anderen Weg gegangen, aber ich wollte sehen, ob du gut nach Hause gekommen bist.«
»Wie du siehst, bin ich es. Gute Nacht, Henning!«
»Elli?« Er legte seine Hände um ihre Ellbogen; es war kein unangenehmes Festhalten, sondern eine liebevolle, fürsorgliche Berührung. »Ich frage mich, ob ich dich wohl küssen darf?«
»Probier’s doch einfach aus«, hauchte Elli. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, und für einen atemlosen, herzzerreißenden, verrückten Moment verschwand die Vergangenheit, und es gab nur sie und ihn und diesen Kuss. Dann fauchte ein Windstoß um die Hausecke, und fernes Donnergrollen kündigte das Herannahen des Gewitters, das jenseits des Sternwolkensees heraufzog. Im Schein des Wetterleuchtens wirkten Elisabeths Augen dunkler als am Tag, und sie schienen zu lächeln.
»Elli …?«
»Das ist keine gute Idee, Henning.« Sanft entzog sie sich seiner Umarmung. »Gute Nacht.« Leise glitt die Tür hinter ihr ins Schloss.
Der Mann blieb noch einen Moment inmitten des aufziehenden Gewitters stehen, dann schüttelte er über sich selbst den Kopf und ging eilig davon, ehe der Himmel seine Schleusen öffnen konnte.
*
Wie erwartet, war am nächsten Tag der Ansturm auf den neuen Krimi groß. In Windeseile hatte sich die Nachricht herumgesprochen, dass Til Tilsner in Bergmoosbach war, und immer wieder wurde Elli nach ihm gefragt.
»Ich verstehe wirklich nicht, dass der Autor nicht in Ihrem Geschäft anwesend ist!«, bemängelte Miriam Holzer. »Das wäre doch eine unschlagbare Reklame für Sie.«
Elli lächelte unverbindlich und verpackte das Buch. Natürlich wusste sie, dass Miriam recht hatte, aber ihr Stolz hinderte sie daran, hinter Til Tilsner her zu telefonieren. Der Vorschlag einer Lesung war von ihm gekommen, also sollte er sich auch darum kümmern. Elli hatte nicht vor, ihn in seinem selbstherrlichen Verhalten zu unterstützen.
Zu den Kunden, welche den neuen Krimi kauften, gehörte auch Henning. Ellis Magen schlug einen kleinen Purzelbaum, als ihr ehemaliger Mann vor ihr stand und sie anlächelte. Plötzlich konnte sie den Kuss der letzten Nacht wieder spüren. Hennings Haare waren untypisch zerzaust, was ihm ein charmant-jungenhaftes Aussehen verlieh. In seinem offenen Hemdkragen hatte sich ein Zweiglein einer Ligusterhecke verfangen.
»Wo bist denn du gewesen?«, erkundigte sich Elli. »Du siehst nach einem Abenteuer aus.«
Henning schmunzelte. »Auf dem Weg zu dir bin ich einem ziemlich verzweifelten kleinen Jungen begegnet, dem sein Welpe entwischt war. Anweisung von Mama und Papa war gewesen, den umzäunten Garten in keinem Fall zu verlassen! Aber was soll man tun, wenn Freundin Marei daher kommt und unbedingt auch mit dem Hundebaby spielen will? Tja, und da ist der Welpe schneller durchs Gartentörchen gesaust, als der kleine Junge es wieder hatte schließen können.«
»Das kann nur der Hubi Leutner gewesen sein, der hat vor ein paar Tagen seinen heiß ersehnten Hund bekommen. Es ist so ein süßer schwarz-brauner Mischling, der Pepper heißt.«
»Du bist wirklich hier angekommen«, stellte Henning mit einem Lächeln fest. »Kennst sogar die Namen kleiner Jungs und ihrer Haustiere.«
»Natürlich, ich lebe hier.« Zufrieden stellte Elli fest, wie sehr sie sich ihrer neuen Heimat bereits verbunden fühlte. »Und du hast also bei der Suche geholfen? Obwohl du eigentlich mit Kindern nichts anfangen kannst und mit Hunden sowieso nicht?«
Hennings Lächeln wurde wehmütig. »Als Hubi und dieser Wirbelwind Marei so verzweifelt vor mir standen, da musste ich plötzlich an die Kinder denken, die wir nicht bekommen haben, Elli. Ich konnte gar nicht anders, als ihnen zu helfen. Und gefunden haben wir den kleinen Ausreißer dann hinter der Hecke neben deinem Grundstück. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert die Kinder gewesen sind!«
Elli konnte kaum glauben, was sie hörte: Henning war durch eine Hecke gekrochen, um zwei fremde Kinder glücklich zu machen? Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, und spielte gedankenverloren mit den Flyern, die auf ihrem Tresen ausgelegt waren.
Henning deutete auf die hübsch gestalteten, dunkelblauen Zettel. »Am Wochenende findet das alljährliche Lichterfest am Sternwolkensee statt? Das klingt hübsch. Hast du Lust, mit mir zusammen dort hinzugehen?«
Elli musste nicht lange überlegen. »Ich bin mit Anna und den Seefelds verabredet, aber das heißt nicht, dass du und ich uns dort nicht treffen können. Ich freue mich, Henning.«
»Ich mich auch! Wir sehen uns dann am Sternwolkensee?«
»Gern! Bis dahin, Henning.« Sir reichte ihm das eingepackte Buch, und für einen flüchtigen Augenblick berührten sich ihre Hände.
»Bis bald, Elli!«
Unter der Ladentür traf Henning auf Doktor Benedikt Seefeld, der mit Nolan an der Leine das Geschäft betrat. Mit einem Blick auf Dante, der im Schaufenster saß und interessiert das Treiben auf der Straße beobachtete, fragte er: »Sollte Nolan lieber draußen warten?«
»Aber nein, kommen Sie nur herein«, antwortete Elli. »Dante kennt ihn ja, und Sie erziehen Ihren Hund sehr gut.«
Die beiden jungen Tiere hatten einander bemerkt. Nolan stand mit gespitzten Ohren und
wedelndem Schweif vor dem kleinen Kater, der sich direkt vor ihn setzte und ihn mit einem leisen Maunzen begrüßte. Es gab ein vorsichtiges Beschnuppern, und dann machte Nolan es sich auf dem Fußboden gemütlich. Dante kuschelte sich zwischen seine ausgestreckten Vorderpfoten und begann zu schnurren, während der junge Hund dem Kätzchen das Fell leckte.
»Wie süß!« Elli war begeistert. »Dante scheint nicht vergessen zu haben, wer ihm das Leben gerettet hat.«
»So viel zu dem sprichwörtlichen Verhalten von Hund und Katze!«, antwortete Benedikt Seefeld schmunzelnd. Er wies auf das Buch ›Beute‹. »Dort geht es entschieden weniger friedlich zu.«
»Möchten Sie es kaufen, Doktor Seefeld?«
»Unbedingt! Es ist noch ein Geburtstagsgeschenk für Traudel, das ich ihr gestern ja noch nicht geben konnte.«
Elli wickelte es besonders schön ein. »Bitte grüßen Sie Frau Bruckner von mir, und ich wünsche ihr viel Vergnügen, beziehungsweise Gänsehaut beim Lesen.«
»Vielen Dank.« Benedikt Seefeld musste Nolan sanft überreden, den Platz neben dem Kätzchen zu verlassen. Dante spazierte hinüber zu Elli und kuschelte sich wie üblich um ihren Hals.
»Hallo, Baby, wenn du erstmal größer bist, müssen wir uns da etwas anderes einfallen lassen«, sagte Elli zu dem Winzling, der hingerissen schnurrte. Selbst das Läuten des Telefons konnte ihn nicht von seinem Lieblingsplatz aufschrecken.
»Buchhandlung ›Lesezeichen‹, grüß Gott«, meldete sich Elli freundlich.
»Tilsner, guten Tag«, antwortete eine Männerstimme.
Der gefeierte Krimiautor rief tatsächlich bei ihr an! Elli bemühte sich, ruhig und gelassen zu klingen. »Herr Tilsner, was kann ich für Sie tun?«
»Da ich nun hier gestrandet bin, biete ich Ihnen eine Lesung und Signierstunde an«, kam die knappe Antwort. Die Stimme des Mannes klang erschöpft und nicht sehr freundlich.
»Ich habe darüber nachgedacht und denke, es lässt sich machen«, antwortete Elli sachlich. Sollte der Mann bloß nicht denken, sie würde jetzt in Freudenschreie ausbrechen! »Der Verkauf Ihres neuen Buches ist sehr gut angelaufen, und viele Kunden haben nach Ihnen gefragt. Wann würde es Ihnen passen, und soll ich mich um die Ankündigung kümmern?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen, dann erwiderte Til Tilsner knurrig: »Einen genauen Termin kann ich Ihnen jetzt nicht nennen. Ich nehme an, es wird in zwei, drei Tagen so weit sein.«
»Hm!«, machte die junge Buchhändlerin. »Ohne genaues Datum wird es natürlich schwierig mit der Ankündigung. Sagen Sie, haben Sie Migräne?«, rutschte es ihr plötzlich heraus.
»Was?« Til Tilsner war perplex.
Elli wurde rot bis über beide Ohren. »Bitte, entschuldigen Sie!«, stotterte sie. »Das wollte ich natürlich nicht fragen, und es geht mich auch überhaupt nichts an. Es tut mir leid!«
Anstelle einer mürrischen Abfuhr fragte der Mann interessiert: »Wie kommen Sie denn darauf, mich das jetzt zu fragen?« Er klang immer noch erschöpft, aber nicht mehr unfreundlich.
»Es ist Ihre Stimme«, erklärte Elli. »Sie klingt leicht nasal, aber anders, als es sich bei einer Erkältung anhört.«
»Woher wissen Sie das?«
»Mein Mann …«, Elli korrigierte sich hastig, »mein ehemaliger Mann hat lange unter Migräne gelitten. Wenn wir telefonierten, dann habe ich schon beim ersten Satz gewusst, wenn er wieder einen Anfall hatte. Es war seine Stimme, an der ich es erkannt habe.«
»Sie haben recht«, antwortete Til Tilsner schlicht.
»Natürlich können Sie mir jetzt keinen genauen Termin nennen. Sie können nicht absehen, wann es Ihnen wieder besser gehen wird«, erwiderte Elli freundlich. »Aber das macht doch nichts! Ruhen Sie sich aus, und ich mache derweil eine Vorankündigung ohne genaues Datum.«
Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen. Dann sagte Til Tilsner leise: »Das ist sehr verständnisvoll von Ihnen.«
»Echt? Ich finde das ganz normal. Wenn es jemandem nicht gut geht, dann muss man darauf Rücksicht nehmen und nicht noch mehr Druck ausüben.«
»Das sagen Sie!«, antwortete der Schriftsteller bitter.
Elli horchte auf. Hatte der gefeierte Autor auch ganz andere Erfahrungen gemacht, als nur hofiert zu werden? »Ruhen Sie sich aus und machen sich keine Gedanken«, antwortete sie weich. »Wenn es Ihnen wieder besser geht, reden wir über die Veranstaltung. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.«
»Danke, das ist sehr nett von Ihnen.« Plötzlich war ein leises Lachen in der müden Stimme zu hören. »Jetzt habe auch ich eine Frage: neben Ihnen höre ich deutlich ein äußerst zufriedenes Schnurren. Tragen Sie gerade wieder Ihren lebendigen schwarzen Pelzkragen?«
»Ja, und sein Name lautet Dante«, informierte Elli ihn.
»Wunderschön! Bitte grüßen Sie ihn«, antwortete er freundlich.
Nachdem Elli das Telefonat beendet hatte, pflückte sie das Kätzchen von ihrem Hals, setzte sich in einen Sessel und unterhielt sich mit Dante. »Ist das nicht merkwürdig? Da dachte ich, dieser Til Tilsner ist nichts weiter als ein eingebildeter Windbeutel, der zufällig ganz gut schreiben kann. Und plötzlich entpuppt er sich als menschlich und freundlich. Vielleicht wird es doch ganz nett, wenn er bei uns eine Lesung hält?«
Dantes Antwort war ein zufriedenes Maunzen, das für Elli wie Zustimmung klang.
*
Im Garten des Doktorhauses waren die Kirschen reif geworden und mussten verarbeitet werden. Anna hatte ihre Hilfe beim Entkernen zugesagt, und ihre Freundin Elli begleitete sie. Während die Frauen mit dem Obst beschäftigt waren, unterhielten sie sich angeregt.
»Ich freue mich darauf, zum ersten Mal zum Lichterfest am Sternwolkensee zu gehen«, sagte Elli. »Ich stelle es mir wunderhübsch vor, wenn das ganze Ufer erleuchtet ist.«
»Nicht nur das Ufer«, antwortete Traudel. »Es fahren auch erleuchtete Boote hinaus. Wenn sich deren Lichter im Wasser spiegeln, ist das wirklich ein schöner Anblick.«
»Ich freue mich auch auf diesen Abend und hoffe, dass dann nicht gerade ein Storch im Anflug ist. Ich habe Rufbereitschaft.«
»Wird denn zu der Zeit ein Baby erwartet?«
»Nicht genau an diesem Wochenende, aber man kann nie wissen, was den Kleinen so einfällt«, schmunzelte Anna.
»Ich bin ja mal gespannt, ob Til Tilsner sich unters Volk mischt«, sagte Elli. »Er macht mir wirklich Kopfzerbrechen. Seitdem das Plakat mit der Vorankündigung seiner Lesung in meinem Schaufenster hängt, kann ich mich vor Anmeldungen nicht mehr retten. Der Laden ist viel zu klein für alle diejenigen, die kommen wollen.«
»Von Therese Kornhuber weiß ich, dass der gesamte Landfrauenverein kommt«, erwiderte Traudel. »Und Afra meinte, vom Trachtenverein erscheinen auch fast alle.«
»Und etliche Touristen«, seufzte Elli sorgenvoll. »Es soll doch schön werden und kein Chaos! Wo bringe ich die nur alle unter?«
»Das sollte doch eigentlich kein Problem sein«, warf Anna ein. »Die Räume der Kirchengemeinde stehen auch für weltliche Veranstaltungen offen. Der Herr Pfarrer stellt dir bestimmt den großen Gemeindesaal zur Verfügung.«
»Das wäre perfekt!«, erwiderte Elli hoffnungsvoll. »Dann gehe ich nachher zu ihm und frage wegen des Raumes.«
Wie sich herausstellte, wurde der jungen Buchhändlerin der Gemeindesaal mit Freuden zur Verfügung gestellt. Erleichtert erzählte sie ihrem Katerchen von der Absprache. »Jetzt bin ich wieder eine Sorge los und kann mich ganz auf morgen freuen, wenn wir alle zum Lichterfest gehen!«, sagte sie und küsste Dante mitten zwischen die winzigen Öhrchen. Dann setzte sie den Kleinen auf seinen Lieblingsplatz im Schaufenster und wandte sich dem jungen Mann zu, der eben ihr Geschäft betreten hatte. »Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?«
»Äh, sind Sie Elisabeth Faber?«, fragte der Junge, der noch ein Schüler zu sein schien.
»Ja, die bin ich.«
»Ich soll das hier für Sie abgeben«, antwortete er und legte eine große, flache Schachtel auf den Tresen. »Es ist von der Firma Graubner.«
»Vom Dirndlgeschäft in der Lindenstraße?«, wunderte sich Elli. Verblüfft schaute sie den hübschen perlgrauen Karton mit der blauen Schleife an. »Aber ich erwarte keine Lieferung aus dem Geschäft. Ich habe dort nichts eingekauft.«
»Davon weiß ich nichts. Ich habe nur den Auftrag bekommen, das bei Ihnen abzuliefern«, antwortete der Bote. »Es gehört auch ein Brief dazu.«
Elli nahm das Papier entgegen und las.
Meine liebe Elli,
bitte erlaube mir, Dir ein Geschenk zu machen. Dieses Dirndl haben wir im Vorübergehen im Schaufenster gesehen, erinnerst Du Dich? Sieht es nicht so aus, als habe es nur auf Dich gewartet? Viel Freude beim Tragen, Du Schöne!
Ich erwarte Dich am Sternwolkensee.
Henning
»Oh!« Sie ließ den Brief sinken und strahlte den Boten an. »Alles in Ordnung, vielen Dank!«
Der junge Mann verließ ihr Geschäft, und Elli öffnete den Karton. Sie ahnte, was sich unter den Schichten von Seidenpapier verbarg: das Trachtenkleid, das sie im Fenster bewundert hatte und von dem sie wusste, dass sie es sich nicht würde leisten können.
Es war ein Festtagsdirndl aus edlem, schwarzem Stoff. Das Mieder war mit einem Balkonettausschnitt und Schalkragen gearbeitet und mit winzigen Blüten bestickt. Über dem üppig fallenden Rock bauschte sich eine zart gemusterte Schürze aus grünem Seidentaft. Das Dirndl war einfach hinreißend und würde Elisabeths Farben – das sahnige Weiß ihrer Haut, die blau-grauen Augen, die rote Haarpracht – zum Strahlen bringen.
»Es ist perfekt! Danke, Henning!«, flüsterte sie glücklich und drückte das Prachtstück an sich.
So überraschte sie Til Tilsner, als er das ›Lesezeichen‹ betrat. Unwillkürlich musste er lächeln. »Wissen Sie, eigentlich habe ich überhaupt keine Vorliebe für heimischen Trachten, aber ich muss zugeben, dass dieses Dirndl wirklich wunderschön aussieht.« Er machte eine kleine Pause und betrachtete Elisabeth mit einem Blick aufrichtiger Bewunderung. »Was aber auch an Ihnen liegt; Sie erwecken das Kleid zum Leben.«
»Oh!« Elli errötete. »Vielen Dank, das haben Sie sehr schön gesagt.« Hastig legte sie das Kleid wieder in den Karton zurück. Mit einem herausforderndem Blick fuhr sie fort: »Was allerdings nicht verwundert, immerhin sind Sie Schriftsteller und wissen mit Worten umzugehen.«
Der Mann seufzte. »Das hab ich nun davon! Man legt meine Worte auf die Goldwaage.«
Elli hörte den Unterton leichter Enttäuschung, und ihre Bemerkung tat ihr leid. Vielleicht hatte der Mann einfach nur nett sein wollen? Sie wechselte rasch das Thema. »Es sind unglaublich viele Anmeldungen zu Ihrem Abend gekommen, obwohl noch nicht einmal ein genaues Datum feststand. Da können Sie mal sehen, wie sehr man Sie auch hier in dieser Gegend schätzt.«
»Ich habe schon gehört, dass wir in die Gemeinderäume umziehen müssen, und ich fühle mich geschmeichelt.« Er grinste überraschend jungenhaft und sympathisch. »Passt der nächste Donnerstagabend?«
Elli schaute in ihren Kalender und nickte. »Ja, dann steht uns der große Raum zur Verfügung. Ich bereite alles vor und denke, Sie werden zufrieden sein.«
»Das glaube ich auch.« Sein Blick wanderte durch das Geschäft. »So wie Sie Ihre Buchhandlung eingerichtet haben, werden Sie es schaffen, einen nüchternen Gemeinderaum zu verschönern.«
»Danke!« Elli freute sich über dieses Kompliment.
Til Tilsner griff einen der wenigen königsblauen Flyer auf, die noch auf dem Ladentisch lagen. »Werden Sie dieses Lichterfest auch besuchen?«
Elli hörte den kleinen spöttischen Unterton. »Ich gehe gemeinsam mit Freunden, und wir alle freuen uns sehr darauf. Es ist ein traditionelles Fest, das die Menschen hier mit viel Liebe vorbereiten«, antwortete sie bestimmt.
»Na dann, viel Spaß!« Der Schriftsteller zuckte leicht mit den Mundwinkeln. »Ich mag diese zur Schau gestellte Heimatverbundenheit nicht.«
»Das ist Ihr gutes Recht. Aber Sie haben nicht das Recht, sich über die lustig zu machen, welche sich auf das Ereignis freuen!«, antwortet Elli scharf.
»Ich bitte Sie, Sie nehmen das tatsächlich ernst? Diesen lauschigen Sommerabend am See, Kerzen, Musik und Trachtenromantik? Das ist doch alles nur ein Produkt der Tourismusbranche.«
»Sie sollten sich besser informieren!«, fauchte Elli. »Das Lichterfest am See gibt es bereits seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, und es hat einen historischen Ursprung. Ganz gewiss wird es nicht gefeiert, um Touristen das Geld aus der Tasche zu ziehen!«
Til Tilsner schaute sie nachdenklich an. »Es scheint Ihnen wirklich etwas zu bedeuten.«
»Tut es auch!« Die junge Frau zog ihr schönes Kleid aus der Schachtel und hielt es sich demonstrativ an. »So viel zum Thema Trachtenromantik!«, sagte sie böse. »Morgen Abend werde ich das Dirndl tragen, und Ihre Meinung dazu ist mir keinen Pfifferling wert!«
»Na dann, viel Vergnügen!« Der Schriftsteller deutete eine kleine, spöttische Verbeugung an und verließ das Geschäft.
»Was ist bloß los mit diesem Kerl!«, schimpfte Elli halblaut vor sich hin, während sie ihr Dirndl sorgfältig wieder einpackte. »Wechselt übergangslos vom netten Mann zum arroganten Ekelpaket.«
»Hoppla! Wer hat Sie denn so verärgert?«, fragte Sebastian Seefeld. Er stand plötzlich am Tresen und wollte die Briefkarten bezahlen, die er sich draußen aus dem Ständer ausgesucht hatte.
»Ach, bloß dieser Krimiautor. Ich kann seine Sprunghaftigkeit nicht verstehen, wie kann jemand nur so launisch sein! Gibt es dafür eigentlich eine medizinische Bezeichnung?«, fragte sie, halb im Spaß.
»Oh, unberechenbares Verhalten kann viele Ursachen haben«, antwortete der junge Landdoktor. »Es kann seelische Gründe oder körperliche Beschwerden als Auslöser haben. Die Bandbreite ist sehr groß.«
»Wie gut, dass ich keine Ärztin bin!«, seufzte Elli. »Ich glaube, dazu fehlt mir die Geduld.«
Sebastian Seefeld lachte leise. »Das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen«, antwortete er. »Hätten Sie keine Geduld und kein Einfühlungsvermögen, könnten Sie keine Buchhandlung führen.«
»Auch wieder wahr.« Elli grinste. »Außerdem ist dieser Tilsner nur für kurze Zeit hier, und da schaffe ich es schon, mich mit ihm gutzustellen. Ich denke jetzt ganz einfach nicht mehr an ihn, sondern freue mich auf morgen!«
»Guter Plan!« Sebastian Seefeld verabschiedete sich mit einem freundlichen Gruß. »Bis morgen Abend, Frau Faber.«
»Bis dahin, Doktor.«
*
Ein herrlicher Tag, weiß-blau wie der bayerische Sommerhimmel, neigte sich dem Abend entgegen. In Bergmoosbach schlossen die Geschäfte, Afra machte ihren Kiosk dicht, und vom neuen Friseursalon ›Die Schere‹ gingen die letzten Kundinnen beschwingt nach Hause zurück. Jung und Alt machte sich bereit, zum alljährlichen Lichterfest an den Sternwolkensee zu gehen.
Elisabeths rote Haarflut war zu einer traditionellen Flechtfrisur gebändigt, in die sie ein grünes Seidenband eingeflochten hatte. Das edle Dirndl passte wie angegossen und unterstrich ihre außergewöhnliche Schönheit. Beim Gedanken an Henning verspürte die junge Frau eine Leichtigkeit dort, wo früher Zorn und dann Gleichgültigkeit gewesen waren.
»Was glaubst du, was er sagen wird, wenn er mich in meinem neuen Kleid sieht?«, fragte sie Dante, der zufrieden auf ihrem Bett lag und ihrem munteren Treiben zuschaute. Elli drehte sich vor dem Spiegel, band ihr Schürzenband dreimal neu, ehe sie mit der Schleife zufrieden war, und befestigte zum Schluss winzige, antike Diamantohrringe, ein Erbstück ihrer Ur-Großmutter. Noch ein Hauch ihres herben Parfums, und sie war fertig. »Los, mein Süßer, jetzt gehen wir!«
Dante sauste hinter ihr her die Treppe nach unten, und dann schritten die junge Frau und ihre ›Bücherkatze‹ über den alten Marktplatz, wobei sie etliche Blicke auf sich zogen.
Afra, die mit den beiden First Ladys des Landfrauenvereins ebenfalls den Platz überquerte, sah sofort das neue Dirndl. »Ja, mei, das ist das teuerste, das du bei Nannerl Graubner finden kannst!«
»Und das schönste«, stellte Therese Kornhuber – nicht ganz neidlos – fest. »Ich wollte es anprobieren, aber leider hatte Nannerl meine Größe nicht vorrätig, und zum Schneidern blieb dann nicht mehr die Zeit.«
Ihre beiden Freundinnen schauten kurz auf Thereses stattliche Figur, warfen sich dann einen vielsagenden Blick zu, sagten aber nichts.
»Und dann diese schwarze Katze! Wie macht die Zugereiste das nur, dass ihr das Viecherl auf Schritt und Tritt folgt? Das grenzt doch schon an Zauberei«, sinnierte Elvira Draxler.
»Das ist schon merkwürdig«, stimmte Afra zu. »Und wisst ihr, was ich noch merkwürdig finde? Dass dieser Til Tilsner gerade jetzt eine Autopanne hatte, direkt vor ihrem Geschäft! Und das, wo doch sein neues Buch verkauft werden soll.«
»Was willst du denn damit sagen?«
»Nichts will ich damit sagen! Ich meine ja nur: rote Haare, schwarze Katze, günstige Zufälle …«, der Rest des Satzes blieb in der Luft hängen.
»Afra, jetzt wirst spinnert!«, stellte die bodenständige Therese fest. »Wir sollten uns weniger Gedanken um diese Elisabeth Faber machen und lieber unsere Augen offenhalten, ob wir den Tilsner auf dem Fest sehen. Nicht umsonst hat der Landfrauenverein einen Tisch auf der Terrasse von seinem Hotel reserviert.«
Sofort waren die beiden anderen Damen beim Thema Prominenz und ließen noch einmal ihre Erfahrungen vom Auftritt des gefeierten Sängers Florian König in Bergmoosbach an sich vorüber ziehen. Bester Stimmung kam das Trio im Steg-Haus an und setzte sich an den Tisch mit der besten Aussicht.
Inzwischen war Elli in der Wohnung ihrer Freundin Anna verschwunden, die über der gegenüber liegenden Apotheke wohnte. Die beiden Frauen begrüßten sich fröhlich, und Dante und Betty, die beiden niedlichen Katzenkinder, waren sofort in ein aufregendes Fang-das-Wollknäuel-Spiel vertieft.
»Du siehst toll aus!«, sagte Anna mit aufrichtiger Bewunderung.
»Du auch!«, antwortete Elli. »Sebastian wird Augen machen.«
»Das hoffe ich!« Anna zupfte sich noch einige Haarsträhnchen aus dem weichen Nackenknoten und befestigte eine wunderschöne, echte Rosenblüte, die betörend duftete.
»Mhm, das ist ja eine Viktoria Luise«, stellte Elli fest und schnupperte hingerissen an dem Blütenkelch. »Der Duft ist wirklich traumhaft.«
»Sebastian hat mir den Rosenstock zum letzten Geburtstag geschenkt«, sagte Anna zärtlich. »Er meinte, diese Rosensorte passt genau zu mir.«
»Der Mann hat ein gutes Auge!« Elli blinzelte ihr verschwörerisch zu.
Die junge Hebamme trug kein Dirndl, sondern ein Sommerkleid mit dünnen Trägern, die sich über ihrem schmalen Rücken kreuzten. Der zarte Stoff hatte genau den gleichen Farbton wie ihre grünen Augen. Die prächtige Rosenblüte, apricot- und roséfarben, setzte einen wunderschönen Akzent in ihre dunklen Haare.
»So, ihr Süßen, ihr spielt und kuschelt zusammen, bis wir nach Hause kommen«, verabschiedeten sich die beiden Freundinnen von den Kätzchen und gingen gemeinsam zum Doktorhaus hinauf, wo sie von der Familie Seefeld erwartet wurden.
Benedikt öffnete ihnen die Tür und begrüßte sie mit einem charmanten Lächeln. »Es ist eine Ehre für meinen Sohn und mich, mit vier so schönen Damen auf das Lichterfest gehen zu können«, sagte er galant.
Emilia kicherte und stupste ihren Großvater spielerisch in die Seite, aber Traudels Herz machte bei seinen Worten einen kleinen Satz. Auch sie trug ein neues Dirndl, es war pfauenblau und hatte eine grüne Seidenschürze. Benedikt hatte stumm gelächelt, als sie heute Abend in die Stube trat, und ihre Hand geküsst, und sie hatte gewusst, dass sie heute Abend seine Königin sein würde.
Sebastian Seefeld im hellen Sommeranzug reichte Anna und Emilia seine Arme. »Meine Damen, wenn ich bitten darf?« Traudel und Elli hakten sich bei dem Senior der Familie ein, und dann ging es in Begleitung des ausgelassenen Nolan hinunter an den Sternwolkensee.
Dort waren viele Plätze bereits besetzt, aber man saß nicht nur auf den Terrassen der angrenzenden Restaurants. Rund um den See waren Tische, Stühle und Bänke aufgestellt worden, und Leute breiteten ihre Picknickdecken aus. Sebastian Seefeld hatte zwei Tische reserviert, die nahe dem Seeufer unter einer mächtigen Kastanie standen. Von den Ästen hingen an weißen Bändern Lampions und kleine, gläserne Windlichter herab, die in der Dunkelheit angezündet werden sollten.
»Es sieht jetzt schon wunderschön aus!«, sagte Elli begeistert.
»Du siehst wunderschön ist«, sagte eine wohlbekannte tiefe Männerstimme neben ihr.
»Henning!« Elisabeth entfaltete mit beiden Händen die raschelnde Schürze und drehte sich mit schwingendem Rocksaum einmal im Kreis. »Das ist keine Kunst, wenn man ein solches Kleid trägt. Danke für dein wunderschönes Geschenk, Henning!« Wie von selbst fanden ihre Hände den Weg auf seine Schultern, sie hob ihm ihr Gesicht entgegen und küsste ihn auf beide Wangen. »Das war sehr aufmerksam von dir.«
»Ich wollte dir so gern eine Freude machen!«
Elli stellte ihren geschiedenen Mann der Familie Seefeld vor, und das Paar setzte sich an einen der reservierten Tische. Gerti, Benedikts langjährige Praxishelferin, schlenderte Hand in Hand mit ihrer wiedergefundenen Tanzstundenliebe Korbinian Wamsler vorbei, und auch sie setzten sich zu der fröhlichen Runde.
Traudel tauschte einen stillen Blick mit Gerti. Doktor Benedikt Seefeld war über viele Jahre der heimliche Schwarm seiner Sprechstundenhilfe gewesen, und es hatte immer eine unterschwellige, leise Konkurrenz zwischen den beiden Frauen bestanden. Im Haus war Traudel die wichtige Frau gewesen, im Praxisalltag Gerti. Jetzt war Gertis Leben, neben ihrer Arbeit für den jungen Doktor Sebastian, erfüllt von ihrer späten Liebe zu Korbinian. Sie war sichtlich aufgeblüht an der Seite des warmherzigen, älteren Mannes.
Emilia trug an diesem Abend weiße Jeans, die ihre endlosen Beine betonten, und eine weiße Tunika, die mit zarten, grauen Federn bedruckt war. Eine einzige Feder nur war leuchtend rot, und in ihr langes, dunkles Haar hatte das junge Mädchen eine hauchfeine Perlenschnur und eine echte rote Vogelfeder eingeflochten. Sebastian schaute seine schöne Tochter voller Stolz und Vaterliebe an. Wie erwachsen Emilia geworden war! Nur noch wenige Jahre, und sie würde das heimische Nest verlassen und in ihr eigenes Leben aufbrechen … Er unterdrückte einen Seufzer.
Jetzt kam Markus Mittner, Emilias Freund, und wurde von dem jungen Mädchen liebevoll begrüßt. »Papa, ich bin dann mal bei den Mittners drüben; bis später, meine Lieben!«, rief sie in die Runde und verschwand Hand in Hand mit ihrem Freund zu der Picknickdecke, auf der Markus’ große Familie Platz genommen hatte. Markus setzte sich auf einen Baumstumpf und zog die lachende Emilia auf seinen Schoß.
Sebastian fühlte Traudels Hand auf seinem Arm, und er begegnete dem verständnisvollen Blick ihrer warmen, dunklen Augen. »Es geht so schnell, dass die Kinder groß werden, gell?«, sagte sie leise.
Der junge Landdoktor hob sein Glas und ließ es sachte gegen das seiner geliebten Ersatzmutter klingen. »Auf das Großwerden und das Behütetbleiben!«, antwortete er lächelnd.
Henning hatte die kleine Szene beobachtet und wandte sich Elisabeth zu. »Du hast hier sehr sympathische Freunde gefunden.«
Elli nickte lächelnd. »Ja, das habe ich und ich bin dankbar dafür.«
Ihr Ex-Mann musterte sie freundlich. »Es liegt an dir, Elli. Mit dir ist man einfach gern befreundet. Das war schon immer so; erinnerst du dich an früher? Wie gern alle zu uns gekommen sind? Wie viele schöne Einladungen wir gegeben haben?«
»Wir?«, antwortete Elli ruhig. »Die Einladungen hast du mir überlassen, die Vorbereitungen, die Einkäufe und alles andere auch. Wenn die ersten Gäste klingelten, kamst du aus deinem Arbeitszimmer und hast den charmanten Hausherrn gegeben.«
Henning war sichtlich gekränkt. »Das hört sich ziemlich hässlich an. So als ob wir getrennte Leben geführt haben, obwohl wir unter einem Dach wohnten. Du bist eine wundervolle Frau, Elli, aber manchmal nimmst du die Dinge des Lebens einfach zu schwer.«
»Offenbar! Sonst hättest du dich wohl kaum für Maja umentschieden.« Ellis Stimme klang ruhig, trotz der bitteren Erinnerung. »Ist es nicht merkwürdig, wie sie sich immer wieder in unsere Gespräche einschleicht?«
Henning griff nach ihrer Hand und hielt sie behutsam in seiner. »Das ist nicht merkwürdig, sondern ganz verständlich. Meine leichtfertige Beziehung zu Maja war der Schnitt, der unsere Ehe getrennt hat. Und wenn wir immer wieder darauf zu sprechen kommen, dann heißt das doch, dass wir damit noch nicht abgeschlossen haben.«
»Ja, vielleicht.« Elli wandte den Kopf ab, um Hennings intensiven Blick zu entgehen.
Er legte seine Hand unter ihr Kinn und hob sanft ihr Gesicht an, sodass sie einander wieder in die Augen schauten. »Wir zwei sind uns immer noch sehr nahe, nicht wahr?«
»Es scheint so«, murmelte Elli. Dann entzog sie ihm ihre Hand und rutschte ein Stückchen von ihm fort. »Hier am Bootssteg sind so viele Menschen. Lass uns ein Stückchen am See entlang gehen.«
Henning erhob sich, und das Paar schlenderte den erleuchteten Weg am See entlang. Es war eine ansteckende, freundliche Atmosphäre inmitten der Lichter, deren warmer Schein jetzt nach und nach in der Dämmerung aufflammte. »Das ist eine hübsche Tradition«, sagte Henning. »Worin liegt eigentlich ihr Ursprung? Ich habe gehört, dass bereits Mitte des achtzehnten Jahrhunderts das erste Lichterfest gefeiert wurde.«
»Es hat seinen Ursprung in der Liebe«, erzählte Elli. »Ein Mädchen und ein Junge verliebten sich und wollten heiraten, aber die Väter der beiden trauten einander nicht über den Weg. Er war Hoferbe in einem alteingesessenen Bauerngeschlecht, sie das einzige Kind eines angesehenen Tuchhändlers. Obwohl beide aus wohlhabenden Familien stammten, hieß es nur ›der Bauernlümmel‹ oder ›das Krämermadl‹. Eine Hochzeit schien unmöglich; die Kinder hatten keine andere Wahl, als sich den strengen Vätern zu fügen.
Aber Andres, so hieß der Junge, wollte seiner Leonore zeigen, dass er sie trotz aller Verbote liebte und ewig an sie denken würde. Er entzündete jeden Abend ein Licht und stellte es ans Seeufer. Auf der gegenüber liegenden Seite sah Leonore den hellen Schimmer und entzündete als Antwort ebenfalls jeden Abend eine Laterne, die sie ans Seeufer stellte.
So sehr die Väter auch zankten und drohten – die Kinder ließen sich nicht beirren und sagten sich jeden Abend mit ihren Lichtern, dass sie sich liebten.
Und plötzlich leuchtete ein drittes Licht durch die Dunkelheit, dann ein viertes und fünftes. Mit jedem Abend wurden es mehr. Es waren die Mütter, die ihre Kinder unterstützten, es waren andere Liebende, es waren Alte, die für eine verlorene Liebe ein Licht entzündeten. Irgendwann waren es Dutzende, die Abend für Abend von Ufer zu Ufer von der Liebe erzählten.
Das erweichte schließlich auch die verhärteten Gemüter der beiden Väter, und im nächsten Sommer konnten Andres und Leonore endlich Hochzeit feiern. Seitdem gibt es jedes Jahr das Lichterfest am Sternwolkensee.«
»Das ist ein wunderschönes Märchen«, antwortete Henning weich.
»He, das ist kein Märchen!« Elli stupste ihn spielerisch gegen den Arm. »Andres und Leonore haben wirklich hier gelebt, du kannst es in den Kirchenbüchern nachlesen.«
»Das habe ich nicht gemeint«, antwortete Henning bedächtig. »Ich meinte, dass die Liebe über alle Widerstände hinweg gesiegt hat.« Er blieb stehen, und sanft berührten seine Fingerspitzen Ellis Gesicht, zeichneten ihre Kinnlinie nach, strichen ihre Wangen entlang und verloren sich zwischen den seidigen Locken, die sich aus der geflochtenen Haarkrone gelöst hatten. »Was steht zwischen uns, Elli?«, murmelte er an ihren Lippen. »Welche Hindernisse müssen wir überwinden, damit wir wieder eins werden, so wie früher?«
Elli seufzte und sank in seinen Kuss.
*
Der nächste Morgen brachte Sommerregen und Abkühlung. Elisabeth atmete in tiefen Zügen die Frische, die durch ihre geöffneten Fenster in die Wohnung zog. Sie war mit Anna zum Frühstück verabredet und freute sich sehr darauf, mit ihrer Freundin über die gestrige Nacht zu sprechen. Da gab es einiges, was die junge Frau beschäftigte.
»Duschen und richtig anziehen kann ich mich später«, nuschelte sie um ihre Zahnbürste herum. »Für einen Kaffee unter Freundinnen tun es auch nur Wasser und Seife und Räuberzivil. Los, Dante!« Sie schlüpfte in eine weiche, hellgraue Gymnastikhose und ein weißes Shirt, wurstelte irgendwie ihre Haare auf dem Hinterkopf zusammen und lief mit Dante auf den Fersen nach draußen. Vor ihrem Schaufenster traf sie auf Til Tilsner, der interessiert das Stillleben musterte, in dem die Buchhändlerin seinen neuen Krimi präsentierte.
»Guten Morgen!«, grüßte er.
»Oh, guten Morgen!« Elli dachte daran, mit welchen Worten sie sich gestern getrennt hatten. »Und? Fühlten Sie sich vom provinziellen Treiben unter ihren Fenstern sehr gestört?«, fragte sie herausfordernd.
»Im Gegenteil!« Wieder war dieses jungenhafte Grinsen zu sehen, das ihn so sympathisch und anziehend machte. »Ich wollte sogar ein wenig am See spazieren gehen, aber ich bin nicht über den Steg hinausgekommen. Nachdem mich auf der Hotelterrasse die Damen des Landfrauenvereins begrüßt hatten, habe ich die Bekanntschaft mit einer zielstrebigen jungen Frau gemacht, deren Familie hier – das sind ihre eigenen Worte – tonangebend ist.«
»Lassen Sie mich raten: das war Miriam Holzer, deren Familie Holzhandel und Sägewerk gehören?«
»Genau! Sie hat bereits die Sitzordnung bei der Lesung im Gemeindesaal geklärt«, schmunzelte der Autor.
»Lassen Sie mich noch einmal raten: Miriam Holzer mittig in der ersten Reihe, direkt neben Doktor Sebastian Seefeld?«
»Ja, so stellt die junge Dame es sich vor.«
Elli dachte an Freundin Anna und antwortete diplomatisch: »Hm, man wird sehen …«
»Frau Faber, ich möchte Ihnen etwas sagen.« Til Tilsner wurde wieder ernst. »Ich habe über Ihre Worte von gestern nachgedacht. Es tut mir leid, dass ich mich so spöttisch über das Lichterfest geäußert habe.«
»Es ist nett von Ihnen, das zu sagen.«
»Mir ist es wichtig, dass Sie es wissen! Irgendwie scheine ich eine Ader dafür zu haben, in Ihrer Gegenwart besonders unfreundliche Dinge zu sagen.«
»Oh, schon gut! Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Im Zusammenhang mit der Lesung haben Sie jede Menge Gelegenheiten, Freundliches zu sagen. Überraschen Sie mich!«, neckte Elli ihn.
»Das wollte ich eigentlich heute Morgen schon, aber sogar das ging schief«, antwortete er. »Sie waren so stolz auf Ihr neues Dirndl und ich wollte mich mit etwas, das aus Ihrer Heimat stammt, für meine abfälligen Worte entschuldigen. Also bin ich in ein Blumengeschäft gegangen und wollte einen großen Strauß Alpenrosen binden lassen … Können Sie sich das Gesicht der Floristin vorstellen?«
Elli lachte. »Nur zu gut! Und soll ich Ihnen auch sagen, warum? Bis vor Kurzem habe ich nicht gewusst, dass die Alpenrose ein Rhododendronstrauch ist! Ich wollte mir auch einen Strauß Alpenrosen für die Vase kaufen und habe erst dann gelernt, was für ein Gewächs es ist. Ich habe einen Strauch in meinen Hinterhof gepflanzt.« Sie zögerte kurz und fuhr dann fort: »Wenn Sie mögen, besuchen Sie mich doch mal nach Feierabend. Dann setzen wir uns in meinen Topfgarten, Sie lernen Alpenrosen kennen, und wir unterhalten uns über Bücher.«
»Klingt gut, darauf freue ich mich!«
»Ich muss weiter, meine Freundin wartet mit Kaffee und frischen Semmeln auf mich.« Elli winkte zum Abschied und lief weiter durch den Nieselregen, der ein hauchfeines Netz funkelnder Kristalle über ihre roten Haare legte. Ihr Duft nach englischer Seife und Minze wehte an dem Mann vorüber und zauberte ein Lächeln auf seine hageren Züge.
*
Elli und die junge Hebamme saßen gemütlich auf Annas großem Bett, tranken Kaffee, krümelten mit den krossen Semmeln und teilten sich sommerliches Obst. Betty und Dante trieben Unsinn und lauerten darauf, dass eventuell das eine oder andere Wurstzipfelchen für sie abfallen würde.
»Es war so schön gestern«, sagte Anna träumerisch. »Es ist nicht nur Sebastian, weißt du? Auch mit seiner Familie zusammen zu sein, ist unkompliziert. Es sind so warmherzige Menschen.«
Elli nickte verständnisvoll. Sie wusste, wovon ihre Freundin sprach, ihr erging es mit den Seefelds ähnlich. »Ja, ich habe auch schon bemerkt, dass nicht nur der Arzt sehr beliebt ist, sondern die anderen Familienmitglieder auch.« Sie legte eine kleine Pause ein und zwinkerte Anna verschmitzt zu. »Obwohl der gute Doktor Sebastian Seefeld offensichtlich von vielen Damen des Ortes angehimmelt wird.«
»Wen wundert's?«, antwortete Anna mit einem leichten Seufzer, und dann zog ein zärtliches Lächeln über ihr hübsches Gesicht. »Aber es war trotzdem romantisch mit Sebastian, auch wenn wir kein Paar sind. Wir haben am Seeufer getanzt.«
»Und mindestens ein halbes Dutzend weiblicher Augenpaare hat dich von hinten erdolcht!«, grinste Elli. »Schade, dass ich das nicht miterlebt habe.«
»Du warst ja mit Henning zu einem Spaziergang um den See aufgebrochen und offensichtlich sehr beschäftigt«, antwortete Anna anzüglich.
Elli errötete leicht. »Wir haben geknutscht wie verknallte Teenager.«
»Oh!« Ihre Freundin machte große Augen. »Und habt ihr …?«
»Nein, haben wir nicht!«, stellte Elli klar. »Henning kann nicht einfach hier auftauchen, nett sein und glauben, alles wird wie früher. Ich habe unsere Ehe sehr ernst genommen und geglaubt, das gilt auch für ihn. Nachdem es mit der anderen Frau nicht geklappt hat, kann er nicht einfach dort weitermachen, wo er vor Jahren aufgehört hat.«
»Hm. Ich denke, du magst ihn?«
»Ja, ich mag ihn, aber nicht als seine Frau. Jedenfalls – noch nicht.«
»Was sagt das Sprichwort? Alte Liebe rostet nicht?«
Elli zuckte mit den Achseln. »Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall liegt dieses Mal die Entscheidung bei mir!« Die junge Frau klang zufrieden und selbstbewusst.
»Das ist gut!« Anna beugte sich vor und gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. »Einmal im Regen stehengelassen zu werden, das reicht.« Auch die junge Hebamme kannte aus eigener Erfahrung den Schmerz, verraten und betrogen worden zu sein.
Mitten in das Gespräch hinein klingelte das Telefon, Sebastian Seefeld war am Apparat. Schlagartig wurde Anna sehr ernst. »Natürlich komme ich mit! Gib mir fünf Minuten, dann bin ich unten vor der Haustür.« Sie sprang aus dem Bett und begann in Windeseile, sich frischzumachen und anzuziehen.
»Entschuldige, ich muss ganz schnell los. Eine junge Mutter, die frisch entbunden hat, ist sehr krank geworden. Eine erkältete Tante hat sie mit ihrem Infekt angesteckt, und der jungen Frau scheint es ziemlich schlecht zu gehen, Sebastian ist auf dem Weg zu ihr.«
»Alles klar, ich kümmere mich hier ums Aufräumen. Alles Gute für eure Patientin!«
»Danke und Servus!« Anna schnappte sich den Rucksack mit ihrer Ausrüstung und lief nach unten, wo Sebastian bereits im Wagen auf sie wartete. Er hatte eine Sondererlaubnis und durfte im Notfall auch durch die autofreie Zone Bergmoosbachs fahren.
»Herr Zirbel hat angerufen; seine Frau hat starken Husten und hohes Fieber«, informierte der Arzt seine Kollegin während des Fahrens.
»Das heißt, du wirst wahrscheinlich Antibiotika geben müssen, und das hat Auswirkungen auf das Stillen. Mann, ich möchte dieser verantwortungslosen Tante, die die Erkrankung brühwarm übertragen hat, mal ein paar harte Worte sagen!«, knurrte Anna.
»Geht mir ebenso!«, antwortete Sebastian ernst.
Bei Familie Zirbel stellte sich zum Glück heraus, dass der Arzt rechtzeitig gerufen worden war. Es bestanden gute Aussichten, die Lungenentzündung in den Griff zu bekommen, ohne dass die junge Mutter ins Krankenhaus musste. Aber Husten, Fieber und Schüttelfrost quälten sie und mehr noch, dass sie Schwierigkeiten beim Stillen hatte. Sie hatte nicht viel Milch, und ihr kleiner Vitus gedieh nicht so, wie er eigentlich sollte, das sahen sowohl die Hebamme als auch der Arzt.
»Was bin ich nur für eine Mutter!«, schluchzte die Kranke verzweifelt auf. »Erst schaffe ich es nicht, mein Baby auf dem natürlichen Weg zur Welt zu bringen, und jetzt kann ich es noch nicht einmal richtig stillen.«
Anna setzte sich zu der jungen Frau aufs Bett und wischte ihr liebevoll die Tränen ab. »Barbara, bitte schau mich an! Dass du einen Kaiserschnitt brauchtest, hat rein gar nichts damit zu tun, dass du etwas nicht geschafft hast! Ein Baby zur Welt zu bringen, ist doch kein Wettkampf, bei dem man gewinnen oder versagen kann. Du bist eine ganz wundervolle Mutter, und dein Vitus ist ein vollkommenes Baby.
Aber jetzt seid ihr beide krank geworden, weil jemand rücksichtslos eine Erkältung hier eingeschleppt hat. Ihr beide braucht Hilfe, und wir werden zusammen überlegen, was jetzt das Beste für euch ist.«
Sebastian Seefeld zog sich einen Stuhl ans Bett heran und erklärte freundlich, welche Behandlung jetzt notwendig war. Auch über das Stillen oder Babynahrung aus der Flasche sprachen er und die Hebamme ausführlich mit der verzweifelten Mutter. Als sie später vom Hof fuhren, zweifelte Barbara nicht mehr an sich als Mutter und hatte sich mit dem Vorschlag, auf Flaschennahrung umzustellen, ausgesöhnt. Ihr Mann stand ihr rührend zur Seite, nicht nur in der Krankenpflege, sondern auch bei der Versorgung des Säuglings. Mit etwas schlechtem Gewissen gestand er ein, dass er die Ernährung über das Fläschchen gar nicht so schlimm fand, denn jetzt konnte auch er seinem Baby die lebensnotwendige Nahrung geben.
Im Auto unterhielten sich der Landarzt und die Hebamme lange über die Einstellung zum Stillen, die sich im Laufe der Jahre sehr geändert hatte. »Ich finde es immer wieder schön zu erleben, wie du mit den Müttern umgehst, Anna. Dein Einfühlungsvermögen ist großartig.«
»Nun, wenn ich das nicht hätte, wäre ich falsch in meinem Beruf«, antwortete sie.
»Schon, aber du bist besonders, Anna.« Der Landdoktor wandte den Kopf für einen kurzen Seitenblick und lächelte.
»Du auch, Sebastian.«
Er räusperte sich verlegen, um diesem zarten Augenblick nicht zu großen Raum zu geben, und wechselte das Thema. »Wir sehen uns dann morgen zum nächsten Hausbesuch bei Familie Zirbel und anschließend bei unserer Schafkopfrunde?«
»Wenn kein Baby dazwischen kommt, gern!«
»Ich freue mich auf dich, Anna.« Sie schauten sich an und lächelten in wortlosem Verständnis.
*
»Wie schön, dass heut endlich Donnerstag ist, ich konnte es kaum noch abwarten!«, sagte Elvira Draxler zu Elli. Die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins hatte ein Bilderbuch für den Geburtstag ihrer Enkelin gekauft und hoffte, von der Buchhändlerin noch ein paar Neuigkeiten über den Krimiautor zu erfahren. »Meinen Sie, dass er Autogrammkarten hat, die er live unterschreibt? So wie der Florian König?«
»Das weiß ich leider nicht«, antwortete Elli überrascht. Darüber hatte sie sich noch nie Gedanken gemacht. »Aber er wird seine Bücher signieren, das kann ich mit Sicherheit sagen.«
»Sehr schön! Dann bringe ich alle mit, die ich von ihm habe«, antwortete Elvira zufrieden.
Elli stellte sich den Andrang vor und verkniff sich eine Antwort. Armer Tilsner, dachte sie nur, aber wahrscheinlich bist du das gewöhnt!
»Elli, Schatz, bereit für den großen Abend?« Henning trat dicht an den Tresen und griff spielerisch nach ihrer Hand. »Wollen wir noch schnell eine Kleinigkeit essen, ehe wir hinüber zum Gemeindehaus gehen?«
Elisabeth entzog ihm ihre Hand. »Danke, aber dafür habe ich keine Zeit. Gleich kommt Til Tilsner, wir besprechen noch ein paar Kleinigkeiten und gehen dann gemeinsam hinüber.«
»Wir gehen nicht zusammen?« Henning klang eindeutig enttäuscht – und ein wenig gekränkt.
Elisabeth warf einen Blick auf die Uhr und griff gleichzeitig nach ihren Schlüsseln. »Wir sehen uns doch bei der Lesung«, antwortete sie zerstreut. »Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst? Ich möchte noch die Kasse machen, ehe ich gehe.«
»Ja, dann …, ich bin drüben im Biergarten, falls du es dir noch anders überlegst.«
Mit einem kurzen »Servus!« schloss sie tatsächlich hinter ihm die Ladentür ab, wie Henning überrascht feststellte. Er zuckte die Achseln und schlenderte betont lässig hinüber zum Biergarten der Brauerei Schwartz.
Elli verschloss die Tageseinnahmen und lief nach oben in ihre Wohnung, um sich in Windeseile ein wenig frisch zu machen und in eines ihrer Lieblingskleider zu schlüpfen. Es war grün und betonte ihre weiße Haut mit den zarten Sommersprossen. Mit wenigen, kräftigen Bürstenstrichen fuhr sie durch ihre Lockenmähne, die frei und ungebändigt über ihren Rücken flutete. Ihr einziger Schmuck waren Ohrringe aus grünem Glas und ein Seidenband mit einer Rosenblüte, das sie sich um das linke Handgelenk band. Kaum hatte sie die Schleife befestigt, hörte sie den Autor klingeln. Wie immer ging es im Laufschritt die Treppe nach unten, und Elli riss die Tür auf.
Til Tilsner, ganz in Schwarz, musterte sie mit einem Ausdruck aufrichtiger Bewunderung. »Sie sehen abenteuerlich aus.«
»Ich fühle mich auch abenteuerlich. Immerhin verbindet sich heute Abend ein großer Name mit meiner Buchhandlung«, antwortete sie mit blitzenden Augen.
Der Schriftsteller lächelte. »Sie sind aufgeregt.«
»Klar! Sie nicht?«
Til Tilsner hatte schon eine rasche Antwort auf der Zunge, aber er schluckte sie hinunter. Er war längst nicht so cool, wie er sich gab, und Elisabeths entwaffnende Offenheit war ansteckend. »Doch, ich bin jedes Mal aufgeregt, wenn ich es mit einem größeren Publikum zu tun habe«, antwortete er leise. »Eigentlich sind mir Lesungen in kleinerem Rahmen lieber, das ist viel persönlicher.«
Überrascht schaute Elli den Mann an. So hatte sie ihn nicht eingeschätzt. »Das finde ich sympathisch. Eigentlich wäre das ›Lesezeichen‹ dann genau der richtige Rahmen für Sie, vielleicht ergibt sich noch einmal eine andere Gelegenheit.«
»Ja, vielleicht.« Er schaute Elli nachdenklich an.
»Kommen Sie, wir werden uns jetzt zusammen Ihrem Publikum stellen!« Unbekümmert hakte sie sich bei dem Mann ein und zog ihn mit sich in Richtung des Gemeindeshauses.
Der Saal war bereits gut besucht, und lebhaftes Stimmengewirr empfing Elli und ihren Star-Autor. Die allgemeine Unterhaltung veränderte sich zu einem aufgeregten Getuschel, als sie durch die Stuhlreihen nach vorn gingen. Elli hatte einen Sessel aus ihrem Geschäft aufgestellt, daneben einen kleinen Tisch mit Blumen und einer Wasserkaraffe. In den ersten Reihen hatte sie Plätze für die Seefelds und ihre Freunde reserviert, sodass Miriam Holzer das Nachsehen hatte: Neben Sebastian Seefeld saß Hebamme Anna.
Elli eröffnete die Lesung mit einigen freundlichen Worten an das Publikum und den Autor. Ehe sie sich auf ihren Platz am Rand der ersten Reihe setzte, lächelte sie ihn warmherzig an. »Viel Erfolg!«, flüsterte sie.
Der Mann nickte; sein Blick folgte ihr, bis sie Platz genommen hatte, dann schlug er sein Buch an der gekennzeichneten Stelle auf und begann, konzentriert zu lesen. Vom ersten Satz an schlug er das Publikum in seinen Bann. Er las ebenso gut, wie er schrieb, und der Saal füllte sich mit knisternder Spannung.
Auch Henning konnte sich dieser Stimmung nicht entziehen, obwohl seine Aufmerksamkeit nicht nur der Geschichte galt. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Elli, die völlig versunken zuhörte. Er verspürte den brennenden Wunsch, seinen Arm um ihre Schultern zu legen, mit der Hand durch ihre schwere Haarfülle zu streichen. Sie sollte ihm ihr Gesicht zuwenden, und er wollte den Ausdruck wiedererkennen, mit dem sie ihn früher angeschaut hatte. Er wollte sie wiederhaben, seine schöne, temperamentvolle, geistreiche Frau, die doch viel besser in das luxuriöse Leben am Genfer See passte als in das Örtchen Bergmoosbach.
Sie schien seinen Blick zu spüren, denn jetzt wandte sie ihren Kopf und schaute ihn mit blitzenden Augen an. »Er ist einfach fantastisch!«, flüsterte sie. »Unglaublich, wie er Spannung aufbaut!«
»Ja, er ist ganz gut«, musste Henning zugeben, und dann schweiften seine Gedanken endgültig ab. Schöne Buchhandlungen gab es auch in Genf, und Elli würde dort die Arbeit finden, die sie so liebte. Ein eigenes Geschäft würde sie zwar nicht führen können, das war zu zeitaufwändig. Er brauchte seine kluge und belesene Frau bei den gesellschaftlichen Anlässen, bei denen er als bekannter Wissenschaftler erscheinen musste. Ein paar Stunden wöchentlich würde Elisabeth für die Arbeit als Buchhändlerin schon erübrigen können.
Lauter Applaus riss ihn aus seinen rosigen Zukunftsträumen. Die Lesung war beendet, und das Publikum klatschte begeistert Beifall, in den Henning höflich einfiel. Ein Gespräch zwischen dem Autor und dem Publikum begann, und dann signierte Til Tilsner seine Bücher.
»Es geht ja schon recht heftig zu in Ihren Krimis, aber sie sind halt so spannend, dass man sie nicht aus der Hand legen kann!«, sagte Traudel zu dem Schriftsteller, als sie ihm ihr Exemplar zum Signieren vorlegte.
Er erkundigte sich höflich: »Was soll ich schreiben?«
Plötzlich stand Benedikt Seefeld neben ihm. »Schreiben Sie: Für die Beste!«, schlug er vor.
Til Tilsners Blick glitt zwischen dem attraktiven, silberhaarigen Doktor und der hübschen Frau mit den warmen, dunklen Augen hin und her. Er sah, dass Traudel errötete, und schrieb mit einem leisen Lächeln die Worte in ihr Buch. Dieser Doktor würde schon wissen, warum und für wen sie die Beste war.
Auch Emilia hielt ihm ein Buch entgegen. Der Autor sah, dass das junge Mädchen Block und Stift in der Hand hielt, womit sie sich offensichtlich Notizen gemacht hatte. Sie sah seinen fragenden Blick und erklärte: »Ich bin Emilia, und ich schreibe für unsere Schülerzeitung über Ihr neues Buch und Ihren Besuch in Bergmoosbach.«
Er zwinkerte ihr zu. »Deshalb hast du dich eben so rege am Gespräch beteiligt. Hat mir Spaß gemacht; du stellst intelligente Fragen, Mädchen.«
»Sie schreiben ja auch intelligente Bücher«, kam die schlagfertige Antwort.
»Entschuldige, Emilia«, sagte Miriam Holzer obenhin und schob das junge Mädchen zur Seite. Dann glitt ein strahlendes Lächeln über ihre Züge, und sie überreichte dem Autor einen Briefumschlag. »Im Namen der Familie Holzer möchte ich Sie zu einem kleinen, intimen Abendessen einladen, Herr Tilsner. Es wäre uns eine große Freude, wenn Sie kommen, und Sie werden eine nette Runde der wichtigen Persönlichkeiten Bergmoosbachs kennenlernen.«
»Der wichtigen Persönlichkeiten, so, so«, antwortete er gedehnt. »Wen kann ich mir denn darunter vorstellen?«
»Natürlich unsere beiden hervorragenden Ärzte, Doktor Sebastian Seefeld und seinen Vater Benedikt, Bürgermeister Thalhuber mit seiner Frau, den Herrn Pfarrer und den Leiter der örtlichen Grundschule«, zählte Miriam eifrig auf.
»Eine beeindruckende Liste«, antwortete er ernsthaft. »Ich vermisse allerdings den Namen der Frau, ohne die meine Lesung gar nicht stattgefunden hätte.«
»Äh, wie bitte?« Miriam geriet kurzfristig aus dem Konzept. »Meinen Sie etwa die Buchhändlerin?«
»Ja, Frau Elisabeth Faber.« Er schaute zu Elli hinüber und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Wenn die Dame an diesem Tag nichts anderes vorhat, würde ich sehr gern in ihrer Begleitung kommen.«
»Natürlich, das ist gar kein Problem!«, improvisierte Miriam und fummelte an den Umschlägen in ihrer Hand herum. Mist, jetzt hatte sie eine Einladung zu wenig! Ihr Lächeln wirkte etwas gezwungen, als sie Elli einen Brief überreichte. »Natürlich freuen wir uns, wenn Sie auch kommen könnten.«
»Ich denke, das lässt sich einrichten. Danke für die Einladung!«, antwortete Elli lässig.
»Dann also bis bald!«, zwitscherte Miriam und schwebte hochhackig hinüber zu den Seefelds, die sich mit ihrem Praxisteam unterhielten. Die junge Frau grüßte strahlend in die Runde, brachte ihre Modelfigur in Positur und richtete ihre blauen Augen auf die beiden Ärzte. »Sebastian und Benedikt, ihr seid herzlich zu unserem Abend eingeladen, wir freuen uns auf euch! Hier ist eure Einladung, sie richtet sich an euch beide, gell?« Mit einem betörenden Augenaufschlag reichte Miriam den letzten Umschlag an Sebastian weiter.
Der junge Landdoktor tauschte einen Blick mit seinem Vater, der mit einem amüsierten Funkeln in den Augen nickte. »Danke, Miriam. Wir kommen gern.« Demonstrativ legte Sebastian den Arm um die Schultern der jungen Hebamme, die unbeachtet neben ihm stand. »Entschuldige uns bitte, Anna und ich haben noch etwas vor.«
Miriams Gesichtszüge entgleisten kurzfristig, als sie den beiden hinterher schaute. Traudel klopfte ihr freundlich auf den Arm und sagte unschuldig: »Ist doch nett, wie gut die beiden sich beruflich und privat verstehen, gell?«
»Ja, ganz reizend!«, antwortete Miriam mit schmalen Lippen. »Servus, Traudel.«
»Servus, meine Liebe!«
Benedikt schaute Traudel und Emilia an, die beide verstohlen grinsten. »Lasst uns nach Hause gehen«, sagte er. »Für heute Abend habe ich genug von Krimis und wichtigen Persönlichkeiten. Was haltet ihr davon, wenn wir es uns im Wintergarten gemütlich machen?«
»Viel!«, antworteten seine Enkelin und Traudel wie aus einem Munde.
Inzwischen waren Sebastian und Anna schon ein gutes Stück voraus gegangen. Die junge Hebamme warf ihm einen verschmitzten Seitenblick zu. »Ich wusste ja gar nicht, dass wir heute Abend noch etwas vorhaben«, sagte sie.
»Tja, man muss ja nicht immer mit Einladungen auf edlem Papier daherkommen, so wie die gute Miriam. Was hältst du denn so ganz spontan von einem Stündchen im Biergarten?«
»Da sage ich doch ganz spontan ja!«, antwortete Anna gutgelaunt.
Im Gemeindehaus sammelte Elli ihre Sachen zusammen. Henning unterhielt sich noch mit anderen, und Til Tilsner überraschte die junge Frau dadurch, dass er ihr anbot, die Möbel wieder in ihr Geschäft hinüber zu tragen. »Und durch Sie bin ich also zu einer wichtigen Persönlichkeit geworden«, schmunzelte sie und deutete auf die Einladung in seiner Hand.
»Tja, manche brauchen eben ein wenig Nachhilfe.« Er wurde wieder ernst. »Danke, dass Sie mich begleiten, das freut mich wirklich!«
Elli schaute ihn an. »Haben Sie Lust, mit mir zusammen in die Sterne zu gucken? Von meinem Hinterhof aus kann man das nämlich sehr gut, und bei der Gelegenheit können Sie gleich die besagte Alpenrose kennenlernen.«
»Sehr schön! Ich komme gern, allerdings unter einer Bedingung: dass wir aufhören, uns so formell anzureden.« Er streckte ihr seine Hand entgegen. »Ich bin Til.«
»Elisabeth oder ganz einfach Elli.«
Inzwischen hatte Henning sein Gespräch beendet und kam zu seiner ehemaligen Frau hinüber, um ihr beim Tragen zu helfen. Elli nestelte ihren Schlüssel aus der Tasche und schaute ihn über den Korb mit ihren Sachen hinweg an. »Lieb gemeint, aber zu spät, Henning. Til und ich sind fertig, und das Tragen schaffen wir allein.«
»Til?« Irritiert runzelte er die Stirn. »Seit wann duzt ihr euch denn?«
Elli machte eine vage Handbewegung, die alles oder nichts bedeuten konnte. »Ist doch nicht wichtig. Guten …«
»Es ist sehr wohl wichtig!«, fiel Henning ihr ins Wort.
»Mir nicht!«, konterte Elli, beugte sich vor und gab ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange. »Danke, dass du gekommen bist, Henning, das war nett. Ich wünsche dir noch einen guten Abend!«
»Aber, Elli!« Der Mann klang wirklich gekränkt. »Ich dachte, wir wollten den Abend gemeinsam verbringen. Es gibt so viel, über das wir reden sollten.«
»Ja? Das können wir gern ein anderes Mal tun, ruf an oder komm einfach vorbei. Nacht, Henning!« Sie ging zu dem Autor hinüber, der höflich in einiger Entfernung gewartet hatte, und dann verließen sie gemeinsam das Gemeindehaus.
Der Küster, der endlich Feierabend haben wollte, begann, die Lichter zu löschen. Henning blieb nichts anderes übrig, als sich allein auf den Weg ins Hotel zu machen.
*
Kaum hatte Elli ihre Tür aufgesperrt, da schoss Dante in ihre Arme und überschlug sich fast vor Glück und Erleichterung, dass sie endlich wieder zu Hause war.
»Der kleine Pelzkragen«, sagte Til mit einer Sanftheit in der Stimme, die Elli bei ihm noch nicht gehört hatte. Er kraulte das Tierchen, das auf der Schulter der jungen Frau balancierte, zwischen den Ohren, und Dante schenkte ihm einen hingerissenen Blick. »Der Kleine steht dir wirklich gut.«
»Das hat schon einmal jemand gesagt«, murmelte Elli zerstreut. »Stell den Sessel einfach hier ab und komm mit durch.« Sie schloss die Hintertür auf und wies in einen kleinen Innenhof. »Bitte sehr, mein Stadtgarten!«
Til ließ seinen Blick über das alte Pflaster, die begrünten Wände und die duftenden Pflanzen, die teils im Erdreich, teils in Töpfen wuchsen, schweifen. Es gab eine Bank mit bequemen Polstern, einen kleinen Tisch, und überall waren gläserne Windlichter verteilt, die Elli jetzt entzündete. »Es ist wirklich wunderhübsch bei dir«, sagte der Mann mit aufrichtiger Bewunderung.
»Danke!« Sie deutete auf die Bank und reichte ihm ein weiteres Kissen für den Rücken. »Möchtest du etwas trinken? Wein oder lieber Bier oder etwas anderes?«
»Keinen Alkohol, bitte.« Mit einer unbewussten Bewegung fuhr der Mann sich über die Stirn. »Wasser wäre gut oder eine Fruchtschorle.«
Elli schaute ihn aufmerksam an. Der Mann wirkte blass und erschöpft, aber das war nach diesem Abend kein Wunder. »Mach es dir bequem, ich bin gleich wieder da.«
Während die junge Frau die Getränke holte, stopfte Til sich das zusätzliche Kissen in den Rücken, lehnte entspannt den Kopf gegen die Bank und streckte die Beine aus. Wie gut das tat! Die Anspannung des Tages fiel von ihm ab, die Schmerzen in seinen Gelenken und seinem Kopf klangen ab. Er spürte, dass er heute Nacht endlich einmal gut schlafen würde.
Elli kam mit den Getränken und frischen Brezen zurück und ließ sich mit einem Seufzer der Zufriedenheit neben ihn auf die Bank fallen. Sie hob ihr Glas mit Kirschschorle. »Auf deinen Erfolg!«
»Auf unseren Erfolg!«
Sie tranken, und dann legte auch Elli ihren Kopf gegen die Banklehne, und beide schauten schweigend in den dunklen Nachthimmel hinauf, an dem die Sterne blinkten. Die Geborgenheit des kleinen Hofes und die Unendlichkeit darüber verschmolzen zu einer Einheit und erfüllten die beiden Menschen mit tiefem Frieden.
Sie saßen lange so, ohne zu reden, jeder in seine eigenen Gedanken vertieft. Plötzlich hörte Til die junge Frau neben sich leise auflachen. Er wandte den Kopf und begegnete ihrem amüsierten Blick.
»Sag mal, heißt du eigentlich wirklich so?«, fragte sie.
»Ähm, wie meinst du das?«
»Til Tilsner – das klingt ein bisschen so, als habe dein Verlag den Namen für dich ausgedacht.«
»Du hast eine blühende Fantasie, Elisabeth Faber!«, antwortete er mit gespielter Strenge. »Ich heiße wirklich so.«
»Das ist schön. Ich mag es, wenn alles an einem Menschen echt ist.«
»Also, du sitzt hier mit dem ganz echten Til Tilsner und guckst in die Sterne.« Seine Augen lächelten, als er sie anschaute. Nach einer Weile sagte er: »Der Mann, der neben dir gesessen hat während der Lesung, schien ziemlich enttäuscht, als du ohne ihn gegangen bist. Hast du ihn etwa versetzt?«
»Nein, habe ich nicht!«, stellte Elli mit Nachdruck fest. »Ich habe mich gefreut, dass er zu der Veranstaltung kam, aber wir waren nicht miteinander verabredet.«
»Hm. Er wirkte gekränkt. Und wenn ich mich richtig erinnere, dann hat er sich neulich auf der Hotelterrasse als dein Mann vorgestellt?«
»Du erinnerst dich richtig, aber wir sind nicht mehr verheiratet. Wir sind geschieden.«
»Oh!« Til schaute sie betroffen an. »Das wusste ich nicht. Tut mir leid, wenn ich an eine alte Wunde gerührt habe.«
»Schon in Ordnung, es tut nicht mehr weh«, antwortete Elisabeth ruhig. »Es ist schon ein paar Jahre her, und ich bin über den Betrug und den Verlust hinweg. Ich hätte es mir damals nicht vorstellen können, aber jetzt – mag ich Henning wieder. Er hat sich verändert.«
Til schaute sie aufmerksam an und versuchte zu ergründen, ob noch andere Gefühle für ihren ehemaligen Ehemann mit im Spiel waren. Er kannte die junge Frau zu wenig, um das sagen zu können.
»Und du? Gibt es in deiner Vergangenheit auch eine besondere Frau?«, wagte Elli sich vor.
Til schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hatte zwar auch einige schöne Beziehungen, aber sie haben nicht länger als ein paar Monate gehalten. Irgendwie scheine ich es mit dem dauerhaften Liebesglück nicht so gut hinzubekommen.«
Darauf wusste die junge Frau nichts zu antworten. Sie wusste nur, dass sie sich in der Gegenwart dieses widersprüchlichen Mannes sehr wohl fühlte. Er begann, Seiten von sich zu zeigen, die sie bisher nicht vermutet hatte: Humor, Verletzlichkeit und Einfühlungsvermögen.
Als der Autor sein Glas abstellte und aufbrach, tat es ihr fast leid. Sie war nicht müde und hätte gern noch weiter mit ihm in die Sterne geschaut und über Irdisches gesprochen.
»Alles war schön heute Abend, die Veranstaltung und die gemeinsame Zeit danach. Ich danke dir.« Til reichte ihr die Hand, und dann wurde aus dem Händedruck eine kleine, unbeholfene Umarmung. »Gute Nacht, ganz einfach Elli.«
»Gute Nacht, ganz echter Til Tilsner.«
Er lachte leise und schlenderte über den Marktplatz davon.
Elli verriegelte die Haustür, nahm Dante auf den Arm und ging leise vor sich hin singend nach oben in ihre Wohnung.
*
Der nächste Morgen brachte leichten Regen und Abkühlung, aber auch der fehlende Sonnenschein konnte Ellis guter Stimmung nichts anhaben. Gut gelaunt öffnete sie ihr Geschäft und begrüßte freundlich ihre erste Kundin, eine Touristin, die nach Urlaubslektüre suchte. Kurze Zeit später erschien Afra und suchte sehr lange zwischen den Briefkarten nach einer passenden, während sie die junge Buchhändlerin aufmerksam im Auge behielt. Als die Touristin den Laden verlassen hatte, wandte Afra sich an Elli und begann ein Gespräch über den gestrigen Abend.
Wie aufregend es doch gewesen sei, den Schriftsteller persönlich kennenzulernen, wie liebenswert er doch war und wieviel Zeit er sich für den Einzelnen genommen habe, gell?
»Und gestern wurde es dann doch recht spät bei Ihnen, Frau Faber?«
»Ja, es war ein netter Abend«, antwortete Elli unverbindlich.
»Sie hatten wohl noch Besuch, gell?«
Die junge Frau lächelte. »Das macht dann zwei Euro für Ihre Karte«, sagte sie freundlich.
Afra reichte ihr die Münze und zog unzufrieden von dannen, von diesem Einkauf hatte sie sich mehr Information erhofft. Diese Zugereiste war wirklich ein Fall für sich!
Henning kam aus der Ecke mit den Fachbüchern und legte die Neuerscheinung eines seiner Kollegen des Schweizer Instituts auf den Tresen. »Wie ich hörte, hattest du gestern noch Besuch?«, fragte er beiläufig.
»Ja, hatte ich«, kam die unbefangene Antwort.
Henning musterte seine geschiedene Frau eindringlich. Elisabeth schien trotz des regnerischen Morgens von innen heraus zu leuchten. Ihre Haut hatte einen strahlenden Glanz, übermütige Ringellocken hatten sich aus ihrem nachlässigen Nackenknoten gelöst und umspielten ihr hübsches Gesicht. Sie trug das Dirndl, das er ihr geschenkt hatte, jetzt mit einer schlichteren Bluse und ohne die edle Schürze. Es passte zu ihr und in ihren Alltag, in dem er seinen Platz verloren hatte, und Henning spürte plötzlich einen überraschenden Stich wilder Eifersucht.
»Darf ich fragen, wer dieser Besuch gewesen ist?«, fragte er steif.
»Das geht dich zwar gar nichts an, aber ich sage es dir trotzdem«, antwortete sie freundlich. »Til hat mich besucht.«
»Dieser Schriftsteller, den du als arrogant, eingebildet und unangenehm beschrieben hast?«
Elli nickte. »Genau der. Möchtest du das Buch für dich selber haben oder soll ich es als Geschenk einpacken?«
»Nun lass doch mal das Buch!« Nervös schob Henning das Werk zur Seite. »Wieso hast du deine Meinung über diesen Tilsner geändert?«
»Wie bitte?« Überrascht schaute Elli ihren Ex-Mann an. »Wie kommst du dazu, mir solche persönlichen Fragen zu stellen?«
Dante spürte die plötzliche Anspannung und hörte einen Tonfall in der Stimme seiner Ersatzmama, den er noch nicht kannte: Ärger! Er trippelte über den Tresen, baute sich vor Henning auf und entblößte mit dem rührenden Versuch eines Fauchens seine Milchzähnchen.
Ellis vertraute Hand strich über sein gesträubtes Fell und signalisierte, dass alles gut war.
Henning beachtete das Tierchen überhaupt nicht. »Elli, ich kann ja verstehen, wenn dieser Mann dein Interesse erregt. Er ist ein berühmter Schriftsteller, du bist Buchhändlerin, ihr seid auf einer Wellenlänge. Aber lass dich von seinem Namen nicht blenden! Er ist schließlich nur ein Krimiautor.«
»Wovon redest du nur?«, fragte die junge Frau verblüfft.
»Von uns, Elli! Wir haben uns doch wieder angenähert, oder etwa nicht? Ich bereue meinen Fehler von damals, und ich habe mich geändert. Wir stehen vor einem Neuanfang, mein Schatz. Mach den jetzt bitte nicht kaputt, indem du dich von diesem Mann blenden lässt! Meine Welt sind die Naturwissenschaften, seine ist die der Literatur. Ich kann verstehen, dass dir das sehr verlockend erscheint. Aber ich bin der Mann an deiner Seite, Elli, wenn ich in deinen Augen auch unpassend sein mag. Denk an das Sprichwort ›Lieber den Spatz in der Hand, als die Taube auf dem Dach‹!«
Elisabeth hatte der leidenschaftlichen Rede ihres Mannes staunend zugehört, jetzt unterbrach sie ihn energisch. »Du spinnst ja!«, sagte sie kopfschüttelnd. »Was dichtest du denn alles in diesen einen Abend mit Til Tilsner hinein?«
»Es bleibt ja nicht bei einem Abend, Elli! Er hat dich sogar gebeten, ihn zu Familie Holzer zu begleiten.«
»Na und? Ich fasse nicht, dass wir dieses Gespräch führen!«
Henning griff nach ihrer Hand, aber die junge Frau entzog sich seinem festen Griff. »Ich will dich nicht bedrängen, meine Elli, aber ich wünsche mir einen Neuanfang für uns beide! Mein Urlaub ist bald vorbei, und ich muss in die Schweiz zurück. Wir verstehen uns doch wieder gut; es war schön, wenn wir uns getroffen haben. Ich will dir keine Vorschriften machen, ich bitte dich nur um eine Chance für uns beide. Wirf nicht alles weg, was wir zusammen hatten!«
»Du verdrehst die Tatsachen und versuchst so, mich einzuwickeln!« Elisabeth war jetzt ernstlich böse. »Du hast unsere Ehe weggeworfen, nicht ich, erinnere dich daran! Und mein jetziges Leben geht dich nichts an!«
Henning schluckte. »Entschuldige bitte! Ich glaube, ich bin zu weit gegangen. Ich wünsche mir doch nur, dass du über einen Neuanfang nachdenkst.«
»Das werde ich«, antwortete Elli mühsam beherrscht. »Aber jetzt möchte ich, dass du gehst.«
»Natürlich.« Henning schob das Buch, das er in Wahrheit gar nicht hatte kaufen wollen, zur Seite. »Wir sehen uns noch, bevor ich abreise?«
»Sicher!«
»Und du bist mir wegen eben nicht mehr böse? Dass ich so übers Ziel hinaus geschossen bin?« Henning schaute sie mit einem fast unwiderstehlichen Blick an.
Ellis Zorn verrauchte. »Nur noch ein bisschen«, antwortete sie, »und nun geh bitte, ich habe zu tun.«
Sie stellte das teure Fachbuch wieder ins Regal zurück und versuchte, Hennings Worte zu vergessen. Es gelang ihr nicht.
Wollte sie einen Neuanfang? Und falls ja, könnte er wirklich gelingen? Nachdenklich glitten ihre Finger über die Buchrücken, die sie umgaben. In unendlich großer Vielfalt wurde von der Liebe geschrieben, aber in keinem dieser Bücher würde sie die Antwort auf ihre Fragen finden.
Die richtige Antwort stand in ihrem Herz geschrieben.
*
Miriam Holzer hatte sich für das ›kleine, intime‹ Abendessen hohe Ziele gesteckt. Schließlich galt es, einen namhaften Schriftsteller zu beeindrucken und ebenso Sebastian Seefeld. Er sollte erleben, welch souveräne Gastgeberin sie war und welche gesellschaftlichen und hausfraulichen Fähigkeiten sie bei einer Eheschließung in das Doktorhaus einbringen würde.
Ihr Problem war allerdings, dass sie über keinerlei hausfrauliche Fähigkeiten verfügte. Sie konnte nicht kochen und hielt es grundsätzlich nicht mit dem Leben einer modernen Frau vereinbar, sich um Küchenbelange zu kümmern. Ihre eigene Mutter, Carola Holzer, hatte die Familie zwar pflichtschuldig bekocht, aber niemals Zweifel daran aufkommen lassen, dass sie mit ihrem Leben eigentlich etwas ganz anderes vorhatte. Von ihr konnte sie keine Hilfe erwarten. Frau Holzer hatte sehr deutlich gemacht, dass sie nicht eine Sekunde in der Küche verschwenden würde, wenn sich ein berühmter Autor in ihrem Haus aufhielt!
Nun stand Miriam im örtlichen Supermarkt, der ihrer Schulfreundin Fanny Lechner gehörte. Es sollte ein Essen mit alpenländischen Spezialitäten geben, und Miriam hatte entsprechend eingekauft. Sie beobachtete ihre ehemalige Klassenkameradin, die sich gerade mit einer jungen Mutter mit Zwillingsbabys unterhielt. Es ging um das unsäglich langweilige Thema Gemüsebrei, aber Fanny war ganz bei der Sache.
Das passt zu ihr, dachte Miriam ungeduldig, sie ist und bleibt einfach dieser spießige häusliche, mütterliche Typ.
Als die hübsche junge Frau den Einkauf abrechnete, schenkte Miriam ihr ein strahlendes Lächeln. »Ich freue mich, dass ich wirklich alles in deinem Geschäft gefunden habe, was ich für meine Einladung brauche. Dein Angebot ist so vielfältig, Fanny. Allein vom Bergkäse führst du sieben verschiedene Sorten, das ist toll.«
Die junge Frau nickte freundlich und tippte weiter die Waren in ihre Kasse ein.
»Und wie man so hört, vollbringst du am Herd wahre Wunder. Aber wir haben uns ja damals schon gefragt, weshalb du nicht in einem Restaurant arbeiten wolltest, sondern das Geschäft der Eltern übernommen hast. Erinnerst du dich noch an die Apfelstrudel, die du gebacken hast, wenn wir ein Klassenfest gefeiert haben? Sie waren einfach göttlich!«
Fannys Mundwinkel zuckten. »Miriam, was willst du wirklich?«, fragte sie amüsiert.
Miriam blieb nichts anderes übrig, als die Katze aus dem Sack zu lassen. »Ich brauche morgen Abend eine gute Köchin!«, sagte sie gerade heraus. »Und da hab ich an dich gedacht.«
»So, hast du.« Fanny schmunzelte. »Und wie hast du dir das genau vorgestellt?«
»Du kommst am Nachmittag zu uns, so ein Menü vorzubereiten kostet ja schon Zeit«, antwortete Mariam eifrig. »Und dann kochst du, aber aufzutragen brauchst du es nicht, das übernehme ich.«
»So, am Nachmittag also. Und dafür schließe ich dann mein Geschäft.« Fannys Stimme klang noch immer leicht amüsiert, aber in ihren dunklen Augen lag ein Ausdruck von beginnendem Ärger, den Miriam allerdings übersah. »Ich nehme an, während du mit deinen Gästen den Abend genießt, räume ich dann die Küche auf. Und verschwinde diskret kurz vor Mitternacht, nachdem ich noch schnell die letzten Gläser gespült habe.«
»Das wäre perfekt, Fanny!« Miriam atmete erleichtert auf. »Und natürlich sollst du das nicht umsonst tun müssen, ein Trinkgeld wäre schon drin.«
»Tja, Miriam, dieses nette Angebot wirst du leider jemand anderem machen müssen, denn ich werde mich nicht für dich in die Küche stellen!«
Miriam fiel aus allen Wolken. »Aber Fanny, warum denn nicht?«
Die junge Frau schob den gefüllten Korb mit den Einkäufen zur Seite, um Platz für ihre nächste Kundin zu machen. »Wenn ich dir das wirklich erklären muss, dann bist du noch dümmer, als ich bisher dachte!«, sagte sie resolut.
Fassungslos wandte Miriam sich an die Bekannte, die hinter ihr an der Kasse stand. »Hast du das gehört?«, fragte sie empört.
»Hab ich«, antwortete Traudel und bemühte sich, ihr Grinsen unter Kontrolle zu halten.
»Da fragt man einmal um Hilfe und wird dermaßen abgeschmettert!« Miriam rauschte tief beleidigt ab.
Traudel und Fanny wechselten einen amüsierten Blick. »Ich bin gespannt, was die Gute letztendlich auf den Tisch bringen wird«, sagte Traudel.
»Ihr als ›wichtiger Bergmoosbacher Persönlichkeit‹ wird schon etwas einfallen«, antwortete Fanny augenzwinkernd. »Wir haben ja eine Reihe sehr guter Restaurants im Ort.«
Und genau dorthin war Miriam jetzt auf dem Weg. Vor kurzem hatte in einer bekannten Villa ein besonderes Restaurant eröffnet, das ›Esszimmer‹. Sein junger Besitzer, der Koch Felix Messner, hatte einen sehr guten Ruf, und die Plätze in seinem gemütlichen Restaurant, das buchstäblich das Esszimmer seines Wohnhauses war, waren immer ausgebucht.
Miriam saß in seinem Büro und musste überrascht feststellen, dass Felix Messner ein harter Verhandlungspartner war. Er erklärte sich zwar bereit, ihr so kurzfristig ein komplettes Menü nach Hause zu liefern, aber das wollte er nur unter seinem eigenen Namen servieren, Miriam konnte es nicht als ihres ausgeben. Und er nannte gepfefferte Preise!
Die junge Frau Holzer knirschte innerlich mit den Zähnen. So viel Aufwand und Kosten für ein einziges Essen! Außerdem wusste alle Welt, dass Felix Messner vor Kurzem eine sehr große Erbschaft gemacht hatte und eigentlich nicht mehr auf eigene Einkünfte angewiesen war. Sie konnte sich dazu eine Bemerkung nicht verkneifen, aber Felix lächelte nur entspannt.
»Frau Holzer, Sie können das Essen selbstverständlich auch selber kochen und servieren, das dürfte doch kein Problem für Sie sein«, antwortete er freundlich.
Der farbenprächtige Papagei, der im Hintergrund auf seiner Stange herumturnte, schnarrte: »Rehrücken. Rehrücken.«
Miriam wurde nervös. Hörte das blöde Federvieh etwa richtig zu?
Sie wollte nur noch nach Hause und sich um die Tischdekoration kümmern! »In Ordnung, Herr Messner, dann liefern und servieren Sie bitte wie abgesprochen.«
»Es wird mir ein Vergnügen sein, Frau Holzer.«
*
Am Freitagabend schloss Elli pünktlich ihr Geschäft, ging unter die Dusche und stand dann verführerisch nach Körperpuder duftend vor dem geöffneten Kleiderschrank. »Keine Ahnung, was ich anziehen soll!«, klagte sie Freundin Anna und Dante ihr Leid. »Es soll hübsch sein, aber nicht übertrieben festlich. Vielleicht das schöne Dirndl? Nein, darin hat er mich schon gesehen und in meinem grünen Lieblingskleid auch. Mein schwarzes Flatterkleid kennt er auch schon und das kurze aus Brokat ist zu festlich. Ich denke, ich nehme dieses hier!« Sie zog ein figurbetontes rotes Kleid mit extravagantem, schrägem Halsausschnitt vom Bügel. Als Rothaarige ein Kleid dieser Farbe zu tragen, war gewagt, aber alles passte perfekt zusammen.
Elli schlüpfte in das Kleid und passende Schuhe, flocht ihre Haare und befestigte schmale Ohrgehänge aus geschliffenem, dunkelgrünem Glas. Sie musterte sich abschließend im Spiegel und stellte zufrieden fest: »Gefällt mir.« Dann drückte sie zärtlich den kleinen Dante an sich und kuschelte ausgiebig mit ihm. »Du wirst jetzt mit Anna hinübergehen und deine Freundin Betty besuchen. Nachher hole ich dich wieder ab.«
Hebamme Anna, die auf Ellis Bett gesessen und der Kleiderauswahl geduldig zugeschaut hatte, grinste. »Du hast eben von einem ›er‹ gesprochen, als du deinen Schrank durchforstet hast. Darf ich fragen, wen genau du damit meinst?«
Elli schaute ehrlich überrascht aus. »Tatsächlich? Hab ich gar nicht gemerkt. Aber wenn du schon so direkt fragst: ich meinte Til.«
»Hm! Den ›selbstverliebten Fatzke‹, der dir ›zu schön und zu grantig‹ ist?«
»Na ja, er ist schon manchmal komisch, aber eben nicht nur. Ich hab auch andere Seiten an ihm kennengelernt und ich muss sagen, dass mir die gut gefallen. Ich freue mich wirklich darauf, heute Abend mit ihm auszugehen.«
Wie aufs Stichwort erklang die Türklingel. Elli verteilte Küsschen an ihre Freundin und Dante und sauste zur Treppe. Über die Schulter warf sie ihrer Freundin noch einen letzten, liebevollen Blick zu. »Nicht traurig sein, dass diese Miriam dich nicht eingeladen hat. Ich wette, Sebastian säße viel lieber neben dir als neben ihr! Ich werde dir von ihren vergeblichen Flirtversuchen brühwarm berichten! Dazu trinken wir Prosecco und lästern ein bisschen.«
»In Ordnung, Läster-Schwester!« Anna winkte und fühlte sich durch das Mitgefühl ihrer Freundin getröstet.
Nachdem Elli die Haustür geöffnet und Til begrüßt hatte, war sie sich ihrer Worte über den Autor nicht mehr so sicher. Der Schriftsteller wirkte verschlossen und angespannt. Auf dem Weg zu den Holzers bemühte sich Elli, unbefangen zu plaudern, aber Til antwortete nur einsilbig. Er hatte ihr zwar ein Kompliment über ihr Kleid gemacht, aber es hatte steif und gezwungen geklungen. Vom Humor und der Wärme, die Elli an dem Abend der Lesung erkannt hatte, war nichts mehr zu spüren.
Na, das kann ja heiter werden!, dachte sie ernüchtert.
Miriam Holzer begrüßte den Schriftsteller überschwänglich, Elli wurde höflich, aber mit deutlich weniger Begeisterung empfangen. Sie nahm den angebotenen Aperitif und beobachtete das gesellschaftliche Treiben im Hause Holzer.
Miriams Vater Gernot schien ein bodenständiger Mann zu sein, der harte Arbeit kannte, aber darüber seine Lebensfreude nicht verloren hatte. Mit dröhnendem Bass unterhielt er sich mit seinem Spezi aus dem Gemeinderat, Bürgermeister Talhuber.
Carola Holzer war eine hagere Frau mit blondierten Haaren, die einen Ausdruck verkniffener Höflichkeit zur Schau trug. Sie und Helga Talhuber wetteiferten um die Aufmerksamkeit Til Tilsners, der müde im Sessel saß und so wirkte, als wäre er am liebsten ganz woanders.
Der Pfarrer, ein sympathischer Mann mittleren Alters, unterhielt sich angeregt mit dem Leiter der örtlichen Grundschule, Valentin Brunner. Der junge, unverheiratete Lehrer war in Begleitung seiner Mutter erschienen, einer engen Freundin von Carola Holzer. Die Gelegenheit, den berühmten Krimiautor im privaten Kreis zu treffen, würde sich eine Dame wie Renata Brunner gewiss nicht entgehen lassen! Nach ein paar Minuten höflichen Plauderns mit dem Herrn Pfarrer, gesellte sie sich zu den Damen, die sich um den Schriftsteller bemühten.
Dann klingelte es zum letzten Mal, und Miriam stolzierte strahlend zur Tür. Sebastian und sein Vater waren gekommen. Wie groß war ihre Enttäuschung, als sie sah, dass ihr nur Benedikt Seefeld gegenüber stand!
»Sebastian lässt sich entschuldigen«, erklärte der ältere Landdoktor. »Es kam ein Notfallanruf, und er musste einen dringenden Hausbesuch machen. Mein Sohn bittet dich, die anderen Gäste nicht seinetwegen warten zu lassen und mit dem Essen zu beginnen. Er hofft, dass er später noch dazu kommen kann.«
Miriam kaute an ihrer Enttäuschung, aber sie bewahrte Haltung. »Dann bitte ich darum, dass wir jetzt Platz nehmen«, sagte sie höflich. »Der Koch Felix Messner vom ›Esszimmer‹ wird uns heute Abend verwöhnen. Hoffen wir, dass Sebastian noch rechtzeitig kommt, um den Hauptgang genießen zu können.«
Man setzte sich zu Tisch, und außer Miriam schien sich niemand an dem freien Platz an ihrer Seite zu stören. Felix wurde von den Anwesenden freundlich begrüßt, als er den ersten Gang servierte: Wildkräutersalat mit feinem Himbeerdressing, einem Ziegenfrischkäsetaler und geröstetem Honigbrot. Es schmeckte fantastisch, und die Gäste sparten nicht mit Lob.
»Es ist nicht nur so, dass Herr Messner ein exzellenter Koch ist. Nein, er hat auch eine interessante Geschichte«, brachte sich Renata Brunner ins Gespräch. »Die wird Sie bestimmt interessieren, Herr Tilsner! Vor kurzem verstarb die Ur-Großtante von Herrn Messner und vermachte ihr gesamtes, sehr großes Vermögen ihrem Papagei. Als Verwalter mit uneingeschränkten Rechten setzte sie Felix Messner ein, der zeit seines Lebens für den Vogel sorgen soll. Da er das Vermögen nach eigenem Gutdünken verwalten und ausgeben kann, ist quasi er der Erbe des gesamten Besitzes. Dieses skurrile Testament der eigenwilligen alten Dame bietet doch sicher Stoff für einen Ihrer neuen Romane.« Sie beugte sich über den Tisch und schaute den Schriftsteller beifallheischend an.
»Wohl kaum für einen Krimi«, antwortete Til Tilsner kurz angebunden. »Höchstens dann, wenn die alte Dame umgebracht worden wäre.«
Betretenes Schweigen war die Antwort, und unwillkürlich richteten sich alle Augen auf den Herrn Pfarrer, um zu sehen, wie er reagieren würde. Dieser beschloss diplomatisch, die rüden Worte zu überhören.
Elli reagierte anders. Sie war enttäuscht von Tils Verhalten und hatte keine Lust, damit hinterm Berg zu halten. »Dabei gleich an Mord zu denken, kann wohl auch nur einem Krimischreiber einfallen!«, sagte sie kampflustig.
»Könnten Sie mir bitte den Brotkorb reichen?«, piepste Miriam. Meine Güte, diesen Abend hatte sie sich anders vorgestellt! Erst Sebastians Verspätung, und dann war dieser Schriftsteller offensichtlich schlecht gelaunt.
Mit einem gemurmelten »Bitte sehr!« schob Til den Korb zu ihr hinüber und stocherte weiter lustlos in seinem Salat.
Benedikt Seefeld glättete die Wogen. »Es ist doch natürlich, dass Berufe auf das Privatleben abfärben«, sagte er ruhig. »Nehmen Sie zum Beispiel uns als Arztfamilie. Wie oft werden wir gerufen, und das hat durchaus Auswirkungen auf unser Privatleben. Denken Sie nur an meinen Sohn, der später oder vielleicht gar nicht kommen wird. Wenn so etwas bei Einladungen öfter geschieht, dann kann man schon in den Ruf kommen, unzuverlässig zu sein.«
»Das würden wir niemals von unserem Doktor denken!«, antwortete Carola Holzer prompt. Sie wusste von der Schwärmerei ihrer Tochter und wollte sie unterstützen.
Das Gespräch wandte sich wieder unverfänglichen Themen zu, und Felix servierte den zweiten Gang, eine leichte Selleriecremesuppe mit Sahnehäubchen und frischer Brunnenkresse. Elli bemerkte, dass Til von der Suppe nur eine Löffelspitze voll probierte, und sie dann ungegessen abtragen ließ.
Schnösel!, dachte sie. Was magst du denn daran nicht? Sie schmeckt nach Sellerie und dem guten Weißwein, den dieser Felix Messner zum Kochen genommen hat. Sie ist doch rundum klasse!
Kurz bevor der Hauptgang aufgetischt werden sollte, kam Sebastian. Er entschuldigte sich noch einmal persönlich bei seiner Gastgeberin und setzte sich dann auf den Platz neben Miriam.
Meine Güte! Die strahlt ja wie hundert Glühlampen!, dachte Elli. Das sieht wirklich nicht mehr natürlich aus.
Während des leckeren Hauptgangs – zarter Rehrücken mit Preiselbeeren, gebratenen Kräutersaitlingen und winzigen Semmelknödeln – unterhielt man sich angeregt. Miriam streute immer wieder Fragen an den Ehrengast ein, aber es war deutlich, dass ihr Hauptinteresse eigentlich Sebastian galt. Natürlich wusste sie, dass er nichts über seine Patienten erzählen würde, aber über seinen Beruf im allgemeinen zu sprechen, war schon interessant genug.
Helga Talhuber, die jedes Buch von Til Tilsner gelesen hatte, fand, dass jetzt unbedingt wieder der Schriftsteller im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen sollte. »Ich bewundere Ihre Fantasie!«, schmachtete sie. »Und dieses Düstere, Abgründige! Es ist ja so faszinierend! Woher nehmen Sie nur immer Ihre Ideen?«
Der Autor lächelte gequält. »Wissen Sie, wie oft man mich das schon gefragt hat und wohl noch fragen wird? Ich wünschte, den Leuten würde mal etwas Originelleres einfallen!«
Elli fand die aufgedonnerte Frau des Bürgermeisters nicht besonders sympathisch, aber jetzt tat sie ihr leid. Sie war puterrot geworden und spielte verlegen mit ihrem Weinglas.
»Kann ja nicht jeder so originell und einfallsreich sein wie du!«, raunte die junge Frau ihrem Tischherrn ins Ohr. »Hör auf, so unfreundlich zu sein!«
Til wandte ihr sein Gesicht zu, und Elli bemerkte überraschte, wie schlecht er aussah. Er war auffallend blass, und auf seiner Oberlippe zeichnete sich ein feiner Schweißfilm ab. »Geht es dir nicht gut?«, fragte sie leise.
Der Mann schüttelte unmerklich den Kopf und schloss für eine Sekunde die Augen. Dann wandte er sich an Helga Talhuber. »Bitte, entschuldigen Sie, ich wollte nicht unhöflich sein«, sagte er. »Es ist nur nicht einfach, immer wieder die gleiche Frage zu hören, auf die ich keine Antwort weiß.«
»Oh, das kann ich gut verstehen«, antwortete die Frau, geschmeichelt von der Entschuldigung. Sie verstand zwar nicht wirklich, was Til Tilsner damit meinte, aber das war nicht weiter wichtig. Er war halt ein Künstler, und die musste man nicht immer verstehen.
Elli sah, dass ihr Tischherr auch vom leckeren Hauptgang kaum etwas gegessen hatte, und sie begann, sich Sorgen zu machen. Offenbar ging es Til nicht gut; vielleicht litt er wieder unter einer Migräneattacke? Warum hatte er ihr das nicht gesagt, sie hatten über dieses Thema doch schon früher gesprochen.
Erst als das Dessert – Topfenstrudel mit frischen Erdbeeren und Pistazieneis – serviert wurde, aß mehr als nur eine Löffelspitze voll. Für Elli stand fest, dass sie mit Til über diesen Abend sprechen würde; irgendetwas stimmte nicht mit dem Mann.
»Ich habe gehört, dass eine Autopanne dazu geführt hat, dass Sie in Bergmoosbach sind«, sagte Valentin Brunner. »Was ist mit Ihrem Wagen? Konnte er inzwischen repariert werden?«
»Ja, ich werde ihn morgen aus der Werkstatt abholen.«
Morgen schon, wie schade!, dachte Elli.
Die anderen Gäste hatten den gleichen Gedanken und äußerten ihn mehr oder minder deutlich enttäuscht.
»Wollen Sie Ihren Aufenthalt nicht verlängern?«
»Ja, bitte bleiben Sie doch noch!«
»Vielleicht könnten Sie noch eine Lesung aus einem Ihrer anderen Bücher veranstalten? ›Narbengeld‹ war ja auch so aufregend!«
Til lächelte bemüht. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«
Miriam, die vollkommen zufrieden neben Sebastian saß, besann sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin. »Wir sollten Herrn Tilsner nicht derart bedrängen«, sagte sie. »Er soll sich doch wohlfühlen in unserer Runde und unsere Wertschätzung genießen.«
»Das tue ich, Frau Holzer, vielen Dank.« Til legte seine Serviette zur Seite und erhob sich. »Es war eine schöne Einladung, aber für mich wird es jetzt Zeit zu gehen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend und bedanke mich für Ihre Gastlichkeit.«
»Aber nein, Herr Tilsner, Sie wollen doch nicht etwa jetzt schon aufbrechen?« Miriam eiste sich von Sebastian los und schwebte um den Tisch herum. Mit einem sexy Augenaufschlag legte sie ihm die sorgfältig manikürte Hand auf den Arm. »Sie werden mir doch keinen Korb geben?«
Til gelang ein schiefes Lächeln. »Ungern, Frau Holzer, aber leider muss ich jetzt gehen.«
Elli war ebenfalls aufgestanden. »Ich begleite dich.«
»Sie duzen sich! Das ist mir bereits vorhin aufgefallen!«, raunte Renata ihrer Freundin zu.
Til schaute Elli an. »Das ist nett, aber ich erwarte nicht von dir, dass du meinetwegen früher gehst.«
Elisabeth schüttelte nur den Kopf und griff nach ihrem üppigen Schultertuch. »Ich begleite dich!«, wiederholte sie bestimmt.
Sie verabschiedeten sich von ihren Gastgebern und traten in die kühle Nachtluft hinaus. Til atmete sie in tiefen, regelmäßigen Zügen ein, und Elli konnte erkennen, dass er sich ein wenig entspannte. Die junge Frau schob ihre Hand unter seinen Arm und wollte die Richtung zum Sternwolkensee einschlagen, wo Tils Hotel lag, aber der Mann trat einen Schritt von ihr zurück.
»Elli, ich möchte allein gehen, ich brauche jetzt einfach Ruhe und Zeit für mich. Es ist sehr lieb von dir, und ich sehe, dass du dir Sorgen machst. Ich bin nur müde und will mich so schnell wie möglich hinlegen. Ich melde mich morgen bei dir, einverstanden?«
Die junge Frau zögerte. Sie sah, dass es ihm nicht gutging, und hätte ihn gern sicher zum Hotel begleitet, aber schließlich war er erwachsen und wusste, was er tat. Also nickte sie. »In Ordnung, ruf mich an.«
»Du bist die Beste, Elli«, sagte Til leise. Ganz kurz legte er seine Hand an ihre Wange, dann drehte er sich um und ging langsam davon.
Elisabeth runzelte die Stirn und ging tief in Gedanken versunken nach Hause. Seine Hand hatte sich zu warm angefühlt und sein Gang seltsam unsicher gewirkt, obwohl er den ganzen Abend keinen Alkohol getrunken hatte. Sie hoffte, dass er bald anrufen und mit ihr reden würde. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Til Tilsner Hilfe brauchte.
Dieser Gedanke beschäftigte auch die Seefelds, als Vater und Sohn später nach Hause gingen. Es hatte Sebastian einige Mühe gekostet, sich von Miriam zu distanzieren, ohne unhöflich zu werden. Die junge Frau hatte zum Essen mehrere Gläser Wein getrunken und auch beim edlen Marillenbrand nicht nein gesagt. In ihr Verliebtsein hatte sich eine Ausgelassenheit eingeschlichen, die Sebastian kopfschüttelnd das Weite suchen ließ.
Als sie sah, dass die Seefelds gemeinsam mit den anderen Gästen gehen wollten, schmollte sie. »Warum brechen denn nur immer alle gleichzeitig auf!«
»Wenn’s am schönsten ist, soll man halt geh«, antwortete Sebastian und entging geschickt einer Umarmung. »Servus, Miriam.«
»Hast du Lust, dass wir Nolan zu einer nächtlichen Runde holen, und wir lassen den Abend noch ein wenig sacken?«, fragte er seinen Vater auf dem Heimweg.
»Gute Idee, mein Sohn. Die Nachtluft ist so schön frisch, nach den Stunden im geschlossenen Raum kann ich die gut gebrauchen«, antwortete Benedikt.
Auch Nolan war von der Möglichkeit, zu so später Stunde noch eine Runde rennen zu können, begeistert. Er war inzwischen so groß und gut erzogen, dass sie ihn ohne Leine laufen lassen konnten, und sie freuten sich an seinen Kapriolen.
»Das war in jeder Beziehung ein interessanter Abend«, nahm Benedikt ihr Gespräch wieder auf.
»In jeder!«, antwortete Sebastian vieldeutig.
Sein Vater lachte leise. Die beiden Männer gingen über den stillen Marktplatz, und unwillkürlich wanderte Sebastians Blick zu den Fenstern von Annas Wohnung über der Apotheke. Alles dunkel, die junge Hebamme lag wohl schon längst im Bett. Schlaf gut, Anna, dachte Sebastian.
Der ältere Landdoktor schaute seinen Sohn von der Seite an. »Was hältst du eigentlich von diesem Til Tilsner? Er hat sich ja schon merkwürdig verhalten heute Abend.«
»Das ist mir auch aufgefallen; er schien sprunghaft, unkonzentriert und reizbar. Außerdem hatte er eine ungesunde Gesichtsfarbe«, antwortete sein Sohn. »Er hat keinen Tropfen Alkohol getrunken. In der Suppe war Weißwein, und in der köstlichen Sauce zum Wild habe ich Portwein geschmeckt. Tilsner hat nichts von diesen Gerichten angerührt. Glaubst du, er hat ein Alkoholproblem?«
»Schwer zu sagen, aber ich glaube, eher nicht«, antwortete Benedikt.
»Frau Faber war sein unberechenbares Verhalten auch schon aufgefallen, und sie hat mich nach meiner Einschätzung gefragt.« Sebastian seufzte. »Wenn sich darauf nur so einfach eine Antwort finden ließe!«
»Nun, die erste Voraussetzung ist, dass er überhaupt einen Arzt aufsucht und sich untersuchen lässt. Da er voraussichtlich morgen oder übermorgen abreisen wird, glaube ich nicht, dass wir ihn in unserer Praxis sehen werden.«
»Nein, wahrscheinlich nicht.« Sebastian rief Nolan bei Fuß, und die beiden Männer gingen zurück zum Doktorhaus.
Benedikt wünschte seinem Sohn gute Nacht und ging in sein Zimmer hinauf. Der junge Landdoktor schlenderte hinüber zum Bibliothekszimmer, wo die gesammelte Fachliteratur der Seefelds aufgereiht stand. In Gedanken versunken glitten seine Finger über die Bücherreihen, zogen das eine oder andere medizinische Werk aus dem Regal. Schließlich hatte er gefunden, wonach er halb unbewusst gesucht hatte. Sebastian kochte sich einen großen Becher Kaffee, zog sich in einen der alten Ledersessel zurück und begann zu lesen.
*
Anstatt sie anzurufen, kam Til am nächsten Tag gegen Abend bei Elli im Geschäft vorbei. »Ich habe meinen Wagen abgeholt und werde wohl bald abreisen. Es ist schöner, direkt mit dir zu reden, als nur zu telefonieren«, sagte er.
Elli schaute auf die Uhr. »Ich mache gleich Feierabend. Willst du dich in meinen Stadtgarten setzen? Ich komme dann auch gleich raus zu dir.«
»Sehr gern!«
Til machte es sich auf der Bank gemütlich, während Elli letzte Kundschaft bediente und ihren Laden schloss. Sehr schnell waren Dante und sie draußen bei ihm und setzten sich neben ihn.
Der Mann streckte seine Finger aus und kraulte vorsichtig Dantes Köpfchen. »Du und dein schnurrender Pelzkragen …«, sagte er weich.
»Til, geht es dir besser? Ich habe mir wirklich Sorgen um dich gemacht.«
»Ja, ein wenig schon. Die Ruhe hat mir gut getan, und meine Kopfschmerzen sind besser geworden.«
»Hast du oft so heftige Schmerzen? Und fiebrig hast du gestern auch auf mich gewirkt. Bist du deswegen schon mal beim Arzt gewesen?«, erkundigte sich die junge Frau besorgt.
»Dutzende Male! Ich kann das in den letzten Jahren gar nicht mehr zählen«, antwortete er bitter. »Tests über Tests sind gemacht worden, die nichts erbracht haben. Meine Symptome können für hundert verschiedene Krankheiten stehen, oder vielleicht bilde ich sie mir auch alle nur ein.«
»Glaub ich nicht!«, antwortete Elli prompt. »Du bist kein eingebildeter Kranker! Aber das Gebiet der Medizin ist riesig, vielleicht ist man deiner Krankheit nur noch nicht auf die Spur gekommen? Ärzte können nicht alles wissen, es gibt so viele Fachrichtungen. Offensichtlich warst du schon bei mehreren Spezialisten, die dir bisher keine befriedigende Auskunft geben konnten. Das macht mit Sicherheit müde, mutlos und reizbar.
Wenn ich dir etwas vorschlagen darf: geh zu unserem Doktor Seefeld. Er ist ein sehr guter Arzt mit vielfältiger Erfahrung und großem Einfühlungsvermögen.«
»Ach, Elli! Ein Landdoktor! Nichts gegen euren Doktor Seefeld, aber was sollte ausgerechnet er erkennen, was gut ausgebildete Spezialisten nicht gefunden haben?«
»Keine Ahnung!« Elisabeth schaute ihn eindringlich bittend an. »Aber was schadet es? Ein Fehler ist es mit Sicherheit nicht, zu ihm zu gehen; du solltest es zumindest versuchen!«
»Ich bin es leid, immer wieder das gleiche zu erzählen und immer wieder die gleichen Antworten zu bekommen, und nichts ändert sich. Ich bin das alles so müde, Elli!«
Voller Mitgefühl antwortete die junge Frau: »Auch wenn ich nicht in deiner Situation bin, kann ich dich sehr gut verstehen, Til. Trotzdem rate ich dir, diese Chance zu nutzen! Vielleicht bringt es dir Erleichterung, und schaden kann es auf keinen Fall.«
Til lächelte müde, aber ergreifend zärtlich. »Welche Mühe du dir mit mir gibst«, sagte er leise. »Du hast mich überredet; ich werde morgen in seine Praxis gehen, auch, wenn ich mir nicht viel davon verspreche.«
»Musst du auch gar nicht. Hauptsache, du gehst hin!«, antwortete Elli fest. »Und jetzt legst du dich hier auf die Bank und ruhst dich weiter aus. Dante bleibt bei dir; du ahnst ja nicht, welche entspannende Wirkung ein schnurrendes Kätzchen hat, das mit dir kuschelt! Ich mache inzwischen meine Kasse und die Buchführung, und nachher gucken wir wieder in die Sterne. Sollst mal sehen, wie gut dir das tut!«
Til musste lachen und streckte sich tatsächlich auf den gemütlichen Polstern der Bank aus. »Sag mal, bist du in Wahrheit eine Ärztin oder so eine resolute Oberschwester, vor der die gesamte Station, einschließlich des Chefs, Bammel hat?«
Elli grinste und schob ihm noch ein Kissen unter den Kopf. »Du hast eindeutig zu viel Fantasie, Herr Krimiautor!«, sagte sie mit gespielter Strenge. »Jetzt wird das Gehirn auf Ausruhen geschaltet und nur gedöst!«
Als die junge Frau einige Zeit später wieder in ihren Stadtgarten kam, waren Dante und Til beste Freunde geworden und lagen im Tiefschlaf zwischen den Kissen auf der alten Bank. Elli zog sich leise einen Korbstuhl heran, legte den Kopf in den Nacken und wartete lächelnd auf den ersten Schimmer der Sterne.
*
Henning betrat ihr Geschäft, und das erste, was Elli sah, war der große Rosenstrauß, den er in der Hand hielt. Es waren mindestens drei Dutzend langstielige, dunkelrote Rosen. Der Mann trat zu ihr und schaute sie lächelnd an. »Elli, hast du Zeit für uns beide? Ich glaube, wir haben uns eine Menge zu sagen.«
»Jetzt?« Die junge Frau warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist mitten am Vormittag, und bei mir kommen und gehen die Kunden. Ich habe zu tun.«
»Dann schließ doch einfach den Laden! Ich muss heute noch in die Schweiz abreisen, wir haben einen neuen Auftrag in Zusammenarbeit mit den USA bekommen, die Zeit drängt. Und ich möchte ungestört mit dir über unsere Zukunft sprechen.«
Elli schüttelte den Kopf. Sie ärgerte sich über seinen Vorschlag, ›einfach‹ den Laden zu schließen, weil er ungestört mit ihr reden wollte. Die Forschung rief, und dem hatte sie sich unterzuordnen. Nichts hatte sich geändert!
»Ich werde das ›Lesezeichen‹ jetzt nicht schließen!«, antwortete sie kühl. »Bist du gekommen, um dich zu verabschieden? Das können wir auch so tun.«
»Elli, bitte entschuldige! Ich war wohl gedankenlos, und das tut mir leid.« Er überreichte ihr den großen Blumenstrauß. »Nimm die Rosen bitte als Zeichen meiner Zuneigung und nicht als Abschiedsgeschenk.«
Die junge Frau schaute mit einem Ausdruck auf den Strauß, den Henning nicht deuten konnte. Freute sie sich etwa nicht?
»Elisabeth«, sagte er ernst, »ich wünsche mir einen Neuanfang mit dir. Bitte sag, dass du uns eine zweite Chance gibst und dass wir von vorn beginnen können.«
Elli schüttelte den Kopf. »Ich sehe keine Chance für einen Neubeginn«, sagte sie ruhig. »Es ist viel Zeit vergangen, und ich habe mir ein neues Leben aufgebaut, in dem ich mich wohl fühle.
Ich habe dich einmal sehr geliebt, Henning, aber das war in der Vergangenheit. Jetzt empfinde ich Freundschaft für dich, aber nicht mehr. Es gibt für mich kein neues Leben als Frau an deiner Seite.«
»Ist es wegen dieses Schriftstellers? Bist du in Til Tilsner verliebt?«, fragte Henning erregt.
Elli schüttelte den Kopf und seufzte nachsichtig. »Wie kommst du nur auf diese Idee! Nur weil ich nicht wieder in dein Leben einsteigen will, muss ein anderer Mann im Spiel sein? Ich kenne Til Tilsner viel zu wenig, um in ihn verliebt zu sein.«
Ihr Ex-Mann verzog ärgerlich das Gesicht. »Aber du magst ihn, gib es zu!«
»Ich muss nichts ›zugeben‹, wie redest du denn mit mir?« Jetzt wurde auch Elisabeth ärgerlich.
»Aber du rechnest dir Chancen aus, richtig?«
»Henning, dieses Gespräch ist albern und führt zu nichts. Wir sollten uns jetzt verabschieden, und dann gehst du.« Elli schaute ihm gerade in die Augen, und er sah Stolz und bewundernswerte Ruhe in ihrem Blick.
Der Mann wusste jetzt, dass er seine Frau schon vor längerer Zeit endgültig verloren hatte, und diese Erkenntnis kränkte ihn zutiefst. »Denk an meine Worte vom Spatz in der Hand und der Taube auf dem Dach!«, sagte er beleidigt. »Wer weiß, was mit diesem Tilsner wird? Vielleicht kommt bald der Tag, an dem du ganz allein bist, weil beide Vögel weitergezogen sind!«
Elli schüttelte den Kopf und – wahrhaftig! – sie lächelte. »Damit kann ich leben! Außerdem sind Vögel noch nie meine Lieblingstiere gewesen, ich liebe Katzen.« Sie deutete auf Dante, der sich wie ein elegantes, seidenschwarzes Wappenschild vor ihr auf dem Tresen aufgebaut hatte und den Mann herausfordernd anstarrte. »Es war nett, dich wiedergesehen zu haben, und ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft, Henning!«
»Ja, ich dir auch, obwohl ich sicher bin, dass du einen Fehler machst! Servus, Elisabeth!« Er wandte sich ab und war schon fast zur Tür heraus, als er hörte, dass Elli seinen Namen rief. Überrascht schaute er zurück und sah, dass seine Ex-Frau auf den kostspieligen Rosenstrauß deutete.
»Ach, Henning, wie lange kennen wir uns jetzt eigentlich? Es müssen an die zwanzig Jahre sein, nicht wahr? Wie viele Sträuße roter Rosen hast du mir in dieser Zeit geschenkt und wie viele Male habe ich dir gesagt, dass ich diese Blumen nicht mag? Es war dir wohl nie wichtig genug, dass du es dir gemerkt hast.«
»Du bist einfach nur undankbar!«, schrie Henning, stürmte nach draußen und verschwand auf Nimmerwiedersehen zwischen den Gassen.
»Hoppla!« Caro, die junge Sprechstundenhilfe der Seefelds, hatte dem Mann gerade noch ausweichen können. »Da war aber jemand sauer.«
»Tja, manchmal kommt es anders, als man denkt«, antwortete Elli mit einem leisen Lächeln. »Caro, was kann ich für Sie tun?«
»Meine Mama hat bald Geburtstag, und ich suche etwas Schönes für sie. Einen Roman, in den man so richtig abtauchen und die Welt vergessen kann.«
Die junge Buchhändlerin deutete voller Freude auf ihre Abteilung mit den Romanen. »Wir finden bestimmt etwas für Sie.« Dann fiel ihr Blick auf die prächtigen, aber ungeliebten roten Rosen. »Möchten Sie die Blumen mitnehmen? Ich schenke sie Ihnen. Sie werden sich in der Praxis bestimmt gut machen!«
*
Til Tilsner betrat die Anmeldung der Praxis Doktor Seefeld mit gemischten Gefühlen. Er erwartete nichts von diesem Landdoktor, was nicht zahllose andere Ärzte auch schon gesagt hatten. Eigentlich war er Ellis wegen hier, ihre Sorge und ihr Mitdenken rührten ihn.
Die kompetente Sprechstundenhilfe hatte ihm einen Termin am Ende der Vormittagssprechstunde gegeben, sodass er vor neugierigen Blicken oder Fragen anderer Wartender sicher war. Inzwischen war er in Bergmoosbach bekannt wie ein bunter Hund.
»Guten Abend, Herr Tilsner«, begrüßte ihn Doktor Seefeld freundlich. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Der Schriftsteller setzte sich in einen der bequemen Stühle vor dem Schreibtisch, und er und der Landdoktor begannen ihr Gespräch. Til schilderte seine Irrfahrt von einem Arzt zum nächsten, seine unklaren Beschwerden, die Schmerzen in den Gelenken, Beschwerden mit Magen oder Lunge, er erwähnte die Erschöpfungszustände, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und zunehmende Reizbarkeit.
Doktor Seefeld hörte sehr aufmerksam zu, machte sich Notizen und stellte Zwischenfragen wie: »Bemerken Sie etwas an Ihren Händen, wenn Sie bei kalter Witterung draußen sind?«
»Ja. Meine Finger werden ganz weiß, obwohl wir hier nicht von extremen Temperaturen sprechen. Dazu reicht schon unsere normale Witterung«, antwortete er.
Der Arzt nickte und machte sich weitere Notizen. Schließlich schaute er den Autor ruhig an.
»Herr Tilsner, ich fand unser Gespräch sehr aufschlussreich. Natürlich muss ich Sie noch eingehend untersuchen, und wir müssen viele Tests machen, um die Ursache Ihrer Beschwerden abzuklären. Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich die Untersuchungsergebnisse der Kollegen, bei denen Sie waren, einsehen. Je mehr Informationen wir haben, desto besser.«
»Sie glauben also, dass da etwas ist? Dass ich es mir nicht nur einbilde oder dass es ein nervöses Leiden ist, das mit meiner angeknacksten Psyche zu tun hat?«, fragte Til hoffnungsvoll.
»Ohne genaue Untersuchungen kann ich nichts sagen«, bremste der Landdoktor, »aber eines steht für mich fest: Sie bilden sich ihre Beschwerden nicht ein, dafür gibt es eine körperliche Ursache.«
Der Mann atmete erleichtert aus. »Sie wissen ja nicht, was mir Ihre Worte bedeuten!«, sagte er leise. »Der Druck, unter dem ich meine Bücher schreibe, wird immer größer! Wenn man krank ist, aber es gibt ›eigentlich‹ gar keine Krankheit, dann …« Er verstummte.
»Ich kann mir vorstellen, wie aufreibend das Leben dann wird«, antwortete Sebastian Seefeld ernst. »Und ich will Ihnen auch keine trügerischen Hoffnungen machen, die sich dann als falsch erweisen! Aber – ich sehe einen Ansatzpunkt.
Möglicherweise leiden Sie an Vaskulitis, einer seltenen Autoimmunerkrankung, bei der sich die Gefäße entzünden. Davon können die Organe, Gliedmaßen, Rückenmark und das Gehirn betroffen sein. Das kann dann zu den geschilderten Beschwerden führen, wir werden Sie sehr gründlich dahingehend untersuchen.«
»Wie kommen Sie darauf? Bisher wurde diese Krankheit nicht erwähnt.«
»Sie ist selten und nicht leicht zu diagnostizieren. Viele Ihrer Beschwerden könnten auch durch ganz andere Störungen verursacht worden sein. Wie gesagt: es ist nur ein Ansatz, von dem wir hier sprechen«, antwortete Doktor Seefeld aufrichtig.
Til musterte den Arzt eindringlich. »Und wieso haben Sie ausgerechnet diesen Gedanken?«
»Ich habe in Kanada studiert und gearbeitet«, erklärte Sebastian, »und dort meine Doktorarbeit über die Erforschung der Vaskulitis geschrieben.«
Til saß da wie vom Donner gerührt. »Die Welt ist ein Dorf!«, murmelte er. »Da gehe ich zu einem Landdoktor im Allgäu, und der hat die Krankheit erforscht, an der ich leide.«
»Vorsicht!« Sebastian Seefeld hob warnend die Hände. »Wir sprechen hier nur von der Möglichkeit! Ich habe noch keine Diagnose gestellt, das müssen Sie immer im Auge behalten!«
»Ich weiß; aber ich bin so erleichtert, dass Sie überhaupt einen Ansatz gefunden haben! Jetzt ist doch alles möglich, auch, dass es mir wieder besser gehen wird!«
Doktor Seefeld schaute den anderen Mann an und wünschte von Herzen, dass er ihm würde helfen können. Er wusste, dass diese Krankheit nicht heilbar war, aber man konnte sie stoppen und das Leben der Patienten wieder leichter und erträglicher machen.
»Herr Tilsner, ich schlage Folgendes vor«, sagte der Landdoktor freundlich. »Wir besprechen jetzt, welche Untersuchungen durchgeführt werden müssen, wann und wo. Einiges kann ich hier in der Praxis tun, für anderes brauchen wir die Uniklinik. Falls Sie jetzt abreisen wollen, würde ich Ihrem behandelndem Arzt einen Bericht schicken und ihn auf meinen Verdacht hinweisen. Der Kollege wird dann alles Weitere veranlassen.«
»Ich bleibe auf jeden Fall hier!«, antwortete Til entschieden. »Ich möchte, dass Sie mich behandeln!«
»Das freut mich, Herr Tilsner, und ich werde alles tun, was ich kann. Aber Sie sollten sich auf einen längeren Zeitraum einstellen, die Untersuchungen sind nicht in ein, zwei Tagen abgehakt. Falls es dringende Termine mit Ihrem Verlag gibt, sollten Sie die besser verschieben«, riet der erfahrene Arzt.
Der Schriftsteller schaute ihn mit neuem Lebensmut an. »Im Augenblick ist nichts wichtiger als meine Gesundheit; es ist längst überfällig, dass ich etwas kürzer trete«, sagte er bestimmt. Dann umspielte ein vorsichtiges Lächeln seine Mundwinkel. »Außerdem hat mich Ihr Bergmoosbach gelehrt, meinen Blickwinkel zu ändern. Ich dachte, es sei nur ein langweiliges Provinznest, aber es ist so viel mehr!«
»Ja, das ist es«, stimmte Sebastian zu, »und ich bin froh, dass Sie es langsam für sich entdecken.«
Nachdem der Landdoktor und sein Patient das weitere medizinische Vorgehen besprochen hatten, ging Til hinüber zu Ellis Buchhandlung. Die junge Frau hatte zur Zeit keine Kundschaft und saß lesend mit Dante im Schoß auf der Bank vor ihrem Schaufenster.
Til setzte sich neben sie in den Sonnenschein. »Ich habe deinen Rat befolgt und bin zu eurem Doktor gegangen. Ich muss schon sagen, das ist ein erstaunlicher Mann.«
Eli klappte ihr Buch zu und schaute ihn gespannt an. »Und was hat er gesagt?«
Til erzählte in Ruhe alles, was sie besprochen hatten und welche Untersuchungen auf ihn zukamen.
»Das heißt, dass du noch länger hier bleibst, weil du dich von ihm behandeln lässt?«
Til schaute auf das Sonnenlicht, das goldene Reflexe in Ellis rote Haarpracht zauberte. »Nicht nur deswegen. Ich muss etwas in meinem Leben ändern, das hat mich Bergmoosbach gelehrt. Ich werde länger bleiben, vielleicht für Monate. Kennst du zufällig jemanden, der eine kleine Wohnung vermietet?«
»Leider nicht, aber das ist kein Problem. Du findest bestimmt etwas, das geht hier alles von Mund zu Mund. Wenn du willst, höre ich mich auch für dich um.« Elli schaute ihn an, und aus ihrer übermütigen guten Laune wurde liebevoller Ernst. Sie legte freundschaftlich ihre Hand auf seinen Arm. »Ich bin froh, dass du neuen Lebensmut gewonnen hast, Til! Was immer jetzt auch auf dich zukommt, du kannst auf mich zählen.«
Er drückte ihre Hand. »Das weiß ich, Elli, und ich danke dir! Ohne dich wäre nicht so viel Neues in meinem Kopf angestoßen worden.«
»Oh!« Die junge Buchhändlerin spitzte die Ohren. »Denkst du dabei an einen neuen Krimi?«
Der Autor schüttelte den Kopf. »Nein, nicht an einen Krimi.«
So sehr Elli es auch versuchte, sie konnte ihm keine weiteren Einzelheiten entlocken.
*
Die Zeit ging ins Land, und Bergmoosbach gewöhnte sich daran, einen prominenten Mitbürger zu haben. Til Tilsner mietete eine hübsche Ferienwohnung etwas außerhalb des Ortes auf dem Ebereschenhof; der Zimmermann Benjamin Lauterbach und seine Frau Marie waren dabei, ihren Hof für Gäste umzubauen. Der Schriftsteller genoss, dass er dort einerseits Ruhe hatte und andererseits das muntere Alltagsleben der Familie mit ihren Zwillingsbabys teilen konnte.
Doktor Seefelds Vermutung hatte sich als richtig erwiesen. Auch wenn Til nicht von der Gefäßentzündung geheilt werden konnte, schlug die Behandlung sehr gut bei ihm an, und sein Dasein wurde schmerzfrei. Er lernte, mit seiner Krankheit zu leben, und genoss die neue Kraft, die in ihm zu erwachen begann. Der Autor hatte die Idee für ein neues Buch im Kopf und arbeitete bereits daran.
Er sah Bergmoosbach jetzt mit anderen, freundlicheren Augen. Sogar über Afra mit der flinken Zunge konnte er lächeln und ärgerte sich nicht mehr, wenn sie ihm bei jedem Zeitungskauf vorrechnete, wie oft er nun doch schon bei der allein lebenden Buchhändlerin zu Besuch gewesen war.
»Sie gehen ja praktisch ein und aus bei ihr, Herr Tilsner, das fällt halt auf, gell? Was haben Sie denn immer miteinander zu schaffen?«, fragte sie mit einem neckischen Augenzwinkern.
»Sterne gucken«, antwortete er freundlich, nahm seine Zeitung entgegen und ging.
Es stimmte, er war oft zu Gast bei Elli, oder sie besuchte ihn auf dem Ebereschenhof. Sie standen sich sehr nahe, aber sie waren kein Liebespaar. Je länger er in Bergmoosbach blieb, desto tiefer verstrickte er sich in seine Gefühle für die schöne Buchhändlerin. Nur seine Angst, auch in dieser Beziehung zu scheitern, hielt ihn davon ab, Elisabeth seine Liebe zu zeigen. Er fürchtete, dadurch ihre wunderbare Freundschaft zu ruinieren.
Alles, was er für sie empfand, legte er stattdessen in sein neues Buch. Bisher waren sein wacher Verstand und seine Fantasie die Triebfedern beim Schreiben gewesen, jetzt war es sein Herz. Vielleicht, wenn Elli es eines Tages lesen konnte, würde sie dann die Botschaft zwischen den Zeilen verstehen. Er würde warten, bis die Zeit reif dafür war.
Dieser Augenblick kam viel früher, als er gedacht hatte, und wieder hatte der Zufall dabei seine Hand im Spiel.
Elli und er hatten eine Wanderung hinauf zur alten Burgruine unternommen und hatten dort Familie Seefeld getroffen, die gemeinsam mit Emilias Freund Markus eine Radtour unternahm. Sie hatten einen gut bestückten Picknickkorb dabei und luden die beiden zu Kaffee und Kuchen ein. Man saß gemütlich im weichen Gras, genoss die herrliche Aussicht über die Hänge und den Sternwolkensee und plauderte über Belanglosigkeiten.
Dabei kam Elli auf Tils neues Buch zu sprechen und sie beklagte sich scherzhaft bei ihren Freunden darüber, dass er gar nichts davon erzählte. »Ich weiß nur, dass es dieses Mal kein Krimi sein wird, sondern etwas ganz anders«, sagte sie. »Mehr kriege ich einfach nicht aus ihm heraus.«
»Wie schade, dann wissen wir ja gar nicht, worauf wir uns freuen können«, warf Emilia ein.
»Ist es denn hilfreich, gar nicht über das Geschriebene zu sprechen?«, fragte Sebastian nachdenklich. »Können nicht gerade dadurch neue Ideen und Gedanken entstehen?«
»Ich weiß was!« Elli wandte sich mit blitzenden Augen zu ihm um. »Du liest uns aus deinem Manuskript vor. Nur eine kleine, private Lesung mit ein paar Freunden, nichts Großes, Öffentliches. Könntest du dir das vorstellen, zum Beispiel nach Feierabend in meinem Geschäft?«
Und zu seinem eigenen Erstaunen und gelinden Entsetzen hörte Til sich laut und deutlich zustimmen!
*
Der Abend, vor dem sich der Mann fürchtete und den er insgeheim herbeisehnte, war gekommen.
Elli hatte zusätzliche bequeme Stühle aufgestellt, Getränke, Blumen und Kerzen auf kleinen Tischen verteilt und die Deckenbeleuchtung ausgeschaltet. In der beginnenden Dämmerung wirkte ihr Geschäftsraum wie ein gemütliches Wohnzimmer, in dem Gäste entspannt beieinander saßen.
Die Seefelds waren gekommen, ebenso Gertrud und Caro mit ihren Partnern. Emilias Freund Markus durfte ebenso wenig fehlen wie Hebamme Anna, und Til hatte auch den jungen Lehrer Valentin Brunner eingeladen, mit dem er sich in den vergangenen Wochen angefreundet hatte.
Er schaute in die erwartungsvollen Gesichter und begann, fast ein wenig schüchtern: »Seien Sie bitte nicht überrascht; dieses ist ein ganz anderes Buch als meine vorherigen. Es hat nichts mit Kriminalromanen zu tun und heißt Tagebuch aus der Provinz.«
Schon nach wenigen Sätzen hatte er die Zuhörer in seinen Bann geschlagen. In einfachen, berührenden Worten schilderte er das Alltagsleben in Bergmoosbach. Der Ort trug im Buch einen anderen Namen, aber er war unverkennbar. Auch die Personen, von denen er erzählte, hießen in der Erzählung anders, aber sie waren lebensecht und unverwechselbar: die beiden Ärzte mit ihrer Familie, Hebamme Anna, Fanny mit ihrem Lebensmittelgeschäft, die kinderreiche Familie Mittner mit dem fürsorglichen Ältesten, Markus. Afra mit ihrem nimmermüden Mundwerk kam ebenso darin vor wie der Bürgermeister und seine modebewusste Gattin.
Und eine junge Frau, die einen kleinen Buchladen eröffnet hatte, in dem die Menschen sich begegneten, in dem Freundschaften geschlossen wurden und die Liebe erwachte…
Til Tilsner erzählte von einem Leben abseits der Großstädte, er erzählte von Geburt und Tod, von Nachbarschaft, von Einsamkeit, Gemeinsamkeit und Hilfe. Sein Buch war eine liebevolle Verbeugung vor dieser großartigen Landschaft, ihren Menschen und ihrem Lebensreichtum, und seine Worte drangen direkt in die Herzen derer, von denen er erzählte.
Als er geendet hatte, verbreitete sich gerührte Stille. Dieses Buch war wirklich etwas Besonderes, es stand für all die neuen Lebenserfahrungen, die der Mann in den vergangenen Wochen gemacht hatte.
Elisabeth hatte neben einem Regal gesessen, das sie halb verdeckte. Der Schriftsteller hatte sie während der Lesung nicht sehen können, und jetzt schaute er mit klopfendem Herzen in ihre Richtung.
Sie erhob sich und ging langsam auf ihn zu, so als ob keine anderen Menschen um sie herum wären, als gäbe es nur sie und ihn. Tränen glitzerten in ihren Augen, aber sie lächelte, als sie ihre Hand nach ihm ausstreckte und leise sagte: »Ich liebe dich auch, Til.«
Wie auf ein stilles Kommando erhoben sich die Freunde und ließen die Liebenden allein. Traudel dachte noch daran, den Schlüssel abzuziehen, die Ladentür abzuschließen und das Schlüsselbund durch den Briefschlitz zurück zu werfen. Er landete mit einem deutlichen Klappern auf dem alten Holzfußboden, aber weder Elli noch Til kümmerten sich darum.
Sie waren in ihren unvergesslichen ersten Kuss versunken.
– E N D E –