Читать книгу Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 28

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»Zieht jemand um, Gerti?« Ines Voigt, die Kultur- und Tourismusbeauftrage der Gemeinde Bergmoosbach, hatte ein Rezept in der Praxis Seefeld abgeholt und wollte gerade wieder gehen, als der Lastwagen einer Spedition den Weg von der Straße heraufkam.

»Ich weiß von keinem Umzug.«

»Das kann ich eigentlöich nicht glauben.« Die junge Frau in dem gelben Dirndl schaute Gerti Fechner, die langjährige Sprechstundenhilfe der Seefelds, verwundert an. Sie wusste doch sonst immer über alles Bescheid, was im Haus der Seefelds vor sich ging.

»Geh, wie kommst du denn überhaupt darauf, dass jemand umzieht?« Gerti zupfte den weißen Kittel zurecht, den sie über ihrem moosgrünen Faltenrock trug, schob die Lesebrille in ihre dunklen Locken zurück und kam hinter dem Tresen hervor.

»Wegen des Möbelwagens.« Ines schaute fasziniert zu, wie der Fahrer den LKW den Weg hinaufsteuerte und ihn neben der alten Ulme im Hof parkte, ohne die Bank zu berühren, die den dicken Stamm umschloss.

»Sie kommen mit einem Möbelwagen«, wunderte sich Gerti und schaute über Ines’ Schulter hinweg in den Hof.

»Wer kommt?«

»Du bist heut aber schon ein bissel neugierig, Madl«, sagte Gerti und zupfte Ines an dem Zopf, zu dem sie ihr brünettes Haar geflochten hatte.

»Ach, komm, Gerti, einen Möbelwagen sieht man in Bergmoosbach doch auch selten.«

»Stimmt, weil keiner fortziehen mag.«

»Das heißt, es zieht jemand her?«

»Jemand nicht, aber welche«, antwortete Gerti mit einem geheimnisvollen Lächeln.

»Welche? Was meinst du damit?«

»Ich muss wieder an die Arbeit«, sagte Gerti und huschte hinter den Tresen zurück.

»Welche«, murmelte Ines und schaute auf die beiden Männer, die aus dem Führerhaus stiegen und um den LKW herumgingen.

Beide trugen dunkle Westen und Baseballkappen mit dem Namenszug der Spedition.

»Guten Morgen, Traudel«, begrüßte Ines die Haushälterin der Seefelds, die aus dem Wohnhaus kam, einem weißen Gebäude mit hellgrünen Fensterläden und bunten Blumen in den Balkonkästen.

Traudel zog einen Schlüsselbund aus der Tasche ihres dunkelblauen Dirndls und lief zur Tür am Ende des flachen Anbaus, in dem auch die Praxis untergebracht war.

»Guten Morgen, Ines«, antwortete sie freundlich, während sie die Tür aufschloss. »Meine Herren, hier herein, bitte«, wandte sie sich an die beiden Männer, die vor der inzwischen geöffneten Ladeflächen standen. »Wie geht es deinem Großvater?«, wollte sie von Ines wissen.

»Schon besser, aber er meint, dass er hin und wieder noch eine Tablette braucht«, antwortete sie und steckte das Rezept in ihre Handtasche.

»Versucht es einmal mit Feldthymian.«

»Wie genau?« Traudel war dafür bekannt, dass sie sich mit den heimischen Heilkräutern auskannte, und Ines wollte ihren Rat gern annehmen.

»Wenn du ein paar Minuten wartest, dann erkläre ich es dir.«

»Das mache ich gern, ich habe heute frei und kann mir meine Zeit einteilen.« Sie trat zur Seite, als die beiden Männer etwas, das in Packpapier eingeschlagen war und die Form einer großen rechteckigen Tischplatte hatte, über den Hof trugen und in den Raum brachten, den Traudel für sie geöffnet hatte.

»In der Küche auf dem Tisch steht Kaffee, nimm dir eine Tasse, wenn du möchtest«, sagte Traudel.

»Sehr gern, danke.« Ines wartete, bis die Männer mit ihrer Last an ihr vorbei waren, und riskierte noch einen Blick auf die Ladefläche des Lastwagens. Das sind Gemälde, dachte sie, als sie die großen und kleinen Pakete sah, die gut gesichert in einer Gitterbox standen.

»Hier bin ich!«, hörte sie Traudel in diesem Moment rufen. Als sie sich zu ihr umschaute, sah sie, wie sie jemandem zuwinkte, den sie aber nicht sehen konnte, da ihr die Sicht durch die geöffnete Tür der Ladefläche versperrt wurde.

»Verzeihung, junge Frau.« Der erste der beiden Männer kam wieder zurück.

Ines wich zur Seite aus, damit er in den Lastwagen klettern konnte. »Oh!«, rief sie erschrocken, als sie in einen Mann hineinlief, der aus dem Haus gekommen sein musste. Sie geriet ins Stolpern und sah sich bereits auf dem Boden liegen.

Doch er war schneller und fing sie auf.

»Danke«, sagte sie, und als sie aufschaute, sah sie geradewegs in seine Augen. »Karibikblau«, flüsterte sie.

»Bitte?«, fragte der Mann, der sie mit einem verschmitzten Lächeln betrachtete.

»Sie dürfen mich wieder loslassen«, bat sie ihn und überging seine Frage, schließlich konnte sie diesem Fremden gegenüber doch nicht zugeben, dass sie von seinen Augen fasziniert war. Nicht nur von seinen Augen, dachte sie, als sie einen Schritt von ihm zurückwich.

Er war groß und schlank, hatte blondes stufig geschnittenes Haar, und dieses jungenhafte Lächeln, mit dem er sie noch immer anschaute, ließ ihr Herz schneller schlagen.

»Marc Durand«, stellte er sich vor und reichte ihr die Hand.

»Ines Voigt«, sagte sie.

»Marc, ohne dich geht es nicht weiter!«, rief Traudel, die die Tür aufhielt, damit die beiden Männer das nächste offensichtlich ziemlich schwere Paket in den Raum hineintragen konnten.

»Sofort!«, antwortete er, ohne seinen Blick von Ines zu nehmen. »Sind Sie öfter hier?«, fragte er sie.

»Ich bin gerade auf dem Weg in die Küche.«

»Gut, wenn Sie hier arbeiten, dann sehen wir uns gleich wieder, bis dann«, sagte er und eilte zu Traudel, die ungeduldig auf ihn wartete.

Ich bin gerade auf dem Weg in die Küche? Das war doch keine Antwort auf seine Frage, was rede ich denn da?, dachte Ines und schüttelte über sich selbst den Kopf. »Hallo, Nolan, du bist ja schon wieder gewachsen«, begrüßte sie den Hund der Seefelds. Der Spross einer Berner Sennhündin und eines weißen Schäferhundes kam in die Diele gelaufen, begrüßte sie fröhlich und folgte ihr in die Küche.

Auf dem rustikalen Esstisch in der luftigen hellen Landhausküche stand eine weiße Porzellankanne auf einem Stövchen, und es duftete nach frisch gebrühtem Kaffee. Ines nahm eine Tasse aus dem Regal neben der Abzugshaube, setzte sich auf einen der braunen Lederstühle und schenkte sich Kaffee ein.

»Woher kennt deine Familie diesen Mann, Nolan?«, fragte sie den Hund, während sie durch die geöffnete Terrassentür auf den Steingarten und die Wiese schaute, die sich bis zur Straße hinunter über einen sanften Hügel erstreckte.

»Wuff«, machte der Hund, als Ines ihn abwartend anschaute.

»Alles klar, du meinst, ich muss es selbst herausfinden. Marc Durand, das klingt interessant, weißt du«, sagte sie und strich über das hellgrüne Schürzchen, das sie über ihrem Dirndl trug.

»Wuff, wuff«, machte Nolan und rannte in die Diele. »Wuff, wuff!«, bellte er aufgeregt, kam wieder in die Küche gesaust und stürmte gleich darauf wieder hinaus.

»Willst du mir etwas zeigen?«, fragte Ines und folgte ihm. »Das ist wohl sein Gepäck«, murmelte sie, als Nolan um den Koffer herumsprang, der neben der Treppe abgestellt war. »Er kommt aus Kanada, genauer gesagt, aus Montreal«, erzählte sie dem Hund, nachdem sie den Anhänger der Fluggesellschaft studiert hatte, der am Griff des Koffers befestigt war. Du liebe Güte, was mache ich denn?, dachte sie erschrocken. »Ich bin heute wirklich ausgesprochen neugierig, verrate mich nicht, Nolan«, sagte sie, streichelte dem Hund über das dicke flauschige Fell und lief zurück in die Küche. Was ist nur mit mir los?, dachte sie, als sie bald darauf Traudel und Marc ins Haus kommen hörte und ihr Herz sofort wieder schneller schlug. Um sich nicht anmerken zu lassen, in welche Aufregung der Fremde sie versetzte, nahm sie einen der kleinen Löffel, die in einem Körbchen auf dem Tisch lagen, und rührte ihren Kaffee um.

»Haben Sie nicht etwas vergessen?«

»Was denn vergessen?«, fragte sie und schaute Marc an, der sich auf den Stuhl ihr gegenüber setzte.

»Milch oder Zucker oder auch beides.«

»Ich sorge dafür, dass er schneller abkühlt«, antwortete sie, als ihr bewusst wurde, wie merkwürdig es auf ihn wirken musste, dass sie in dem schwarzen Kaffee herumrührte.

»Geh, Ines, so heiß kann er gar nicht sein«, wunderte sich Traudel, die noch die Post aus dem Briefkasten geholt hatte.

»Ich bin in dieser Beziehung ein bisschen empfindlich«, entgegnete Ines, legte den Löffel beiseite und pustete noch einmal vorsichtig in die Tasse, bevor sie sie anhob und einen Schluck daraus trank.

»Wenn es so ist, dann sei vorsichtig«, sagte Traudel, während sie rasch die Post durchschaute. Die Werbeprospekte wanderten in den blauen Mülleimer, der neben dem gelben und dem braunen im Schrank unter der Spüle stand, die Briefe und die Ansichtskarten legte sie sortiert nach Empfänger auf den Tisch. Einen Stapel für Sebastian Seefeld, einen für seinen Vater Benedikt und einen für Emilia, Sebastians Tochter. »Weißt du schon, Marc, dass Ines sich um die Kultur in Bergmoosbach kümmert?«, fragte Traudel, als sie sich zu den beiden an den Tisch setzte.

»Was hat Bergmoosbach denn in Sachen Kultur zu bieten?, wandte er sich an Ines.

»Einiges, es gibt Dorffeste zu organisieren, Ausstellungen, Theatervorstellungen, Musikveranstaltungen, und außerdem kümmere ich mich auch um den Tourismus.«

»Dann kommen Sie sicher viel herum. In den Bergen, auf tiefen Seen und wilden Bächen«, fügte er lächelnd hinzu.

»Ja, klar, überall«, sagte sie, obwohl ihr allein der Gedanke an offene Gewässer einen Riesenschrecken einjagte und sie einen möglichst weiten Bogen um sie herum machte. Aber das würde sie ihm sicher nicht erzählen, weil es ohnehin ihr Geheimnis bleiben musste. Eine Tourismusbeauftragte, die sich vor den Gewässern fürchtete, für die sie andere begeistern sollte, würde sich der Lächerlichkeit preisgeben.

»Und was machen Sie so?«, fragte sie, während sie in ihre Kaffeetasse schaute.

»Ich bin Galerist.«

»Welche Art Bilder stellen Sie aus?«

Sofort hatte er ihr Interesse geweckt, sie vergaß ihre Befangenheit und wandte sich ihm wieder zu.

»Ich bevorzuge die Realisten.«

»Ich auch, ich finde es höchst anstrengend, Kreise und Kleckse mit etwas Sinnvollem zu belegen.«

»Manchmal ist es aber auch amüsant, wenn ein Betrachter in bunten Klecksen das gesamte Universum wiedererkennt.«

»Erkennst du mich wieder?«

»Sebastian, mon ami.« Marc sprang auf, als Sebastian Seefeld in die Küche kam. »Ich freue mich, dich zu sehen«, sagte er und umarmte den gut aussehenden jungen Arzt, der eine weiße Hose und ein weißes Hemd trug.

»Gerti sagte mir, dass die Bilder angekommen sind, und ich dachte mir, dass du dann auch hier sein würdest. Willkommen bei uns. Ich freue mich schon darauf, mit dir über alte Zeiten zu plaudern.«

»Ich hoffe, es gibt auch etwas über die Gegenwart zu erzählen.«

»Aber ja, die Bilder packen wir aber erst später aus. Ich möchte, dass Emilia dabei ist.«

»Bilder deiner Frau?«, fragte Ines.

Sebastian nickte, und in seinen hellen grauen Augen zeigte sich plötzlich eine tiefe Traurigkeit.

»Tut mir leid, ich hätte nicht fragen sollen«, entschuldigte sie sich.

»Du musst dich nicht entschuldigen«, entgegnete Sebastian. »Wenn du möchtest, kannst du dir die Bilder gern ansehen. Dass ich sie nach dieser Ausstellung in Montreal erst einmal bei mir haben will, bedeutet nicht, dass ich sie verstecken möchte.«

»Ich würde sie mir sehr gern ansehen, danke, Sebastian.« Ines kannte einige Bilder von Helene Seefeld, hatte sie aber bisher nur im Internet betrachten können, wenn eines von ihnen auf einer Auktion angeboten wurde. Ein Original war etwas ganz anderes.

»Wenn du sie nicht verstecken willst, warum hast du sie dann in einem Abstellraum untergebracht?«, fragte Marc.

»Da werden sie nicht bleiben. Ich werde sie aufhängen, einige im Haus, einige in der Praxis und vielleicht als Leihgabe im Rathaus. Darüber wollte ich demnächst mit dir sprechen, Ines«, sagte Sebastian.

»Gern, aber was hältst du von einer Ausstellung? Wir könnten die Bilder doch erst einmal den Bergmoosbachern zeigen, bevor du sie hier im Haus aufhängst.«

»Das ist eine hervorragende Idee«, stimmte Marc Ines zu.

»Wir sollten darüber reden, komm doch heute Abend zum Essen zu uns«, schlug Sebastian vor. »Jetzt muss ich aber wieder in die Praxis, wir sehen uns zum Mittagessen, Marc«, verabschiedete er sich und eilte davon.

»Ich hoffe, ich habe ihn mit dieser möglichen Ausstellung nicht überfahren«, sagte Ines.

»Nein, ganz bestimmt nicht. Er war immer stolz auf Helenes Arbeit, und er möchte sie anderen Menschen nicht vorenthalten. Helene hätte das auch nicht gewollt. Verzeihung, aber das Gespräch muss ich annehmen«, sagte Marc, als sein Handy läutete und die Nummer einer New Yorker Galerie auf dem Display aufleuchtete.

»Er gefällt dir, stimmt’s?«, fragte Traudel, nachdem Marc zum Telefonieren hinaus auf die Terrasse gegangen war.

»Ich finde ihn interessant.«

»Geh, interessant, das trifft es wohl nicht ganz«, entgegnete Traudel lachend. »Aber jetzt kümmern wir beide uns erst einmal um die Medizin für den Korbinian. Kennst dich ein bissel mit Kräutern aus?«

»Nicht so richtig, bei uns in der Familie war meine Großmutter die Expertin auf diesem Gebiet.«

»Ich weiß, von der Geli habe ich einiges gelernt. Ich bin sicher, sie hätte es auch mit Feldthymian versucht. Ich erkläre dir, was du tun musst, und heute Abend, wenn du wieder herkommst, gebe ich dir die Kräuter.«

»Danke, Traudel.« Ines zog ein Notizheft aus ihrer Handtasche, um aufzuschreiben, wie sie die Thymiankompressen für ihren Großvater vorbereiten sollte.

»Wenn wir ein bissel Glück haben, dann braucht er bald keine Schmerzmittel mehr«, sagte Traudel, als Ines ihr Notizbuch wieder einsteckte.

»Wir probieren es gleich heute aus.«

»Es ist schon bewundernswert, wie du dich um deinen Großvater kümmerst.«

»Die Großeltern haben mich nach dem Tod meiner Eltern aufgenommen, und nach dem Tod der Großmutter bin ich es ihm doch schuldig.«

»Du bist ihm nichts schuldig, darüber habe ich mich mit Korbinian vor drei Jahren nach der Beerdigung seiner Geli recht ausführlich unterhalten. Außerdem gibt es noch die anderen. Sie können sich auch kümmern.«

»Ich weiß nicht, Miriam und ihre Eltern haben viel Arbeit mit dem Sägewerk, und ihr Vater ist auch noch im Gemeinderat.«

»Trotzdem, Ines, du bist nicht allein für Korbinian verantwortlich. Zumal er noch ganz gut in Schuss ist«, fügte Traudel augenzwinkernd hinzu.

»Das versichert er mir auch ständig. Er meint, ich sollte ein bisschen mehr an mich selbst denken.«

»Freilich sagt er das, weil er möchte, dass du glücklich bist.«

»Mir geht es gut, ich muss mich über nichts beklagen. Ich danke dir für deine Kräutertipps, wir sehen uns dann heute Abend«, verabschiedete sich Ines gleich darauf. »Ich gehe durch den Steingarten, wenn ich darf«, sagte sie, als Traudel sie zur Haustür begleiten wollte.

»Freilich darfst du, und schau dich ruhig nach all dem Schönen um, was es dort zu sehen gibt«, erwiderte sie lächelnd, als sie Ines’ Blick folgte.

Er galt ohne Zweifel Marc, der in der Mitte der Treppe, die durch den Steingarten führte, auf einer Stufe saß und telefonierte.

»Er lebt doch sicher nicht allein«, sprach Ines aus, was ihr gerade durch den Kopf ging.

»Im Moment schon, er hat sich vor ein paar Wochen von seiner Freundin getrennt. Die große Liebe war es ohnehin nicht, wie Sebastian erzählt hat.«

»Die ist wohl auch schwer zu finden, viele finden sie leider nie«, seufzte Ines. »Also dann, bis später«, sagte sie und huschte auf die Terrasse hinaus.

»Sie gehen schon?«, fragte Marc, der sein Telefongespräch beendet hatte und sich wieder erhob.

»Ich muss noch in die Apotheke, mein Großvater wartet auf seine Tabletten.«

»Sind Sie zu Fuß unterwegs?«

»Ja, das ist in Bergmoosbach kein Problem, die Entfernung von einem Ortsende zum anderen ist recht überschaubar.«

»Darf ich Sie begleiten?«

»Zur Apotheke?«

»Sie liegt doch sicher irgendwo im Dorfkern.«

»Schon.«

»Gut, dann komme ich mit und besichtige das Dorf. Es sei denn, Sie wollen nicht mit mir gesehen werden.«

»Warum sollte ich das nicht wollen?«

»Vielleicht haben Sie einen eifersüchtigen Freund oder Ehemann.«

»Nein, weder den einen noch den anderen, und selbst, wenn es so wäre, dann würde ich mir sicher nicht vorschreiben lassen, mit wem ich mich treffen darf.«

»Das habe ich auch nicht angenommen.«

»Das klang aber so.«

»Ehrlich gesagt, ich wollte nur herausfinden, ob Sie einen Freund haben«, gab Marc lächelnd zu.

»Warum interessiert Sie das?«

»Weil Sie mich interessieren.«

»Aber Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Das möchte ich gern ändern. Erzählen Sie mir doch einfach etwas von sich«, schlug er vor, als sie nebeneinander die Treppe zur Straße hinunterliefen.

»Passen würde es schon«, murmelte Traudel.

»Was würde passen?«

»Geh, Benedikt, jetzt hast du mich aber erschreckt«, sagte sie und drehte sich zu dem großen sportlichen Mann um, der plötzlich hinter ihr stand.

»Tut mir leid, das wollte ich nicht«, entschuldigte sich Sebastians Vater und sah Traudel mit seinen dunklen Augen an, die in einem aufregenden Kontrast zu seinem grauen Haar standen. »Also, was würde passen?«, fragte er erneut und schaute genau wie Traudel durch die geöffnete Terrassentür in den Garten. »Marc ist schon da«, stellte Benedikt überrascht fest, als er Helenes Galeristen draußen auf der Treppe entdeckte.

»Er ist vor einer Stunde eingetroffen.«

»Und die Bilder?«

»Sind bereits eingelagert. Sebastian meinte, wir packen sie erst aus, wenn Emilia zu Hause ist.«

»Das ist eine gute Entscheidung, unsere Kleine sollte unbedingt dabei sein, die Bilder sind das Erbe ihrer Mutter. Ist das Ines, Korbinians Enkelin?«, fragte Benedikt, weil er die junge Frau neben Marc nur von hinten sehen konnte.

»Ja, das ist sie. Ich glaube, die beiden gefallen einander.«

»Das ist es also, was passt. Wie lange kennen sie sich schon?«

»Sie sind sich kurz nach Marcs Ankunft begegnet.«

»Und schon weißt du über ihre Gefühle Bescheid?«

»Freilich, ich habe doch Erfahrung in solchen Dingen«, antwortete Traudel und lächelte in sich hinein.

*

»Nun, was gibt es über Ines zu sagen?«, hakte Marc nach, als sie das Ende der Steintreppe erreichten und die Straße hinunter ins Dorf gingen.

»Verraten Sie mir erst einmal, warum Sie unsere Sprache so perfekt beherrschen?«, fragte sie, weil bis auf einen leichten Akzent nichts darauf hindeutete, dass Französisch seine Muttersprache war.

»Meine Großmutter stammte aus Bremen, sie hat allen Enkelkindern ihre Sprache beigebracht. Damals, als ich noch klein war, war mir nicht bewusst, was ich für ein Glück hatte, so ganz nebenbei eine zweite Sprache zu erlernen.«

»Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Galerist zu werden?«

»Meine Eltern sind Musiker in einem großen Orchester und oft auf Reisen. In den Ferien durfte ich sie begleiten, und da sie auch an Malerei interessiert sind, haben sie mich überall, wo wir waren, durch die Museen geschleppt. Erst fand ich es langweilig, später interessant und schließlich habe ich Kunst studiert. Ein Bekannter bot mir dann eine Stelle in seiner Galerie an, und inzwischen besitze ich meine eigene Galerie. Und jetzt möchte ich etwas von Ihnen hören, Sie haben mich ja inzwischen ordentlich ausgefragt.«

»Ich habe Sie nur nach Ihren Sprachkenntnissen gefragt, alles andere hat sich ergeben.«

»Weil Sie Ihre Fragen geschickt gewählt haben, Ines«, erwiderte er lachend. »Ich darf Sie doch Ines nennen?«

»Ja, das dürfen Sie, Marc«, nannte sie ihn nun auch beim Vornamen.

»Der Mittelpunkt des Dorfes, nehme ich an«, sagte er, als sie wenig später den Marktplatz mit seinen restaurierten alten Häusern und den hübschen Läden erreichten.

»Richtig, das ist das Zentrum von Bergmoosbach. Hallo, Miri!«, rief sie der jungen Frau zu, die mit einem großen Strauß roter Rosen aus dem Blumenladen kam und zu ihr und Marc herüberschaute.

»Wo steckst du die ganze Zeit, Ines?« Miriam Holzer, Ines’ Cousine, war eine auffällige Schönheit mit langen blonden Locken. Die weiße schmal geschnittene Hose und der rosafarbene Seidenpullover betonten ihre perfekte Figur, und die Art, wie sie gleich darauf die Straße überquerte, mit hoch erhobenem Kopf, den Blick von oben herab auf Ines gerichtet, ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich ihrer Cousine überlegen fühlte.

»Wenn du mich gesucht hast, warum rufst du mich nicht an?«, fragte Ines.

»Das habe ich versucht.«

»Oh, tut mir leid, ich habe vergessen, mein Handy wieder einzuschalten. Ich habe ein Rezept in der Praxis Seefeld abgeholt und musste eine Weile warten, deshalb habe ich es ausgeschaltet. Du weißt doch, wie ungehalten Gerti reagiert, wenn im Wartezimmer die Handys klingeln.«

»Gertis Befindlichkeiten sind mir egal. Du musst für Großvater erreichbar sein, Ines. Ich war gerade bei ihm, er hat Schmerzen, du solltest dich also beeilen. Oder hast du etwas vor?«, fragte Miriam und musterte Marc mit einem abschätzenden Blick.

»Nein, ich wollte nur noch in die Apotheke.«

»Du bist aber offensichtlich nicht allein. Willst du mir den jungen Mann nicht vorstellen?«

»Marc Durand, Miriam Holzer, meine Cousine«, machte Ines die beiden miteinander bekannt.

»Marc Durand? Helene Seefelds Galerist?«, fragte Miriam.

»Das ist richtig, gnädige Frau.«

»Monsieur Durand, ich freue mich, Sie endlich einmal persönlich kennen zu lernen. Sebastian und ich sind gute Freunde, sehr gute Freunde, wissen Sie, und ich habe schon einiges von Ihnen gehört. Wie wäre es mit einem Spaziergang durch Bergmoosbach? Wir könnten dabei ein wenig plaudern.«

»Jetzt?«, fragte Marc erstaunt, da Miriam gerade noch den Eindruck vermittelt hatte, dass sie fürchterlich in Eile sei.

»Ich habe gerade beschlossen, dass mir ein Spaziergang gut tun würde, und da ich heute keinen dringenden Geschäftstermin mehr habe, kann ich mir diesen Entschluss auch erlauben.«

»Sie können sich ihr ruhig anvertrauen, Marc. Miri ist eine unterhaltsame Fremdenführerin«, sagte Ines, als er zögerte, auf Miriams Vorschlag einzugehen.

»Das habe ich mir sicher von dir abgeguckt, Cousinchen«, säuselte Miriam. »Hier, die stellst du bitte in die Vase auf meinem Schreibtisch im Büro, bevor du zu Großvater gehst«, sagte sie und drückte Ines den Strauß Rosen in die Arme.

»Du kaufst dir selbst rote Rosen?«, wunderte sich Ines.

»Kindchen, manchmal bist du wirklich herrlich naiv. Die Rosen schützen mich vor diesen unliebsamen Avancen, denen ich so oft ausgesetzt bin. Sie signalisieren diesen Herren, dass ich bereits vergeben bin. Diese Botschaft kommt doch an, nicht wahr, Monsieur Durand?«, wandte sie sich mit einem koketten Lächeln an Marc.

»Es ist durchaus verständlich, da stimme ich Ihnen zu. Hätte ich allerdings ernsthafte Absichten, würde ich mich von einem Strauß Rosen nicht abschrecken lassen. Welche Signale senden Sie aus, wenn Sie sich jemanden fernhalten wollen?«, wandte er sich wieder an Ines.

»Ich sage ihm, dass ich nicht interessiert bin.«

»Genau, immer gerade heraus, das ist meine Ines. Sie besitzt nicht dieses Gespür für die Feinheiten, sie spricht einfach aus, was sie denkt. Aber das ist in Ordnung, Schatz«, sagte Miriam und hauchte Ines einen versöhnlichen Kuss auf die Wange.

»Beruhigend, dass du mir meine Offenheit nachsiehst.« Ein wenig mehr Feingefühl im Umgang mit deinen Mitmenschen könnte dir auch nicht schaden, dachte Ines, aber wie immer war sie nicht wirklich böse auf ihre Cousine. Sie und ihre Eltern waren neben dem Großvater ihre einzige Familie, und in einer Familie gehörte es dazu, dass man sich schnell verzieh. »Ich gehe dann, bis heute Abend, Marc«, verabschiedete sie sich und lief zur Apotheke, die an der nächsten Straßenecke im Erdgeschoss des weißen Gebäudes mit den grauweißen Fensterläden untergebracht war.

»Heute Abend?«, fragte Miriam, nachdem Ines gegangen war.

»Ihre Cousine kommt zum Abendessen zu den Seefelds.«

»Ach, das ist ja schön.« In Wirklichkeit fand Miriam das überhaupt nicht schön, ganz im Gegenteil. Sie fragte sich, wie ihre Cousine es fertiggebracht hatte, von den Seefelds eingeladen zu werden. »Aber nun kommen Sie, Monsieur Durand, ich zeige Ihnen unser Dorf.«

»Ich würde mir gern die Lüftlmalereien an den Häusern dort drüben anschauen, aber Sie müssen mich nicht begleiten. Ich möchte Ihren Tagesplan nicht durcheinanderbringen«, sagte Marc, während er zur Apotheke schaute, in die Ines gerade hineinging.

Was ist das denn?, dachte Miriam, als sie diesen Blick bemerkte. Diesen kleinen Funken von Zuneigung musste sie im Keim ersticken, sonst würde Ines noch auf dumme Gedanken kommen. Schließlich gab es eine Abmachung, die ihre Familie mit ihr getroffen hatte. Sie hatte sich um Großvater Korbinian zu kümmern. Eine Liebe für Ines hatte da keinen Platz. Es war nicht das erste Mal, das Miriam sich um einen Mann ›kümmerte‹, der sich für Ines interessierte, und bisher hatte ihre Cousine das nicht ein einziges Mal bemerkt. »Sie bringen meinen Plan nicht durcheinander, ganz gewiss nicht«, versicherte sie Marc. «Gehen wir«, sagte sie und hakte sich bei ihm unter.

Als Ines wenig später wieder aus der Apotheke kam, sah sie Marc und Miriam auf dem Marktplatz stehen. Miriam deutete auf das Rathaus, das mit einer besonders schönen Malerei geschmückt war, und Marc hörte offensichtlich zu, was sie ihm darüber zu erzählen wusste. Ines spürte auf einmal so ein merkwürdiges Kribbeln, das ihr durch und durch ging, als sie Marc betrachtete. Sie konnte ihn zwar nur von der Seite sehen, aber alles an ihm schien ihr bereits vertraut. Seine Bewegungen, wie er aufschaute, sein Haar mit der Hand aus dem Gesicht strich, sein Lächeln. Genug, ich muss zu Großvater, riss sie sich aus ihren Träumereien und lief mit dem Strauß Rosen im Arm und der Papiertüte aus der Apotheke, in der die Medikamente für Korbinian steckten, nach Hause.

Kurz darauf verabschiedete sich Marc wieder von Miriam. »Ich habe noch einige Anrufe zu erledigen«, sagte er und ging zurück zum Haus der Seefelds. Die spitzen Bemerkungen, die Miriam über ihre Cousine machte, und die Art, wie sie ihn zu umgarnen versuchte, gefielen ihm nicht.

*

Das Seefeldhaus lag im Westen von Bergmoosbach, während das Sägewerk am östlichen Ortsausgang lag, dort, wo der Bach, der aus den Bergen herunterkam, das Dorf teilte und einsame Wiesen sich ausbreiteten. Obwohl eine Lärmschutzwand das gesamte Gelände umgab, drang das Kreischen der Sägen bis auf die Straße hinaus. Die Villa der Familie Holzer und das alte Bauernhaus auf dem hinteren Grundstück, in dem Ines mit ihrem Großvater wohnte, standen nur getrennt durch die Sägewerkstraße, wie der breite sandige Weg schon seit ewigen Zeiten hieß, gegenüber dem Sägewerk. Wie schon mehrere Generationen der Holzers zuvor, war auch Ines mit dieser Geräuschkulisse aufgewachsen. Sie machte ihr nichts aus.

Nachdem sie die Rosen in Miriams Büro gebracht hatte, lief sie den schmalen Pfad am Bachufer entlang, der zum Bauernhaus der Holzers führte. Die Villa, ein zweistöckiges Gebäude mit Dachterrasse und von Säulen umrahmten Eingang, verbarg sich hinter einer efeubewachsenen Mauer, die bis an die Wiese reichte, die das Bauernhaus umgab.

Ines liebte das schöne alte Bauernhaus mit seinem hellen Verputz, den dunkelgrünen Fensterläden und der massiven Kiefernholztür. Die vier Wohnräume lagen im Erdgeschoss, und darüber gab es nur einen alten Heuschober, der inzwischen als Abstellraum genutzt wurde. Der Kräutergarten, den ihre Großmutter mit so viel Liebe angelegt hatte, erstreckte sich bis an das Bachufer, und die Bank, die dort im Schatten eines Apfelbaumes stand, war Ines’ Zufluchtsort, wenn sie Zeit zum Nachdenken brauchte.

Nachdem ihr Großvater vor einem halben Jahrhundert die Villa hatte bauen lassen, diente der alte Familiensitz der Holzers als Gästehaus, bis zu dem Tag, als Miriams Vater die Leitung des Sägewerks übernahm und es ihm passender erschien, dass seine Eltern und das Kind seiner Schwester, das sie aufgenommen hatten, ihr eigenes Refugium, wie er es nannte, haben sollten.

Korbinian Holzer saß auf der Bank unter dem Apfelbaum, sah an den Horizont und zog dann und wann an der Pfeife mit dem bemalten Porzellantöpfchen und dem gebogenen langen Mundstück aus dunklem Holz. Er trug eine graue Hose, ein helles Hemd und eine seiner Trachtenwesten, ohne die er nie aus dem Haus ging. Sein schlohweißes Haar war wie immer ordentlich nach hinten gekämmt.

»Es hat ein bisschen länger gedauert, tut mir leid«, entschuldigte sich Ines, als sie sich der Bank näherte und er sich zu ihr umdrehte.

»Geh, Kind, das macht doch nichts, ich fühl mich schon viel besser«, beruhigte Korbinian seine Enkelin. »Komm, setz dich ein bissel her zu mir«, bat er sie und klopfte mit der Hand neben sich auf die Bank.

»Miri meinte, du hättest wieder starke Schmerzen. War sie bei dir?«

»Sie hat über die Hecke geschaut, weiter schafft sie es doch selten.«

»Sie hat halt viel zu tun, Großvater.«

»Schön, wie du sie immer verteidigst.«

»Sie ist wie meine Schwester.«

»Schon recht«, sagte Korbinian, und seine dunklen Augen ruhten eine Weile auf seiner Enkelin.

»Traudel meinte, wir sollten es zusätzlich zu den Tabletten mit Feldthymiankompressen versuchen«, wechselte Ines das Thema. Sie wusste, dass ihr Großvater nicht allzu gut auf Miriam zu sprechen war, weil sie sich nur selten Zeit für ihn nahm.

»Dann sollten wir auf ihren Rat hören und es gleich heute Abend ausprobieren«, sagte Korbinian.

»Besser am Nachmittag, heute Abend bin ich eingeladen.«

»So, eingeladen bist du. Wohin denn?«

»Zu den Seefelds. Ich darf mir die Gemälde von Sebastians Frau anschauen, die heute angekommen sind. Wir wollen sie in einer Ausstellung präsentieren. Marc findet auch, dass es eine gute Idee ist.«

»Marc?«

»Helene Seefelds Galerist. Er ist für ein paar Tage bei den Seefelds zu Besuch.«

»Woher kommt er?«

»Montreal.«

»Und?«

»Und was?«

»Wie ist er so, der Galerist aus Kanada?«

»Nett.«

»So nett, dass du dich darauf freust, ihn heute Abend wiederzusehen?«

»Schon«, antwortete Ines, während sie den Buntspecht beobachtete, der über einen Stein am Bachufer stolzierte und seinen Schnabel immer wieder ins Wasser tauchte, um eine Larve herauszufischen. »Hübsches Kerlchen«, sagte sie und betrachtete den Vogel mit seinem schwarz-weiß-roten Gefieder.

»Hübsches Kerlchen?«, wiederholte Korbinian.

»Ich meine den Vogel, Großvater.«

»Dann ist er nicht hübsch, der Galerist?«

»Doch, er sieht ziemlich gut aus.«

»Wann hab ich das zum letzten Mal von dir gehört, dass dir ein Mann gefällt?«

»Keine Ahnung.«

»Siehst du, ich weiß es auch nicht mehr. Vielleicht lern ich ihn mal kennen, den Marc aus Kanada.«

»Ich kenne ihn doch selbst noch nicht wirklich.«

»Mag sein, aber dein Herzl schlägt schon schneller, wenn du an ihn denkst, stimmt’s?«

»Ein bisschen«, gab Ines zu, weil ihr wieder ganz flau wurde, als sie an das Abendessen bei den Seefelds dachte.

»Deinem alten Großvater kannst du halt nichts vormachen«, sagte Korbinian und legte seinen Arm um sie.

»Ich weiß«, sagte Ines.

*

Korbinian hatten die Thymianumschläge, die Ines am Nachmittag auf seine Gelenke gelegt hatte, gut getan. Zusammen mit dem Schmerzmittel, das Sebastian ihm verschrieben hatte, fühlte er sich wieder recht wohl, als Ines sich am Abend von ihm verabschiedete.

»Heute gehst du gar nicht im Dirndl?«, stellte er überrascht fest, als er ihr die Haustür aufhielt.

»Steht mir das Kleid etwa nicht?«, fragte Ines und schaute auf das schmal geschnittene mintfarbene Kleid mit den kurzen Ärmeln, das sie für das Abendessen bei den Seefelds ausgewählt hatte.

»Freilich steht es dir, es ist nur ein bissel ungewohnt, weil du doch recht oft ein Dirndl trägst. Du schaust sehr schön aus, Herzl«, sagte Korbinian und fuhr liebevoll über das lange brünette Haar der schönen jungen Frau.

»Dann bis später. Falls etwas ist, rufe mich an.«

»Es wird nichts sein«, versicherte der Großvater seiner Enkelin. Er wartete, bis sie auf halbem Weg zwischen dem Bauernhaus und der Villa war, dann zückte er sein Handy, das mit den großen Tasten, das Ines ihm vor kurzem geschenkt hatte, und rief eine Nummer auf. »Agnes, wie wär es mit einem kleinen Spaziergang? Ich soll mich ja recht viel bewegen, hat Doktor Seefeld mir geraten«, sagte er, als sich eine Frau meldete.

»Wo willst du denn hin?«, wollte die hagere Frau in dem hellen Kostüm wissen, die das Gelände des Sägewerks verließ, als Ines gerade die Straße erreichte.

»Ich bin zum Abendessen bei den Seefelds eingeladen, Tante Carola«, antwortete sie Miriams Mutter freundlich.

»Du lässt deinen Großvater allein? In seinem Zustand?«

»Großvater geht es schon wieder ganz gut, du musst dir keine Sorgen um ihn machen.«

»Ist das so?«, fragte Carola Holzer mit strengem Blick.

»Ja, es geht ihm gut. Grüße Onkel Gernot von mir«, sagte Ines und ging weiter.

»Sieh mal an, zu den Seefelds geht sie also«, murmelte Carola, deren kurzes Haar ebenso hell wie das ihrer Tochter war. Der feine graue Ansatz am Scheitel aber verriet, dass sie es bereits färbte.

»Sie geht noch fort?« Auch der große starke Mann in dem dunklen Trachtenanzug, der nach Carola durch das Tor des Sägewerks auf die Straße kam, sah Ines erstaunt nach.

»Offensichtlich brechen neue Zeiten an, Gernot. Deine Nichte scheint sich nicht mehr für deinen Vater verantwortlich zu fühlen«, wandte sich Carola ihrem Mann zu.

»Vielleicht muss sie nur zu einer Besprechung ins Rathaus oder hat irgendwo einen Termin wegen einer Veranstaltung. Oder sie trifft sich mit dem Vertreter eines Reiseunternehmens.«

»Nein, das tut sie nicht, sie geht zu den Seefelds zum Abendessen. Das wird unserer Miriam nicht gefallen.«

»Sie rechnet sich immer noch etwas bei Sebastian aus?«

»Sie kann sich ausrechnen, was immer sie will. Unsere Tochter ist eine Schönheit, und sie ist klug. Wenn sie einen Mann haben will, dann bekommt sie ihn auch«, erklärte Carola vollkommen überzeugt von ihrer Behauptung.

»Mag sein, leider sind die meisten Männer für sie aber nur Spielfiguren, die sie benutzt, mich eingeschlossen«, seufzte Gernot Holzer.

»Du lässt dich doch gern von ihr einwickeln, so wie alle Väter von ihren Töchtern«, sagte Carola und klopfte Gernot lachend auf die Schulter.

»So ist es wohl«, murmelte er und schaute auf den gelben Sportwagen mit dem offenen Verdeck, der in die Straße einbog.

»Sie scheint nicht gut gelaunt zu sein«, stellte Carola fest, als sie sah, wie missmutig Miriam vor sich her starrte.

»Wir müssen über Ines reden«, sagte sie, als sie gleich darauf neben ihren Eltern anhielt.

»Du meinst, wegen ihres Besuches bei den Seefelds?«, fragte Carola.

»Nein, wir müssen darüber reden, dass wir ihr nicht erlauben können, sich zu verlieben, nicht, solange sie sich um Großvater kümmern muss.«

»Sie hat sich verliebt?«, fragte Carola verblüfft.

»Möglicherweise«, sagte Miriam, während sie mit der Fernbedienung, die sie aus dem Handschuhfach geholt hatte, die Garage der Villa öffnete. »Wir unterhalten uns beim Abendessen darüber«, erklärt sie, gab wieder Gas und fuhr in die Garage.

*

»Hallo, Emilia«, begrüßte Ines Sebastians Tochter, die mit Nolan über die Wiese tobte, als sie bei den Seefelds eintraf.

Emilia war ein bildhübsches Mädchen mit langem kastanienfarbenen Haar. Sie hatte die gleichen hellen grauen Augen wir ihr Vater, und wenn sie lächelte, dann sah sie aus wie ihre Großmutter Carla Seefeld, zumindest behaupteten das die Leute in Bergmoosbach, die Carla, die bei Sebastians Geburt gestorben war, noch gekannt hatten.

»Hallo, Ines, Papa hat mir schon erzählt, dass du eine Ausstellung für Mamas Bilder veranstalten möchtest. Das finde ich absolut großartig«, sagte Emilia, während sie einen Ball aus der Tasche des kurzen pinkfarbenen Leinenkleides holte, das sie über einer weißen Leggins trug. Sie warf den Ball im hohen Bogen in die Luft, und Nolan jagte ihm sofort nach.

»Das heißt, du bist einverstanden?«, hakte Ines noch einmal nach. Emilia war vierzehn Jahre alt, es ging um das Erbe ihrer Mutter, und sie fand es nur fair, dass sie das Recht hatte, über eine mögliche Ausstellung mitzubestimmen.

»Ich sagte doch, ich finde es großartig.« Emilia nahm den Ball entgegen, den Nolan ihr zurückbrachte, und warf ihn erneut über die Wiese. »Oops, das kann dauern«, sagte sie, als der Ball in einem Blumenbeet im Steingarten landete. »Mama hat mir immer erzählt, dass ihre Bilder Luft zum Atmen brauchen und viel Raum, um ihre Geschichten zu erzählen. Wenn man sie einsperrt, dann sterben sie, hat sie gesagt. Marc hat mir erklärt, dass die Luftfeuchtigkeit in kleinen Räumen zu hoch ist und dort generell kein gutes Klima für Kunstwerke herrscht, aber ich glaube, Mama meinte eher die Geschichten, die vergessen gehen, wenn niemand mehr die Bilder sieht.«

»Vergessen ist der eigentliche Tod.«

»Ja, das hat Mama auch gesagt.« Emilia drehte sich zu Marc um, der von der Terrasse zu ihnen heruntergekommen war.

Ines musste erst einmal tief durchatmen, bevor sie sich ihm zuwandte, weil schon seine Stimme sie in Aufregung versetzte.

»Hallo, Ines, schön, dass Sie da sind«, sagte er und umfasste ihre Hand.

»Ines und Sie? Ihr Erwachsenen seid manchmal schon ziemlich merkwürdig. Wenn ihr euch schon beim Vornamen nennt, dann könnt ihr doch auch du zueinander sagen. Ihr auf jeden Fall«, fügte Emilia mit einem schelmischen Lächeln hinzu.

»Wir auf jeden Fall, was heißt das?«, wollte Marc wissen.

»Das heißt, dass ihr euch mögt, das sieht man gleich.«

»Stimmt das, mögen wir uns, Ines?«, fragte Marc.

Ines wusste nicht, was sie antworten sollte. Die Wahrheit wäre gewesen, dass sie ihn sehr mochte, sehr, sehr sogar, aber das wagte sie nicht auszusprechen.

»Marc, du machst sie verlegen«, mischte sich Emilia ein, als Ines sich verunsichert auf die Unterlippe biss.

»Okay, ich mag dich, Ines, und wenn du mich auch magst, dann sagen wir ab sofort du zueinander«, erklärte Marc lächelnd.

»Einverstanden«, antwortete Ines und erwiderte sein Lächeln.

»Na also, geht doch«, seufzte Emilia zufrieden.

»Sebastian möchte, dass wir uns die Bilder vor dem Essen ansehen. Bist du bereit dazu, Kleines?«, fragte Marc und legte seine Hand auf Emilias Schulter.

»Ja, das bin ich. Braver Hund«, lobte sie Nolan, der den Ball inzwischen gefunden hatte und freudig kläffend angerannt kam. »Ist Anna denn inzwischen da? Papa wollte ihr doch auch die Bilder zeigen.«

»Du meinst, die Hebamme, die dein Vater hin und wieder unterstützt?«

»Stimmt, von ihr spreche ich.«

»Sie hat vor ein paar Minuten angerufen, sie muss zu einer Geburt. Wenn es nicht zu lange dauert, kommt sie später noch zu euch. Trifft dein Vater sich eigentlich öfter mit älteren Damen? Ich meine privat?«

»Mit älteren Damen?«, fragte Emilia verblüfft.

»Traudel erzählte vorhin, eure Anna sei eine ganz erfahrene Hebamme, und dass Sebastian schon einiges von ihr gelernt habe.«

»Das ist bestimmt richtig, aber die erfahrene Dame hat sicher auch schon einiges von Papa gelernt. Mach dich auf etwas gefasst, wenn du sie siehst. Sie ist wirklich beeindruckend.«

»Ziemlich alt und ziemlich rund oder so etwas?«

»Das trifft es nicht ganz«, erwiderte Emilia glucksend und konnte sich kaum noch vor Lachen halten.

»Was ist mit ihr?«, fragte Marc und sah Ines an.

»Teenager halt«, antwortete Ines, die auch große Mühe hatte, ihr Lachen zu unterdrücken. Anna war zwar eine erfahrene Hebamme, aber sie war noch jung und bildschön. Wenn Sebastian jemals über den Tod seiner Frau hinwegkam, dann würde seine Liebe Anna gehören, davon war Ines fest überzeugt.

»Gut, dann kommt mit, Mädels«, sagte Marc und nahm Emilia an seine rechte und Ines an seine linke Hand.

Sebastian, Traudel und Benedikt warteten schon im Hof. Nachdem Ines sie alle begrüßt hatte, schloss Sebastian den Raum auf, in dem die Gemälde standen. Er hatte schon vor Wochen den weißen Rauputz an den Wänden erneuern lassen, und er hatte die grauen Bodenfliesen durch hellbraune Terrakottafliesen ersetzt. Die beiden schmalen Fenster, die sich gegenüberlagen, waren gekippt und sorgten dafür, dass die Luft zirkulierte. Die in Packpapier eingehüllten Gemälde lehnten an den Wänden

»Wie viele sind es, Marc?«, wollte Emilia wissen.

»Sechzig.«

»Das heißt, wir brauchen auf jeden Fall einen großen Raum, um ihnen genügend Platz zu verschaffen«, stellte Ines fest.

»Einen mit viel freien Flächen«, sagte Marc.

»Wer traut sich, Marc und mir beim Auspacken zu helfen?«, fragte Sebastian und schaute in die Runde.

»Ich traue es mir zu, ich habe schon bei einigen Ausstellungen mitangepackt«, erklärte Ines.

»Ich bin auch dabei«, schloss sich Emilia an und ging neben Ines in die Hocke.

»Uns bleibt wohl nur das Zugucken«, seufzte Traudel.

»Richtig, und das tun wir ganz entspannt, einen Moment«, sagte Benedikt und verließ den Raum. Gleich darauf kam er mit zwei Terrassenstühlen wieder zurück und stellte sie in die Mitte des Raumes. »Unsere Loge, Traudel«, verkündete er, wartete, bis sie einen Stuhl für sich ausgewählt hatte, und nahm dann auf dem anderen Platz.

Nach und nach wurden nun die Gemälde ausgepackt. Wie Emilia gesagt hatte, erzählte jedes seine eigene Geschichte. Berge, Seen, wilde Flüsse, Inseln, verschneite Landschaften und Wälder im farbenprächtigen Herbst. Und auf jedem Bild war auch ein Haus oder eine Hütte zu sehen und Menschen, die dort wohnten.

»Sebastian, sie sind wundervoll.« Für Ines war es immer ein erhebender Moment, vor einem Gemälde zu stehen, die Farben im Original zu erleben, den Pinselstrich des Malers zu verfolgen, all die Eindrücke, die ein Bild beinahe lebendig machten. »Ich werde einen ganz besonderen Ort für sie suchen, um sie dem Publikum zu zeigen«, versichert sie ihm und sah dabei auch Emilia an.

»Ja, es muss ein besonderer Ort sein«, sagte das Mädchen, dem beim Anblick des Vermächtnisses seiner Mutter die Tränen in die Augen traten.

»Jetzt gehen wir in die Küche und trinken den Cranberrysaft, den Marc aus Helenes Heimat mitgebracht hat«, sagte Traudel. Sie stand auch gleich auf und ging ohne ein weiteres Wort hinaus, weil auch sie um ihre Fassung rang. Ganz deutlich hatte sie Sebastians Frau gerade wieder vor sich gesehen, und das machte sie wehmütig.

Ein paar Minuten später waren alle um den großen Esstisch in der Küche versammelt. Benedikt am Kopfende, Sebastian ihm gegenüber, rechts neben ihm Emilia und Traudel, und auf der anderen Seite Ines und Marc. Für alle gab es ein großes Glas Cranberrysaft mit einem Schuss von Traudels Prosecco, den sie immer auf Vorrat hatte, wegen des Kreislaufes, wie sie betonte. Zu Ehren Helenes hatte sie an diesem Abend kanadischen Wildlachs mit Reis und Limonensoße zubereitet und Cranberrykuchen gebacken.

Kurz bevor der Kuchen serviert wurde, kam Anna.

»Ich freue mich sehr, Sie kennen zu lernen.«

Marc war aufgestanden, als Sebastian ihm Anna Bergmann vorstellte. Ein wenig verlegen reichte er der jungen Frau in der hellen Leinenhose und dem silberfarbenen Pullover die Hand.

»Unsere erfahrene Hebamme«, sagte Emilia und prustete laut los.

»Was gibt es da zu lachen? Das trifft doch wohl auch zu, Spatzl«, entgegnete Traudel, die das Mädchen verblüfft anschaute. »Was ist denn nur mit euch los?«, fragte sie, als nun auch Ines lachen musste.

»Klärt mich doch mal auf«, bat Anna und schaute die beiden mit ihren schönen grünen Augen überrascht an.

»Ich denke, ich bin der Grund für diesen Lachanfall. Als Traudel Sie als erfahren beschrieb, ging ich davon aus, dass diese Erfahrung ein höheres Alter miteinschließt und ...«

»Und?«, hakte Anna nach, als Marc innehielt.

»Und einen größeren Körperumfang«, sprach Ines aus, was Marc sich nicht traute.

»Ich hoffe, Sie sind jetzt nicht enttäuscht.«

»Nein, bin ich nicht, im Gegenteil«, antwortete er mit einem charmanten Lächeln.

»Gut, dann wäre das geklärt«, sagte Sebastian.

»Setz dich zu Papa, Anna.« Emilia rutschte einen Stuhl weiter und deutete auf den freien Platz neben ihrem Vater.

Sehr beruhigend, dachte Marc, als er sah, mit welch zärtlichem Blick Sebastian die junge Hebamme betrachtete.

Eine Zeit lang hatte er schon befürchtet, dass Sebastian nach Helenes Tod nie wieder eine andere Frau auf diese Weise ansehen würde.

»Möchtest du zuvor noch etwas von dem Lachs?«, wandte sich Traudel an Anna, als sie schon den Kuchen austeilen wollte.

»Nein, danke, die Großmutter des kleinen Jungen, dem ich gerade auf die Welt geholfen habe, hat darauf bestanden, dass ich einen Teller von ihrem Kartoffeleintopf esse.«

»Die Leute wissen es zu schätzen, wenn sich jemand so rührend um ihre Lieben kümmert. Sie nehmen dich sozusagen in ihre Familie auf.«

»Richtig, Nolan, zuerst einmal gehört sie zu unserer Familie«, sagte Emilia, als Nolan aus dem Garten hereinstob und Anna freudig begrüßte.

»Natürlich gehört sie zu uns«, stimmte Traudel dem Mädchen zu.

»Unbedingt«, sagte Benedikt lächelnd, während Sebastian noch ein Kuchengedeck aus dem Küchenschrank holte.

»Ines möchte Mamas Bilder in Bergmoosbach ausstellen«, erzählte Emilia Anna die Neuigkeit.

»Das ist eine sehr schöne Idee. Wisst ihr denn schon, wo?«

»Nein, noch nicht, aber ich werde mich gleich morgen umsehen«, sagte Ines.

»Ich würde dich gern dabei unterstützen, aber ich werde die nächsten beiden Tage erst einmal in München sein. Ich treffe mich dort mit einigen Galeristen, die mit mir zusammenarbeiten möchten«, erzählte Marc.

»Dann machen wir es doch so, ich sammle einige Vorschläge, und die besprechen wir dann gemeinsam, auch mit Sebastian und Emilia«, schlug Ines vor.

»Das klingt gut.«

»Das sehe ich auch so«, schloss sich Sebastian dem Freund an.

»Der schmeckt köstlich, Traudel«, lobte Ines den gedeckten Cranberrykuchen, den sie gleich darauf versuchte.

»Du hast ihn nach Mamas Rezept gebacken.« Emilia hatte den Ahornsirup herausgeschmeckt, den ihre Mutter statt Zucker zum Backen benutzt hatte. »Danke, du liebste aller adoptierten Omis der Welt.« Sie nahm Traudel in den Arm und drückte ihr einen dicken Kuss auf die Wange.

»Schon gut, Spatzl, das hab ich gern gemacht«, sagte Traudel, und ihr Gesicht strahlte vor Glück, dass sie dem Mädchen, das für sie wie eine eigene Enkeltochter war, eine so große Freude gemacht hatte.

Später erzählte Marc von Kanada und den gemeinsamen Freunden, die Sebastian und Emilia alle grüßen ließen. Er hatte auch ein paar Fotos der letzten Ausstellung und von der Landschaft rund um Montreal in seinem Smartphone gespeichert, die bei Emilia und Sebastian alte Erinnerungen weckten.

»Ich finde es ganz schön traurig, dass auch Mamas Eltern schon tot sind. Die meisten Kinder haben zwei Familien, ich habe nur noch eine«, seufzte Emilia.

»Ja, mein Schatz, es ist traurig, aber umso mehr halten wir zusammen«, entgegnete Sebastian, beugte sich ein Stück nach vorn und drückte die Hand seiner Tochter.

»Zum Glück sind wir eine Familie, die auch viele Freunde hat«, sagte Emilia und konnte schon wieder lächeln.

»Gutes Stichwort, ich war letzte Woche in Toronto und habe auch Izusa und ihre Familie besucht. Izusa hat mir etwas für ihre beste Freundin mitgegeben.«

»Echt? Was denn?«, fragte Emilia aufgeregt.

»Warte kurz, ich hole es.« Marc lief hinauf in den ersten Stock, den Sebastian und Emilia bewohnten und in dem es auch gemütliches Gästezimmer gab.

»Was bedeutet Izusa?«, fragte Ines.

»In der Sprache der kanadischen Ureinwohner heißt das ›Weißer Stern‹«, antwortete Emilia. »Wow, ein richtiges Geschenk!«, rief sie, als Marc ihr gleich darauf eine leuchtend blaue Schachtel überreichte, die mit bunten Federn dekoriert war. »Ein Traumfängerkleid«, flüsterte sie verblüfft, nachdem sie die Schachtel geöffnet hatte und den türkisfarbenen Stoff vorsichtig herausnahm.

»Was bedeutet Traumfänger?«, wollte Ines wissen und schaute auf die Symbole, mit denen der Stoff des Baumwollkleides mit den niedlichen Puffärmeln bedruckt war.

Kleine Ringe, die mit einer Art Spinnennetz bespannt waren und an deren unteren Enden bunte Federn hingen.

»Es heißt, dass die guten Träume in die Mitte des Netzes gelangen«, erzählte Emilia und deutete auf eines der Symbole. »Über die Federn erreichen sie den schlafenden Menschen, die schlechten Träume werden in den Knotenpunkten des Netzes abgefangen, bei Sonnenaufgang verglühen sie in den ersten Strahlen. Schaut, das ist ein echter Traumfänger.« Sie legte das silberne Schmuckstück mit den kleinen bunten Federn, das genauso aussah wie die Symbole auf dem Stoff, auf den Tisch, damit jeder es sich ansehen konnte.

»Warst du schon einmal in Kanada?«, wollte Marc von Ines wissen, als sie das Schmuckstück behutsam in die Hand nahm, um es zu betrachten.

»Nein, leider noch nicht. Ich muss zugeben, ich bin überhaupt noch nicht sehr oft verreist, was nicht bedeutet, dass ich es nicht irgendwann tun werde«, fügte sie gleich hinzu, bevor sie den Traumfänger an Emilia zurückgab. »Obwohl, es ist nicht gerade eine Strafe, hier zu wohnen. Die Landschaft bei uns ist sehr abwechslungsreich.«

»Stimmt, es ist wirklich schön hier, aber die großen Seen und das Meer würden mir fehlen«, gab Marc ehrlich zu.

Die Seefelds und ihre Gäste saßen an diesem Abend noch eine ganze Weile zusammen, und als Ines sich schließlich verabschiedete, ließ Marc es sich nicht nehmen, sie nach Hause zu begleiten.

»Ich habe dich noch gar nicht danach gefragt, wie der Spaziergang mit meiner Cousine verlaufen ist«, sprach Ines ihn auf den Vormittag mit Miriam an, als sie an dem von alten Gaslaternen beleuchteten Marktplatz vorbeikamen.

»Wir sind gar nicht zu einem Spaziergang gekommen, wir haben nur das Rathaus und einige Lüftlmalereien betrachtet. Ich hatte dann ein paar Anrufe zu erledigen und musste mich von ihr verabschieden. Wie nahe steht dir deine Cousine?«

»Wir sind mehr wie Schwestern. Meine Eltern sind bei einem Kletterunfall ums Leben gekommen, als ich vier Jahre alt war. Meine Großeltern haben mich dann zu sich genommen. Miriam und ihre Eltern wohnten damals auch schon in der Villa, und wir waren eine große Familie.«

»Dann hast du sie gern?«

»Aber ja, natürlich. Warum fragst du?«

»Weil sie heute Morgen nicht gerade freundlich zu dir war.«

»Das nehme ich nicht so ernst, Miri spielt sich gern in den Mittelpunkt, aber das bin ich gewohnt. Ich sehe es ihr nach«, antwortete Ines lächelnd.

»Gut, dann sehe ich es ihr auch nach«, sagte Marc und betrachtete Ines mit einem liebevollen Blick. »Sobald ich wieder aus München zurück bin, könntest du mich doch ein wenig herumführen.«

»Das mache ich sehr gern.«

»Wir könnten uns gleich verabreden. Heute ist Donnerstag, wie wäre es am Sonntag um 14 Uhr vor dem Brunnen am Marktplatz?«

»Einverstanden.«

»Ich freue mich darauf.«

»Wir sind da«, sagte Ines, als sie kurz darauf in die Straße zum Sägewerk einbogen.

»Ein schönes Haus«, stellte Marc fest und schaute auf den von honigfarbenem Licht erhellten Eingang der Villa.

»Miriam und ihre Eltern leben inzwischen allein dort. Mein Großvater und ich wohnen im Bauernhaus, es steht hinter der Villa.«

»Das klingt, als hätten sie euch in die Verbannung geschickt.«

»Ach was, so schlimm ist es nicht. Wir fühlen uns ganz wohl in unserem Häuschen. Ich wünsche dir eine gute Reise, wir sehen uns dann am Sonntag. Vielleicht habe ich bis dahin auch schon einige Ideen, wo die Ausstellung stattfinden könnte.«

»Ich lasse mich überraschen, auf Wiedersehen, Ines«, sagte er, umfasste ihre Hand und schaute in ihre Augen.

»Auf Wiedersehen, Marc.« Sie lächelte ihm noch einmal zu und eilte den gut ausgeleuchteten Weg an der Villa vorbei nach Hause.

Ich werde von dir träumen, dachte Marc und schaute ihr nach, bis sie hinter dem Tor am Ende des Pfades verschwunden war. Erst dann machte er sich auf den Weg zurück zum Haus der Seefelds.

»Jetzt läuft sie schon mitten in der Nacht mit einem fremden Mann durchs Dorf«, murmelte Miriam, die auf der Dachterrasse saß, die zu ihrer Wohnung gehörte.

»Was hast du gesagt?«, wollte der rothaarige Mann in dem eleganten dunklen Anzug wissen, der in einem der Korbsessel zwischen den weißen Kübeln mit ihren prächtig gewachsenen Palmen saß.

»Harald, wenn ich wollte, dass du es hörst, hätte ich lauter gesprochen«, sagte sie, ohne sich Harald zuzuwenden.

Harald Baumann war ihre rechte Hand im Sägewerk und der Mann, der auch in ihrem privaten Leben stets und überall alles für sie tat, obwohl sie ihm nicht die geringste Hoffnung machte, dass sie sich ernsthaft mit ihm einlassen würde.

Ihre Befürchtungen, die Marc Durand und Ines betrafen, schienen sich zu bestätigen. Ihre Eltern waren allerdings der Meinung, dass sie erst einmal möglichst wenig Aufhebens um die Sache machen sollten, da der Mann ohnehin in ein paar Tagen wieder abreisen würde, wie ihr Vater im Golfclub von Benedikt Seefeld gehört hatte.

»Je mehr du versuchen würdest, deiner Cousine den Mann auszureden, umso interessanter wird er für sie«, hatte der Ratschlag ihrer Mutter gelautet, als sie ihren Eltern beim Abendessen von ihrer Vermutung erzählt hatte.

Inzwischen war sie zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter recht hatte. Nichtsdestoweniger würde sie die Sache beobachten.

»Harald, Ines erscheint mir zurzeit ein wenig verträumt, wir sollten sie im Auge behalten, damit sie sich nicht verläuft.«

»Ich werde auf sie achten.«

»Danke, Harald«, sagte Miriam und schenkte ihm ein Lächeln.

*

Gleich am nächsten Tag sprach Ines mit dem Bürgermeister über die geplante Ausstellung. Er fand, dass es eine großartige Idee sei, und versprach ihr, sie zu unterstützen. Sie bezog auch Lydia Draxler, ihre junge Kollegin, mit ein. Lydia war nach ihrer Ausbildung in einem großen Reisebüro in der Stadt nach Bergmoosbach zurückgekehrt. Die Gemeinde hatte sie Ines zur Seite gestellt, und sie war froh über diese Unterstützung.

»So wie du die Bilder beschreibst, da müsste es schon ein gewaltiger Rahmen sein, um sie zur Geltung zu bringen. Gewaltig und doch schlicht genug, damit der Ort an sich nicht in den Vordergrund rückt.« Lydia, ein molliges junges Mädchen in rosafarbenem Dirndl und mit hellen kurzen Locken, betrachtete gemeinsam mit Ines die Landkarte von Bergmoosbach, die an einer Wand in ihrem Büro hing.

Auf den beiden gegeneinander gestellten Schreibtischen waren Prospekte mit den Sehenswürdigkeiten der Gegend ausgebreitet.

»Weißt du was, wir nutzen das Wochenende, um darüber nachzudenken. Am Montag haben wir dann sicher eine Idee«, sagte Ines, obwohl sie gerade einen Einfall hatte, der ihr sehr gut gefiel. Möglicherweise war die Burgruine, die sich auf einem Bergplateau oberhalb von Bergmoosbach erhob, der richtige Ort für die Ausstellung. Sie beschloss, sich die Ruine aber erst einmal mit Marc zusammen anzusehen, bevor sie sich weitere Gedanken darüber machte.

»Ich bin auf jeden Fall bereit, wenn du Hilfe bei der Organisation brauchst.«

»Die brauche ich ganz bestimmt, danke, Lydia.«

»Sehr gern«, antwortete das Mädchen. »Wenn es dann so weit ist und die Ausstellung angekündigt werden soll, dann schalten wir am besten meine Tante ein.«

»Auf jeden Fall«, antwortete Ines lachend. Lydias Tante, Elvira Draxler, die zweite Vorsitzende des Landfrauenvereins, war an Nachrichten und Gerüchten immer interessiert, das wusste jeder im Dorf.

Als Ines am Abend nach Hause kam, erwartete sie eine Überraschung. Ihr Großvater war mit Miriam und ihren Eltern auf der Wiese neben dem Bach, und der Tisch, um den sie sich versammelt hatten, war für das Abendessen gedeckt.

»Da bist du ja, Schätzchen, setz dich zu uns.« Carola bedeutete ihrer Nichte, sich auf den Stuhl neben Miriam zu setzen.

»Wir dachten, es wäre schön, wenn wir mal wieder einen Familienabend zusammen verbringen. Großvater hat es doch so gern, wenn wir alle um ihn versammelt sind«, flötete Miriam und streichelte Korbinian, der am Kopfende des Tisches saß, über die Wange.

»Und an sein Lieblingsessen haben wir auch gedacht. Schau, Schwiegerpapa, Weißwürstel«, sagte Carola, die auf der anderen Seite des Tisches neben Korbinian saß. »Mei, wie die Soße duftet«, sprach sie weiter auf ihn ein, während sie den Deckel des weißen Porzellantopfes hochhob.

»Und Krautsalat, so wie du ihn magst, und kräftiges Schwarzbrot«, zählte Miriam auf, was sonst noch auf dem Tisch stand.

»Jetzt lasst es gut sein, er ist nicht blind, er kann sehen, was vor ihm auf dem Tisch steht«, unterbrach Gernot diese merkwürdige Anbiederung seiner Frau und seiner Tochter.

»Freilich kann er es sehen, aber deshalb kann man doch darüber reden«, murrte Carola. »Schließlich bekommt er nicht jeden Tag solch ein Festessen, nicht wahr, Ines?«, wandte sie sich an ihre Nichte.

»Niemand braucht jeden Tag ein Festessen. Ganz davon abgesehen bin ich hier bei uns für das Kochen zuständig, und Weißwürstel gibt es schon hin und wieder und einen Krautsalat auch«, erklärte Korbinian.

»Geh, Schwiegerpapa, das ist doch nicht dein Ernst, du musst dich ums Essen kümmern? Wie kannst du ihm das zumuten, Ines?« Carola schüttelte entrüstet den Kopf.

»Sie mutet mir gar nichts zu, das Madl geht den ganzen Tag arbeiten, und ich hab schon immer gern gekocht. Aber offensichtlich wisst ihr das gar nicht.«

»Es geht nur darum, dass du dich nicht überforderst, du bist schließlich nicht gesund«, verteidigte Carola ihren Vorwurf.

»Keine Sorge, ich fühl mich schon wieder ganz gut, und jetzt lasst uns anfangen, ich hab Hunger.«

»Ich habe gehört, du planst eine Ausstellung«, wandte sich Gernot an seine Nichte, als sie schließlich beim Nachtisch, Kirschkompott mit Vanillesoße, angelangt waren.

»Es hat sich schnell herumgesprochen.«

»Ich bin im Gemeinderat, Kind, ich erfahre alles, was die Gemeinde betrifft.«

»Und zwar gleich nach dem Bürgermeister, weil die beiden beste Freunde sind«, erklärte Carola stolz.

»Um welche Ausstellung geht es?«, wollte Miriam wissen.

»Ines möchte Bergmoosbach einige Gemälde von Helene Seefeld präsentieren«, erzählte Gernot, was er bisher noch nicht preisgegeben hatte.

»Sebastian vertraut dir die Bilder seiner Frau an?«, fragte Miriam ungläubig nach.

»Es ist nur eine Ausstellung, den Bildern passiert nichts.«

»Ines, Herzchen, wie willst du so eine Ausstellung denn bewerkstelligen? Diese Bilder hingen schon in einigen bekannten Museen, du kannst sie nicht im Hinterzimmer eines Wirtshauses aufhängen.«

»Das habe ich auch nicht vor.«

»Sondern?«

»Ich suche nach dem besonderen Ort.«

Dass sie bereits eine Idee hatte, verriet sie auch ihrer Familie nicht.

»Ich werde mir auch ein paar Gedanken machen. Das Beste wäre wohl, ich unterhalte mich einmal mit Sebastian darüber, was er sich so vorstellt.«

»Er hat die Vorentscheidung mir überlassen, Miri.«

»Ich wollte nur helfen.«

»Danke, aber es nicht nötig.«

»Wie du meinst. Hast du heute Abend eigentlich wieder etwas vor, Cousinchen?«, fragte Miriam nach einer Weile.

»Nein, ich habe nichts vor.«

»Und morgen?«

»Auch nicht, warum?«

»Ich dachte nur, wenn es nun häufiger vorkommt, dass du abends nicht zu Hause bist, dann müssen wir uns etwas einfallen lassen. Großvater sollte nicht allein sein.«

»Darüber musst du dir keine Sorgen machen.«

»Das hoffe ich, Kind, du weißt, dass du gewisse Pflichten zu erfüllen hast«, mischte sich Carola in das Gespräch der beiden jungen Frauen ein.

»Wer was in unserem Haushalt übernimmt, das machen Ines und ich unter uns aus. Und was die Pflichten betrifft, ich hab zwei Enkelinnen, und die eine möcht einmal die Villa erben, die, wenn ich das bemerken darf, im Moment noch zur Hälfte mir gehört«, erklärte Korbinian und sah seine Schwiegertochter mit festem Blick an. »Weil wir gerade so gemütlich beieinander sitzen: Ich hab vor, den Dachboden im Bauernhaus auszubauen, ich geh davon aus, dass du mich dabei unterstützt, Gernot«, wandte er sich an seinen Sohn.

»Geh, Vater, warum willst du denn solch eine Arbeit auf dich laden?«

»Mei, Gernot, das kann doch nur die Idee von unserer Ines sein. Was sollte denn dein Vater mit einem ausgebauten Dachboden anfangen?«, entgegnete Carola.

»Ich höre das mit dem Dachboden aber gerade zum ersten Mal.« Ines war genauso überrascht wie die anderen, und auch sie fragte sich, wozu dieser Umbau gut sein sollte.

»Jetzt tut nicht so, als dürft ich in meinem Alter keine Pläne mehr schmieden. Ich bin 78, ich könnt noch zwanzig gute Jahre oder auch mehr vor mir haben«, verkündete Korbinian und lehnte sich schmunzelnd in seinem Stuhl zurück. »So, nun hätt ich gern ein Glas Bier.«

»Du nimmst Tabletten«, entgegnete Carola.

»Doktor Seefeld meint, ein Glas Bier ist erlaubt.«

»Wie du willst«, murmelte Carola. »Geh, hol deinem Großvater ein Bier«, forderte sie Ines auf.

»Ich mache das schon«, sagte Miriam und stolzierte mit ihren hochhakigen Schuhen über die Wiese ins Haus.

»Ist sie nicht ein Schatz, unsere Miri?«, säuselte Carola.

»Glaub mir, ich kenn die Qualitäten jedes einzelnen von euch«, antwortete Korbinian lächelnd.

Als es dunkel wurde, verabschiedeten sich die Bewohner der Villa, packten die Reste des Essens ein und überließen es Ines und Korbinian, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen.

»Welchem Umstand haben wir diesen Überraschungsbesuch zu verdanken?«, fragte Ines ihren Großvater, als sie später, nachdem sie alles aufgeräumt hatten, noch auf der Bank am Bachufer saßen und an den Nachthimmel schauten.

»Keine Ahnung. Das letzte Mal haben wir vor einem halben Jahr zusammen gegessen. Vielleicht dachten sie, es wär mal wieder an der Zeit, es zu wiederholen.«

»Ja, vermutlich war das der Grund. Aber sag, Großvater, hast du wirklich vor, den Dachboden ausbauen?«

»Ja, das hab ich vor.«

Korbinian stopfte seine Pfeife, zündete den Tabak an und rauchte genüsslich.

»Was genau hast du vor?«, fragte Ines nach einer Weile.

»Das, Spatzl, ist noch ein Geheimnis. Oder darf ein Mann in meinem Alter auch keine Geheimnisse mehr haben?«

»Doch, natürlich, ich werde dich nicht mehr danach fragen, versprochen.« Wenn er ein Geheimnis daraus machen wollte, dann wollte sie ihm den Spaß nicht verderben. »Großvater, ich habe doch schon einen Ort gefunden, der für die Gemäldeausstellung infrage kommt.«

»Um den du aber auch ein Geheimnis machst, sonst hättest du ihn Miriam vorhin verraten.«

»Ich möchte zuerst wissen, was Marc von meiner Idee hält.«

»Das versteh ich, schließlich kennt er sich damit aus, Gemälde richtig zu präsentieren.«

»Ja, ich weiß, aber dir könnte ich es schon vorab sagen.«

»Nein, sag es erst ihm, es hat etwas Besonderes, wenn am Anfang ein Geheimnis existiert.«

»Am Anfang von was?«

»Am Anfang einer Liebe.«

»Großvater, ich bitte dich, Marc wird nur ein paar Tage hier sein, danach verschwindet er wieder aus meinem Leben.«

»Geh, Kind, es wären nur ein paar Flugstunden, die euch trennen. Vor hundert Jahren wär es schwierig gewesen, sich wiederzusehen, heutzutage ist das kein Problem mehr.«

»Ich würde dich aber nie allein lassen.«

»Ich bin nicht allein.«

»Tante Carola würde nicht zögern, dich in ein Altenheim zu verfrachten, sollte es dir einmal nicht gut gehen, das weißt du.«

»Du machst dir zu viele Sorgen um mich. Ich möcht, dass du glücklich wirst, und wenn das bedeutet, dass du eines Tages von hier fortgehst, dann ist das in Ordnung für mich.«

»Danke, Großvater, aber noch ha­be ich das gar nicht vor.«

»Ich weiß, Kleines. Da, schau, Sternschnuppen«, machte er sie auf die feurigen Funken aufmerksam, die am Horizont über den Nachthimmel rasten. »Sie warten nur darauf, deine Wünsche zu hören.«

»Dann sollte ich sie ihnen offenbaren.«

»Ja, das solltest du«, sagte Korbinian und nahm seine Enkelin liebevoll in den Arm.

*

Ines wollte Marc vorschlagen, zu Fuß hinauf zur Burgruine zu gehen. Sie würden zwar über eine Stunde unterwegs sein, dafür war die Aussicht, die sich ihnen dort oben bot, grandios. Um auf den Ausflug vorbereitet zu sein, hatte sie ihren bequemen weißen Leinenpullover, Jeans und hellbraune Wanderstiefel angezogen und ihr Haar zu einem Zopf geflochten.

»Was hast du denn vor? Einen zünftigen Wanderausflug mit den Landfrauen?«, fragte Miriam, die mit einem Bikini bekleidet von ihrem Dachgarten hinunterschaute, als Ines sich am Sonntag auf den Weg ins Dorf machte.

»Ich plane einen Wanderausflug, richtig, aber nicht mit den Landfrauen.«

»Sondern?«

»Bis dann, Miri«, sagte Ines und winkte ihrer Cousine noch einmal zu, bevor sie weiterging. Sollte sie sich ruhig ein paar Gedanken darum machen, mit wem sie sich traf.

»Eine Verabredung wird es wohl nicht sein, dazu taugen die Klamotten nicht«, sagte Miriam.

»Wenn es um eine Wanderung geht, schon. Oder würdest du im Minikleid und hohen Schuhen in die Berge marschieren?«, fragte Harald, der in bunten Bermudas, weißem T-Shirt und Strohhut auf dem Kopf neben ihr stand und über die Mauer schaute, die die Terrasse begrenzte.

»Wenn ich mich mit einem Mann treffen würde, an dem mir etwas liegt, dann würde ich keine Wanderung mit ihm unternehmen, insofern erübrigt sich diese Frage.«

»Vielleicht legt Ines mehr Wert auf die Unternehmung als auf die Zuschaustellung ihrer äußeren Reize.«

»Lass es gut sein, Harald. Mit wem sollte Ines sich schon treffen, außer mit einer Freundin? Die Sache mit dem Kanadier scheint ja schon wieder vorbei zu sein, er soll schon seit Tagen in München sein, wie ich hörte.«

»Die Großstadt bietet ihm sicher mehr Abwechslung als Bergmoosbach.«

»Richtig, so bedauerlich das für meine Cousine auch sein mag«, entgegnete Miriam mit einem zufriedenen Lächeln.

Kurz bevor Ines den Marktplatz erreichte, fragte sie sich, ob Marc dieses Treffen vielleicht nur aus einer Laune heraus angeregt und es sich inzwischen anders überlegt hatte. Umso mehr freute sie sich, als sie den Mann in der schwarzen Jeans und dem hellblauen Hemd sah, der am Brunnen lehnte und die bemalten Fassaden der Häuser betrachtete. Marc hatte ihr Treffen nicht vergessen. Als er sie bemerkte, fuhr er sich mit der Hand durch sein blondes Haar, lächelte und kam ihr entgegen.

»Ich freue mich, dich wiederzusehen, Ines«, sagte er und umarmte sie.

Es war nur eine freundschaftliche Geste, und doch genügte sie, um ihre Sehnsucht nach mehr Nähe zu ihm anzufachen. »Wie war es in München? Ist alles so gelaufen, wie du es dir vorgestellt hast?«, erkundigte sie sich, um sich schnell auf andere Gedanken zu bringen.

»Ich habe einige vielversprechende Verbindungen geknüpft. Ich finde es spannend, Kunst auf Reisen zu schicken, um Menschen in einem anderen Teil der Welt an ihrer Schönheit teilhaben zu lassen.«

»Deshalb möchte ich auch, dass die Leute sich hier bei uns Helene Seefelds Bilder ansehen, und ich habe auch schon eine Idee, wo das stattfinden könnte.«

»Das wäre?«

»Ich führe dich hin, du bist doch gut zu Fuß?«

»Wohin willst du mich denn entführen?«

»Ich sagte führen, nicht entführen.«

»Egal, ich komme so oder so mit. Ich vertraue dir.«

»Danke, das beruhigt mich. Ich bin übrigens sicher, dass dir der Ort gefallen wird, den ich dir zeigen will.«

»Welche Richtung?«

»Dort entlang«, sagte sie und deutete auf den Weg, der neben dem Rathaus in den Wald führte.

Zuerst ging es nur leicht bergauf durch den Tannenwald, vorbei an der Jugendherberge, einem ehemaligen Bauernhof, idyllisch gelegen inmitten von Wiesen. Nach der Jugendherberge wurde der Weg steiler, der Wald lichtete sich, und es bot sich ihnen ein wundervoller Ausblick ins Tal.

»Zu anstrengend?«, fragte Ines, als Marc plötzlich stehen blieb.

»Für mich nicht, aber ob sich ein derart abgelegener Ort für eine Ausstellung eignet? Wir erhoffen uns doch möglichst viele Besucher.«

»Auf der anderen Seite des Berges gibt es eine gut ausgebaute Straße, über die unsere Besucher das Ziel erreichen können. Der Fußweg bietet aber die weitaus bessere Aussicht. Oder gefällt es dir nicht, was du sie siehst?«

»Doch, es gefällt mir, sehr sogar«, entgegnete Marc, während er Ines betrachtete. »Ich habe vorhin ein Hinweisschild gesehen, dass dieser Weg zu einer Burgruine führt. Ist sie unser Ziel?«, fragte er, als sie dem Wanderweg weiter bergauf folgten.

»Richtig, wir gehen zur Ruine hinauf.«

»Eine Ruine bietet aber keinen Schutz bei einem plötzlichen Unwetter. Was wird dann aus den Bildern?«

»Ihnen wird nichts passieren.«

»Okay, ich lasse mich überraschen.«

»Du musst dich nicht mehr lange gedulden, wir sind gleich da«, versicherte ihm Ines, als der Weg erneut durch einen Wald führte. »Willkommen auf der Burg der Grafen von Bergmoosbach«, sagte sie, als sie aus dem Wald wieder heraustraten und eine mächtige Ruine aus grauem Felsstein gehauen vor ihnen in der Sonne lag. Mit dem stahlblauen Himmel und dem Alpenpanorama im Hintergrund war sie ein beeindruckender Anblick. Die Außenmauern der vier Wachtürme waren noch intakt, auch der Rundbogen über dem Toreingang schien noch vollständig erhalten zu sein. Einen sicheren Platz für Helenes Gemälde konnte Marc aber nicht ausmachen.

»Von hier aus kannst du nicht alles sehen. Komm, ich zeige dir, worauf es ankommt«, sagte Ines, als er sich skeptisch umschaute.

»Offensichtlich sind wir heute die einzigen Besucher«, stellte Marc fest, weil er nirgendwo Wanderer oder Spaziergänger entdeckte und auf dem Parkplatz vor der Ruine kein Auto stand.

»Die Leute kommen meistens am Vormittag hier herauf und wandern dann hinunter ins Tal, um dort zu Mittag zu essen. Bekommst du es jetzt mit der Angst zu tun, weil du mir nun ausgeliefert bist?«

»Sollte ich mich fürchten?«

»Ich könnte mich verwandeln.«

»In die Königin der Berggeister?«

»Vielleicht.«

»Und was würde dann passieren?«

»Das weiß ich nicht, bisher habe ich mich noch nie verwandelt.«

»Egal, ich riskiere es, gehen wir weiter.«

»Auf deine Verantwortung«, sagte sie und ging voraus.

Um an den Ort zu gelangen, den sie ihm zeigen wollte, unterquerten sie den Torbogen der Ruine und gelangten in den Innenhof. Dort lag der noch erhaltene Teil der Burg mit dem ehemaligen Ballsaal. Vor einigen Jahren hatte der Gemeinderat beschlossen, den Ballsaal zu restaurieren, um ihn für Veranstaltungen zu nutzen. Sie hatten einen Architekten beauftragt, eine möglichst elegante Lösung zu finden. Das Ergebnis war eine Glaskuppel, die nun den historischen Saal überdachte. Das mächtige Eingangsportal aus massiver Eiche mit kunstvoll gearbeiteten Messingbeschlägen erstrahlte in neuem Glanz.

»Was denkst du, wäre die Burg das richtige Ambiente für die Ausstellung?«, fragte Ines.

»Können wir uns den Saal von innen ansehen?«

»Kein Problem.« Als Kulturbeauftragte von Bergmoosbach besaß sie die Schlüssel für alle historischen Gebäude.

»Sieh mal, da kommt wohl etwas auf uns zu.« Marc deutete auf die dunkle Wolkenwand im Osten.

»Regen war gar nicht angekündigt. Vielleicht drehen die Wolken noch ab. Wenn nicht, dann müssen wir eine Weile hier oben bleiben. Ins Tal hinunter würden wir es wohl nicht mehr schaffen«, stellte sie mit einem skeptischen Blick auf die Wolkenwand fest.

»Die Königin öffnet ihre Burg«, sagte Marc und schaute zu, wie Ines den großen Schlüssel in das Schloss des Portals steckte.

»Vielleicht solltest du dich doch lieber vor mir in Acht nehmen. Vielleicht will ich dich nur in meine Burg locken und habe auch gleich ein Unwetter bestellt, um dich festzuhalten.«

»Das macht mir nichts aus. Dieser Ort ist unglaublich, Ines«, stellte er fest, als er gleich darauf den restaurierten Saal betrat.

Hohe weiß verputzte Wände, dunkles Parkett, in den Boden und die Wände eingelassene kleine Leuchten und der absolute Mittelpunkt des Saales: Die Glaskuppel, die den Blick an den Himmel und auf die Gipfel der Berge freigab.

»Einen besseren Ort können wir sicher nicht finden, um Helenes Bilder zu präsentieren«, stimmte Marc Ines’ Wahl sofort zu, nachdem er sich einen Moment lang umgeschaut hatte.

»Auch wenn die Bilder hier bei jeder Wetterlage sicher sind, wäre es doch schön, wenn die Sonne am Tag der Ausstellung scheint. Natur und Bilder wären dann eine Einheit. Für die nächste Woche ist noch Sonnenschein angesagt.«

»Du könntest die Ausstellung so kurzfristig arrangieren?«, fragte Marc erstaunt.

»Da ich für diese Entscheidungen zuständig bin und ich weiß, dass der Saal am nächsten Wochenende frei ist, wäre das möglich.«

»Dann liege ich gar nicht so verkehrt, wenn ich dich für die Königin halte, die in dieser Burg das Sagen hat.«

»So betrachtet, liegst du vollkommen richtig. Wir sollten aber zuvor mit Sebastian und Emilia sprechen, ob ihnen ein so schneller Termin recht ist. Wenn sie einverstanden sind, dann informiere ich unseren Bürgermeister, damit er sich nicht übergangen fühlt. Ich würde mich dann um die Werbung kümmern, den Transport und das Aufhängen der Bilder. Es wäre schön, wenn du den richtigen Platz an der Wand für jedes einzelne Gemälde bestimmen würdest. Oder wirst du am nächsten Wochenende nicht mehr hier sein?«

»Doch, ich denke, ich werde noch da sein.«

»Dort ist die Garderobe, und es gibt auch eine Cafeteria, die an Veranstaltungstagen geöffnet wird«, sprach sie schnell weiter, weil der Blick, mit dem er sie ansah, sie beinahe aus der Fassung brachte.

»Schade, dass sie jetzt nicht geöffnet hat. Wie es aussieht, werden wir tatsächlich eine Weile in deiner Burg bleiben müssen.« Marc schaute auf die dunkle Wolke, die über die Kuppel hinwegzog.

»Ich bin auf diesen Notfall vorbereitet.«

Wie immer, wenn sie eine Wanderung unternahm, hatte sie Wasser und einige Brezeln eingepackt. Da sie Marc mit diesem Ausflug überrascht hatte, hatte sie auch Proviant für ihn dabei.

»Warte kurz«, bat sie ihn und eilte in Richtung Garderobe davon.

Am nächsten Wochenende werde ich noch hier sein, dachte Marc, aber was würde danach werden? Konnte er einfach wieder in sein altes Leben zurückkehren und Ines vergessen? »Was hast du vor?«, fragte er, als er den zusammengerollten Schlafsack sah, den sie bei sich hatte.

»Hin und wieder übernachte ich mit meiner Kollegin hier oben, wenn wir eine Veranstaltung für den nächsten Morgen vorbereiten.«

»Welche Veranstaltungen finden denn so früh statt?«

»Die letzte war eine Preisverleihung der Bäckerinnung. Die Leute sind bekanntlich echte Frühaufsteher. Bitte, nimm Platz.« Sie deutete auf den Schlafsack, den sie in der Mitte des Saals auf dem Boden ausbreitete.

»Wir machen jetzt also ein Picknick?«, fragte Marc, nachdem er sich neben Ines gesetzt hatte.

»Bei uns heißt das Brotzeit«, sagte sie und reichte ihm eine Flasche Wasser und zwei Brezeln.

»Dann machen wir also eine ländliche Brotzeit.«

»In der Stadt heißt das bei uns auch Brotzeit. Wohnst du eigentlich direkt in Montreal oder mehr außerhalb?«, fragte sie, während sie sich die Brezeln schmecken ließen.

»Ich wohne innerhalb der Stadt auf dem Fluss.«

»Auf dem Fluss?«

»Richtig, auf einem Hausboot.«

»Auf dem Sankt-Lorenz-Strom?«

»Ich sehe, du kennst dich aus«, antwortete Marc lächelnd.

»Ja, ein bisschen.«

»Vielleicht kommst du mich mal besuchen, es würde dir bestimmt dort gefallen. Mein Hausboot ist übrigens auch fahrtüchtig. Wir könnten einfach aufbrechen, unterwegs anhalten, wo es uns gefällt, tauchen gehen oder mit dem Motorboot Wasserskifahren. Ich könnte dir Kanada von seiner schönsten Seite zeigen. Die Seen, die Flüsse und das Meer. Was ist mit dir, Ines?«, fragte er besorgt, als sie plötzlich ganz blass wurde.

»Es ist alles gut, ich bin nur gerade erschrocken. Ich denke, wir bekommen es auch hier gleich mit reichlich Wasser zu tun«, sagte sie und schaute nach oben an die Kuppel.

Die Wolken hatten sich über ihnen zusammengezogen, und es wurde dunkel. Dieses Hausboot werde ich niemals betreten, dachte Ines. Der Sankt-Lorenz-Strom war ein gewaltiges Gewässer, auf dem sogar riesige Containerschiffe fahren konnten, und der Hafen von Montreal gehörte zu den größten Häfen Nordamerikas. Allein der Gedanke an diesen Fluss ließ ihre Knie zittern.

»Das könnte ein interessantes Schauspiel werden«, sagte Marc, als der erste Blitz aus den Wolken herauszackte und es gleich darauf donnerte. »Wir sollten die Vorstellung genießen.«

Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Arme im Nacken und schaute an den Himmel.

»Das wird heftig«, stimmte Ines ihm zu und legte sich neben ihn. Er liebt das Wasser, ich fürchte mich davor, dachte sie. Die Entscheidung, ob sie sich nach seinem Besuch in Bergmoosbach wiedersehen würden, war gefallen. Es würde nicht passieren. Ihre Angst vor dem Wasser war einfach zu groß. Sie konnte nicht einmal schwimmen, aber das wusste außer ihrem Großvater niemand.

»Bleibst du während eines Gewitters auf dem Hausboot?«, fragte sie, als der nächste Blitz aus den Wolken herausschoss und in den Boden jagte. Vielleicht hatte er noch eine Wohnung an Land, die er bisher nicht erwähnt hatte.

»Das Boot ist mein einziges Zuhause, deshalb habe ich eine Blitzschutzanlage einbauen lassen.«

»Mir wäre es trotzdem ein wenig unheimlich.«

»Du hast Angst vor Gewittern?«

»Nur auf dem Wasser. Wer in den Bergen lebt, der ist Gewitter gewohnt. Sieh nur, welch wundervolle Muster der Blitz uns zeigt.«

»Ich sollte darüber nachdenken, eine Glaskuppel in das Dach meines Hausbootes einzubauen. Die Blitze auf diese Weise zu betrachten, das hat einen ganz besonderen Reiz.«

»Wir können der Gefahr direkt ins Auge sehen und sind doch vollkommen geschützt.«

»Genauso«, stimmte Marc ihr zu.

Wieder zackten Blitze durch die Wolken und vereinigten sich zu einem Muster, das an einen verzweigten Baum erinnerte. Dann wieder sah es aus, als tanzten Horden von kleinen Lichtblitzen über den Himmel, während der Donner über die Berge hinwegrollte.

»Was passiert denn jetzt?«, flüsterte Ines, als sich der Himmel über ihnen blauviolett verfärbte.

Im nächsten Moment schoss ein glühender Strahl aus der Wolke direkt über ihnen heraus, riss auseinander und zischte in alle Richtungen davon, beinahe gleichzeitig krachte der Donner über sie hinweg, und der war so laut, dass Ines vor Schreck zusammenfuhr. Als sich das Schauspiel wenige Sekunden später wiederholte, schloss sie die Augen. »So ein Gewitter habe ich noch nie erlebt«, sagte sie und kniff die Augen fest zusammen.

»Deshalb solltest du es dir auch bis zum Schluss ansehen«, hörte sie Marc sagen.

»Nein, lieber nicht.«

»Sei mutig.«

»Gut, ich bin mutig«, sagte sie und öffnete vorsichtig die Augen, schloss sie beim nächsten Blitz aber gleich wieder und wandte sich zur Seite.

»Komm, wir sehen es uns gemeinsam an.« Marc legte seinen Arm um sie und zog sie an sich. »Schau, tanzende Riesen, ein Tintenfisch, eine Giraffe.«

Zu jedem Muster, das der Blitz an den Himmel warf, fiel ihm sofort ein passendes Bild ein.

Seine sanfte Stimme und die Selbstsicherheit, die er ausstrahlte, ließen sie ein Gefühl der Geborgenheit spüren, wie sie es nur aus ihrer Kindheit kannte. Noch nie zuvor hatte sie sich einem Mann so nah gefühlt wie ihm. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie gerade für ihn so empfand, weil er ihr doch eigentlich noch fremd war.

»Du denkst zu viel nach.« Marc drehte sich auf die Seite und schaute sie an, als das Gewitter allmählich weiterzog und es zu regnen begann.

»Worüber denke ich zu viel nach?«, fragte sie.

»Über deine Gefühle, lass sie doch einfach zu.«

»Ich traue mich nicht.«

»Warum nicht?«

»Vor ein paar Tagen habe ich dich noch gar nicht gekannt.«

»Vielleicht doch. Unser Universum ist voller Energie, wie wir gerade gesehen haben. Auch Lebewesen strahlen Energie aus, Energien verbinden sich. Vielleicht haben wir uns irgendwann schon einmal auf diese Weise berührt.«

»Du meinst, wie Blitze, die zur selben Zeit über den Himmel jagen und sich zufällig treffen.«

»Vielleicht haben wir irgendwann einmal zur selben Zeit einen bestimmten Stern betrachtet, und wenn Gedanken Energie sind…«

»…konnten sie sich miteinander verbinden.«

»Eine mögliche Erklärung, warum uns ein Mensch vertraut ist, dem wir nie zuvor begegnet sind.«

»Es ist eine wunderschöne Erklärung.«

»Dann solltest du sie annehmen.«

»Aber du wirst wieder gehen.«

»Du kannst mit mir kommen.«

»Du könntest bleiben.«

»Das willst du doch gar nicht, Ines.«

Erst wollte sie protestieren, aber dann wurde ihr klar, dass er recht hatte. Sie wollte nicht, dass er in ihrer kleinen Welt blieb, sie wollte es nicht, weil sie selbst nicht mehr bleiben wollte und nur wegen ihres Großvaters diesen Wunsch immer wieder verdrängt hatte.

»Wir könnten zusammen arbeiten.«

»Ich bin aber keine Galeristin.«

»Ich bringe dir alles bei, was du wissen musst.«

»Es hört sich gut an, auch wenn es vielleicht nur ein Traum bleibt.«

»Willst du, dass es nur ein Traum bleibt?«

»Noch fühlt es sich wie ein Traum an.«

»Und wie fühlt sich das an?«, fragte er, als er mit seinen Fingerkuppen zärtlich über ihr Gesicht strich, ihre Augen, ihre Wangen und ihre Lippen berührte.

»Es fühlt sich wirklich an.«

»Willst du mehr Wirklichkeit?«, fragte er leise und küsste sie auf die Stirn.

»Ja, unbedingt«, antwortete sie und versank in seinen wundervollen blauen Augen.

»Keine Zweifel, keine Fragen?«

»Nein«, sagte sie und legte ihre Hände in seinen Nacken. Ich muss meine Ängste bekämpfen, ich will dich nicht gleich wieder verlieren, dachte sie. Als er sich über sie beugte und sie seinen Mund auf ihren Lippen spürte, ließ sie ihre Gedanken frei, sie wollte nicht mehr nachdenken. In diesem Moment wollte sie sich nur noch den Zärtlichkeiten des Mannes hingeben, in den sie sich verliebt hatte.

Später, als der Regen schon lange vorbei war und die Wege in der Abendsonne trockneten, gingen Ines und Marc Hand in Hand wieder hinunter ins Dorf. Ines konnte sich nun nicht mehr vorstellen, Marc einfach wieder so aus ihrem Leben zu streichen. Sie musste ihre dumme Angst vor dem Wasser in den Griff bekommen. Wenn ihr das gelang, dann würde sie ihn in Kanada besuchen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er, als sie nachdenklich über das Tal hinwegschaute, bevor sie in das letzte Waldstück auf ihrem Weg nach unten einbogen.

»Ja, es ist alles gut.«

»Dann bleibt es dabei, dass du mit zu den Seefelds kommst und wir ihnen von deiner Idee erzählen, die Ausstellung in der Ruine stattfinden zu lassen?«

»Ja, ich sagte doch, dass ich mitkomme.«

»Muss ich meine Gefühle für dich verbergen?«

»Nein, das musst du nicht.«

»Deine Familie könnte davon erfahren.«

»Mein Großvater wird sich für mich freuen, was die anderen denken, ist mir in diesem Fall egal. Wir tun schließlich nichts Unrechtes, wenn wir zusammen glücklich sind. Ob es nur ein paar Tage, ein paar Wochen oder länger sein wird, das geht nur uns etwas an.«

»Ich möchte schon, dass es länger als ein paar Tage dauert.« Marc ließ ihre Hand los und nahm sie in die Arme. »Sehr viel länger«, sagte er.

*

Die Seefelds waren gerade beim Abendessen, als Ines und Marc dort ankamen. In der Küche brannte schon Licht, und auf dem Tisch standen Kerzen, wegen der Gemütlichkeit, die besonders Traudel so sehr liebte.

»Setzt euch zu uns«, forderte sie die beiden auf und versorgte sie auch gleich mit Kartoffelsalat, Leberkäse und süßen Senf.

Nolan, der unter dem Tisch lag, schaute nur kurz auf, war aber offensichtlich zu müde für sein übliches Begrüßungsritual und zog es vor, weiter zu schlafen.

»Oben auf der Ruine? Das ist echt abgefahren«, sagte Emilia, nachdem Ines und Marc von ihrer Idee erzählt hatten.

»Ihr wart vorhin dort oben? Während des Gewitters?«, fragte Sebastian.

»Ich habe einen Schlüssel für den Ballsaal. Wir konnten dort auf das Ende des Unwetters warten«, antwortete Ines.

»Es war ein beeindruckendes Schauspiel.«

»Ja, das glaube ich dir gern, Marc.« Sebastian lächelte in sich hinein, als der Freund Ines mit einem zärtlichen Blick anschaute.

»Aber gleich am nächsten Wochenende? Wie sollen denn die Leute so schnell davon erfahren?«, fragte Traudel.

»Ich schalte eine Anzeige in der Zeitung und lasse Flyer drucken. Wenn ich sie gleich am Montag in Auftrag gebe, kann ich sie Mittwoch haben«, sagte Ines.

»Ich könnte sie dann am Donnerstag in der Schule verteilen«, schlug Emilia vor. »Opa nimmt sie mit in den Golfclub und Traudel legt sie in den Geschäften aus.«

»Aber es ist schon recht kurzfristig«, gab auch Sebastian zu bedenken.

»Wir haben doch schon bewiesen, dass wir in der Lage sind, etwas auf die Schnelle zu organisieren. Denk doch nur mal daran, als wir einen Spender gesucht haben, um Matthias’ Freundin zu helfen, ihre Leukämie zu besiegen.«

Emilia pustete eine Strähne ihres kastanienfarbenen Haares aus der Stirn und sah ihren Vater mit großen Augen an.

»Das war allerdings ein Meisterstück«, sagte Sebastian, als er daran dachte, wie viele Menschen sie mobilisiert hatten.

»Matthias wird übrigens demnächst mit ihr auf Weltreise gehen«, erzählte Emilia.

»Das heißt, die Bergmoosbacher Mädchenfußballmannschaft verliert ihren Trainer?«, fragte Marc.

»Er hat uns versichert, dass er bereits jemanden gefunden hat, der seine Nachfolge antritt. Wer das sein wird, keine Ahnung«, sagte Emilia und zuckte die Achseln.

»Als Mannschaftsarzt der Mädchen weißt du doch sicher mehr«, wandte sich Ines an Sebastian. Die Mädchenmannschaft war inzwischen das Aushängeschild des Bergmoosbacher Fußballvereins und wurde in jedem Werbeprospekt für die Reisebranche erwähnt.

»Ehrlich gesagt, ich weiß auch nur, dass Matthias demnächst heiraten wird und er und seine Frau als Sportlehrer auf einem Kreuzfahrtschiff anheuern werden.«

»Kind, doch nicht beim Essen«, seufzte Traudel, als Emilias Telefon läutete und sie es aus der Hosentasche zog.

»Es ist aber wichtig. Hallo, Markus«, meldete sie sich. »Super, wann kannst du hier sein? Ja, bis gleich. Markus ist in einer halben Stunde hier, wir wollen zusammen fernsehen«, verkündete Emilia, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

»Welchen Film?«, erkundigte sich Traudel.

»Wir gucken doch keinen Film, wir sehen uns eine Gesangsshow an. Kann ich gehen? Ich muss noch schnell mein Zimmer aufräumen.«

»Ab mit dir«, sagte Sebastian.

»Danke, Papa.« Im Vorbeigehen küsste Emilia ihren Vater auf die Wange und eilte gefolgt von Nolan, der sofort unter dem Tisch hervorschoss, aus der Küche.

»Ich könnte ab und zu hinaufgehen und Getränke oder etwas zu essen anbieten«, sagte Traudel.

»Nein, bitte nicht, sie würde es als Spionageangriff deuten«, entgegnete Sebastian.

»Aber wir können sie doch nicht den ganzen Abend allein lassen. Ich meine, die beiden sind schon eine ganze Weile zusammen, da muss man doch Befürchtungen haben.«

»Wir müssen ihnen vertrauen, Traudel.«

»Ich weiß nicht, zu meiner Zeit war das anders.«

»Ich habe Carla auch oft abends besucht, und dann haben wir auch in ihrem Zimmer ferngesehen«, erzählte Benedikt von seinen ersten Treffen mit Sebastians Mutter.

»Falls du dich erinnerst, wurde ich als die brave Cousine immer von ihren Eltern dazu gesetzt, und ihr habt mich dann vor die Tür geschickt, wenn ihr allein sein wolltet. Dort musste ich dann Wache halten. Das war nicht witzig«, erzählte Traudel und rollte genervt die Augen.

»Aber das ist lange her und kein Grund mehr, noch sauer zu sein«, sagte Benedikt. Er umfasste Traudels Hand, zog sie an seine Lippen und küsste sie.

»Ich bin nicht mehr sauer«, entgegnete sie und betrachtete Benedikt mit einem liebevollen Lächeln. »Wie wäre es nach dem Abendessen mit ein paar Runden Schafkopf?«, fragte sie.

»Ich habe keine Ahnung, wie das geht«, sagte Marc.

»Das bringen wir dir schon bei«, erklärte Traudel. »Wir könnten Anna anrufen, sie spielt sicher gern mit.«

»Anna ist zu einer Freundin nach Lübeck gefahren«, erzählte Sebastian.

»Sie ist in letzter Zeit oft unterwegs«, stellte Benedikt nachdenklich fest.

»Sie hat eben einen großen Freundeskreis.« Sebastian wich dem Blick seines Vaters aus. Er wusste selbst, dass er sich mehr um Anna bemühen sollte, er fühlte sich doch zu ihr hingezogen, mehr als zu jeder anderen Frau, die er kannte. Aber er war einfach noch nicht bereit für eine neue Beziehung, und ihm war bewusst, dass Anna vielleicht irgendwann nicht mehr auf ihn warten wollte.

Eine Viertelstunde später war der Tisch abgeräumt, und Benedikt mischte die Karten. Als es an der Haustür läutete, ging Sebastian in die Diele, um zu öffnen. Er hatte Markus durch das Küchenfenster gesehen und wollte vermeiden, dass Traudel ihm noch ein paar Anstandsregeln mit auf den Weg gab.

»Guten Abend, Doktor Seefeld.«

»Hallo, Markus, komm rein«, begrüßte Sebastian den großen blonden Jungen, der ihn ganz offen anschaute. »Emilia ist in ihrem Zimmer.«

»Danke, guten Abend, Traudel«, begrüßte Markus die gute Seele der Seefelds, die auf dem Weg in die Vorratskammer war, um ein paar Knabbereien für ihre Gäste zu holen. »Ich wollte nur sagen, du bist uns jederzeit willkommen, wenn du auch mal gucken willst, was es so Neues auf dem Musikmarkt gibt.«

»Das ist lieb von dir, mein Junge, aber wir spielen jetzt Karten. Ich könnte euch später ein bissel was zum Knabbern heraufbringen.«

»Das wäre total nett, danke, Traudel«, antwortete Markus, schlüpfte aus seinen Schuhen und lief die Treppe hinauf.

»Ein guter Junge«, murmelte Traudel zufrieden.

»Er verdient unser Vertrauen, nicht wahr?«

»Freilich, nichts anderes habe ich gesagt«, antwortete sie lächelnd.

Marc war mit vielen Kartenspielen vertraut, und so dauerte es nicht lange, bis er die Regeln des Schafkopfes verstanden hatte und schnell Gefallen an dem Spiel fand. Als er irgendwann Ines in den Arm nahm und sie auf den Mund küsste, nachdem sie ein Spiel gewonnen hatte, wussten auch Benedikt und Traudel, was Sebastian gleich bemerkt hatte.

»Habe ich nicht gesagt, es passt«, raunte Traudel Benedikt zu und erinnerte ihn an das, was sie schon vor ein paar Tagen festgestellt hatte, als Ines und Marc sich das erste Mal begegneten.

»Vielleicht solltest du ein Eheanbahnungsinstitut eröffnen«, antwortete Benedikt leise.

»Ja, das sollte ich tun, und ich wüsste auch schon, an wem ich mich zuerst versuchen würde«, flüsterte sie, während sie Sebastian mit ihrem Blick streifte.

»Geheimisse?«, fragte Sebastian und wandte sich den beiden zu.

»Könnte sein«, antwortete Traudel und zwinkerte Benedikt zu. »Noch ein Spiel?«, fragte sie und schaute in die Runde.

»Ja, gern«, lautete die einstimmige Antwort.

Markus wurde gegen zehn Uhr von seinem Vater abgeholt, und bevor der Junge sich von Emilia verabschiedete, kam er in die Küche, um allen anderen eine gute Nacht zu wünschen, was Traudel erneut dazu brachte, ihn wegen seines Benehmens zu loben. Nachdem Emilia dann zu Bett gegangen war, saßen die Erwachsenen noch eine Weile zusammen, und Marc sprach über seine Pläne, weitere Galerien zu eröffnen.

»Das bedeutet, du brauchst jemanden an deiner Seite, der dich unterstützt und dem du absolut vertraust«, stellte Sebastian fest. »Hast du schon jemanden gefunden?«, wollte er wissen.

»Vielleicht, ich habe aber noch keine Zusage erhalten. Ich muss gerade an die Reise denken, die du mit Helene unternommen hast, Sebastian. Von Alaska bis hinunter nach Feuerland mit dem Wohnmobil. Wie lange kanntet ihr euch damals?«

»Eine Woche.«

»Und wie lange wart ihr unterwegs?«

»Ungefähr vier Monate, die meiste Zeit davon als Ehepaar.«

»Ihr habt auf dieser Reise geheiratet?«, fragte Ines.

»In Las Vegas.«

»Obwohl ihr euch erst so kurz kanttet?«

»Wir haben uns geliebt. Worauf hätten wir warten sollen?«

»Die meisten Menschen wollen sich erst einmal kennenlernen.«

»Ich habe sie gesehen, und ich wusste, wer sie ist.«

»Energie«, flüsterte Marc und fing Ines’ Blick auf.

»Wie bringen wir die Bilder zur Ruine hinauf?«, fragte Benedikt und legte seine Hand auf Sebastians Schulter, weil er das Flackern in den Augen seines Sohnes gesehen hatte. Diese Liebe, die ihn und Helene verbunden hatte, schien für die Unendlichkeit gemacht, er konnte einfach nicht loslassen.

»Ich kümmere mich gleich morgen darum«, sagte Ines. Auch ihr war nicht entgangen, wie sehr Sebastian die Erinnerung an seine Frau berührte. »Außerdem hat Marc mir seine Unterstützung zugesagt.«

»Ich bin sicher, ihr beide werdet das schon alles gut hinbekommen«, sagte Traudel.

»Ich hoffe es, aber jetzt wird es Zeit für mich. Ich muss morgen früh raus. Vielen Dank für den schönen Abend«, verabschiedete sich Ines zuerst von Traudel und danach von Benedikt und Sebastian.

»Ich möchte Ines gern nach Hause bringen. Darf ich deinen Wagen haben, Sebastian?«, fragte Marc.

»Kein Problem.« Sebastian ging in die Diele, nahm seinen Autoschlüssel vom Schlüsselbrett neben der Tür und gab ihn Marc.

»Deine Antworten findest du hier, Ines«, sagte Sebastian und tippte auf seine Brust. »Dein Herz lügt dich nicht an.«

»Ich weiß«, antwortete sie und nickte, während er ihnen die Tür aufhielt.

»Wann hört es auf wehzutun?«, fragte Sebastian, nachdem er die Tür wieder geschlossen hatte und sein Vater zu ihm in die Diele kam.

»Es hört nie auf, es wird nur leichter«, sagte Benedikt. »Aber es bedeutet nicht, dass du nicht wieder glücklich sein darfst. Eine andere Frau zu lieben, heißt nicht, dass du Helene vergisst«, versicherte er seinem Sohn und streichelte tröstend über seinen Arm.

*

»Wann sehen wir uns morgen?«, fragte Marc, als sie vor dem Weg neben der Villa anhielten.

»Wenn du möchtest, kannst du gegen elf in mein Büro kommen. Bis dahin habe ich sicher schon einige Anrufe erledigt und mit dem Bürgermeister gesprochen.«

»Das mache ich. Ich würde dich ohnehin gern noch mehr unterstützen, was die Ausstellung betrifft, nicht nur das Aufhängen der Bilder überwachen.«

»Das können wir morgen besprechen.«

»Gut, dann bin ich um elf Uhr im Rathaus.« Marc stieg aus dem Wagen, lief zur Beifahrerseite und half Ines beim Aussteigen.

»Bis morgen«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

»Ich soll dich einfach so gehen lassen?«, fragte er und gab sich enttäuscht.

»Das musst du wohl tun«, antwortete sie lächelnd.

»Bekomme ich kein Geschenk mehr, das mich die Zeit bis zu unserem Wiedersehen überstehen lässt?«

»An was hast du denn gedacht?«

»An einen Kuss.« Mit festem Griff zog er sie an sich, betrachtete sie im Schein des Lichtes, das von der Villa auf die Straße fiel, und küsste sie.

»Was ist das denn?« Miriam wollte gerade die Gardinen in ihrem Schlafzimmer schließen, als sie das Paar bemerkte, das sich im Schatten von Sebastians Wagen küsste. Gebannt schaute sie zu, bis der Mann die Frau wieder losließ. »Ines, du böse Schlange«, zischte sie, und das Blut pochte in ihren Adern, weil sie glaubte, dass der Mann, der ihre Cousine im Arm hielt, Sebastian war. Sie spürte wieder diese ohnmächtige Wut, weil es ihr bisher nicht gelungen war, ihn, den sie mehr als jeden anderen begehrte, für sich zu gewinnen. »Der Galerist«, flüsterte sie erleichtert, als Marc aus dem Schatten des Autos heraustrat. Offensichtlich war die Sache zwischen ihm und Ines doch nicht vorbei. Warum durfte ihre Cousine etwas erleben, was ihr nicht vergönnt war? »Wenn du glaubst, du könntest dich mit ihm davonstehlen, dann irrst du dich. Ich werde es nicht zulassen«, sprach sie laut aus, was ihr durch den Kopf ging, und sie bedachte Ines mit einem neidvollen Blick, bevor sie die Gardinen zuzog.

Traudel und Benedikt waren schon schlafen gegangen, als Marc zu den Seefelds zurückkam. Nur Sebastian war noch auf. Er saß auf der Treppe im Steingarten und sah an den Horizont. Marc ging zu ihm und setzte sich neben ihn. So wie er es damals nach Helenes Tod immer getan hatte, wenn er den Freund so nachdenklich antraf.

»Willst du reden?«, fragte er, als Sebastian sich ihm zuwandte.

»Ja, ich denke schon«, sagte er.

Und dann sprachen sie über Helene und ihre Kunst, über Emilias Kindheit und die vielen gemeinsamen Erlebnisse, die ihre Freundschaft begründet hatten, und irgendwann lachten sie sogar über die eine oder andere amüsante Geschichte.

»Was ist mit Ines? Wird das, was da gerade zwischen euch läuft, vorbei sein, wenn du wieder abreist?«, wollte Sebastian von Marc wissen, als sie später ins Haus gingen.

»Ich könnte mir vorstellen, dass es weitergeht.«

»Es hat dich also richtig erwischt?«

»Sieht ganz so aus.«

»Du hast eine gute Wahl getroffen«, sagte Sebastian und klopfte Marc anerkennend auf die Schulter.

*

Marc kam wie ausgemacht am nächsten Vormittag in Ines’ Büro. Sie hatte inzwischen mit dem Bürgermeister gesprochen, der bereits mit seinem Bruder telefoniert hatte, dem die örtliche Druckerei gehörte. Er hatte versprochen, dass sie die Flyer schon morgen haben könnte, sollte sie ihm die Druckvorlagen in den nächsten Stunden liefern.

»Hübsch seht ihr aus«, sagte Marc, nachdem Ines ihm Lydia vorgestellt hatte, die genau wie sie ein gelbes Dirndl mit weißer Schürze trug.

»Die meisten Touristen erwarten, dass wir hier alle in Dirndl herumlaufen, und wir wollen sie nicht enttäuschen«, erklärte ihm Ines.

»Mich enttäuscht dieser Anblick auch nicht«, antwortete Marc lächelnd.

»Sie sind aber schon ein rechter Charmeur«, erwiderte Lydia schmunzelnd.

»Wenn ich Sie damit zum Lächeln bringe, dann sollte ich das auch nicht ändern.«

»Sage ich doch, ein rechter Charmeur«, wiederholte Lydia und lachte laut auf.

»Ich muss eure Charmeoffensive kurz bremsen, ich brauche Marcs Rat«, unterbrach Ines die beiden. Sie saß an ihrem Schreibtisch und betrachtete den Entwurf für den Flyer auf ihrem Computermonitor. »Ich denke, ein einfaches Blatt genügt, was meinst du?«, wandte sie sich an Marc.

»Ort und Datum der Ausstellung, eine Kurzbiographie der Malerin, Eintrittspreis, es ist alles da«, stellte er fest, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte.

»Ich würde es schön finden, wenn auf dem Flyer noch die Fotografie eines Gemäldes abgebildet wäre. Dann könnten die Leute sehen, in welche Richtung die Ausstellung geht«, sagte Lydia, die an dem Schreibtisch gegenüber Ines stand und die Prospekte der örtlichen Pensionen und Hotels in eine Kiste stapelte.

»Das ist eine gute Idee«, stimmte Marc dem Mädchen zu. »Ich könnte ein Foto von meiner Website holen und es in den Flyer einbauen«, schlug er vor.

»Bitte.« Ines stand auf und überließ Marc ihren Platz, damit er an ihrem Computer arbeiten konnte.

Ein paar Minuten später war der Flyer mit Marcs Hilfe für den Druck vorbereitet, und Ines schickte die Vorlage an die Druckerei.

»Ich dachte, wenn nach Abzug der Kosten für die Ausstellung ein Gewinn übrigbleibt, dann könnten wir den einem guten Zweck zuführen, wenn Sebastian damit einverstanden ist«, sagte sie.

»Damit ist er sicher einverstanden, ich werde aber gern mit ihm darüber reden. Wie kann ich den Damen sonst noch helfen?«, fragte Marc, während Lydia ihn bewundernd anschaute.

»Ich habe hier die Adressen einiger Speditionen. Du könntest sie dir ansehen, um herauszufinden, welche für den Transport der Bilder am besten geeignet ist. Du kannst mein Auto haben, es steht auf dem Parkplatz hinter dem Rathaus. Der kleine rote Wagen«, sagte Ines und gab ihm ihre Autoschlüssel.

»Wenn ich Fragen habe, rufe ich dich von unterwegs aus an, bis später«, verabschiedete sich Marc, hauchte Ines einen Kuss auf die Wange und verließ das Büro.

»Schon interessant, der Mann, sehr interessant sogar, und er sieht wahnsinnig gut aus«, sagte Lydia, die noch einen Blick auf den Parkplatz riskierte.

»Wolltest du nicht die Prospekte in den Geschäften verteilen?«, fragte Ines.

»Ich geh schon«, seufzte sie, während sie Marc nachschaute, wie er über den Parkplatz zu Ines’ Wagen lief.

Ja, er ist interessant, dachte Ines, so interessant, dass ich kaum noch an etwas anderes denken kann als an ihn.

*

Am frühen Nachmittag rief Marc an und erzählte ihr, dass er einen Spediteur gefunden hatte. Sie schlug ihm vor, dass sie alles nach Feierabend im Biergarten der Brauerei Schwartz besprechen könnten, und wollte sich gegen fünf mit ihm dort treffen. Sie bat ihn, ihr Auto vorher in der Sägewerkstraße abzustellen.

Als sie zur verabredeten Zeit in den Biergarten kam, waren noch die meisten Plätze frei, und Marc saß allein an einem der großen Tische. Aber es würde nicht mehr lange dauern, bis sich die Gäste im Hof des roten Backsteingebäudes an den Tischen drängten.

»Du solltest statt der Limonade, die du da trinkst, das Honigbier versuchen«, sagte Ines, nachdem sie Marc begrüßt hatte und sich auf die Bank ihm gegenüber setzte.

»Das hat deine Cousine mir auch schon geraten.«

»Meine Cousine? Wo ist sie?«

»Hier bin ich, Schätzchen«, flötete Miriam, die auf ihren schwarzen Pumps mit zwei Glas Honigbier in den Händen aus dem Brauereigebäude stolzierte und über das Kopfsteinpflaster balancierte. »Wenn ich gewusst hätte, dass du schon hier bist, hätte ich dir auch ein Bier mitgebracht. Irmi, noch ein Honigbier, bitte!«, rief sie der Kellnerin in dem dunkelroten Dirndl zu, die bepackt mit Maßkrügen ans andere Ende des Hofes lief und nur kurz nickte.

»Miriam kam gerade aus dem Sägewerk, als ich dein Auto vor der Villa parkte«, sagte Marc.

»Richtig, und als er mir erzählte, dass ihr euch im Biergarten treffen wollt, kam ich ganz spontan auf die Idee, mich euch anzuschließen. Wie läuft es denn so mit den Vorbereitungen zur Ausstellung?«

»Sehr gut.«

»Ich gratuliere zu der Idee mit der Ruine, eine gute Wahl.«

»Danke.«

»Wie genau soll das alles ablaufen? Kann ich irgendwie bei den Vorbereitungen helfen?«

»Ich gehe davon aus, dass Sie viele Leute kennen, erzählen Sie Ihnen von dem bevorstehenden Ereignis, damit sich der Termin schnell herumspricht«, schlug Marc Miriam vor.

»Das mache ich gern, aber sagen wir doch du zueinander, schließlich sind die Freunde meiner Cousine auch meine Freunde. Miriam«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

»Marc«, antwortete er.

»Ach ja, ihr beiden, ich finde es wirklich schön, mit euch hier zusammen zu sitzen. Ich habe meine kleine Ines schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.« Miriam bemühte sich, freundlich und herzlich zu wirken. Sie hatte sich vorgenommen, den Abend gemeinsam mit den beiden zu verbringen, um herauszufinden, wie nah sie sich tatsächlich schon gekommen waren.

Nach dem zweiten Honigbier waren dann auch alle ganz entspannt und bestellten angemachten Käse, Brezeln, Kartoffelsalat und Würstchen. Irgendwann kam Harald Baumann in den Biergarten, und Miriam bat ihn an ihren Tisch. Später schauten auch noch Anna und Sebastian nach einem Besuch bei einer werdenden Mutter im Biergarten vorbei. Miriam kostete es große Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, als sich statt Sebastian Anna neben sie setzte und Sebastian auf der Bank gegenüber Platz nahm. Zuerst beteiligte sie sich noch an der Unterhaltung über die Neuigkeiten aus Bergmoosbach, aber als sie sah, wie Marc über den Tisch fasste und Ines’ Hände zärtlich berührte, Sebastian und Anna sich liebevoll anschauten, da hielt sie es nicht länger aus und beschloss, diese Idylle zu beenden. »Ines, wir müssen nach Hause«, sagte sie und erhob sich abrupt.

»Warum? Ist etwas passiert?«, fragte Ines verblüfft.

»Bitte, komm, jetzt sofort.«

»Was ist los, Miriam?«, wollte auch Sebastian wissen.

»Ines, komm.« Miriam tat, als habe sie ihn nicht gehört.

»Schon gut, ich komme.« So wie sie sich aufführt, muss es ein echter Notfall sein, dachte Ines.

»Ich übernehme das«, sagte Marc, als Ines ihr Portemonnaie zückte, um ihre Rechnung zu begleichen.

»Harald, du zahlst für mich«, wandte sich Miriam an ihren Assistenten, der nur stumm nickte.

»Ich rufe dich an, Marc!«, rief Ines, als Miriam sie am Arm packte und aus dem Biergarten zog.

»Was war denn das für ein Auftritt?« Anna sah Miriam fassungslos nach.

»Ich habe auch keine Ahnung«, sagte Harald, als alle ihn anschauten, als könnte er diese Frage beantworten.

»Würdest du mir bitte endlich sagen, was mit dir los ist?«, fragte Ines, nachdem sie den Biergarten verlassen hatten und Miriam noch immer die Aufgeregte spielte.

»Ich habe es plötzlich nicht mehr ausgehalten. Ich fühle mich so elend, Ines, so schrecklich elend«, stöhnte Miriam.

»Aber warum denn?«, fragte Ines besorgt.

»Bring mich nach Hause, und dann reden wir ein bisschen. Du wirst mich doch jetzt nicht allein lassen, nicht wahr?«

»Nein, natürlich nicht.« Ines fragte sich, was ihrer Cousine derart zu schaffen machte, dass sie sich vor den anderen diese Blöße gegeben hatte. Ausgerechnet Miriam, die sonst immer so kühl und überlegen auftrat.

Ein paar Minuten später saßen sie auf dem weißen Sofa, das zwischen zwei besonders schönen Palmen auf Miriams Dachterrasse stand. Miriam hatte eine Kanne Tee gekocht und sich in der Küche mit Hilfe von Zwiebeln und Zitronen zum Heulen gebracht.

»Jetzt sage mir endlich, was los ist«, bat Ines.

»Ich bin so unglücklich, Kleines, ich glaube, ich werde niemals den Richtigen finden, und jedes Mal, wenn ich Sebastian begegne, wird mir das aufs Neue bewusst. Weil er mich doch nicht will«, schluchzte Miriam, und irgendwann waren die Tränen sogar echt, weil sie von ihrem Selbstmitleid überwältigt wurde.

Ines hörte geduldig zu und tröstete ihre Cousine.

»Du bist wunderschön, Miri, du wirst jemanden finden«, versicherte sie ihr.

»Aber niemanden, den ich will«, brach sie wieder in Tränen aus. Erst gegen Mitternacht beendete Miriam allmählich ihre Vorstellung und erklärte Ines, dass sie nun beruhigt nach Hause gehen konnte. »Danke, für alles, Schätzchen«, sagte sie und brachte sie zur Tür.

»Wenn noch etwas ist, dann melde dich bei mir«, bat Ines und nahm ihre Cousine liebevoll in die Arme. So arrogant Miriam auch manchmal sein konnte, sie sah in ihr noch immer das kleine Mädchen, mit dem sie aufgewachsen war.

»Vielleicht werde ich bald dir meinen Trost anbieten müssen«, flüsterte Miriam, nachdem sie die Tür geschlossen hatte. Sie war noch immer fest entschlossen, diese aufblühende Liebe zwischen Marc und Ines zu beenden, aus Sorge um ihren Großvater, versuchte sie sich nun einzureden, doch dann fiel ihr noch ein weitaus überzeugender Grund ein. Sie musste Ines vor der Liebe beschützen. »Es gibt kein wirkliches Glück in der Liebe, nur Schmerzen und Kummer«, sagte sie und als sie in den Garderobenspiegel gegenüber der Tür schaute, war es ihr, als sei sie, die wunderschöne Miriam Holzer, auch die barmherzigste Seele im ganzen Tal.

Als Ines wenig später in ihrem Bett lag, überlegte sie, ob sie Marc noch einmal anrufen sollte. Bevor sie sich entschieden hatte, erhielt sie eine SMS von ihm.

»Morgen Abend um sieben Picknick am Sternwolkensee? Treffpunkt Westufer! Kommst du?«

»Ja!«, schrieb sie zurück. Ein Picknick am See bedeutete, sie würden allein sein, und das war etwas, was sie sich mehr als alles andere wünschte.

*

Der Tag erschien Ines endlos lang, obwohl sie viel zu tun hatte. Die Besprechungen mit den Reiseveranstaltern, die Bergmoosbach auch in der nächsten Saison in ihren Katalog aufnehmen wollten, mussten vorbereitet werden, und die Prospekte, die Bergmoosbach selbst herausgab, waren in der Planungsphase. Emilia holte am Nachmittag die Flyer für die Ausstellung bei ihr ab, die sie und Traudel verteilen wollten, und auch Tobias Meier vom Bergmoosbacher Tagblatt kam zu ihr ins Büro, weil er gern vorab einen Artikel über die Ausstellung schreiben wollte. Von Marc hörte sie bis zum Abend kein Wort, aber irgendwie erhöhte das ihre Spannung vor dem Treffen mit ihm.

Als sie aus dem Rathaus nach Hause kam, war ihr Großvater nicht da. Mit den Tabletten von Sebastian und den Kräuterumschlägen, die Traudel empfohlen hatte, hatte er seine Schmerzen erfolgreich bekämpft und unternahm wieder seine abendlichen Spaziergänge, mit denen er vor einigen Monaten begonnen hatte, seinem Seniorenfitnessprogramm, wie er es nannte. Sie hatte ihm am Morgen gesagt, dass sie zum Abendessen nicht da sein würde, was er zum Anlass nehmen wollte, seinen Spaziergang ein wenig zu verlängern.

Kurz vor sieben machte sie sich auf den Weg zum See. Sie hatte sich für das kurzärmelige erdbeerfarbene Sommerkleid mit dem weitschwingenden Rock entschieden. Das braune Haar fiel ihr in seidigen Locken über die Schultern, und der zarte dunkle Lidstrich verlieh ihren hellen blauen Augen etwas Geheimnisvolles.

Bis zum See waren es nur ein paar Minuten. Als sie auf den Uferweg einbog, konnte sie Marc schon von weitem sehen. Er saß auf einem Felsen, der am Ufer lag, und neben ihm im Gras stand ein Picknickkorb. Das smaragdfarbene Poloshirt, das er zu seiner Jeans trug, sah ganz wundervoll zu seinem blonden Haar aus.

Als er sie bemerkte, kam er ihr sofort entgegen und nahm sie in seine Arme.

»Ich habe dich vermisst«, sagte er und küsste sie zärtlich.

»Das mit dem Picknick am See war eine gute Idee von dir.«

»Eine sehr eigennützige Idee, ich wollte dich heute gern für mich allein haben.«

»Der Abend gestern ging ein wenig abrupt zu Ende, ich weiß.«

»Wie geht es denn deiner Cousine?«

»Besser, sie brauchte nur jemanden zum Reden.«

»So plötzlich?«

»Miri ist eben eine spontane Persönlichkeit.«

»Dann hoffe ich, dass sie nicht so spontan ist und uns auch auf den See folgt.«

»An den See, meinst du wohl.«

»Nein, auf den See. Ich habe schon alles vorbereitet«, sagte er und nahm sie an die Hand. Erst jetzt, als sie sich dem Ufer näherte, sah sie das Ruderboot, das dort neben dem Schilf an einem Holzpflock befestigt war.

Auf dem Sitz im hinteren Teil des Bootes lag ein bequemes rotes Kissen, auf der Bank für den Ruderer eine rote Decke.

»Du willst mit einem Ruderboot auf den See?« Ines ließ seine Hand los, weil das Herz ihr plötzlich bis zum Hals klopfte und sie ihm ihre Angst nicht eingestehen wollte.

»Deshalb habe ich es gemietet«, antwortete er lächelnd.

»Hat der Bootsverleih nicht schon längst geschlossen?« Sie schaute zu dem Holzhäuschen auf der anderen Seite des Sees, vor dem die Ruderboote an einem Steg befestigt auf dem Wasser schaukelten.

»Ich konnte den Besitzer davon überzeugen, dass er eine Ausnahme macht.«

»Wie denn?«, fragte sie, um Zeit zu gewinnen, sich irgendetwas auszudenken, was sie davor bewahrte, in dieses Boot steigen zu müssen.

»Ich habe ihm erzählt, dass ich eine schöne Frau beeindrucken möchte.«

»Das hat gereicht?«

»Wie du siehst. Und nun mach dir keine Gedanken mehr um den Bootsverleih. Ich möchte den Sonnenuntergang mit dir auf dem See erleben. Ich habe gehört, dass er hier draußen ein ganz besonderes Erlebnis sein soll.«

»Das stimmt, aber vom Ufer aus gesehen ist er auch ganz wundervoll. Was machst du?«, fragte sie erschrocken, als er sie plötzlich auf seine Arme nahm.

»Ich trage dich in unser Schloss, unser symbolisches Schloss«, fügte er lächelnd hinzu.

Ines nickte, zu mehr war sie in diesem Moment nicht fähig. Mit der drohenden Gefahr vor Augen fühlte sie sich wie gelähmt. Aber die Vorstellung, Marc zu gestehen, dass sie sich vor einem Ausflug mit dem Ruderboot auf den doch recht überschaubaren See fürchtete, das brachte sie nicht fertig. Ich muss mich zusammennehmen, so schlimm ist das doch gar nicht, redete sie sich gut zu, als Marc sie neben dem Boot wieder auf ihre Füße stellte und ihr die Hand reichte, um ihr beim Einsteigen zu helfen.

»Geht es dir nicht gut, Ines?«, fragte er besorgt, als sie ihn nur stumm anschaute.

»Doch, es geht mir gut«, antwortete sie. Du meine Güte, ich werde es überleben, dachte sie. Sie hatte noch nie gehört, dass jemand mit einem Ruderboot auf dem Sternwolkensee verunglückt war. Ihre Angst war lächerlich, sie durfte doch nicht zulassen, dass sie ihr diesen Abend zerstörte. »Danke«, sagte sie und hielt sich an seiner Hand fest, als sie tapfer in das schaukelnde Boot einstieg, sich gleich auf den Sitz mit dem Kissen setzte und innerlich durchatmete. Den ersten Teil hatte sie geschafft, und die hohe Lehne des Sitzes gab ihr ein wenig Sicherheit. Trotzdem umklammerte sie den Sitz mit beiden Händen, als Marc gleich darauf mit dem Picknickkorb einstieg und das Boot wieder ins Schaukeln geriet.

»Bereit?«, fragte er, während er die beiden Paddel umfasste.

»Wir können«, antwortete sie, und als sie ihn anschaute, gelang ihr sogar ein Lächeln.

Während Marc die Landschaft betrachtete, kämpfte sie gegen ihre Angst, die sich umso stärker meldete, je weiter sie sich vom sicheren Ufer entfernten. Um sich vom Wasser abzulenken, schaute sie auf die Berge, die das Tal mit seinen hügligen Wiesen einbetteten. Statt auf dem See mit seinen kleinen Buchten und Schilfinseln herumzufahren, würde sie jetzt viel lieber hinauf zu den vereisten Gipfeln wandern.

»Was meinst du, wollen wir erst einmal hierbleiben?«, fragte Marc, als sie die Mitte des Sees erreicht hatten.

»Einverstanden«, sagte sie, weil nun ohnehin schon alles egal war.

»Traudel hat mir eine Flasche von ihrem allerbesten Prosecco geschenkt.« Marc nahm die Flasche mit dem Schaumwein aus dem Korb und reichte Ines zwei Sektgläser.

»Du hast ihr erzählt, was wir vorhaben?«

»Ich habe ihr nur erzählt, dass ich dich zum Picknick einladen möchte. Der Rest ist unser Geheimnis«, sagte er und öffnete die Flasche.

»Niemand weiß, dass wir hier sind?«, wollte sie wissen und hielt die Gläser fest, während er sie füllte.

»Nein, niemand, wir müssten uns also selbst retten, falls wir in einen Sturm geraten, was ich aber für sehr unwahrscheinlich halte.«

»Ja, ich auch«, antwortete sie kaum hörbar, weil es ihr bei der Vorstellung, sich möglicherweise schwimmend ans Ufer retten zu müssen, eiskalt über den Rücken lief.

»Auf uns«, sagte Marc, nachdem er die Flasche zur Seite gestellt hatte und sie beide ein Glas mit Prosecco in der Hand hielten.

»Auf uns«, entgegnete Ines, und sie stießen miteinander an. »Wenn du den Sonnenuntergang verfolgen willst, dann müssten wir die Plätze tauschen«, sagte sie, als die Sonne schon dicht über den Gipfeln stand.

»Ich habe eine bessere Idee.«

»Vorsicht!«, rief sie erschrocken, als Marc sich im selben Moment erhob und das Boot ins Schaukeln versetzte.

»Keine Sorge, ein Ruderboot kippt nicht so schnell um. Unser Picknick ist nicht in Gefahr«, beruhigte er sie. »Hebst du bitte mal den Korb kurz an«, bat er, und während sie seiner Bitte folgte, breitete er die Decke vor ihr aus und setzte sich auf den Boden. »Komm zu mir«, sagte er, nahm ihr den Korb wieder aus der Hand und stellte ihn neben sich.

Ines zögerte nicht lange, der Boden des Bootes erschien ihr ohnehin viel sicherer als der Sitz, von dem aus man so leicht ins Wasser fallen konnte. Vorsichtig glitt sie auf die Decke hinunter und war dabei so geschickt, dass das Boot sich kaum bewegte. Es geht doch, dachte sie und freute sich über ihren Mut. Marc nahm das Kissen von dem Sitz herunter und baute ihnen eine bequeme Rückenlehne.

»Gemütlich«, sagte sie, und auf einmal legte sich ihre Angst. Marc war bei ihr, und die Bootswände schützten sie vor dem Wasser.

»Ich habe Baguette mit Camembert, mit Lachs oder mit Kräuteraufstrichen anzubieten. Was möchtest du?«, fragte er.

»Camembert, bitte«, sagte sie. Allmählich fand sie richtig Gefallen an diesem Picknick, frisches Baguette, Himbeeren mit Vanillesoße zum Nachtisch und ein grandioser Sonnenuntergang.

Die Leute hatten wirklich recht, auf dem See war er viel beeindruckender als am Ufer. Die Gipfel der Berge waren in goldenes Licht getaucht, das Rot des Himmels spiegelte sich auf der Wasseroberfläche, und sie waren mittendrin in diesem feurigen Licht.

»Ich wünsche mir, dass wir noch viele Sonnenuntergänge zusammen erleben«, sagte Marc, legte seinen Arm um sie und zog sie sanft an sich. »Wenn du zu mir nach Montreal kommst, dann machen wir eine Reise über den Fluss in Richtung Süden durch die Landschaft der tausend Inseln.«

»Es sind fast 2000 Inseln«, sagte sie, weil sie erst vor kurzem einen Bericht über diese Inselgruppe im Sankt-Lorenz-Strom gelesen hatte.

»Es sind genau 1864, meine kluge Reisebegleiterin«, sagte er und küsste sie liebevoll auf ihr Haar. »Wenn wir die Insellandschaft durchquert haben, fahren wir durch die Großen Seen im Norden bis zu den Niagara-Fällen hinauf.«

»Das klingt ganz wundervoll.« Ines hatte zwar noch keine Ahnung, wie sie so eine Reise jemals schaffen sollte, aber heute hatte sie bereits bewiesen, dass sie ihre Angst überwinden konnte, und das war ein guter Anfang.

»Am liebsten würde ich gleich im nächsten Monat diese Reise mit dir unternehmen«, sagte Marc.

»So schnell bekomme ich keinen Urlaub.«

»Du brauchst keinen Urlaub. Wie ich schon sagte, wir könnten in Zukunft zusammen arbeiten. Zu schnell?«, fragte er, als Ines ihn verblüfft anschaute.

»Ich kann meinen Großvater nicht einfach allein lassen.«

»Dann nimm ihn mit.«

»Du bist verrückt.«

»Ja, nach dir«, sagte er und streichelte sie zärtlich, bevor sie sich einem leidenschaftlichen Kuss hingaben.

Als sie wieder aufschauten, war die Sonne am Horizont versunken, und es wurde dunkel. Genug der Herausforderung, dachte Ines. So gern sie auch mit Marc zusammen sein wollte, um es in der Dunkelheit auf dem Wasser auszuhalten, davon war sie noch weit entfernt.

»Ich würde gern noch ein bisschen laufen, ein nächtlicher Spaziergang am See hat auch seinen Reiz«, sagte sie.

»Ich wollte dir auch gerade vorschlagen, wieder an Land zu gehen. Auf Dauer ist es in so einem kleinen Boot nicht wirklich bequem.« Marc nahm sie noch einmal liebevoll in die Arme, bevor er sich erhob und sich auf die Ruderbank setzte. »Ich helfe dir«, sagte er und wollte Ines die Hand reichen, um ihr aufzuhelfen, aber sie war schon aufgestanden.

Nur noch ein Schritt, dann würde sie wieder sicher auf ihrem ursprünglichen Platz sitzen.

»Oh Gott, was ist das?!«, rief sie, weil sie plötzlich etwas am Fuß packte. Entsetzt drehte sie sich nach hinten um.

»Ines!« Marc beugte sich nach vorn, um sie zu packen, als sie im selben Moment das Gleichgewicht verlor.

Aber es war zu spät, er konnte es nicht mehr verhindern, dass sie rückwärts aus dem Boot stürzte.

Das war es, ich werde sterben, dachte Ines, als sie im Wasser versank. Instinktiv streckte sie dabei die Hände nach oben, in der Hoffnung doch noch irgendwo Halt zu finden. Und auf einmal war da etwas, was ihr Halt gab, nein, etwas packte sie und zog sie nach oben. Für einen Moment glaubte sie, die gleiche Situation schon einmal erlebt zu haben, aber als sie nach Luft japsend direkt neben dem Boot wieder auftauchte, hatte sie dieses Gefühl schon wieder verdrängt. Wie durch einen Nebelschleier hindurch konnte sie Marc im Mondlicht erkennen, der sie an den Händen hielt und auf sie hinunterschaute.

»Wie ist das denn passiert?«, fragte er, nachdem sie mit seiner Hilfe wieder in das Boot geklettert war, sich auf den Sitz mit der Lehne in Sicherheit brachte und Marc ihr die Decke um die Schultern legte.

»Da war etwas an meinem Fuß«, stammelte sie, während sie nach Luft rang und husten musste.

Marc nahm die Taschenlampe aus dem Picknickkorb, die er vorsichtshalber mitgenommen hatte, und leuchtete den Boden des Bootes ab. »Ich habe die Übeltäterin«, sagte er.

»Eine Schlange!« Ines starrte auf das Reptil mit der schwarzgelben Färbung, das bewegungslos vor ihnen auf dem Boden lag und sich offensichtlich totstellte.

»Eine Ringelnatter«, stellte Marc fest, fasste beherzt zu und warf die Schlange über Bord. »Ich nehme an, sie hatte das Boot schon vor unserer Abfahrt besetzt und ist erst in der Dunkelheit mutig genug gewesen, aus ihrem Versteck herauszukommen.«

»Sie wollte bestimmt zurück ins Wasser.«

»Auf jeden Fall«, antwortete Marc lächelnd.

»Und ich brauche dringend etwas Trockenes zum Anziehen.«

»Traudel hat mir ihr Auto geliehen, es steht am Bootsverleih. In einer Viertelstunde bist du zu Hause.«

*

Korbinian saß auf dem blauen Sofa im Wohnzimmer und blätterte in einer Zeitschrift, die ihre Leser mit Vorschlägen für den Umbau ihrer Häuser versorgte. Die Stehlampe neben dem Sofa brannte und machte den Raum mit dem Dielenboden, dem Kachelofen und den rustikalen Eichenmöbel erst so richtig gemütlich.

»Kind, was ist denn passiert?« Korbinian schaute entsetzt auf, als seine Enkelin triefend nass mit einer Decke über den Schultern hereinkam.

»Wir waren mit einem Ruderboot und einer Ringelnatter auf dem See. Die Ringelnatter war der Meinung, ich sei zu viel an Bord und hat mich abgeworfen. Das ist übrigens Marc, Großvater, und jetzt entschuldigt mich, ich brauche eine warme Dusche.« Ines hatte den ersten Schock überwunden. Vielleicht war es gerade der Dunkelheit zu verdanken, dass sie diese Sache schneller vergessen konnte. Alles erschien ihr im Nachhinein ganz unwirklich. Der Sturz ins Wasser, wie Marc sie gepackt hatte und sie dann in die Decke gehüllt wieder in dem Ruderboot saß. Ich darf keine neuen Ängste aufbauen, ich war doch schon auf einem guten Weg, dachte sie.

»Was genau hat es mit der Schlange auf sich?«, erkundigte sich Korbinian bei Marc, nachdem Ines das Zimmer verlassen und er seinem Gast einen Platz auf dem Sofa angeboten hatte.

»Es war ein Angriff aus dem Dunklen«, sagte Marc und erzählte Korbinian, was passiert war.

»Meine arme Kleine, da hat sie sicher einen gehörigen Schrecken bekommen. Und Sie sicher auch.«

»Allerdings, im Dunklen ist es für den besten Schwimmer nicht angenehm, in ein offenes Gewässer zu fallen. Glücklicherweise konnte ich sie schnell packen.«

»Ja, das war ein großes Glück. Ich koche uns einen Tee,«, sagte Korbinian, als Ines in einen langen weißen Bademantel gehüllt wieder ins Wohnzimmer kam und sich in den Ohrensessel mit dem Rosenmuster kuschelte. »Das sieht gut aus«, murmelte er, als er sich noch einmal umdrehte, bevor er in die Küche ging und sah, wie Marc Ines’ Hand umfasste und sie sanft drückte.

Marc blieb an diesem Abend noch eine ganze Weile bei Ines und ihrem Großvater, trank drei Tassen Tee, die Korbinian jedes Mal mit einem Schuss Rum aufwertete, wie er es nannte. Korbinian schien auch äußerst interessiert an dem Leben, das Marc in Kanada führte, und stellte ihm viele Fragen.

»Ich hoffe, ich habe die Prüfung bestanden, der ich mich gerade unterziehen musste«, sagte Marc, als Ines ihn später zur Tür brachte.

»Tut mir leid, Großvater hat es wohl ein wenig übertrieben mit seinen Fragen«, entschuldigte sie sich.

»Nein, es ist in Ordnung, er liebt dich, er will nicht riskieren, dass du dich mit dem Falschen einlässt.«

»Das tut sie nicht«, erklärte Korbinian, der mit der Teekanne aus dem Wohnzimmer kam. »Sie haben bestanden, junger Mann«, fügte er schmunzelnd hinzu und huschte in die Küche.

»Glück gehabt«, sagte Marc und verabschiedete sich mit einem zärtlichen Kuss von Ines.

»Großvater, das war schon ein bisschen peinlich, dass du ihn so ausgefragt hast«, hielt Ines Korbinian vor, nachdem Marc gegangen war.

»Geh, er hat es schon verstanden. Aber er hat offensichtlich keine Ahnung von deinem Problem«, wechselte Korbinian das Thema.

»Nein, er wird es auch nicht erfahren.«

»Dann hast du gar nicht vor, ihn in Kanada zu besuchen?«

»Doch, es wäre ein Traum.«

»Dann erfülle ihn dir, sieh dir dieses Land an, finde heraus, ob du dort leben könntest, ob du mit ihm leben könntest.«

»Ich kann nicht auf Dauer dort leben. Was soll denn dann aus dir werden?«

»Ich besuche euch.«

»Aber was wäre hier bei dir zu Hause?«

»Die anderen sind doch da.«

»Wir haben doch schon darüber gesprochen, was Tante Carola tun würde, wenn du dich nicht mehr allein versorgen könntest. Und Tante Carola bestimmt, was in ihrer Familie passiert.«

»Mag sein, aber möglicherweise werde ich noch einmal heiraten, dann hat sie in meinem Fall gar nichts mehr zu bestimmen.«

»Du willst heiraten?«, fragte Ines verblüfft.

»Denkst du, ich bin zu alt?«

»Nein, die Liebe kennt kein Alter, ich finde es großartig.« Ines freute sich aufrichtig für ihren Großvater. »Wer ist sie?«, wollte sie wissen.

»Sie heißt Agnes, sie wohnt in München und kommt alle paar Wochen für ein paar Tage nach Bergmoosbach. Wir haben uns vor ein paar Monaten beim Seniorentanz im Hotel Sonnenblick kennengelernt. Ich möchte, dass sie bei uns wohnt, Ines. Deshalb werde ich den Dachboden ausbauen, damit du hier unten dein eigenes Reich hast.«

»Unsinn, Großvater, ich ziehe nach oben.«

»Oder du erfüllst dir deine Träume. Sei mutig, Ines. Wenn es nicht klappt, dein Zuhause bei mir bleibt dir erhalten.«

»Du meinst, ich müsste kein schlechtes Gewissen haben, wenn ich mir die Welt ansehen möchte?«

»Nicht die Bohne«, antwortete Korbinian lachend.

»Wann lerne ich Agnes kennen?«

»Am Sonntag, wir werden zusammen die Ausstellung besuchen.«

»Hast du es Onkel Gernot schon erzählt?«

»Sie erfahren es am Sonntag.«

»Das wird eine große Überraschung für sie werden.«

»O ja, davon bin ich überzeugt«, sagte Korbinian und gönnte sich noch einen Kräutertee mit Schuss.

*

Am nächsten Morgen war Ines’ Zuversicht, dass sie ihre Angst vor dem Wasser schnell in den Griff bekommen würde, schon wieder verflogen. Sie war in der Nacht ständig hochgeschossen, weil sie glaubte, ertrinken zu müssen, und sie hatte sich gefragt, ob es nicht doch das Beste wäre, Marc die Wahrheit zu gestehen. Als er sie dann am Vormittag anrief und ihr sagte, dass ihn ein Geschäftspartner zu einem Segelausflug eingeladen hatte und er den Tag am Starnberger See verbringen würde, verwarf sie diesen Gedanken wieder. Eine Frau, die sich vor dem Wasser fürchtete, würde seine Zuneigung für sie vielleicht schnell infrage stellen.

Als sie in der Mittagspause in die Drogerie ging, um einige Kosmetikartikel zu kaufen, traf sie dort auf Anna, die sie zu einer Eisschokolade in das Café am Marktplatz einlud. Sie setzten sich an einen der kleinen runden Tische, die vor dem Café unter der alten Kastanie standen, und sprachen über die Ausstellung.

»Was ist los mit dir, Ines? Du siehst bedrückt aus«, stellte Anna nach einer Weile fest und sah sie aufmerksam an.

»Ich habe ein Problem, wenn ich das nicht in den Griff bekomme, werde ich Marc verlieren.« Ines wusste, dass ihr Geheimnis bei Anna gut aufgehoben war, deshalb beschloss sie, sich ihr zu offenbaren. »Weißt du, es ist so, dass er auf Dauer nichts mit mir anfangen könnte«, sagte sie und erzählte ihr von ihrem Unfall am Vortag und den schrecklichen Ängsten, die sie schon so lange plagten.

»Du solltest mit Sebastian darüber sprechen, er ist zwar kein Psychiater, aber ich denke, er könnte dir trotzdem helfen.«

»Vermutlich müsste ich nur Schwimmen lernen.«

»Das wird dir erst gelingen, wenn du herausgefunden hast, was dich bisher davon abgehalten hat.«

»Es ist mir so unangenehm. Ich werbe für den Wassersport in unserer Gegend und habe eigentlich keine Ahnung, von was ich da spreche. Was hast du vor?«, fragte Ines, als Anna ihr Handy zückte und eine Nummer aufrief.

»Manche Dinge dürfen nicht aufgeschoben werden. Hallo, Sebastian, hast du Zeit, eine Liebe zu retten?«, fragte Anna, als er sich meldete. »Ines und Marc«, hörte sie Anna sagen. »Du kannst gleich zu ihm kommen. Die Nachmittagssprechstunde beginnt um drei, ihr habt also zwei Stunden«, sagte Anna, nachdem sie das Gespräch beendet hatte.

»Ich stehle ihm seine Mittagspause.«

»Marc ist Sebastians Freund, er hat ein persönliches Interesse an dieser Angelegenheit. Nimm seine Hilfe bitte an.«

»Dann rufe ich Lydia an, dass ich noch etwas zu erledigen habe und erst später wieder ins Büro komme.«

»Sebastian findet eine Lösung, vertrau ihm«, sagte Anna und nickte ihr aufmunternd zu.

*

Sebastian erwartete Ines im Hof vor der Praxis. Er saß auf der Bank, die den Stamm der alten Ulme umfasste, hatte die Augen geschlossen und hielt sein Gesicht in die Sonne. In diesem Moment wirkte der selbstsichere junge Arzt verletzlich. Ines verstand sehr gut, warum Anna ihn liebte und warum Miriam und so viele andere von ihm träumten. Aber ihr Herz gehörte Marc, der noch diese Unbeschwertheit besaß, wie sie nur Menschen zu eigen war, die noch keine Verantwortung für andere zu tragen hatten.

»Hallo, Ines, womit kann ich dir helfen?«, fragte Sebastian und schlug die Augen auf. »Heute Morgen beim Frühstück hatte ich nicht den Eindruck, dass etwas zwischen dir und Marc nicht in Ordnung sein könnte.«

»Hat er dir erzählt, was mir letzte Nacht passiert ist?«

»Ja, allerdings. Ich hoffe, du hast dich bei diesem Missgeschick nicht doch verletzt.«

»Nein, mir geht es gut, was das betrifft«, sagte sie und setzte sich neben ihn auf die Bank.

»Wir können hier draußen reden, wenn du möchtest. Mein Vater ist nach Salzburg zu einem Kongress gefahren, und Traudel ist mit Emilia zum Einkaufen in der Stadt, es wird niemand etwas von unserem Gespräch mitbekommen.«

»Also gut.« Ines gab sich einen innerlichen Ruck und erzählte Sebastian, worüber sie sich so viele Gedanken machte. »Was ist?«, fragte sie, als sie ihm alles gesagt hatte und er sie nachdenklich betrachtete, ohne einen einzigen Kommentar abzugeben.

»Ich würde gern etwas ausprobieren. Das setzt allerdings voraus, dass du mir vertraust, und zwar absolut, sonst wird es nicht funktionieren.«

»Ich vertraue dir, Sebastian.«

»Gut, dann fahren wir zum See.«

»Aber ich muss nicht ins Wasser springen oder so etwas?«

»Nein, das musst du nicht«, sagte Sebastian und hielt ihr die Beifahrertür seines Geländewagens auf. Er war sicher, dass ein bestimmtes Ereignis diese Angst bei Ines ausgelöst hatte, an das sie sich aber nicht mehr erinnern konnte oder wollte. Sie musste sich aber daran erinnern, wenn sie die Angst loswerden wollte.

Am See angekommen parkte er den Wagen am Uferweg und führte Ines zu einer kleinen Bucht, in der sie durch die Bäume und das hohe Schilf vor neugierigen Blicken geschützt waren.

»Zieh deine Schuhe aus, schließe die Augen und gehe ein paar Schritte ins Wasser hinein«, forderte Sebastian sie auf, als sie nebeneinander am Ufer standen.

»Mit geschlossenen Augen ins Wasser?«

»Du hast gesagt, du vertraust mir.«

»Ja, ich weiß.« Auch wenn es ihr widerstrebte, tat sie, was er von ihr verlangte.

»Und jetzt achte nur auf das Wasser, wie es dich umspült, wie es dich wärmt, alles ist gut, du musst nicht mehr nachdenken.« Er ließ ihr Zeit und sprach weiter beruhigend auf sie ein, bis er sah, dass sie sich entspannte. »Wie fühlst du dich?«, fragte Sebastian, der ganz dicht hinter ihr stand und sie beobachtete.

»Ich habe Angst.«

»Wovor?«

»Ich weiß nicht.«

»Geh noch einen Schritt weiter.«

»Nein.«

»Ich bin bei dir, es kann dir nichts passieren.«

»Das hat Miri auch gesagt.«

»Was hat Miri gesagt?«

»Das mir nichts passieren kann, aber dann….«

»Dann was?«

»Sie legt sich neben mich auf die Luftmatratze, die Matratze kippt um, ich schlucke Wasser, ich habe Angst, Miri zieht mich wieder hoch, schreit mich an, dass ich niemandem etwas sagen darf. Aber ich habe Angst, so große Angst.«

»Es ist alle gut, Ines. Öffne die Augen«, forderte Sebastian sie auf, als sie plötzlich nach Luft rang. »Du bist in Sicherheit«, sagte er und legte seine Hände auf ihre Schultern, bis sie sich wieder gefangen hatte. »Woran erinnerst du dich noch?«, fragte er, als sie sich noch immer ein wenig verstört auf einen umgestürzten Baumstamm setzte, der am Ufer im Gras lag.

»Wir waren mit Tante Carola am See. Sie musste kurz ins Sägewerk, Miri sollte auf mich aufpassen. Die Luftmatratze war für mich tabu, weil ich noch nicht schwimmen konnte. Aber ich wollte sie unbedingt ausprobieren, und Miri hat sich überreden lassen. Sie hat mich ein Stück hinaus auf den See geschoben, sie konnte ja schon gut schwimmen, und dann wollte sie sich neben mich legen, dabei sind wir wohl umgekippt. Sie hat mich angeschrien, niemandem etwas davon zu sagen, weil sie keinen Ärger bekommen wollte, und ich habe geschwiegen, weil ich wusste, dass ich etwas getan hatte, was mir eigentlich verboten war.«

»Wie alt wart ihr damals?«

»Ich war noch im a, und Miri war vielleicht zehn oder elf. Ich weiß es nicht mehr. Ich hatte das Alles doch komplett vergessen. Aber wie kann das sein, Sebastian, und wieso weiß ich es jetzt wieder?«

»Du hattest damals Todesangst und konntest mit niemandem darüber reden, weil du Miri schützen wolltest, und mit dem Vergessen hast du dich dann selbst geschützt. Manchmal hilft es, sich einfach zu entspannen und sich einer ähnlichen Situation auszusetzen. Düfte, Geräusche, Berührungen, das sind mächtige Verbündete, wenn es darum geht, sich an etwas erinnern zu wollen.«

»Gestern, als Marc mich aus dem Wasser zog, glaubte ich, ich hätte so etwas schon mal erlebt, aber der Gedanke verschwand schnell wieder.«

»Gestern hattest du erst einmal mit deinem aktuellen Schockzustand zu tun. Aber natürlich hat dieses Erlebnis dazu beigetragen, dass du dich wieder erinnern kannst.«

»Danke, Sebastian.«

»Ich bin froh, dass es funktioniert hat. Und jetzt solltest du so schnell wie möglich schwimmen lernen, damit du deiner Angst etwas entgegenzusetzen hast. Sie ist noch immer da, weißt du, aber da du nun ihre Ursache kennst, kannst du sie besiegen. Vielleicht sprichst du mit Hannes Körner.«

»Du meinst den jungen Mann, der im Schwimmbad in der Nachbargemeinde den Kindern Schwimmunterricht gibt?«

»Er unterrichtet auch Erwachsene, sprich mit ihm, aber sage ihm genau, worum es geht. Du bist nicht die erste, die ich wegen dieses Problems zu ihm schicke.«

»Echt? Es gibt noch andere, die sich vor dem Wasser fürchten?«

»Ja, die gibt es«, antwortete Sebastian lächelnd.

»Gut, ich rufe ihn noch heute an. Aber bitte, erzähle Marc nichts davon. Sobald ich die ersten Schwimmzüge beherrsche, werde ich es ihm selbst gestehen.«

»Du hast mein Wort. Musst du heute noch ins Büro.«

»Unbedingt, ich habe noch einiges wegen der Ausstellung zu regeln.«

»Gut, dann fahre ich dich.«

»Wie kann ich dir für diese Therapiestunde danken, Sebastian?«

»Werde glücklich mit Marc.«

»Dafür werde ich alles tun«, versicherte sie ihm.

*

Als Ines wieder im Büro war, rief sie Hannes Körner an. Nachdem sie ihm ihr Problem geschildert hatte, schlug er vor, den Schwimmunterricht in den See zu verlegen, um ihr die Angst vor offenen Gewässern zu nehmen. Sie stimmte ihm auch sofort zu, und als er ihr anbot, noch am selben Abend mit dem Unterricht zu beginnen, war sie einverstanden. Danach rief sie noch einmal Sebastian an und erzählte ihm, dass sie die Sache umgehend angehen würde.

Da Hannes bis sieben Uhr im Schwimmbad beschäftigt war, hatten sie ausgemacht, sich um halb acht am See zu treffen. Als sie aus dem Büro nach Hause kam, machte sie sich auf die Suche nach dem Badeanzug, den sie sich vor einigen Jahren gekauft hatte, für alle Fälle, falls es ihr doch einmal einfiel, schwimmen zu lernen. Kurz vor sieben gab sie die Suche auf. Der Badeanzug war nicht mehr aufzufinden. Sie bildete sich ein, dass sie ihn im Keller in einem Regal neben der Waschmaschine abgelegt hatte. Vermutlich war er irgendwann aus Versehen in den Sack für die Altkleidersammlung geraten. Ihren Großvater konnte sie auch nicht danach fragen, er hatte ihr am Morgen verkündet, dass er für ein paar Tage zu Agnes nach München fahren würde und war auch gleich aufgebrochen, und außerdem würde er sich kaum an ihren Badeanzug erinnern. Jetzt konnte nur noch Miri helfen. Während sie aus dem hübsch bemalten Bauernschrank unten in der Diele, in dem sie und Korbinian Handtücher und Bettwäsche aufbewahrten, ein Badehandtuch heraussuchte, rief sie Miriam auf ihrem Handy an.

»Cousinchen, was kann ich für dich tun?«, meldete sie sich auch gleich.

»Könntest du mir einen Badeanzug leihen?«

»Tut mir leid, Kleines, aber ich besitze keinen Badeanzug. Einen Bikini könnte ich dir leihen. Aber wieso fragst du?«

»Ich kann meinen Badeanzug nicht finden.«

»Kein Wunder, du gehst ja auch nicht oft schwimmen. Gehst du überhaupt schwimmen?«

»Leihst du mir jetzt einen Bikini oder nicht?«

»Wann brauchst du ihn?«

»Jetzt sofort. Ich bin zu Hause. Könntest du mir einen bringen? Ich will ihn anziehen, bevor ich gehe.«

»Kein Problem, bis gleich.«

Keine drei Minuten später war Miriam da. Sie breitete eine Auswahl Bikinis auf dem Wohnzimmertisch aus und überließ Ines die Wahl.

»Die sind alle ganz schön knapp.«

»Möchtest du lieber im Tauchanzug schwimmen gehen?«

»Gut, ich nehme den«, sagte Ines und entschied sich für den türkisfarbenen Bikini, für den ein wenig mehr Stoff als für die anderen verwandt wurde. »Erinnerst du dich eigentlich noch an unseren Unfall mit der Luftmatratze?«, sprach sie Miriam auf ihr gemeinsames Erlebnis an.

»Daran möchte ich gar nicht mehr denken. Ich war froh, dass ich dich wieder aus dem Wasser ziehen konnte, du hast wie wild um dich geschlagen.«

»Ich hatte Panik.«

»Ich hatte auch Angst.«

»Ich weiß«, sagte Ines, und als sie Miriam anschaute und diesen schuldbewussten Blick wahrnahm, wusste sie, dass Miriam und sie noch immer miteinander verbunden waren, egal, wie abweisend und überheblich sie sich manchmal benahm.

»Ich gehe dann wieder. Den Bikini kannst du behalten.« Auch Miriam war wieder einmal bewusst geworden, wie sehr sie an Ines hing, auch wenn sie das nie zugeben würde. Vielleicht war das sogar der eigentliche Grund, warum sie es nicht zulassen konnte, dass sie sich ernsthaft verliebte, schon gar nicht in jemanden, der so weit entfernt von ihnen wohnte. Unsinn, es geht allein darum, dass die Liebe nichts Gutes bringt und dass Ines’ Platz bei Großvater ist, versicherte sie sich ihrer edlen Motive. Sie hatte schon die Türklinke der Haustür in der Hand, als das Handy ihrer Cousine läutete.

»Hallo, Marc«, meldete sich Ines, als sie seine Telefonnummer auf dem Display sah.

»Ich bin zurück, Ines, was hältst du von einem Abendspaziergang?«

»Das tut mir sehr leid, aber ich kann nicht. Ich muss noch etwas Wichtiges erledigen. Wir könnten uns doch morgen in meiner Mittagspause treffen und einen Kaffee zusammen trinken.«

»Ich fahre morgen noch mal nach Starnberg. Ich werde einige Maler besuchen, von denen ich heute gehört habe. Vielleicht gibt es ein neues Talent zu entdecken. Ich melde mich bei dir, sobald ich zurück bin. Schade, dass es heute Abend nicht klappt.«

»Ja, das finde ich auch schade. Bis morgen, Marc.«

»Bis morgen, ich hoffe, du träumst wenigstens von mir.«

»Ja, ganz bestimmt«, sagte sie. Wenn ich nach dem Schwimmunterricht nicht zu erschöpft bin, rufe ich ihn an. Vielleicht können wir uns ja dann noch treffen, dachte sie. Sie vermisste ihn doch jetzt schon so sehr.

»Sieh mal an, sie versetzt ihn schon«, murmelte Miriam, die das Gespräch mitangehört hatte und nun schnell aus dem Haus huschte. Ich denke, ich habe wieder einmal eine schöne Aufgabe für meinen guten Harald, dachte sie und zückte ihr Handy.

*

Ines fasste sofort Vertrauen zu Hannes Körner. Der sportliche junge Mann mit den dunklen Locken war ungefähr so alt wie sie, strahlte aber so viel Ruhe und Gelassenheit aus, als erteilte er schon seit Jahrzehnten Schwimmunterricht. Um Ines nicht irgendwelchen neugierigen Blicken auszusetzen, hatte er für ihre ersten Schwimmversuche dieselbe gut geschützte Bucht ausgewählt, an der sie am Nachmittag mit Sebastian gewesen war. Bevor er sie ins Wasser schickte, sprachen sie aber erst noch einmal über diese Ängste, die sie so lange mit sich herumgetragen hatte.

»Du schaffst das«, sagte er, als sie sich schließlich ins Wasser traute.

Als es ihr bis zur Taille reichte, wurde ihr beinahe übel, und sie wollte umkehren.

»Es trägt dich, versuche es, lehn dich zurück.« Hannes blieb ganz ruhig, sprach ihr immer wieder Mut zu, und auf einmal wagte sie es und legte sich aufs Wasser. »Bleib, es ist alles gut«, sagte er, als sie sofort wieder aufspringen wollte. »Ich halte dich«, versicherte er ihr, und sie verließ sich auf ihn, als sie seine Hände unter ihrem Rücken spürte.

»Sie trifft sich mit Hannes Körner? Diesem Adonis aus dem Schwimmbad?«, fragte Miriam ungläubig nach, als Harald eine Stunde später auf ihrer Dachterrasse saß, um ihr von seiner Mission, mit der sie ihn beauftragt hatte, Bericht zu erstatten.

»Zuerst haben sie nebeneinander auf dem Baumstamm gesessen und sich ganz angeregt unterhalten, danach sind sie ins Wasser. Sie legte sich hin, und er beugte sich über sie. Mein lieber Mann, der hat es echt drauf, der Kerl«, erzählte Harald mit süffisantem Blick.

»Konntest du hören, was sie sagen?«

»Wie denn? Ich war auf der anderen Uferseite, aber durch mein Fernglas konnte ich zumindest alles sehen.«

»Das hast du sehr gut gemacht, Schätzchen.« Miriam streichelte ihm über den Kopf und küsste ihn auf die Stirn. »Sag mal, könnte es auch sein, dass die gute Ines einfach nur Schwimmunterricht bei unserem Adonis nimmt?« Hatte sie vielleicht deshalb nach ihrem Badeanzug gesucht? Dass ihre brave Cousine Marc die große Liebe vorspielte, während sie längst mit einem anderen zusammen war, das traute sie ihr eigentlich nicht zu.

»Ja, möglich wäre es, dass sie schwimmen lernt, aber wenn zwei im Wasser sind und ständig an sich herumgrapschen, lässt sich das schwer einschätzen.«

»Nein, das lässt sich nicht einschätzen, Harald.« Aber es wäre eine wunderbare Voraussetzung für mich, um dieser unsäglichen Liebe den Garaus zu machen, dachte Miriam. Sollte ihr Verdacht richtig sein und Ines lernte heimlich schwimmen, dann musste sie nur auf die nächste Schwimmstunde warten.

Als Ines gegen zehn Uhr nach Hause kam, ging sie sofort schlafen. Sie fühlte sich total erschöpft, und so sehr sie sich auch nach Marc sehnte, sie konnte gegen diese Müdigkeit nicht ankämpfen. Es war eine gute Entscheidung gewesen, sich Hannes anzuvertrauen. Sie hatte bereits ein paar Schwimmzüge allein gemacht und das in ihrer ersten Unterrichtsstunde. Als Hannes ihr anbot, gleich am nächsten Tag weiterzumachen, hatte sie sofort zugesagt, auch wenn das bedeutete, dass sie Marc am Abend vielleicht wieder nicht treffen konnte. Die nachfolgenden Unterrichtsstunden würde sie dann auf die kommende Woche verlegen, damit sie endlich wieder Zeit für ihn hatte.

*

Am nächsten Tag kümmerte sich Ines ausschließlich um die Vorbereitungen für die Ausstellung. Sie sprach mit den Leuten, die den Ballsaal noch einmal gründlich reinigen sollten, und mit dem Betreiber der Cafeteria, der sich auch um das Personal für die Garderobe kümmerte. Den Einlass und die Kasse würde Lydia übernehmen. Als sie am Abend nach Hause kam, ließ sie erst gar keine Angst vor dem Schwimmunterricht aufkommen. Heute wollte sie doppelt so viele Schwimmzüge schaffen, um möglichst schnell Fortschritte zu machen. Sie glaubte schon, dass Marc den Abend vielleicht in Starnberg verbringen würde, doch nachdem sie ihre Badetasche gepackt hatte und bereits im Hinausgehen war, rief er an.

»Wollen wir uns um acht im Biergarten treffen?«, fragte er.

»Ich würde wirklich gern kommen, aber ich kann nicht, Marc.«

»Schon wieder die Arbeit?«

»Ja, leider, aber ab morgen habe ich wieder Zeit«, versicherte sie ihm.

»Kann ich dir nicht bei deiner Arbeit helfen?«

»Nein, die muss ich selbst erledigen, aber wenn es nicht zu lange dauert, rufe ich dich noch an.«

»Ja, bitte, tu das. Ich vermisse dich, Ines, weißt du.«

»Ich vermisse dich auch, bis später«, sagte sie und machte sich auf den Weg zum See. Nächste Woche muss ich mir erst einmal einen Badeanzug kaufen, ich bin es leid, ständig darauf zu achten, dass der Bikini richtig sitzt, dachte sie und schob die Träger des Oberteils, die ihr von der Schulter rutschten, wieder hoch.

Miriam war erst vor ein paar Minuten nach Hause gekommen. Sie hatte im Nachbarort einen Kunden besucht. Auf dem Rückweg hatte sie gesehen, wie das kleine orangefarbene Auto, das Traudel gehörte, mit Marc Durand am Steuer auf das Grundstück der Seefelds einbog. Sie war gleich auf ihre Dachterrasse gestürmt und hielt nun Ausschau nach Ines. Würde sie sich heute mit Marc treffen? Wenn die beiden verabredet waren, dann würde er sicher bald eintreffen, oder Ines würde sich auf den Weg zu ihm machen.

»Sie geht wieder schwimmen?«, murmelte sie verblüfft, als sie Ines kurz darauf mit ihrer Badetasche in Richtung See laufen sah. Eilig zückte sie ihr Handy und rief Harald Baumanns Nummer auf. »Harald, geh zum See und sieh nach, ob sie sich wieder mit dem Schwimmadonis trifft«, sagte sie, als ihr Assistent sich meldete.

»Jetzt gleich?«

»Natürlich gleich, um Mitternacht wird sie wohl nicht mehr dort sein. Ich warte auf deinen Rückruf.« Das wird ein Fest für die Sinne, da werden ordentlich Tränen fließen, wenn alles so läuft, wie ich mir das vorstelle, dachte Ines zufrieden.

*

Die Seefelds saßen in ihrer gemütlichen Küche und spielten Karten, auch Anna nahm an der Schafkopfrunde teil. Alle hatten ihren Spaß, sogar Emilia, die auf die abendlichen Telefonate mit ihren Freunden zugunsten des Familienabends verzichtet hatte. Traudel hatte Käsegebäck und Salzstangen auf den Tisch gestellt, und es gab Honigbier für die Erwachsenen und Malzbier für Emilia.

Nur Marc hatte nicht so recht Spaß am Kartenspiel, er schaute immer wieder unruhig auf die Uhr, und schließlich legte er die Karten beiseite und stand auf. »Ich gehe ein bisschen an die frische Luft«, sagte er.

»Wir haben doch gerade erst eine Runde gespielt, und du hast schon genug?«, wunderte sich Traudel.

»Tut mir leid«, entgegnete Marc und verließ die Küche durch die geöffnete Terrassentür.

»Was ist eigentlich mit Ines? Warum treffen die beiden sich nicht mehr?«, fragte Emilia und spielte mit den Spitzen ihres Pferdeschwanzes.

»Sie hat ihm schon zweimal abgesagt, was ich eigentlich nicht verstehe«, wunderte sich Traudel.

»Sie wird zu tun haben«, sagte Sebastian und mischte die Karten neu.

»Es sind nur noch wenige Tage bis zur Ausstellung«, sprang Anna ihm bei. Da sie von Ines’ Problem wusste, hatte er ihr erzählt, dass sie Schwimmunterricht bei Hannes nahm, und sie ahnte, mit wem sie ihre Abende verbrachte.

»Aber die beiden sind doch noch zusammen?«, fragte Emilia und sah ihren Vater an.

»Wenn es nicht so wäre, dann hätte Marc uns das sicher gesagt«, versicherte Benedikt seiner Enkelin. Er ahnte, dass Sebastian und Anna mehr darüber wussten, aber offensichtlich nichts dazu sagen konnten oder durften. Er wollte sie nicht mit weiteren Fragen in Verlegenheit bringen. »Teil die Karten aus, Sebastian, Emilia und ich wollen auch mal wieder gewinnen«, sagte er und zwinkerte seiner Enkelin zu.

»Da müssen wir uns aber sehr anstrengen, Opa, wir beide stehen mal wieder von Anfang an punktemäßig gesehen an letzter Stelle«, seufzte Emilia und schob die langen Ärmel ihres weißen Sweatshirts angriffslustig nach oben.

Marc lief die Treppe durch den Steingarten bis zur Mitte hinunter, setzte sich dann auf eine Stufe und schaute über das Dorf hinweg. Er fragte sich, warum Ines ihm schon wieder abgesagt hatte. Welche Arbeit war das, die es ihr nicht erlaubte, ihn wenigstens für ein paar Minuten zu treffen?

»Hallo, Marc, was machst du denn da?« Miriam bremste ihr Fahrrad ab, lehnte es gegen die kleine Mauer, die die Wiese des Seefeldgrundstücks zur Straße hin begrenzte, und kam die Treppe herauf. Das läuft ja besser, als ich angenommen habe, dachte sie. Wenigstens hatte sie sich nicht umsonst in diese blöden Klamotten gezwängt. Sie war davon ausgegangen, dass sie Marc unter einem Vorwand aus dem Haus locken müsste; dass sie ihn nun allein vor dem Haus antraf, das war ein Geschenk des Schicksals.

»Hallo, Miriam, trainierst du für ein Fahrradrennen?«, fragte er und schaute auf ihre rote Radlerhose und das rote T-Shirt.

»Nein, ich trainiere nur für mich.« Sie setzte den gelben Helm ab und schüttelte ihre blonden Locken. »Ich dachte, du seist gar nicht da.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil, ich meine, naja, ist auch egal.«

»Was ist egal?«, hakte Marc nach.

»Ich liebe diesen frischen Duft der Koniferen.« Miriam beugte sich über eines der Bäumchen, die am Rande der Treppe wuchsen.

»Miriam, was ist denn los?« Er war sicher, dass sie ihm etwas verheimlichen wollte.

»Gar nichts, ich wundere mich einfach nur, dass du so gar nichts vom Schwimmen hältst.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»Ich meine nur, weil Ines allein am See ist.«

»Ines ist am See zum Schwimmen?«

»Zumindest ist sie heute zur gleichen Zeit wie gestern Abend mit ihrer Badetasche losgezogen. Willst du, dass ich dich zu ihr bringe? Ich kenne die Stelle, zu der sie am liebsten geht.« Dank Harald wusste sie, dass Hannes und Ines wieder in derselben Bucht wie am Tag zuvor waren.

»Warte, ich bin gleich wieder da.« Vielleicht irrte sich Miriam, und Ines war gar nicht zum Schwimmen an den See gegangen, sondern bereitete dort einen Urlaubsprospekt vor. Ich sollte mich nicht von ihr verunsichern lassen, dachte er und wollte ihr schon sagen, dass er nicht mitkommen würde, aber andererseits, was war schon dabei, zum See zu fahren? »Darf ich mir dein Fahrrad leihen, Sebastian?«, fragte er, während er in der Terrassentür stehenblieb und in die Küche schaute.

»Sicher, die Garage ist offen.«

»Danke.«

»Nein, wir fragen nicht, was er vorhat«, sagte Sebastian, als Emilia Marc nachschaute.

»Wir nicht, aber Nolan schon. Nolan, bleib hier!«, rief sie, als der Hund unter dem Tisch hervorschoss und auf die Wiese rannte.

»Was hat er denn jetzt? Er führt sich doch nicht wegen Marc so auf«, wunderte sich Traudel, als Nolan bellend in den Steingarten sauste.

»Ich sehe nach«, sagte Emilia und ging hinaus in den Garten.

»Fang deine Bestie ein! Oder sie macht Bekanntschaft mit meinem Pfefferspray!« Miriam stand am Ende der Treppe und Nolan knurrend ein paar Stufen über ihr.

»Er verteidigt nur sein Zuhause«, erwiderte Emilia, während sie die Treppe hinunterlief und Nolan am Halsband packte.

»Wenn er gut erzogen wäre, wüsste er, dass von mir keine Gefahr ausgeht.«

»Ich werde noch einmal mit ihm darüber reden.«

»Du solltest es ernst nehmen, ich lasse mir von keinem Hund auf der Nase herumtanzen.«

»Ich habe es verstanden, Miriam.«

»Wir können los!«, rief Marc, der auf Sebastians Mountainbike den Weg vom Hof zur Straße hinunterfuhr.

»Schönen Gruß an deinen Vater.« Miriam setzte ihren Helm auf, machte auf dem Absatz kehrt und ging zu ihrem Fahrrad.

»Miriam hat Marc abgeholt«, sagte Emilia, als sie mit Nolan im Schlepptau wieder in die Küche kam.

»Er ist alt genug, er muss wissen, mit wem er sich trifft«, antwortete Traudel, schüttelte dabei aber missbilligend den Kopf. »Du hast einen weitaus besseren Geschmack, mein Kleiner«, wandte sie sich an Nolan und streichelte ihm über den dicken flauschigen Kopf, als er sie mit seinen dunklen Knopfaugen anschaute.

»Traudel, du bist dran«, sagte Sebastian und tippte auf die Karten, die sie in der Hand hielt. Was auch immer Marc bewogen hatte, etwas mit Miriam zu unternehmen, es lag sicher nicht daran, dass er sich plötzlich zu ihr hingezogen fühlte.

*

Die Sonne versank bereits hinter den Bergen, als Marc zusammen mit Miriam den See erreichte. Das Abendrot spiegelte sich auf dem Wasser, genau wie an jenem Abend, als er mit Ines auf dem See war.

Miriam hatte den Weg so gewählt, dass Marc Ines und Hannes gleich aus der Ferne sehen konnte. Sie hoffte, dass dieser Anblick genügte, damit er die von ihr gewünschten Schlüsse zog und erst gar nicht auf die Idee kam, mit den beiden zu reden.

»Verdammt knapper Bikini, ich wusste gar nicht, dass sie solch ein Teil besitzt«, sagte sie und gab sich verblüfft, als Marc auf die beiden aufmerksam wurde, die nebeneinander im knietiefen Wasser standen.

Marc trat auf die Bremse und hielt an, als Hannes ein Stück voraus in den See lief, sich ins Wasser legte und seine Arme nach Ines ausstreckte. Er musste unwillkürlich schlucken, als sie dieser offensichtlichen Aufforderung des Mannes folgte, zu ihm ging und sich neben ihn legte. Dann wandten sie sich einander zu und ließen sich auf dem Wasser treiben.

»Das sieht sehr vertraut aus, sehr sehr vertraut«, betonte Miriam ihre Feststellung. Harald hatte recht, aus der Ferne gesehen musste jeder Beobachter glauben, dass die beiden ein Liebespaar waren, und als sie Marc ansah, wusste sie, dass auch er nicht daran zweifelte, dass es so war. »Tut mir leid, ich weiß, dass das wehtut«, gab sie sich mitfühlend, als er sich von den beiden abwandte.

Deshalb wollte sie mich nicht sehen, dachte Marc, und plötzlich schnürte sich alles in ihm zusammen. »Du hast es gewusst. Warum hast du es mir nicht einfach gesagt? Warum führst du mich hierher?«, wollte er von Miriam wissen.

»Hättest du es mir denn geglaubt?«, fragte sie mit unschuldigem Augenaufschlag.

»Nein, vermutlich nicht.«

»Wie gesagt, es tut mir sehr leid, aber ich denke, so ist es auch für Ines besser. Es erspart ihr lange Erklärungen.«

»Keine Sorge, ich werde es ihr ganz leicht machen. Danke, Miriam, leb wohl«, verabschiedete er sich, wendete das Fahrrad und fuhr in Richtung Wald davon.

Liebe tut eben weh, dachte Miriam und radelte mit zufriedenem Lächeln nach Hause.

Marc hatte keine Ahnung, wo er eigentlich hin wollte. Er fuhr einfach immer weiter, bergauf, bergab, durch den Wald, an einsamen Bauernhöfen vorbei, wieder zurück in den Wald, aber der Schmerz ließ einfach nicht nach. Er fragte sich, wie er sich so in Ines hatte täuschen können, und fand keine Erklärung. Zuerst nahm er sich vor, sie zur Rede zu stellen, aber dann beschloss er, dass er ihre Ausflüchte gar nicht hören wollte. Er wollte sie nur noch vergessen, und damit ihm das auch gelang, würde er in das nächste Flugzeug nach Montreal steigen. Der Atlantik sollte groß genug sein, um diese Enttäuschung hinter sich zu lassen.

Ines ging nach ihrem Schwimmunterricht ganz beschwingt nach Hause. Hannes hatte ihr gezeigt, wie einfach es war, über Wasser zu bleiben. Sie musste sich nur auf den Rücken legen und sich treiben lassen. Um vorwärts zu kommen, genügte es, einfach nur die Füße zu bewegen.

»Wenn du dich erst einmal auf dem Rücken vorwärts bewegen kannst, dann lernst du alles andere ganz schnell«, hatte er ihr versichert.

Als sie zu Hause ankam, stellte sie sich unter die Dusche, kochte sich einen Tee und machte es sich in ihren Bademantel gehüllt im Sessel gemütlich. Vielleicht hat er ja noch Lust vorbeizukommen, dachte sie, und wählte Marcs Handynummer. Da er sich nicht meldete, wartete sie ein paar Minuten und versuchte es dann erneut, aber auch dieses Mal hatte sie keinen Erfolg. Um halb elf versuchte sie es das letzte Mal, danach kam sie zu dem Schluss, dass er vermutlich schon schlief, und bei den Seefelds wollte sie um diese Zeit auch nicht mehr anrufen, um nach ihm zu fragen. Sie mussten alle morgens früh raus. Schließlich schickte sie ihm eine SMS, dass sie sich darüber freuen würde, wenn er sie am nächsten Vormittag in ihrem Büro besuchen würde, danach legte sie die CD mit ihrem Entspannungsprogramm in den CD-Player und setzte die Kopfhörer auf, um den Lektionen besser folgen zu können.

*

»Nolan, was ist denn?« Sebastian schlüpfte in seine Jeans und zog die Tür seines Schlafzimmers auf, weil Nolan immer wieder mit der Pfote gegen die Tür schlug und jaulte.

Der Hund rannte auch gleich zur Treppe, so wie er es immer tat, wenn nachts das Telefon läutete, weil jemand ärztliche Hilfe brauchte. Aber das Telefon läutete nicht.

»Papa, hat er dich auch geweckt?«, fragte Emilia, die in einem überlangen grünen T-Shirt, das sie als Nachthemd trug, aus ihrem Zimmer kam.

»Ich habe keine Ahnung, was los ist«, sagte Sebastian, der auf sein Handy und den Festnetzapparat schaute, der neben dem breiten französischen Bett auf dem Nachttisch lag. Aber er hatte keine Anrufe verpasst. Das Telefon konnte Nolan also nicht in Aufregung versetzt haben. »Vielleicht hat er etwas im Garten gehört. Du bleibst hier.«

»Sei vorsichtig«, flüsterte Emilia, als Sebastian schnell noch ein weißes T-Shirt überzog und dann barfuß die Treppe hinunterging. Auf Zehenspitzen lief sie in ihr Zimmer, kam gleich darauf mit einem Baseballschläger zurück und schlich zur Treppe.

»Was wird das, Marc?«, hörte sie ihren Vater in diesem Moment sagen.

Sofort entspannte sie sich wieder, legte den Baseballschläger auf den Boden und lief die Treppe hinunter.

»Willst du fort?«, fragte sie erstaunt, als sie Marc mit seinem Koffer in der Diele stehen sah.

»Ich fliege nach Hause. Das Taxi wird in einer halben Stunde hier sein.«

»Aber warum willst du fort?«, wollte Emilia wissen.

»Ich brauche Abstand.«

»Abstand zu was?«, fragte Sebastian.

»Zu Ines.«

»Warum?«

»Wusstest du, dass sie mit so einem breitschultrigen Schönling zusammen ist?«

»Das ist Unsinn.«

»Ist es nicht, ich habe die beiden zusammen gesehen. Mir sagt sie ab und mit ihm trifft sie sich. Das, was ich am See gesehen habe, bedarf keiner weiteren Erklärung.«

»Bitte, Marc, sprich mit ihr, bevor du irgendwelche Schlüsse ziehst«, bat Sebastian den Freund. Er war kurz davor, ihm Ines’ Geheimnis zu verraten, aber würde er ihn damit überhaupt überzeugen können, da er doch glaubte, die beiden in einer verfänglichen Situation beobachtet zu haben?

»Ich sagte doch, ich brauche keine Erklärung mehr.«

Er wollte nicht mehr mit ihr reden, er wollte ihr nicht beim Lügen zuhören, deshalb hatte er auch ihre Anrufe ignoriert.

»Dann setz dich wenigstens noch ein paar Minuten mit mir in die Küche, vielleicht kann ich dich doch noch davon überzeugen, dass es eine Dummheit wäre, einfach davonzulaufen.«

»Meinetwegen.«

»Rufe bitte Ines an, sage ihr, was hier los ist«, raunte Sebastian Emilia zu, bevor er Marc in die Küche folgte.

Emilia lief in Sebastians Schlafzimmer und rief von dort aus Ines an, aber so oft sie es auch versuchte, sie meldete sich nicht. Gut, dann muss Anna helfen, dachte sie.

*

»Hallo, Sebastian«, meldete sich Anna, als Sebastians Foto auf ihrem Telefon aufleuchtete, das wie immer neben ihr im Bett lag, damit sie auch nachts für ihre werdenden Mütter erreichbar war.

»Nein, ich bin es«, sagte Emilia und erzählte Anna von Marcs bevorstehender Abreise.

»Er denkt, sie hat einen anderen?«, fragte sie noch einmal nach, um sicher zu gehen, dass sie sich nicht verhört hatte.

»Er hat sie mit einem breitschultrigen Schönling am See gesehen, hat er erzählt. Ich kann Ines nicht erreichen, du musst sie herbringen, An­na.«

»Ich kümmere mich darum«, sagte sie und legte auf.

Ihr war sofort klar, dass mit dem Schönling Hannes Körner, der Schwimmlehrer, gemeint war. Während sie in Jeans und Pullover schlüpfte, rief sie bei Ines an, da sie sich immer noch nicht meldete, zögerte sie nicht länger und fuhr zu ihr.

Im Wohnzimmer des Bauernhauses brannte noch Licht, als Anna wenig später dort eintraf. Sie drückte auf die Klingel und klopfte danach an die Tür, aber es machte niemand auf. Schließlich lief sie um das Haus her­um und schaute durch das Wohnzimmerfenster. Ines saß in ihrem gemütlichen Ohrensessel, hatte Kopfhörer auf und schlief.

Sie lief wieder zur Haustür, rief Ines auf ihrem Handy an und drückte gleichzeitig auf den Klingelknopf. Als das nichts half, hämmerte sie mit der Faust gegen die Tür. Endlich hörte sie Schritte in der Diele.

»Ist etwas mit meinem Großvater?«, fragte Ines mit zitternder Stimme, weil ihr klar war, dass etwas passiert sein musste, wenn Anna so einen Aufstand machte, um sie zu erreichen.

»Nein, nicht mit deinem Großvater. Es geht um Marc, zieh dich an, wir fahren zu Seefelds, du musst Marc von einer Dummheit abhalten.«

»Aber was ist denn?«

»Wir haben es eilig, Ines.« Anna nahm das hellblaue Baumwollkleid, das auf einem Bügel am Dielenschrank hing, und drückte es Ines in die Hand. »Mach, ich erzähle dir unterwegs, was los ist.«

*

»Es ist so weit.« Marc ging zur Haustür, als er das Taxi in den Hof fahren sah.

»Du machst einen Fehler, Marc«, wiederholte Sebastian, was er dem Freund in den letzten Minuten schon so oft gesagt hatte.

»Lass es gut sein, Sebastian, ich weiß, du traust ihr nichts Böses zu, was wohl auch jedem schwer fallen würde, der sie kennt. Aber auch Engel haben ihre Schattenseite.«

»Ja, sicher, aber in diesem Fall liegst du falsch.«

»Anna kommt!«, rief Emilia, die mit Nolan in der Küche am Fenster stand und den Hof beobachtete.

»Endlich«, sagte Sebastian und zog die Tür auf.

»Was soll das?«, fragte Marc, als er Ines aus Annas Auto steigen sah.

»Ich denke, du wirst nicht abreisen. Ich kümmere mich um das Taxi«, erklärte Sebastian.

»Ich muss dir etwas gestehen«, sagte Ines, die sofort zu Marc lief und ihn an die Hand nahm.

»Ich weiß es schon, du musst mir nichts gestehen«, entgegnete er und versuchte, sich von ihr zu lösen.

»Du weißt gar nichts, komm mit.« Sie hatte kaum glauben können, was Anna ihr unterwegs erzählt hatte, aber wie es aussah, war Marc tatsächlich davon überzeugt, dass sie bereits vergeben war und ihm nur etwas vorgemacht hatte.

»Mein Taxi wartet«, sagte er, als sie ihn in den Garten vor dem Haus zog, um mit ihm allein reden zu können.

»Nein, tut es nicht, es fährt gerade wieder fort«, antwortete sie und schaute auf das Taxi, das den hell erleuchteten Hof verließ.

»Ich werde meinen Flug verpassen.«

»Egal, du hörst mir erst einmal zu. Setzen wir uns«, forderte sie ihn auf.

»Und was jetzt?«, fragte er, als sie nebeneinander auf der obersten Stufe der Treppe saßen und über das schlafende Dorf hinwegschauten.

»Bis vor zwei Tagen hatte ich Panik vor offenen Gewässern. Weil ich dich nicht gleich wieder verlieren wollte, wollte ich diese Angst bekämpfen, und ich wollte schwimmen lernen«, gestand sie ihm.

»Das soll ich glauben?«

»Ja, das sollst du glauben. Der Schönling, wie du ihn nennst, ist Schwimmlehrer. Sebastian hat ihn mir empfohlen.«

»Warum hat Sebastian mir das nicht gesagt?«

»Weil ich ihn darum gebeten hatte. Eine Frau, die sich vor Wasser fürchtet, die nicht einmal ein Hausboot betreten würde, was hättest du mit ihr anfangen sollen? Ich wollte erst herausfinden, ob ich es schaffen kann. Schließlich trage ich diese Angst schon fast mein ganzes Leben mit mir herum«, sagte sie und erzählte ihm, was sie empfunden hatte, als sie über die Reise zu den Niagara-Fällen sprachen.

»Ines, es tut mir so leid! Dann auch noch das Missgeschick auf dem See, ich will mir gar nicht vorstellen, was in diesem Moment in dir vorging. Ich hatte doch keine Ahnung, und Miriam ...«

»Miriam? Was ist mit ihr?«

»Sie war bei mir«, sagte er, und dann hörte sie, dass ihre Cousine ihn zum See gelockt hatte. »Sie hat mir bestätigt, was ich zu sehen glaubte, und das tat weh. Verzeih mir, dass ich es einfach hingenommen habe. Du warst bereit, dich für mich mit deinen Ängsten zu konfrontieren, und was mache ich?«

»Du verlässt dich auf das Urteil einer schönen Frau, von der du annimmst, dass sie mich gut kennt.«

»Ich habe mich hinters Licht führen lassen.«

»Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen, dann wären wir nicht in diese Lage gekommen.«

»Dann sollten wir in Zukunft unsere Geheimnisse teilen.«

»Einverstanden.«

»Und vergiss das Hausboot! Wenn du mit mir nach Kanada kommst, dann verkaufe ich es, und wir werden an Land wohnen. Und die Schönheiten meiner Heimat kann ich dir auch auf dem Landweg zeigen.«

»Ich möchte das Leben auf einem Hausboot aber gern einmal ausprobieren, und ich möchte auch richtig schwimmen lernen.«

»Und ich möchte einfach nur, dass du bei mir bist.« Er nahm sie in seine Arme, betrachtete sie mit einem langen Blick und küsste sie. »Wir sollten uns bei Sebastian, Emilia und Anna bedanken, dass sie so tatkräftig eingeschritten sind«, sagte er, als er sie wieder losließ.

»Und danach bringst du mich nach Hause. Ich will mich heute nicht mehr von dir trennen.«

»Das würde ich auch nicht zulassen. Das sieht gefährlich aus«, stellte Marc lachend fest, als sie gleich darauf in die Küche der Seefelds kamen und Traudel in einem schwarzen Seidenmorgenmantel und weißen Pantoffeln mit einem Baseballschläger in der Hand dort antrafen.

»Wollte jemand Einbrecher vertreiben?«, fragte sie und schaute auf Emilia und Sebastian, die zusammen mit Anna am Küchentisch saßen.

»Ich denke, es waren böse Geister, die sie vertrieben haben«, sagte Benedikt, der in seinem Schlafanzug und einem kurzen hellen Morgenmantel hereinkam.

»Könnte es sein, dass Miriam mal wieder diese Geister gerufen hat?«, fragte Emilia und schaute in die Runde.

»Miri ist eben ein bisschen speziell«, seufzte Ines.

»Sehr speziell«, sagte Traudel. »So, und nun koche ich uns einen Kakao, und dann möchte ich wissen, wer hier wen wirklich vertrieben hat. Oder muss ich Nolan danach fragen?« Sie legte den Baseballschläger auf einem Stuhl ab und schaute den Hund an, der mitten in der Küche hockte und von einem zum anderen sah.

»Kakao hört sich gut an«, sagte Emilia.

»Was ist mit euch beiden, ihr seid auch eingeladen«, wandte sich Traudel an Ines und Marc.

»Danke, Traudel, aber Marc bringt mich jetzt nach Hause. Gute Nacht, ihr Lieben, wir danken euch für alles«, sagte Ines.

»Danke, dass du mich vor dieser Dummheit bewahrt hast, Sebastian, bis morgen«, verabschiedete sich Marc und legte seinen Arm um Ines.

»Ich habe von Anfang an gesagt, das passt«, erklärte Traudel und schaute den beiden nach. »Und jetzt zum Thema. Baseballschläger, Dummheit, was war da los?«

»Bevor wir uns darüber unterhalten, habe ich euch auch noch etwas mitzuteilen«, sagte Anna. »Ich wollte eigentlich bis nächste Woche damit warten, aber wenn wir schon mitten in der Nacht hier zusammen sitzen...«

»Willst du Bergmoosbach wieder verlassen?«, fragte Emilia leise, weil sie sich vor der Antwort fürchtete.

»Nein, das will ich nicht, im Gegenteil. Ich möchte dir sagen, dass deine neue Fußballtrainerin gerade neben dir sitzt. Ich habe vor ein paar Tagen meine Lizenz erhalten, und Matthias und der Verein meinen, ich sei eine gute Wahl.«

»Die beste Wahl!«, jubelte Emilia und fiel Anna um den Hals.

»Auch überrascht?«, fragte Benedikt und zwinkerte seinem Sohn zu.

»Angenehm überrascht«, sagte Sebastian und betrachtete Anna und Emilia mit einem nachdenklichen Lächeln.

Eine Stunde später verlöschten im Seefeldhaus die Lichter. Nach dem Kakao mit Honig, den Traudel zubereitet hatte, konnten sie alle wieder gut einschlafen.

Bei Ines und Marc im Bauernhaus aber brannte noch lange Licht, und Miriam, die noch auf war, als die beiden kamen, spürte wieder den Neid, der an ihr nagte, diese wahre Triebfeder ihrer Intrige.

Geschenkt, wenn sie es mit der Liebe unbedingt ausprobieren will, dann ist es eben so, dachte sie, und ganz tief in ihrem Inneren wünschte sie Ines sogar, dass es gut ging. Dass wenigstens eine von ihnen ihr Glück fand.

»Gott, bin ich ein guter Mensch«, flüsterte sie, als ihr dieser Gedanke bewusst wurde, und als sie die Gardinen in ihrem Schlafzimmer zuzog, war sie ganz mit sich im Reinen.

*

Am Sonntagvormittag war alles für die Ausstellung vorbereitet. Marc und Ines hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass jedes einzelne Gemälde gut zur Geltung kam. Eine Stunde vor dem offiziellen Einlass sahen sich Sebastian und Emilia die Ausstellung an. Marc lud währenddessen Ines, Benedikt und Traudel und Korbinian mit seiner Agnes in der Cafeteria zu einem Glas Wein ein. Agnes, eine hübsche Frau, Ende sechzig, die in ihrem hellen Dirndl noch eine jugendliche Figur machte, war Ines und den anderen sofort sympathisch, und so wie Agnes Korbinian anschaute, wusste Ines, dass sie ihn wirklich gern hatte.

»Wir dürfen euch doch gemeinsam in Kanada besuchen?«, fragte Korbinian, legte seinen Arm um Agnes’ Schultern und schaute den jungen Mann in dem dunklen Anzug und seine Enkelin, die ein hübsches weißes Dirndl trug, abwartend an.

»Ihr seid uns jederzeit willkommen«, sagte Marc, der überglücklich war, dass Ines bereits ihren Job an Lydia übergeben hatte und ihn in ein paar Tagen nach Montreal begleiten würde.

Als Miriam und ihre Eltern wenig später dazu kamen, stellte Korbinian Agnes als seine Verlobte vor. Carola wurde kreidebleich, Gernot starrte seinen Vater entsetzt an und Miriam fühlte sich darin bestätigt, dass alle ihr Glück fanden und nur sie das Nachsehen hatte.

Anna bekam von alledem nichts mit. Sie stand am Eingang zum Ballsaal und betrachtete Helenes Gemälde aus der Ferne. Sie muss ein wundervoller Mensch gewesen sein, warmherzig und liebevoll, dachte sie. Dann schaute sie auf Emilia, die das Kleid mit dem Traumfängermuster trug, das ihre Freundin ihr geschickt hatte, und sie sah auf Sebastian, der in seinem maßgeschneiderten dunklen Anzug und dem weißen Hemd noch anziehender als sonst auf sie wirkte. Vater und Tochter betrachteten schon eine ganze Weile dasselbe Bild.

Die Sonne stand in diesem Moment direkt über der Glaskuppel und tauchte den Saal in sanftes helles Licht. Die Berge mit ihren Wäldern, die Seen und Flüsse auf den Bildern, die Menschen, die Helene in diese Landschaft eingefügt hatte, alles erschien auf einmal irgendwie lebendig.

»Was ist das Besondere an diesem Bild, Papa, warum konntest du es nicht gleich auspacken?«, hörte sie Emilia fragen, und dann zog sich die junge Hebamme, die in dem hellgrünem Dirndl so wunderschön aussah, leise zurück.

»Ich kann mich noch genau an den Tag erinnern, als sie es malte«, sagte Sebastian.

»Wie alt war ich damals?«, fragte Emilia und betrachtete den jungen Mann, der nur mit einer Jeans bekleidet im Schneidersitz unter einem roten Ahornbaum im Gras saß und ein Baby in einem gelben Samtkleidchen in seinen Armen wiegte.

»Du warst genau drei Monate alt. Wir hatten dich ständig fotografiert und gefilmt, das ist das erste Bild, das sie von uns gemalt hat.«

»Wir sehen glücklich aus.«

»Wir waren glücklich, wir drei waren glücklich.«

»Ach, Papa, sie fehlt mir so sehr«, seufzte Emilia.

»Mir auch, mein Schatz«, sagte Sebastian und legte den Arm um seine Tochter.

Die Ausstellung wurde ein großer Erfolg, und die Gemeinde schlug vor, sie um einige Wochen zu verlängern. Sebastian stimmte zu, nur dieses eine Bild, das ihm so sehr am Herzen lag, nahm er noch am selben Abend mit nach Hause, und er bat darum, dass der Gewinn, den sie mit der Ausstellung erwirtschafteten, den Kindern in der Gemeinde zugute kam, deren Eltern sich nicht allzu viel leisten konnten.

– E?N?D?E?–

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