Читать книгу Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 31
Оглавление»Heute ist der Tag, heute kommt sie!«, verkündete Gertrud Fechner mit Grabesstimme. Die rundliche ältere Frau starrte düster in ihre Kaffeetasse. Ihre hellblauen Augen, die sonst einen fröhlichen oder auch energischen Ausdruck hatten, guckten finster.
»Gerti, jetzt reiß dich zusammen!«, antwortete ihre Schwester streng. Sieglinde war vier Jahre älter als ihre Schwester Gertrud, frisch pensionierte Oberstudienrätin, und hatte keine Geduld mit unbegründeten Ängsten und Jammerei.
»Du verstehst mich nicht!« Gerti schaute ihre Schwester anklagend an. Konnte sie nicht ein wenig Mitgefühl erwarten?
»Nein, tue ich auch nicht!« Sieglinde setzte sich, falls das überhaupt möglich sein sollte, noch ein wenig aufrechter hin. »Du tust, als sei heute der Tag deiner Hinrichtung. Dabei bekommst du nur eine neue Kollegin zu Seite.«
»Nur!« Gerti schnaubte empört durch die Nase. »Du hast ja keine Ahnung! So ein junges Ding, noch keine dreißig Jahre, mit gefärbten Haaren und einem Tattoo! Wird alles besser wissen und anders machen wollen, als es in den vergangenen Jahrzehnten bestens funktioniert hat, erst beim alten Doktor und jetzt bei seinem Sohn. Denk doch nur an den Umgang mit dem Computer! Immer neue Programme, immer ist alles anders. Ich hasse das! Früher hatten wir unsere Karteikästen und Kalender und Stifte, das funktionierte problemlos.«
»Früher hatten wir auch einen Kaiser«, schnitt ihre Schwester ihr das Wort ab. »Der Computer ist kein Hexenwerk, und du kannst ganz gut mit ihm umgehen. Hör auf mit dieser Schwarzseherei! Denk mal an deine neue Kollegin, wie sie sich jetzt wohl fühlen mag, das arme Ding. Muss sich neben einer gestandenen Frau behaupten, der guten Seele der Praxis Seefeld. Jahrzehnte der Erfahrung! Das ist doch auch nicht ganz einfach für diese junge Frau.«
»Na, wenn du meinst …«, grummelte Gerti.
Sie war zwar noch nicht ganz überzeugt, aber die geschickten Worte ihrer Schwester hatten doch einige ihrer Ängste beschwichtigt. Ihr Appetit erwachte, und sie gönnte sich noch eine Tasse Kaffee und eine Semmel. Schließlich wollte sie gut gerüstet in diesen Tag gehen, der sie vor ganz neue Herausforderungen stellte.
Und vor Herausforderungen war Gerti Fechner, die zuverlässige rechte Hand Doktor Sebastian Seefelds, noch nie zurückgeschreckt!
Der junge Landdoktor, Nachfolger seines Vaters Benedikt Seefeld, saß an seinem Schreibtisch, neben sich einen starken Kaffee, und unterdrückte ein gewaltiges Gähnen. Er war heute Nacht zu einem asthmakranken Kind auf ein abgelegenes Gehöft gerufen worden, und ihm fehlte Schlaf. Aber das war er gewohnt, dafür würde er heute Abend etwas früher ins Bett gehen und auf einen ununterbrochenen Nachtschlaf hoffen.
Heute war also der erste Arbeitstag seiner neuen Angestellten. Doktor Seefeld blätterte noch einmal durch die Unterlagen der jungen Frau. Caroline Böttcher stammte aus Bergmoosbach und hatte in Kempten ihre Ausbildung in einer Kinderärztlichen Gemeinschaftspraxis absolviert, wo sie anschließend ein paar Jahre gearbeitet hatte. Im Anschluss daran war sie in der Notaufnahme der Uniklinik München tätig gewesen. Die junge Frau verfügte über vielfältige Erfahrung, hatte erstklassige Zeugnisse, und immer wurde ihr freundliches Wesen im Umgang mit Patienten lobend erwähnt.
Sebastian Seefeld nickte zufrieden und schloss den Ordner mit ihren Unterlagen. Ja, er hatte eine gute Entscheidung getroffen. Ein leises Lächeln glitt über sein markantes Gesicht, als er an die Skepsis seiner Praxisperle Gerti dachte. Er war sicher, dass auch sie sich bald an ihre junge Kollegin gewöhnt haben würde.
Der Arzt ging zum Annahmetresen hinüber, der wie immer weit vor Beginn der offiziellen Sprechstunde mit der zuverlässigen Gerti besetzt war. Er nickte ihr freundlich zu und bat die erste Patientin des Tages, die einen eingeschobenen Termin hatte, ins Sprechzimmer.
»Grüß Gott, Frau Sonnleitner. Wie geht es Ihnen heute Morgen?«
»Ja, mei, schlecht, Herr Doktor, sonst wär ich doch nicht gekommen, bei der vielen Arbeit, die ich hab!«, klagte die Frau und drückte die Hand auf ihren schmerzenden Bauch.
Der Landdoktor musterte sie genau. »Wieder Beschwerden wegen der Galle?«, fragte er ernst.
Die rundliche Frau nickte bekümmert.
»Frau Sonnleitner, wie oft sollen wir uns denn noch über immer dasselbe unterhalten?« Sebastian Seefeld klang nicht unfreundlich, aber sehr streng. »Wenn Sie sich nicht umgehend die Gallenblase entfernen lassen, wird sich Ihr Zustand immer weiter verschlechtern. Ich kann das nicht mehr verantworten! Ich weiß, dass wir Hauptsaison haben und Ihr Hotel voll belegt ist, aber Ihre Gesundheit sollte doch wohl vorgehen!«
Die Besitzerin des Hotels und sehr guten Restaurants Sonnenhof wirkte zerknirscht. »Ich weiß doch, Herr Doktor, aber heut …«
»Kein aber, Frau Sonnleitner!« Sebastian Seefeld, der ein einfühlsamer und geduldiger Arzt war, beschloss, dass nun Zeit für harte Worte war. »Im schlimmsten Fall perforiert die Gallenblase, Gallenflüssigkeit tritt in die Bauchhöhle und führt zu einer Bauchfellentzündung. Das wiederum kann zu einer Sepsis führen, und die könnte tödlich enden. Die heutige Medizin kann sehr viel heilen, aber wenn es zu spät ist, sind die Ärzte machtlos. Und bei Ihnen ist es bereits fast zu spät, Frau Sonnleitner!«
»Jesses!« Zenzi Sonnleiter schnappte nach Luft. »Das bedeutet …?«
Doktor Seefeld griff zum Telefon. »Ich werde Sie sofort ins Krankenhaus einweisen und einen OP-Termin für Sie vereinbaren. Und Sie werden mit dem Krankenwagen fahren, damit Sie unter ständiger medizinischer Aufsicht sind. Sie legen sich jetzt auf die Liege und rufen Ihren Mann an, der Krankenwagen ist gleich hier.«
Zenzi Sonnleiter war sehr blass geworden und ließ sich ohne ein weiteres Wort vom Arzt in den Nebenraum führen. Dort half Sebastian Seefeld der Kranken auf eine Liege und schob ihr ein Kissen unter den Kopf. »Das wird schon«, sagte er und drückte seiner Patientin beruhigend die Hand. »Sie sind eine starke Frau, die jetzt nur ein bisschen übers Ziel hinaus geschossen ist. Mit einer sofortigen OP und anschließender Schonung sind Sie bald wieder auf den Beinen. Organisieren Sie jetzt Ihre persönlichen Sachen, ich kümmere mich um alles andere.«
In diesem Moment öffnete sich die Tür, und eine junge Frau trat ein, die eine leichte Wolldecke über dem Arm trug. »Grüß Gott, Doktor Seefeld. Ich wollte mich eigentlich erst bei Ihnen melden, aber ich glaube, Sie brauchen mich jetzt hier?«, sagte sie mit einem fragenden Blick auf die Patientin, die zitternd auf der Liege lag.
»Caroline! Gut, dass Sie hier sind, wir klären alles andere später. Betreuen Sie bitte Frau Sonnleitner, ich telefoniere mit dem Krankenhaus.« Er ging rasch in das andere Zimmer hinüber und ließ die Tür halboffen stehen. So konnte er aus den Augenwinkeln verfolgen, wie sich seine neue Praxishelferin in dieser Krisensituation verhalten würde.
»Guten Tag, Frau Sonnleitner«, sagte die junge Frau mit ruhiger, freundlicher Stimme. »Ich bin Caroline Böttcher, die neue Sprechstundenhilfe, man nennt mich Caro. Ich werde mich um Sie kümmern, bis der Krankenwagen kommt. Wenn Sie möchten, kann ich es Ihnen ein bisschen bequemer machen.« Ganz beiläufig fühlte sie Zenzis Puls, hielt kurz die eiskalten Hände der anderen Frau in ihren eigenen warmen, zog ihr die Schuhe aus und wickelte sie in eine weiche Wolldecke. Dabei plauderte sie ruhig von alltäglichen Kleinigkeiten und ließ sich von Frau Sonnleitner einige Dinge nennen, die ihr ins Krankenhaus gebracht werden sollten. »Ich kümmere mich darum, dass Ihr Mann die Liste bekommt«, versprach sie.
»Mei, woran Sie alles denken! Bei mir ist grad alles konfus im Kopf«, sagte Frau Sonnleitner. »Da tut es gut, wenn sich mal ein anderer kümmert.«
»Dafür sind wir da«, antwortete Caro schlicht.
»Ich musste doch so lang warten, bis die Agentur einen Ersatz für unseren Koch schickt, der fällt wegen seines Bandscheibenvorfalls aus. Jetzt kommt einer aus München, Felix Messner heißt er. Der hat in großen Häusern gearbeitet und sehr gute Zeugnisse, er wird es hoffentlich richten.«
»Felix Messner?« Caro horchte auf. »Der Koch Felix Messner aus München?« Ein kleines, sehr privates Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Ja, der wird’s bestimmt richten!«
»Ach, kennen Sie ihn?«
»Ja. Die Küche Ihres Sonnenhofs ist bei ihm in guten Händen!«
»Dann werde ich wohl darauf vertrauen müssen«, seufzte die geplagte Hotelbesitzerin.
Caro drückte ihr noch einmal beruhigend die Hand und begleitete die Frau zum Krankenwagen hinaus, der inzwischen eingetroffen war. »Alles Gute, Frau Sonnleitner! Wir hören von einander.«
Nachdem Doktor Seefeld seine Patientin an die Kollegen übergeben hatte, sagte er zu seiner neuen Mitarbeiterin: »Ich hoffe, ich habe Frau Sonnleitner mit meinen klaren Worten nicht zu sehr erschreckt. Alle Vorgespräche hatten nichts bewirkt, da musste ich es so versuchen.«
»Sie hat’s schon richtig verstanden, und ihr langes Zögern tut ihr leid, das soll ich Ihnen extra ausrichten. Frau Sonnleitner wollte nur noch die Nachricht der Agentur abwarten, die den Ersatzmann für ihren Koch schickt.«
Sebastian Seefeld seufzte. »Und diese Nachricht konnte natürlich nur die Chefin persönlich entgegen nehmen?«
Caro lächelte leicht. »Manche Dinge tut man eben am liebsten selbst.«
»Es tut mir leid, dass Ihr Anfang hier ein wenig turbulent ausfiel, Caroline«, sagte Doktor Seefeld.
»Das ist völlig in Ordnung, und bitte nennen Sie mich Caro«, antwortete die junge Frau.
»Sie waren professionell und einfühlsam, Ihr Einstand hat mir gefallen, Caro«, sagte der Landdoktor anerkennend. Dann griff er nach der nächsten Patientendatei und bat Herrn Draxler hinüber ins Sprechzimmer.
Die junge Frau setzte sich neben ihre ältere Kollegin Gerti. »Was möchten Sie, dass ich jetzt erledige?«, fragte sie diplomatisch.
»Gehen wir die Liste mit den Hausbesuchen durch, zu denen Sie den Doktor heute begleiten.«
*
Zu einem der schönsten Gebäude Bergmoosbachs gehörte das sogenannte Kapitänshaus. Es war ein weißer Fachwerkbau auf einem Sockel aus Feldsteinen, hatte ein Dach aus grauen Schieferplatten, grüne Fensterläden und Türen und war von einem schönen Staudengarten umgeben. Im ersten Stock gab es einen umlaufenden Balkon aus dunklem Holz, in dessen Kästen eine Vielzahl an Blumen wuchs, und alle diese Blumen leuchteten weiß: Geranien, Sommerjasmin, Männertreu, duftende Nelken, zierliche Rosensorten und Schleierkraut.
Besitzerin dieses Hauses war die kinderlose Witwe Magdalena Albers, ein echtes Bergmoosbacher Original. Um diese sehr alte Frau rankten sich unzählige Geschichten: um ihren großen Reichtum, ihren eigenwilligen Lebensstil, ihr Kräuterwissen, ihre skandalöse Liebesgeschichte und Ehe mit Kapitän zur See Heinrich Albers, dem 'Fremden' aus Norddeutschland.
Caro war mit diesen Geschichten aufgewachsen und kannte auch das Haus gut, in dessen Einfahrt sie jetzt mit dem Landdoktor stand. Doktor Seefeld hatte die junge Frau über das Herzklappenleiden seiner eigenwilligen Patientin informiert. Magdalena Albers verweigerte eine Operation, und es war abzusehen, dass sie nur noch eine kleine Spanne Lebenszeit vor sich hatte. Besorgt fragte Caro sich, in welchem Zustand sie die alte Dame antreffen würden.
Nach dem Läuten war eine gewisse Zeit vergangen, und sie wollten schon ein zweites Mal an dem altmodischen Glockenstrang ziehen, als die Tür schwungvoll geöffnet wurde und die beiden Besucher einem jungen Mann gegenüber standen.
»Caro!«
»Felix!«
Doktor Seefeld musterte den jungen Mann überrascht, der seine Sprechstundenhilfe umarmt und auf die Wange geküsst hatte. Felix war groß und schlank, mit blonden Haaren und blauen Augen, und er hatte eine freundliche und sehr sympathische Ausstrahlung.
»Grüß Gott, Herr Doktor! Ich bin Felix Messner, der Großneffe von Frau Albers«, stellte der junge Mann sich vor. »Bitte, kommen Sie herein.«
»Wir, ähm, wir kennen uns aus München«, fügte Caro erklärend hinzu.
Er führte sie in eine große Stube, die übervoll mit antiken Möbeln und Krimskrams war. In einem bequemen Korbsessel bei den geöffneten Terrassentüren saß Magdalena Albers. Auch im hohen Alter Mitte der Neunzig war sie noch eine imposante Erscheinung mit blitzenden dunklen Augen und ihrem rot gefärbtem Haar, das zu einer Flechtfrisur aufgesteckt war. Sie trug ein lavendelfarbiges Dirndl, dazu eine Jeansjacke und ein Brillantcollier, das durchaus echt aussah. Neben ihr turnte ein farbenprächtiger Papagei auf seiner Sitzstange herum, der »Doktor! Doktor!« krächzte, als er den Landarzt bemerkte.
»Guten Abend, Frau Albers, und guten Abend, Kondor!«, grüßte Sebastian Seefeld höflich. »Frau Albers, wie geht es Ihnen heute?«
Anstatt zu antworten, schaute die alte Dame Doktor Seefelds Begleitung scharf an. »Blaue Haarsträhnen, freche Kleidung, ein Tattoo und freundliche Augen. Madl, du passt hier her!«
»Ähm, danke, ich bin übrigens Caroline«, stotterte die junge Frau überrascht.
»Weiß ich doch! Du bist die Böttcher Caro, die früher meinen Kondor mit Erdnüssen vollgestopft hat«, sagte die alte Dame nicht unfreundlich.
»Hört, hört! Davon hast du mir gar nichts erzählt«, schmunzelte Felix.
»Du ja auch nichts von deiner Großtante«, konterte Caro. Sie griff nach den Unterlagen in ihrer Mappe und setzte einen höchst professionellen Gesichtsausdruck auf. Ihr Chef sollte nicht von ihr glauben, dass das jetzt zu einem privaten Besuch wurde!
Sie überprüften Puls, Herzschlag und Atmung ihrer Patientin, und Doktor Seefeld stellte ein neues Rezept aus. »Sie haben jemanden hier, der Ihnen die Tabletten besorgt? Sonst sage ich in der Apotheke Bescheid, und sie werden Ihnen geschickt.«
»Mei, die paar Meter schaffe ich wohl noch allein!«, antwortete Magdalena stolz.
»Ist schon recht, Frau Albers, nur aufpassen, dass Sie sich nicht überanstrengen!«, mahnte Sebastian Seefeld geduldig.
Felix hatte sich zu Beginn der Untersuchung in die Küche zurückgezogen. Jetzt kam er mit einem großen Tablett, auf dem er eine Brotzeit angerichtet hatte, zurück. »Möchten Sie mit uns eine Kleinigkeit essen?«, bot er freundlich an.
Die Wurst- und Käsebrote mit ihren Beilagen waren sehr verlockend angerichtet, aber der Arzt lehnte dankend an. Auf ihn warteten noch andere Patienten, und er wollte nicht zu spät zu Hause sein. »Wie ist es mit Ihnen, Caro? Ihr erster Arbeitstag war lang genug. Wenn Sie möchten, können sie gern hierbleiben, ich kann die Runde auch allein abfahren«, bot er freundlich an.
»Danke, nein!«, lehnte Caro bestimmt ab. »Die Hausbesuche gehören mit zu meiner Arbeit, und ich höre erst auf, wenn wir die Runde beendet haben. Danach kann ich ja wiederkommen, wenn du dann noch hier bist, Felix.«
»Für die Zeit, in der ich im Sonnenhof arbeitete, wohne ich hier«, erklärte Felix und fügte leise hinzu: »So habe ich auch mehr Zeit, mich um meine Großtante zu kümmern. Ich glaube, dass es gut für sie ist, sie hat in den letzten Wochen stark abgebaut.«
Doktor Seefeld nickte ernst. »Es ist gut, dass Sie hier sind.«
Plötzlich stand Magdalena neben ihnen, sie hatten ihre Schritte in den weichen Hausschuhen nicht gehört. Kondor balancierte auf ihrer Schulter und knabberte zärtlich an ihren aufgesteckten Flechten. Ihr Gesichtsausdruck wirkte seltsam weggetreten, so als konzentriere sie sich auf etwas, das die anderen nicht sehen oder hören konnten. Dabei starrte sie Caro unverwandt an. »Die falsche Unschuld! Hüte dich vor der Macht der Sanften!«, murmelte sie.
Verunsichert wich die junge Frau einen Schritt zurück. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, dass Magdalena das Zweite Gesicht habe. Hatte sie eben eine Warnung ausgesprochen, oder waren es Anzeichen von Demenz?
Dann schien die alte Dame aus ihrer Trance zu erwachen. Sie schaute in die Runde, bedankte sich höflich bei dem Arzt für seinen Besuch und verabschiedete sich. Mit vorsichtigen Schritten stieg sie über die Eingangsstufen in ihren Garten hinunter, um ihren Abendspaziergang zu machen. »Doktor! Doktor! Ade, ade!«, krächzte Kondor, dann schmiegte er seinen Kopf gegen die Wange der alten Frau. »Liebling, Liebling.« Es klang fast wie ein Lied.
»Ähm, ja, so ist das nun«, sagte Felix. Er legte kurz den Arm um Caros Schultern. »Ich hoffe, meine Großtante hat dich nicht erschreckt?«
»Dazu gehört schon mehr!«, antwortete die junge Frau. »Wir sehen uns nachher hier?«
»Ja, gerne, ich freu mich drauf.«
Es waren noch drei Hausbesuche zu machen, danach fuhren der Arzt und die sehr schweigsame Praxishelferin wieder in den Ort zurück. »Glauben Sie an das Zweite Gesicht?«, fragte Caro plötzlich.
Doktor Seefeld überlegte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich. »Ich glaube nicht daran, dass man grundsätzlich die Zukunft vorhersagen kann. Aber es gibt so vieles zwischen Himmel und Erde, was wir nicht erklären können; vielleicht gibt es Menschen, die einfach mehr wahrnehmen als andere?«
»So wie Magdalena Albers?«
»Wer weiß?« Der Landdoktor fuhr schweigend auf die Zufahrt zum Kapitänshaus und ließ dort die junge Frau aussteigen. »Sie haben sich gut gemacht an ihrem ersten Tag, Caro! Ich wünsche Ihnen einen schönen Feierabend. Bis morgen!«
»Bis morgen, Doktor Seefeld, und gute Nacht!«
*
Magdalena hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und lag bereits im Bett. Ihr Blick war auf die großen Fenster gerichtet, die sich zum Garten öffneten. Die alte Dame lauschte dem friedlichen Auf und Ab der beiden Stimmen, die leise zu ihr hereinklangen. Felix hatte Besuch von dieser freundlichen Sprechstundenhilfe, dieser Caro. Magdalena lächelte in sich hinein. »Kondor«, murmelte sie zufrieden, »ich wette, diese beiden sind mehr als nur eine nette Bekanntschaft aus Münchner Zeiten.«
»Liebling, Liebling«, schnarrte der Papagei, der auf dem Kopfteil ihres Bettes thronte.
»Du sagst es!« Magdalena schloss die Augen und überließ sich ihren Träumen, in denen sie in wunderbarer Weise ihr Leben mit ihren geliebten Heinrich weiterlebte.
Vom Garten des Kapitänshauses hatte man einen herrlichen Ausblick auf die majestätischen Alpen, die sich blau im Dunst des Sommerabends erhoben. Schwalben flogen ihre eleganten Flugbahnen und erfüllten die Luft mit ihren hellen Rufen. Es duftete nach sommerwarmer Erde und dem Geißblatt, das die Veranda des alten Hauses umrankte.
»Schön ist es hier«, sagte Caro. Sie saß in einem bequemen Korbstuhl, hatte die Sandalen ausgezogen und ihre Füße auf einen anderen Stuhl gelegt.
Felix schaute sie mit einer Zärtlichkeit an, die ihren Herzschlag beschleunigte. Er musterte ihre glänzenden, brünetten Haare mit den beiden kobaldblauen Strähnen, welche das Gesicht umrahmten. Die junge Frau trug ein ärmelloses, schwarz-weiß kariertes Kleidchen, wie es in den sechziger Jahren modern gewesen war.
»Du hast es in einem Secondhand-Laden gefunden?«, riet er.
»Natürlich; wie das meiste, was ich trage.«
Felix griff nach ihrer Hand und strich zart mit seinem Daumen über ihre Finger. »Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Caro lachte leise. »Warum sollte ich? Du klingst, als hätten wir uns vor Jahrzehnten getrennt, dabei ist es doch erst ein gutes Jahr her.«
»Haben wir uns eigentlich wirklich getrennt?«, fragte er nachdenklich. »Wir telefonieren und schreiben uns, der Kontakt ist nie ganz abgebrochen.«
»Stimmt.« Caros Hand kuschelte sich in seine, und beide dachten an ihre gemeinsame Zeit in München zurück.
Caroline und Felix hatten sich in der Notfallambulanz kennengelernt, als der Koch dort wegen einer allergischen Reaktion behandelt werden musste. Die beiden waren sich auf Anhieb sympathisch. Aus der gegenseitigen Zuneigung wurde Verliebtheit, und das Paar erlebte eine leidenschaftliche und unkomplizierte Zeit der Zweisamkeit. Sie waren glücklich in der Gegenwart und schmiedeten keine Zukunftspläne. Als Felix zu einer Fortbildung nach Paris flog und den Aufenthalt dort auf mehrere Monate verlängerte, war das keine große Sache zwischen den beiden. Auch Cao überlegte eine berufliche Veränderung, und irgendwann ging ihre Beziehung sanft und ohne große Trauer auseinander.
»Warum hast du dich ausgerechnet in eine Landarztpraxis beworben?«, fragte Felix. »Nach dem Betrieb in der Uniklinik München ist das doch wirklich ein Kontrastprogramm.«
»Genau deswegen! Ich mag Menschen und möchte sie bei meiner Arbeit auch über einen längeren Zeitraum begleiten. In einer Landarztpraxis habe ich dazu die Möglichkeit. Hier können wir Patienten wie deine Großtante viel individueller betreuen als in einer Großstadt.«
»Tante Magdalena mag dich.« Felix’ Blick umfasste Caros ausgefallenes Kleid, das zarte Tattoo, das sich über den Spann des linken Fußes erstreckte, ihre Frisur. Er lachte leise auf. »Irgendwie seid ihr beide schräge Vögel.«
»Stimmt wohl. Ich weiß noch, wie sie in meiner Kindheit mit ihrem eigenwilligen Kleidungsstil für Gesprächsstoff gesorgt hat. Und ich konnte sie so gut verstehen! Ich fand auch das meiste, was es zu kaufen gab, langweilig.«
»Na, da habt ihr aber beide das Beste aus der Situation gemacht«, schmunzelte Felix. Seine Hand hielt immer noch die der jungen Frau umfasst, und er stellte gerührt fest, wie vertraut und richtig es sich anfühlte.
»Ich sollte jetzt gehen«, unterbrach Caros Stimme die abendliche Stille. »Morgen muss ich früh raus.«
»Wo wohnst du denn jetzt? Du bist doch nicht wieder in dein Elternhaus gezogen?«
»Nein, ich habe eine kleine Wohnung etwas außerhalb Bergmoosbachs gemietet.«
»Dann fahre ich dich jetzt nach Hause.« Der Gedanke, sich jetzt von Caro trennen zu müssen, legte sich wie ein Gewicht auf die Schultern des jungen Mannes. Plötzlich wünschte er sich ihre Münchner Zeit zurück, er wünschte sich Caroline zurück.
»Du brauchst mich nicht zu fahren. Ich habe eine Vespa, die drüben beim Doktorhaus steht, damit bin ich schnell zu Hause.«
»Schade! Dann bringe ich dich eben nur zur Praxis.«
Der Weg hinüber zum Doktorhaus dauerte keine zehn Minuten, was beide insgeheim bedauerten. Es war so vertraut, nebeneinander zu gehen, mit Felix’ Arm auf Caros Schultern und ihrem um seine Taille.
Auf dem Parkplatz des Doktorhauses stand Caros alte rote Vespa. Felix lachte leise auf, als er das altmodische Gefährt sah. »Hast du dir endlich deinen Traum erfüllt!«
Caro lächelte ihn an, und er sah Sternenlicht in ihren grünen Augen funkeln.
»Man sollte nicht zu lange damit warten, sich seine Träume zu erfüllen«, sagte sie leise.
»Sind da noch mehr unerfüllte Träume, Caro?«
Jetzt tanzte das Sternenlicht in ihren Augen. »Ja, den einen oder anderen gibt es vielleicht.«
Felix hob die Hand zu ihrem Gesicht, strich über eine Schläfe und zog sanft eine blaue Haarsträhne durch seine Finger wie ein Seidenband. »Gute Nacht, Caro.«
»Gute Nacht, Felix.«
Langsam verklang das Geräusch ihrer Vespa in den Straßen des schlafenden Ortes.
*
»Grüß Gott! Ich bringe Ihnen die Lieferung für diese Woche.« Der Bote vom Blumengeschäft Tausendschön legte die eingewickelten Sträuße auf den Tresen der Arztpraxis. Jeden Montag ließ Doktor Seefeld frische Blumen liefern, einen Strauß für die Anmeldung, zwei für die Fensterbänke des Wartezimmers und einen für seinen Schreibtisch im Sprechzimmer.
»Danke, Hans-Peter«, antwortete Gerti und wollte schon nach der Quittung greifen, um sie zu unterschreiben, als der Bote noch einen weiteren Strauß aus seiner Transportbox holte.
»Und hier ist noch ein Strauß für eine Frau Böttcher«, sagte er.
»Vom Doktor?«, fragte Gerti ungläubig.
»Nein, das ist ein anderer Auftrag«, kam die Erklärung.
»Und von wem ist der?« Anonyme Blumen in ihrer ordentlichen Anmeldung, das kam für Gerti nicht infrage!
Hans-Peter zuckte desinteressiert mit den Schultern. Er war ein Schüler, der mit diesem Job sein Taschengeld aufbesserte, wer was für wen bestellte, war ihm völlig egal. »Keine Ahnung, vielleicht ist eine Karte mit im Papier?«, sagte er, und dann verzog er sich rasch. In der Arztpraxis roch es schwach nach Desinfektionsmittel und wo es so roch, waren Spritzen mit langen Nadeln nicht weit, und vor denen hatte Hans-Peter einen Heidenrespekt.
»So was! Bekommt Blumen an den Arbeitsplatz geliefert!«, knurrte Gerti leise vor sich hin. Sie trug die gewohnten Sträuße hinüber in die kleine Teeküche, wo auch die Vasen aufbewahrt wurden, nur den Strauß für ihre Kollegin ließ sie auf deren Schreibtisch liegen.
»Gerti, sag, hast du denn auch schon einmal Blumen von einem Verehrer in die Praxis geschickt bekommen?« In der Tür zu Teeküche stand Afra, sozusagen Bergmoosbachs Buschtrommel. Sie hatte im Wartezimmer gesessen und die Blumenlieferung mit großem Interesse verfolgt.
»Nein, habe ich nicht«, antwortete Gerti kühl. »Und setz dich bitte wieder hin, hier hat nur Personal Zutritt.«
»Ich bin ja gar nicht in der Küche, ich stehe davor!«, verteidigte Afra sich.
»Setz dich trotzdem wieder hin!« Das war Gertis Vorzimmer-Kommandostimme, der Afra sich lieber fügte. Von ihrem Platz aus konnte sie sowieso hervorragend zusehen, wenn diese Neue, diese flippige Caro, ihren Strauß auswickeln und die Karte lesen würde.
Caro kam aus dem Behandlungszimmer an den Tresen zurück und übersah zunächst den Strauß. »Der wurde eben für Sie hier abgegeben«, sagte Gerti mit einem unüberhörbaren Vorwurf in der Stimme. Beruf war Beruf, und Privat war Privat, das hatte man nicht zu vermischen!
»Blumen für mich? Wie nett!«, antwortete Caro und entfernte gut gelaunt das Einwickelpapier. Zum Vorschein kam ein rund gebundener, knuffiger Strauß Vergissmeinnicht, der mit einem grünen Seidenband zusammengebunden war. »Ach …«, sagte Caro leise und ließ mit einer träumerischen Geste das Schleifenband durch ihre Finger gleiten.
So wie Felix an jenem Abend ihre Haarsträhne durch seine Finger gezogen hatte.
»Ist gar keine Karte dabei? Woher weißt du denn, von wem die Blumen sind?«, erkundigte Afra sich von ihrem Logenplatz.
»Dazu brauche ich keine Karte«, lächelte Caro. Sie stellte den Strauß in einer Vase auf ihren Schreibtisch, und für sie leuchtete das Blau der Vergissmeinnicht heller als der Sonnenschein.
»Grüß Gott, alle miteinander!«, klang eine alte Frauenstimme von der Tür herüber.
»Frau Albers!« Caro und Gerti hatten gleichzeitig den Tresen umrundet und nahmen die alte Dame in Empfang. »Warum sind Sie denn gekommen? Der Doktor macht doch Hausbesuche!«
»Ich wollte halt ein bisschen spazieren gehen, und dann kann ich auch gleich das Rezept für das Mittel gegen meine Arthrose abholen«, erwiderte Magdalena. Wie immer hatte ihre treue Haushälterin die roten Haare geflochten und aufgesteckt, und wie immer trug die alte Dame kostbaren Schmuck. Sie stützte sich nur leicht auf ihren Gehstock aus Ebenholz mit dem silbernen Griff, und ihr schmales Gesicht hatte eine gesunde rosige Farbe.
»Der Spaziergang scheint Ihnen wirklich gut bekommen zu sein«, stellte Gerti fest.
»Es geht mir auch gut, ich bin halt nur ein bisschen müde.«
»Dann setzen Sie sich bitte, wir kümmern uns um Ihr Rezept.« Caro führte die alte Dame zu einem Stuhl, und Gerti sprach mit dem Arzt wegen der Medikamente.
»Bitte sagen Sie Caro, sie soll Frau Albers nach Hause begleiten. Ich bin ruhiger, wenn sie auf dem Heimweg Begleitung hat«, sagte Doktor Seefeld, als er seiner Sprechstundenhilfe das Rezept überreichte.
»Soll ich nicht schnell das Medikament besorgen? Dann hat Frau Albers es gleich dabei«, bot Caro an. Sie lief rasch hinüber zur Apotheke.
Magdalena blieb so lange im Wartezimmer sitzen und unterhielt sich mit Afra und Gerti. Sie wirkte völlig klar, hörte amüsiert Afras Dorfklatsch zu und gab ihm selber neue Nahrung, indem sie erzählte, sie habe ein Lehrbuch bestellt, und nun würden Kondor und sie gemeinsam Norwegisch lernen.
»Jesses! Warum das denn?« Afra war ausnahmsweise sprachlos.
Magdalenas Augen funkelten. »Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen«, antwortete sie herausfordernd. »Es ist … nie … zu spät …« Ihre Stimme verlor sich, und ihr seltsamer Blick blieb an Gerti hängen, der ganz unbehaglich zumute wurde. Warum starrte die andere Frau sie so eindringlich an?
Dieser eigenartige Moment wurde von Caro unterbrochen, die mit den Tabletten zurückkam und sagte: »So, Frau Albers, jetzt können wir nach Hause gehen.«
Magdalena schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Ja, gehen wir heim.« Ihr Blick glitt noch einmal zu Gerti hinüber. »Du hast lange genug gewartet«, sagte sie leise, »es ist fast vorbei.«
»Wie bitte?« Verständnislos schaute Gerti die alte Dame an. »Auf wen warte ich?«
Magdalena antwortete mit einem kleinen Lächeln: »Das weißt du doch, Madl.« Dann wandte sie sich um und verließ mit einem freundlichen Gruß die Arztpraxis.
Afra schnappte nach Luft. »Die Arme! Dass sie auf ihre letzten Tage auch noch verwirrt sein muss!«
Gerti Fechner antwortete nicht. Magdalenas Worte hatten eine seltsame Unruhe in ihr geweckt, die sie sich nicht erklären konnte. Ob sie es wollte oder nicht, sie bekam diese eigenartigen, zusammenhanglosen Sätze einfach nicht mehr aus dem Kopf.
*
Langsam spazierten Caro und Magdalene durch den Sonnenschein Richtung Kapitänshaus. Die alte Dame hatte sich bei ihrer Begleitung eingehakt und war die ersten Schritte in tiefem Schweigen gegangen. Plötzlich warf sie der jungen Frau einen eindringlichen Blick zu. »Was ist das mit dir und meinem Felix?«, fragte sie geradeheraus.
»Er hat mir Blumen geschickt, Vergissmeinnicht.«
»Die hab ich gesehen, sie sind sehr hübsch. Aber ich weiß immer noch nicht, wie du zum Felix stehst.«
»Als er in München gelebt hat, waren wir ein Paar. Und ich glaube, das werden wir auch bald wieder sein.«
»Das glaubst du nur?« Missbilligend schaute Magdalena sie von der Seite an. »Damit kommst du aber nicht weit, Madl! Wissen musst du’s!«
»Ich weiß, dass ich in Felix verliebt bin«, gestand Caro.
»Na also, dann sei nicht so zaghaft, sag’s ihm!« Magdalena unterdrückte einen ungeduldigen Seufzer. »Als mein Heinrich und ich uns kennengelernt hatten, wussten wir sehr bald, dass wir uns liebten. Wir wollten keine einzige Stunde verschwenden. Dass wir dann doch vier lange Jahre auf die Hochzeit warten mussten, lag an der damaligen Zeit und an den Umständen. Der Vater hat seine Einwilligung zur Hochzeit nicht gegeben, und so mussten wir bis zu meiner Volljährigkeit warten, das war damals erst mit einundzwanzig Jahren.« Magdalena lachte leise auf, und plötzlich sah sie nicht mehr aus wie eine Frau von sechsundneunzig Jahren, sondern wie eine Siebzehnjährige. »Verschwendet haben wir die Zeit trotzdem nicht!«
»Wir auch nicht!« Caro drückte die Hand der alten Dame und warf ihr einen verschwörerischen Blick zu.
»So ist’s recht!«, antwortete Magdalena zufrieden. »Und du wirst ihn anrufen und ihm sagen, dass es keine Vergissmeinnicht braucht, damit du an ihn denkst?«
»Heute noch!«, versprach Caro.
Für den Weg, den sie allein in nicht einmal zehn Minuten zurückgelegt hatte, brauchten sie zusammen über eine halbe Stunde. Aber es war eine vergnügte halbe Stunde, in der die alte Dame viel zu erzählen und zu lachen hatte, und auch Caro hatte ihren Spaß. Als sie im Kapitänshaus angekommen waren, bedauerte die junge Frau, wieder zurückgehen zu müssen, so wohl fühlte sie sich in Magdalenas Gegenwart.
»Haben Sie alles, was Sie brauchen?«, fragte sie fürsorglich.
Magdalena Albers saß in einem gemütlichen Gartensessel unter einem alten Apfelbaum, durch dessen Blätter goldenes Sonnenlicht fiel. Sie wies auf ihren geliebten Papagei, der auf ihrer Sessellehne herumturnte, und auf das Tischchen, auf dem etwas zu essen und zu trinken, mehrere Bücher und das Telefon lagen. »Ich bin gut versorgt und zufrieden. Vielleicht werde ich ein bisschen lesen, vielleicht auch schlafen. Jetzt merke ich den Weg doch, den ich gegangen bin.«
»Ruhen Sie sich aus, morgen schauen der Doktor und ich wieder bei Ihnen vorbei«, sagte Caro. »Und danke, das war ein sehr schöner Spaziergang mit Ihnen!«
Magdalena nahm ihre Hand. »Bleibt so, wie ihr seid, der Felix und du, das passt!«
»Versprochen!«, lächelte Caro.
Sie machte sich auf den Heimweg, und die alte Dame legte entspannt ihren Kopf gegen das weiche Kissen. Ja, es war ein schöner Spaziergang gewesen, aber er hatte sie auch müde gemacht.
Es war eine angenehme Müdigkeit, die alle Schwere und allen Schmerz aus ihrem Körper zog und sie mit einer lang vermissten Leichtigkeit erfüllte. Sie glitt über die Schwelle vom Wachsein zum Halbschlaf und glaubte, in sehr weiter Ferne Musik zu hören.
Seltsam, dachte Magdalena, auf einmal habe ich Lust zu tanzen. An einem solchen Sommertag, wenn das Licht so golden ist, sollte man wirklich tanzen.
»Magdalena …«, sagte eine geliebte Stimme.
»Heinrich!« Magdalena war kein bisschen erstaunt, dass der Mann, der ihr vor zwanzig Jahren vorausgegangen war, nun wieder neben ihr stand. Sie hatte nie daran gezweifelt, dass es genauso sein würde. »Da bist du ja!«
Sie legte ihre Hand in seine und ging mit ihm.
*
Zum zweiten Mal an diesem Tag machte Caroline sich auf den Weg zum Kapitänshaus. Es war später Mittag, und der Gesang der Vögel, das Lachen spielender Kinder und das Rauschen des Baches, der zum Sternwolkensee unterwegs war, begleiteten ihre Schritte. Caro hatte mit einem leckeren Imbiss ihren Einstand in die Praxis gegeben und beschlossen, von ihrem Kirschkuchen mit Nelken ein Stück zu Magdalena hinüber zu bringen. Sie wusste von Felix, dass seine Großtante Kirschkuchen besonders gern mochte.
Die junge Frau ging durch den blühenden Garten hinüber zu dem alten Apfelbaum, unter dem Magdalena in ihrem Lieblingssessel saß. Ihre Hände ruhten entspannt in ihrem Schoß, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre Mundwinkel.
Die erfahrene Praxishelferin erkannte sofort, was geschehen war. Ganz ruhig setzte Caro sich in den zweiten Sessel neben Magdalena und ehrte mit ihrem andächtigen Schweigen dieses lange Leben und sein friedvolles Ende.
Die Sonne war weiter gewandert, und ihr goldenes Licht spielte auf den Blumenrabatten, die Magdalena als junge Frau angelegt hatte, als Caro zu ihrem Handy griff, um Doktor Seefeld zu rufen. Er würde den Tod der alten Dame bestätigen und den Totenschein ausfüllen. Danach wählte sie noch eine andere Nummer. »Felix? Du musst jetzt nach Hause kommen.«
»Caro? Bist du das? Deine Stimme klingt so seltsam, ist etwas passiert?«, fragte der junge Mann alarmiert.
»Komm heim, Felix. Ich brauche dich jetzt.« Damit beendete Caro das Gespräch.
Alarmiert starrte der junge Mann auf sein Handy. Caroline hatte nicht panisch geklungen, aber sehr ernst. Wegen nichts und wieder nichts hätte sie nicht angerufen, nicht mit diesen Worten. Was war geschehen?
»Ich muss weg! Es handelt sich um einen Notfall!«, erklärte der junge Koch seinen verdutzten Kollegen und machte sich, noch immer in Kochjacke und -mütze, auf den Weg.
Felix erreichte den Garten des Kapitänshauses, als Doktor Seefeld bereits damit beschäftigt war, die nötigen Papiere auszustellen. Voller Mitgefühl schaute er den jungen Mann an. »Ihre Großtante ist ganz friedlich eingeschlafen«, sagte er ruhig.
»Als ich kam, da habe ich sie so gefunden. Sie sah … glücklich aus«, ergänzte Caro leise.
Felix schaute stumm von einem zum anderen. Obwohl er mit dem baldigen Tod seiner Großtante hatte rechnen müssen, war es jetzt doch ein Ereignis, das ihn erschütterte. »Ich … kümmere mich … um alles Weitere«, sagte er stockend.
Sebastian Seefeld schaute von dem jungen Mann zu seiner neuen Sprechstundenhilfe und wieder zurück. Er spürte, dass zwischen diesen beiden Menschen eine tiefere Verbindung bestand, die nichts mit dem Tod der alten Dame zu tun hatte. »Wenn Sie möchten, können Sie sich für den Rest des Tages frei nehmen. Ich erwarte Sie dann morgen in der Praxis«, bot der Landdoktor Caro an.
»Danke!« Die junge Frau nickte ernst. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie die ganze Zeit Felix’ Hand in ihrer gehalten hatte.
Der Rest des Tages verging mit allem Notwendigen, das getan werden muss, wenn ein Leben erloschen ist. Erst als die ersten Sterne am Abendhimmel aufzuleuchten begannen, fanden Caro und Felix Zeit und Ruhe für einander. Sie saßen in der offenen Veranda und schauten zu, wie das verblassende Abendrot in das sanfte Dunkel der Nacht überging.
»Es war schön, dass du heute geblieben hast«, sagte Felix leise.
Caros grüne Augen schimmerten. »Ich habe es gebraucht; ich habe dich gebraucht, Felix.«
Er beugte sich zu ihr hinüber und legte den Arm um ihre Schultern. Mit geschlossenen Augen überließ er sich diesem Gefühl von Wärme und Vertrautheit, das ihn durchströmte. »Kennst du eigentlich die Geschichte dieses Hauses?«, fragte er. »Es ist die Geschichte einer großen Liebe.«
»Erzähle sie mir«, bat Caro. Sie rutschte tiefer in seine Umarmung hinein, jetzt ruhte ihr Kopf auf seinem Arm, und er schmiegte seine Wange gegen ihr seidiges Haar. »Es ist so viel über deine Großtante und ihr Haus geredet worden, und nicht alles war freundlich, das habe ich noch von früher in Erinnerung. Ich glaube, es ist auch viel Neid darunter gewesen. Jetzt erzähle mir von ihrer Liebe.«
»Eigentlich ist Magdalena nicht meine Großtante, sondern meine Ur-Großtante«, begann Felix, »das jüngste Kind auf dem Reuther-Hof. Als sie siebzehn Jahre alt war, lernte sie Kapitän Heinrich Albers kennen, der hier in der Sommerfrische war – so nannte man damals das, was heute Urlaub heißt. Es muss die ganz große Liebe gewesen sein. Heinrich war vierzehn Jahre älter und obendrein ein ›Fremder‹ aus dem Norden, Magdalenas Familie verweigerte sehr entschieden die Einwilligung zur Heirat! Nichts konnte den Vater Reuther davon überzeugen, dass seine Jüngste mit dem Hanseaten glücklich werden würde. Aber gegen alle Widerstände und gegen jedes Verbot hielten Magdalena und Heinrich zueinander und verlobten sich heimlich.
Schließlich musste der Kapitän Bergmoosbach wieder verlassen und auf große Fahrt gehen, aber vorher begann er, dieses Haus für sich und Magdalena zu bauen.«
»Er wollte ein Zeichen setzen«, sagte Caro träumerisch. »Er wollte Magdalena und ihrer Familie zeigen, wie ernst es ihm mit ihr war. Sie sollte in der erzwungenen Wartezeit sehen können, wie ihre gemeinsame Zukunft Gestalt annahm.«
»Genau! Vier Jahre vergingen, in denen das Haus gebaut und eingerichtet wurde. Jede freie Zeit hat Heinrich hier im Allgäu verbracht und an der Gestaltung der Zukunft gearbeitet. Am Vorabend von Magdalenas Volljährigkeit schickte er den Hochzeitsbitter von Haus zu Haus, und am Geburtstagsmorgen stand er vor der Tür auf dem Reuther-Hof und bat noch einmal um Magdalenas Hand. Wieder sagte der alte Reuther Nein. Ihr Hochzeitsfest musste das Paar zwar ohne den Segen des starrsinnigen Vaters feiern, aber am Abend trug Heinrich seine junge Frau über die Schwelle ihres Hauses.«
»Und das Leben hat ihnen recht gegeben! Dieser Tag war der Beginn ihrer langen, glücklichen Ehe, die erst der Tod beendet hat.« Caro ließ ihren Blick über die altmodische Veranda hinein in das Halbdunkel des Zimmers schweifen. »Das Kapitänshaus ist viel mehr als nur ein Wohnhaus. Es ist ein Symbol für Liebe und Treue, Zuversicht und Beständigkeit«, sagte Caro nachdenklich. »Wer weiß, was jetzt daraus werden mag.«
»Ich weiß es nicht, ich habe nicht mit Tante Magdalena über ihre Pläne gesprochen«, antwortete Felix. »Ich werde so lange hier bleiben und mich um alles kümmern, bis das Testament verlesen wird. Und ich werde mich in erster Linie um Kondor kümmern. Ist dir aufgefallen, dass er heute noch kein einziges Wort gesprochen hat? Wenn Tante Magdalena es nicht anders verfügt hat, würde ich ihn gerne nehmen. Wir haben uns immer gut verstanden.«
»Wird es dir schwerfallen, wenn das Kapitänshaus verkauft wird?«
»Ja, sehr! Ich habe es immer gemocht, aber in diesen letzten Wochen, wo ich mit meiner Großtante zusammen hier gelebt habe, ist das Gefühl noch viel tiefer geworden.« Ein fast verlegenes Lächeln huschte über Felix’ Gesicht. »Ich weiß, es hört sich kitschig an, aber ich spüre, wieviel Liebe zu diesem Haus gehört Es tut mir sehr leid, wenn das alles mit Magdalenas Tod alles erlischt.«
Bei Felix' Worten hatte Caros Herz zu flattern begonnen, es fühlte sich an wie zarter, aufgeregter Flügelschlag in ihrer Brust. Ihre Arme legten sich um seinen Nacken, und sie spürte, mit welcher Vertrautheit der Mann ihre Umarmung erwiderte. »Glaubst du, dass Magdalenas und Felix’ Liebe einzigartig war? Dass es heute kein Paar mehr gibt, das sich so lieben kann, über alle Widerstände und alle Zeit hinweg?«
»Ich glaube an uns, an Caroline und Felix«, antwortete er, und seine Lippen waren nur noch einen Hauch von ihren entfernt.
»Du meinst …?«, flüsterte sie.
»Bleibe bei mir, Caro.« Jetzt berührte sie sein Mund, und sie konnte seine Worte an ihren Lippen spüren, als er leise sagte: »Ich liebe dich.«
»Und ich liebe dich.«
Sehr viel später, als der zunehmende Mond das schöne Gästezimmer des Hauses mit seinem blassen Schimmer erfüllte, beugte Caro sich über den Mann, der neben ihr lag, und suchte seinen Blick. »Warum haben wir uns das früher nicht gesagt?«, fragte sie nachdenklich.
Zärtlich zeichneten Felix’ Fingerspitzen den feinen Schwung ihrer Augenbrauen nach. »Dass wir uns lieben? Vielleicht waren wir noch nicht so weit. Vielleicht waren wir zusammen, aber noch kein Paar? Wahrscheinlich hat einfach noch etwas gefehlt.«
»Und das haben wir nun gefunden!«, antwortete Caroline glücklich. Sie streckte sich neben ihm aus und schmiegte ihren Kopf an seinen Hals.
»Ja, das haben wir. Manchmal dauert es halt ein wenig, bis man sein Glück begreift. Ich für mein Teil will es nie wieder loslassen!«, murmelte Felix. Er zog die junge Frau eng an sich, und die Liebenden fielen in tiefen, traumlosen Schlaf.
*
Die nächsten Tage waren vollgepackt mit allem, was nach dem Tod eines Menschen zu tun ist, um einen würdevollen Abschied zu gestalten. Die Trauer, die Felix um seine Großtante empfand, wurde durch Caros verständnisvolle Liebe gemildert. Sie war an seiner Seite, wenn er abends in das stille Haus zurückkehrte, und sie half ihm, die persönlichen Dinge der Verstorbenen durchzusehen. Felix und Caro kamen sich auf eine Weise nahe, wie sie es in ihrer sorglosen, bunten Münchner Zeit nicht gekannt hatten.
Um Magdalena Albers’ Testament rankten sich viele Gedanken und Gerüchte. So schillernd ihre Persönlichkeit gewesen war, so abenteuerlich waren auch die Vermutungen, die ihren Nachlass betrafen. Von Bankrott und einem riesigen Schuldenberg bis hin zu einem sagenhaften Vermögen, das an geheimnisvolle Nachkommen vererbt worden sei, war die Rede.
»Ja, weiß man denn, was da noch alles ans Licht kommt? Der Heinrich, dieser Kapitän aus Hamburg, ist doch über alle sieben Meere gefahren. Und sagt man nicht, ein Seemann hat in jedem Hafen eine Braut?«, flüsterte Elvira Draxler hinter vorgehaltener Hand, als sie den Zeitungskiosk besuchte.
»Jesses! Ob die Magdalena das gewusst hat?« Aufgeregt klopfte Afra mit den Fingerspitzen auf ihren Tresen. »Das wär dann ja wohl ein rechter Skandal!«
»Er war ja auch schon älter und hat lange auf die Magdalena warten müssen.«
»Ist denn das die Möglichkeit! Was würde dazu wohl die …«
»Entschuldigen Sie bitte?« Ein junges Mädchen mit kastanienfarbigen Haaren und wunderschönen grauen Augen versuchte möglichst höflich, das Privatgespräch zu unterbrechen. Es war Emilia Seefeld, die vierzehnjährige Tochter des Landdoktors. »Könnten Sie mir bitte Papas bestellte Fachzeitschriften geben?«
»Was? Ähm, natürlich, einen Augenblick.« Es kostete die ältere Frau sichtlich Mühe, sich von dem interessanten Thema abzuwenden, aber Geschäft bleibt Geschäft. Sie reichte dem Mädchen die vier medizinischen Zeitschriften. »Und liebe Grüße an den Herrn Doktor!«
»Danke, richte ich aus.« Emilia verstaute die Magazine in ihrem Rucksack und fuhr den Rest des Schulwegs hinüber zum Doktorhaus. Es war Mittagszeit und die Praxis für Patienten vorübergehend geschlossen. Das junge Mädchen trat an den Tresen und knallte die Zeitschriften mit etwas mehr Schwung, als nötig gewesen wäre, auf die Holzplatte. »Krass, was im Dorf so über Magdalenas Vermögen und Testament geredet wird!«
Ihr Vater kam gerade aus seinem Sprechzimmer und hatte die letzten Worte gehört. Er lachte leise in sich hinein. »Irgendwie gefällt es mir. Sogar über ihren Tod hinaus bringt die eigenwillige Frau Albers die Menschen zum Grübeln.«
»Schon, Papa, aber ihrem Mann mögliche uneheliche Kinder anzudichten, das geht zu weit!«
»Damit hast du recht, meine Große!«, antwortete Sebastian Seefeld und wurde wieder ernst. »Das ist verletzend.«
»Gut, dass Anfang nächster Woche die Testamentseröffnung ist«, warf Caro ein. »Die wird alle wilden Spekulationen beenden.«
»Ich habe gehört, dass ein Notar anreist und dass die Testamentseröffnung im Kapitänshaus stattfindet. Das ist ungewöhnlich, und andererseits passt es zu unserer exzentrischen Magdalena«, erwiderte der Landdoktor.
Caro hängte ihren weißen Kittel über die Stuhllehne und griff nach ihrer abgeschabten Handtasche, die in den fünfziger Jahren ein lederner Schulranzen gewesen war. »Der Notar kommt her, weil er um hundert Ecken mit Felix verwandt ist, aus der Gegend stammt und hier Urlaub machen will.«
»Fein, dann hat der Spuk ja bald ein Ende.« Gerti schulterte ebenfalls ihre Tasche, die im Gegensatz zu der ihrer Kollegin tadellos gepflegt und gewienert war. »Wollen wir?« Hoheitsvoll wandte sie sich zur Tür und verschwand gemeinsam mit Caro in Richtung des Cafés Bernauer. Sieglinde hatte ihr geraten, ab und zu die Mittagspause mit der neuen Kollegin zu verbringen, und Gerti wollte ihren guten Willen beweisen. Möglicherweise war doch nicht alles nur beunruhigend und unangenehm, was mit dieser jungen Frau in das gewohnte Leben der langjährigen Praxishelferin gewirbelt wurde.
»Ich finde es irgendwie witzig, dass man sich hier so den Kopf darüber zerbricht«, sagte Caro, als sie zusammen im Bernauer saßen.
»Witzig ist wohl kaum das passende Wort dafür«, entgegnete Gerti mit gelindem Tadel.
»Schon möglich«, antwortete Caro gutmütig. Sie verzog ihr Gesicht zu einem spitzbübischen Grinsen. »Ich könnte mir vorstellen, dass Magdalena Albers in ihrem Testament noch für die eine oder andere Überraschung gesorgt hat. Bei allem, was hier so gemunkelt wird, hat der Notar bestimmt seine Freude daran, das Dokument zu eröffnen. Felix hat erzählt, dass er Magdalena schon sehr lange kennt und dass sie sich gut verstanden haben.«
»Es passt zu Frau Albers, dass sie keinen Juristen hier aus der Nähe beauftragt hat. Ich habe gehört, er kommt aus Bayreuth?«
»Ja, dort hat er seine Kanzlei. Er ist so eine Art angeheirateter Onkel von Felix, der in seiner Jugend hier in der Kreisstadt gelebt hat. Sein Name ist Korbinian Wamsler.«
Gertis Wasserglas rutschte aus ihrer Hand, landete auf dem Tisch und verursachte eine kleine Überschwemmung, die sie gar nicht zu bemerken schien. »Wie heißt er?«
»Korbinian Wamsler«, wiederholte Caro und tupfte eifrig das Wasser auf. Erstaunt bemerkte sie, dass Gerti wie erstarrt am Tisch saß und entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit keinen Finger rührte. »Kennen Sie ihn?«
»Wie? Äh, nein«, stotterte Gerti und erwachte ruckartig aus ihrer Starre. Energisch rieb sie die letzten Wassertropfen von der Tischplatte. »Ich kannte mal einen Jungen mit diesem Namen, aber das ist sehr lange her. Dieser Notar hat sicher nichts mit ihm zu tun. Sind Sie fertig mit Ihrer Brotzeit? Dann lassen Sie uns jetzt zurück in die Praxis gehen. Ich mag es nicht, wenn die Anmeldung erst im letzten Moment besetzt wird.«
Caro hätte zwar gern noch ein wenig länger hier sitzen mögen, aber sie folgte ihrer älteren Kollegin zum Doktorhaus. Während der Nachmittagssprechstunde zeigte Gerti Fechner zwar ihr gewohnt ruhiges und gleichzeitig energisches Auftreten, aber Caro spürte, dass sich noch etwas anderes darunter verbarg. Manchmal schienen ihre Gedanken abzuschweifen, was sehr ungewöhnlich für die erfahrene Sprechstundenhilfe war. Irgendetwas hatte den gewohnten Lebensrhythmus der älteren Frau unterbrochen und Caro vermutete, dass es mit dem Gespräch in der Mittagspause zusammenhing. Sie kannte ihre Kollegin nicht gut genug, um danach zu fragen, von sich aus sagte Gerti nichts, und so wurde der Name Korbinian Wamsler nicht weiter erwähnt.
*
Je öfter Caroline ihren Felix im Kapitänshaus besuchte, desto lieber gewann sie das alte Gebäude. Es war ein ganz realer Liebesbeweis, den ein Mann seiner Frau gemacht hatte, und es war gefüllt mit Erinnerungsstücken ihres gemeinsamen Lebens. Magdalena hatte ihren Mann auf vielen seiner Reisen begleitet und Schönes aus aller Welt mit nach Hause gebracht. Von allem am meisten liebte sie Kondor, den sie als kleines Vogeljunges aus Südamerika mit nach Bergmoosbach gebracht hatte. Inzwischen war Kondor ein würdiger alter Herr geworden, der Magdalena auf einer weiten Strecke ihres abenteuerlichen Lebens begleitet hatte.
»Sie fehlt dir, nicht wahr?«, sagte Caro mitfühlend zu dem Vogel, der stumm und zerrupft auf seiner Stange hockte. Seit Magdalenas Tod hatte der kluge Papagei kein Wort mehr gesprochen und riss sich die Federn aus. Die junge Frau hatte sich mit ihm angefreundet, und er ließ sich von ihr füttern und auch sanft den Kopf kraulen. Mit freundlicher Stimme lockte Caro ihn zum Fressen: »Komm, du magst Erdnüsse doch so gern. Lass sie dir schmecken. Und wenn nachher der Termin mit diesem Notar vorbei ist, dann gehen wir beide in den Garten, vielleicht muntert dich das ein wenig auf.«
Ein Klopfen an der geöffneten Haustür ließ Caro sich umdrehen. Vor ihr stand ein Mann Mitte sechzig, mit grauem Haar, gepflegtem Schnurrbart und einer modischen Hornbrille. Er war groß und stattlich, und seine Kleidung verriet Stil und guten Geschmack. Der Mann hatte wache blaue Augen und ein sympathisches Lächeln, das Caro sehr anziehend fand.
»Guten Tag! Ich bin Korbinian Wamsler, der Notar von Frau Albers.«
»Guten Tag, Herr Wamsler, schön, dass Sie hier sind. Bitte, kommen Sie herein. Mein Name ist Caroline Böttcher.«
Die blauen Augen musterten sie intensiv, und das Lächeln auf dem Gesicht des älteren Mannes vertiefte sich. »Ja, so habe ich Sie mir vorgestellt! Magdalena hat mir einiges von Ihnen erzählt.«
»Oh?« Caro war verblüfft. »Wir kannten uns doch nur kurz; ich meine, als Erwachsene. Als Kind bin ich zwar auch oft hier gewesen, aber dann etliche Jahre nicht mehr.«
Der Notar schmunzelte. »Sie haben Magdalena beeindruckt.«
»Kann ich gut verstehen!«, sagte Felix, der jetzt neben seiner Freundin stand und ihr liebevoll den Arm um die Schultern legte. »Komm bitte herein, Onkel Korbinian, es ist alles vorbereitet. Ich möchte es jetzt so schnell wie möglich hinter mich bringen und dann meine Sachen packen.«
»Deine Sachen packen?« Der Notar musterte den jungen Mann. »Wie meinst du das?«
»Nun, derjenige, der Tante Magdalenas Haus erbt, wird es doch sicher selbst bewohnen oder schlimmstenfalls verkaufen wollen. So oder so werde ich mich davon verabschieden müssen, und da es mir sehr schwerfällt, möchte ich es schnell hinter mich bringen.«
»Wenn du meinst, mein Junge? Dann lass uns jetzt Magdalena Albers’ Testament verlesen«, antwortete der Notar würdevoll.
Felix führte seinen Onkel in die Bibliothek, in der einige – vorsichtig ausgedrückt – sehr weitläufige oder angeheiratete Verwandte Stellung bezogen hatten. Caro war von den Besuchern überrascht und warf Felix einen fragenden Blick zu. Der zuckte mit den Schultern und verdrehte die Augen. Zu Magdalenas Lebzeiten hatte sich nicht ein einziger dieser Angehörigen gemeldet oder war gar zu Besuch gekommen.
Der Notar nahm hinter dem Schreibtisch Platz und begann mit der Verlesung seiner Schriftstücke. Wie sich herausstellte, hatte Magdalena Albers in ihrem Testament auf liebevolle und einfühlsame Weise die Menschen bedacht, die ihr im Leben hilfreich zur Seite gestanden hatten. Doktor Benedikt Seefeld und seinem Sohn Sebastian, ihren behandelnden Ärzten, hinterließ sie jeweils ein wertvolles, altes Möbelstück. Sie hatte gewusst, dass in der Familie Seefeld Antiquitäten hoch geachtet waren. Emilia, die ab und zu kleine Dinge für die alte Dame erledigt hatte, erhielt einen wunderschönen Saphirring. Den beiden guten Geistern des Doktorhauses, Traudel und Gerti, hinterließ Magdalena Albers ebenfalls wertvolle, antike Schmuckstücke, ebenso der jungen Fanny Lechner, die sie mit Lebensmitteln beliefert hatte. Ihre treue Haushälterin wurde ebenso liebevoll bedacht wie ihr Gärtner und andere Menschen, die ihr etwas bedeutet hatten.
Korbinian Wamsler las weiter vor: »Der Einrichtung ›Das weiche Nest‹, welche Zufluchtsort und Zuhause für junge werdende Mütter und ihre Babys ist, vermache ich einhunderttausend Euro.«
»Was, was, was!« Einen dicken Mann mit Schnauzbart und hochroten Wangen hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. »Das nannte man früher Heim für gefallene Mädchen, und denen schmeißt die Alte einhunderttausend Euro in den Rachen! Das lass ich mir nicht bieten! Die war doch verrückt, die Magdalena.«
»Mäßigen Sie sich!« Alle Freundlichkeit war aus Stimme und Gesicht des Notars gewichen, Korbinian Wamsler schaute den Störenfried mit schneidender Kälte an. »Noch ein einziges Wort in diese Richtung, und Sie verlassen augenblicklich diesen Raum!«
Beleidigt nahm der Mann wieder Platz, und die Verlesung konnte weitergehen.
»Meinen Verlobungsring, meinen eigenen Ehering und den meines geliebten Heinrich hinterlasse ich meinem Ur-Großneffen Felix Messner.«
Der Notar bemerkte, wie bei diesen Worten ein sanftes, sehr liebevolles Lächeln auf dem Gesicht des jungen Mannes erwachte.
»Meinen gesamten restlichen Schmuck vermache ich Frau Caroline Böttcher als Dank für die Freude, die sie in meinen allerletzten Lebensabschnitt gebracht hat.«
Ein erstickter Laut ließ den Notar aufblicken. Caro saß da mit riesengroßen Augen, die Hände hatte sie überrascht vor den Mund geschlagen. »Aber …, aber …, warum ich? Womit hab ich das denn verdient?«
Der Notar lächelte über diese Reaktion, die er in seinem Beruf sehr selten erlebte. »Ein Erbe verdient man sich nicht, das bekommt man geschenkt«, antwortete er freundlich.
»Was für ein Schmarrn!«, knurrte der rotgesichtige Schnauzbart aus dem Hintergrund.
Korbinian Wamsler schoss ihm einen warnenden Blick zu und fuhr fort: »Mein Papagei Kondor ist mit mir in diesem Haus alt geworden, und er liebt es ebenso wie ich. Deshalb verfüge ich, dass das Kapitänshaus bis zu seinem Tod sein Zuhause bleiben soll. Als Person, die sich um ihn und das Haus kümmert, bestimme ich meinen Ur-Großneffen Felix Messner. Als Treuhänder hat er unbeschränkte Verfügungsmacht über mein restliches Vermögen, das ich in voller Höhe meinem lieben Papagei Kondor vermache.«
Einen Moment war es sehr still im Raum, es schien, als ob alle Anwesenden den Atem anhielten. Dann stand das Rotgesicht plötzlich vorn am Schreibtisch, stütze sich mit den Fäusten auf und schnaufte: »Und von welcher Höhe des Vermögens, das ein Papagei geerbt hat, reden wir hier?«
»Einen Moment …«, der Notar blätterte in seinen Papieren, »das lässt sich jetzt nicht auf den Cent genau sagen, aber grob geschätzt handelt es sich um zwei Millionen Euro.«
»Zwei …« Der Mann schien kurz vor einem Schlaganfall zu stehen. »Für das vermaledeite Federvieh? Und wir gehen leer aus? Das lasse ich mir nicht bieten! Die war doch nicht mehr zurechnungsfähig, die alte Hexe! Diesen verrückten Wisch, dieses sogenannte Testament, das fechte ich an!«, brüllte er.
Plötzlich erwachte Kondor zum Leben. Er reckte seinen Kopf vor, vollführte einen aufgeregten Tanz auf seiner Stange und krächzte: »Ver-maledeit! Ver-maledeit! Mistkerl, Mistkerl, raus-raus-raus!«
»Dieses kluge Tier hat mir das Wort aus dem Mund genommen«, sagte Korbinian Wamsler trocken und schloss die Mappe mit seinen Unterlagen. »Die Verlesung ist beendet.«
»Sie …, Sie hören von mir!« Wütend stapfte der Schnauzbärtige zur Tür, im Schlepptau die anderen, bitter enttäuschten Gierigen, die leer ausgegangen waren.
Endlich kehrte wieder Stille ein. Korbinian schaute zu Caro und Felix hinüber, die wie betäubt auf ihren Stühlen saßen. Sie hielten sich wie Kinder, die nicht verloren gehen wollen, an den Händen. Der ältere Mann unterdrückte ein Lächeln. »Nun, ihr beiden, ist alles in Ordnung mit euch?«
»Ich …, ich weiß nicht so recht«, antwortete Caro mit dünner Stimme. »Die …, die Leute haben immer über Magdalenas Schmuck geredet und gesagt, er sei ein Vermögen wert. Das …, das kann doch wohl nicht sein, dass Frau Albers das mir zugedacht hat?«
»Doch, Caro, das ist so. Und ich glaube, wenn Sie sich erst von dieser Überraschung erholt haben, dann können Sie sich auch daran freuen.«
Die junge Frau nickte vorsichtig.
Felix saß immer noch mit gerunzelter Stirn auf seinem Stuhl. »Onkel Korbinian, kannst du mir bitte noch einmal genau erklären, was es mit der treuhänderischen Verwaltung von Tante Magdalenas Nachlass auf sich hat?«
Der Notar setzte sich neben den sichtlich erschütterten jungen Mann. »Das ist ganz einfach. Du sollst dafür sorgen, dass das Kapitänshaus erhalten bleibt und dass Kondor es bis an sein Lebensende hier gut hat. Dafür steht dir das gesamte Vermögen zur Verfügung.«
»Ich hab Geld für zehntausend Jahre Vogelfutter und Tierarztrechnungen«, ächzte Felix.
»Mindestens!« Korbinian Wamsler lachte leise. »Und nicht nur dafür, mein Junge. Das Schlüsselwort ist: Unbeschränkt! Im Grunde genommen hast du das gesamte Vermögen geerbt und kannst frei darüber verfügen, vorausgesetzt, Kondor hat es gut, und das Haus bleibt erhalten.«
»Ich …, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, stammelte Felix.
Sein Onkel klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. »Musst du auch nicht. Erholt euch beide erst einmal von dieser Überraschung. Ich habe hier noch einen persönlichen Brief deiner Tante für dich. Lies ihn in aller Ruhe, und dann schaut ihr, wie es mit allem weitergeht.«
»Ich hab Kondor versprochen, dass wir nach diesem Termin raus in den Garten gehen«, murmelte Caro. »Ich glaube, wir brauchen jetzt alle ein bisschen frische Luft.«
Der Papagei hüpfte von seiner Stange auf Caros Schulter und begann, an ihrer blauen Haarsträhne zu knabbern. Dabei gurrte er etwas, das wie ‚Caro-Caro-Caro’ klang. Felix schlang seinen Arm um ihre Taille, und die drei wanderten durch die gläserne Veranda hinunter in den alten Garten.
»Diese Kinder …«, sagte Korbinian Wamsler leise vor sich hin. Sein Blick glitt durch das geöffnete Fenster hinaus ins unendliche Blau des Sommerhimmels, und er lächelte. »Das hast du mal wieder genau richtig gemacht, Magdalena Albers!«
*
Caro und Felix saßen in einem alten Pavillon aus Gusseisen, der von einer weißen Kletterrose üppig überrankt war. Es duftete süß nach den unzähligen, kleinen Blüten, und die Luft war erfüllt vom Summen der Bienen. Haltsuchend hatte Felix seine Hände mit Caros verschränkt. »Ich glaube, ich träume«, sagte er, noch immer ziemlich fassungslos. »Was das alles im Einzelnen bedeutet, kann ich mir noch gar nicht vorstellen.«
»Ich auch nicht.« Caro schüttelte den Kopf. Sie deutete auf den Brief, welcher der Notar an Felix übergeben hatte. »Vielleicht hilft dir das ein bisschen?«
Der junge Mann öffnete ihn und las, dann reichte er ihn an Caro weiter.
Mein lieber Felix,
für mich bist Du immer ein wenig der Sohn gewesen, den mein geliebter Heinrich und ich nicht bekommen haben. Ich weiß, dass Du Dich auch ohne dieses Testament liebevoll um Kondor gekümmert hättest, und auch das Kapitänshaus hättest Du nicht in fremde Hände gegeben! Ich vertraue Dir voll und ganz. Warum also bin ich den Umweg über Kondor gegangen, um Dir unser Vermögen zu vermachen? Ganz einfach: ich wollte den Neidern und den Missgünstigen etwas zum Ärgern geben! Erst haben viele mir das Glück geneidet, später das Vermögen, dafür sollen sie einen kleinen Denkzettel bekommen.
Heinrichs und meine guten Wünsche begleiten Dich in Deine Zukunft. Für die bist Du allein verantwortlich, trotz des Geldes, das Du nun besitzt, vergiss das nie!
Es umarmt Dich und Kondor
Deine »spinnerte« Ur-Großtante Magdalena
»Nein, spinnert war sie ganz bestimmt nicht, die Magdalena Albers!«, sagte Caro, als sie den Brief sinken ließ.
»Ich habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, Caro! Am liebsten würde ich mit dir ein paar Tage wegfahren, irgendwo auf eine Berghütte, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Aber ich kann die Sonnleitners nicht sitzenlassen, es ist unmöglich, jetzt Urlaub zu nehmen.«
»Und ich habe eben erst bei Doktor Seefeld angefangen zu arbeiten, freie Tage stehen mir noch nicht zu.«
»Dann lass uns wenigstens am Sonntag eine Wanderung machen, damit wir auf andere Gedanken kommen.« Felix zog Caro auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. »Es ist so schön, dass du da bist, mein Schatz. Ohne dich würde ich jetzt mächtig ins Schwimmen geraten, es ist halt das erste Mal in meinem Leben, dass ich Millionär geworden bin.«
Die junge Frau streichelte zärtlich durch seine blonden Haare. »Ich glaube, es gibt Schlimmeres, an das man sich gewöhnen muss.«
Felix’ Anspannung löste sich in einem lauten, unbeschwerten Lachen.
»Ich glaube, damit hast du recht!«
Er sprang auf, hob Caro in seine Arme und drehte sich übermütig mit ihr im Kreis.
»Sag mir, was du dir wünschst, und ich erfülle es dir!«
Auch Caro lachte, aber in ihren grünen Augen schimmerte gleichzeitig eine tiefe Ernsthaftigkeit. »Ich wünsche mir nur eines, und das kann man nicht für alle Millionen dieser Welt kaufen: deine Liebe.«
Felix hörte auf, sich im Kreis zu drehen, setzte Caro behutsam auf die Füße und zog sie an sich. »Sie gehört dir, meine wundervolle Caro. Dir allein!«
*
Wer in Bergmoosbach neben dem Rathaus den Weg wählt, der nach auswärts führt, wird auf einen sanft ansteigenden Spazierweg in einen hohen Tannenwald gelangen. Erst hinter der Jugendherberge geht es steiler durch den Wald hinauf. Wenn sich dann die Bäume lichten, hat man einen wunderschönen Ausblick hinunter ins Tal.
Hier legten Caro und Felix bei ihrer Wanderung am Sonntag eine kleine Verschnaufpause ein und genossen den Anblick ihres Heimatortes, der sich zu ihren Füßen am schimmernden Sternwolkensee ausbreitete.
»Weißt du, Caro«, sagte Felix nachdenklich, »ich bin schon ein ganzes Stück in der Welt herumgekommen und finde es schön, neue Eindrücke gewonnen zu haben. Aber am wohlsten fühle ich mich hier, zu Hause. Und am allerwohlsten bei dir.«
»Das geht mir genauso mit dir.« Caro legte ihrem Liebsten die Arme um den Hals und versank in seinem Kuss. »Wenn wir wirklich noch zur Burgruine hinauf wollen, dann sollten wir jetzt lieber mit Küssen aufhören«, murmelte sie atemlos.
»Vielleicht könnten wir Wandern und Küssen miteinander verbinden?«
»Mhm-m«, schnurrte Caro und kuschelte sich tiefer in seine Umarmung. »Vielleicht brauchen wir nicht bis hoch zur Burgruine zu steigen, um uns Gedanken um unsere Zukunft zu machen?«
»Kluge Frau!« Felix zog Caro mit sich auf ein weiches Moospolster, das im Schutz eines dichten Strauchwerks war. Er legte die Arme um sie und schaute sie voller Liebe an. »Ich habe mir Gedanken um die Zukunft gemacht. Mein Traum ist immer gewesen, einmal ein eigenes Restaurant zu besitzen. Dank Tante Magdalena kann der sich jetzt erfüllen und das, ohne dass ich mich in unglaubliche Schulden stürzen muss.
Was hältst du von der Idee, wenn ich im Kapitänshaus mein eigenes Restaurant eröffne?«
»Felix, das ist perfekt! Du kannst deinen Traum verwirklichen und kümmerst dich damit in einer Weise um ihr Haus, die deine Großtante begeistert hätte!«
»Und du, begeistert es dich auch? So ein Vorhaben kann nur gelingen, wenn auch du dem für unser Zuhause zustimmst.«
»Für … unser Zuhause?« Ruckartig setzte Caro sich auf. »Was meinst du damit?«
Felix griff nach ihren Händen und hielt sie sehr fest in seinen. »Dass wir uns eine gemeinsame Zukunft aufbauen sollten, Caro! Willst du mit mir zusammen ins Kapitänshaus ziehen, und wir planen und verwirklichen alles gemeinsam? Nicht allein meinen Traum, sondern unseren?«
»Ob ich das will, fragst du?« In Caros grünen Augen tanzte ein Freudenfeuer. »Und ob ich das will! Ich kann mir keinen schöneren Ort für unsere Zukunft vorstellen!«
Felix sprang auf die Beine. »Dann schenken wir uns den Rest des Weges und gehen zurück, setzten uns zusammen und fangen an zu planen? Oh, Caro, ich habe so gute Ideen für das Essen und die Inneneinrichtung und ich kann kaum abwarten, deine Vorschläge zu hören!«
»Dann los!« Caro lief einige Schritte, trat an den grünen Abhang, legte trichterförmig ihre Hände an den Mund und rief übermütig ins Tal hinab: »Bergmoosbach, wir kommen! Mach dich bereit für neues Leben im Kapitänshaus!«
Dann griff sie nach Felix’ Hand, und lachend und voller Begeisterung ging es hinunter ins Dorf, ihrer aufregenden, strahlenden Zukunft entgegen.
*
»Und ihr wollt tatsächlich in Magdalenas Wohnräumen ein Restaurant eröffnen, das Das Esszimmer heißen soll? Finde ich krass! Das wird bestimmt super gemütlich!«, schwärmte Emilia einige Tage später. Die Praxis hatte Mittagspause, und Caro saß mit Familie Seefeld und Gerti zusammen und erzählte von Felix’ Zukunftsplänen.
Die Nachricht von der ›verrückten‹ Erbschaft hatte natürlich längst die Runde gemacht, und im Ort wurde wild spekuliert, was Felix mit dem vielen Geld vorhaben könnte. Die Menschen im Doktorhaus gehörten zu den wenigen, die sich nicht an den Mutmaßungen beteiligten. Sebastian Seefeld freute sich, dass seine junge Mitarbeiterin jetzt ihnen gegenüber so offen von den Plänen sprach.
»Ich freue mich sehr für Sie und Herrn Messner«, sagte er aufrichtig. »Aber bedeutet das auch, dass wir Sie als Mitarbeiterin verlieren?«
»Wie bitte? Oh, nein, ganz und gar nicht! Das Restaurant ist Felix' Berufung und Beruf, meiner ist hier in der Praxis. Natürlich arbeite ich weiter für Sie, Doktor Seefeld. Das Einzige, was sich ändert, ist meine Adresse. Ich bin ins Kapitänshaus eingezogen.«
»Dann viel Glück und Erfolg bei allen Ihren Plänen!«, wünschte der Senior der Familie, Doktor Benedikt Seefeld.
»Danke!« Caro schaute sich mit einem strahlenden Lächeln um. »Es ist einfach schön, wenn andere sich mitfreuen!«
»Wir freuen uns wirklich aufrichtig mit Ihnen«, warf Gerti ein, »aber ich möchte darüber die Arbeit nicht vergessen. Die Praxis braucht einige Bögen Briefmarken; denken Sie daran, sie heute noch zu besorgen?«
»Gerti, die kann ich doch mitbringen, ich wollte gleich sowieso zur Bahnpost fahren« bot Emilia an. »Meine bestellten Fußballschuhe sind immer noch nicht gekommen, und ich wollte nachfragen, wo das Päckchen abgeblieben ist.«
»Schön, wenn du das erledigst. Dann kann ich gleich damit anfangen, die Bestände an Verbandsmaterial zu überprüfen und die Nachbestellungen fertig zu machen.« Caro händigte dem jungen Mädchen Geld aus der Portokasse aus und ging hinüber in das andere Zimmer. Durch die angelehnte Tür hörte man ihr halblautes, unbekümmertes Singen.
»Meine Mutter sagte immer: ›Den Vogel, der am Morgen singt, holt am Abend die Katze‹«, sagte Gerti plötzlich.
»Freu dich doch einfach daran, dass du eine glückliche und gut gelaunte Kollegin hast! Es ist doch nett, hier mal jemanden singen zu hören«, antwortete Traudel. Sie sammelte die Reste der Brotzeit zusammen, und die Mittagspause in der Praxis war beendet.
In der Zwischenzeit war Emilia zur Bahnpost geradelt, hatte wegen ihres Päckchens nichts erreicht, aber die bestellten Bögen mit Briefmarken gekauft. Gerade als sie sich wieder auf ihr Mountainbike schwingen wollte, fiel ihr eine junge Frau auf, die in der winzigen Bahnhofshalle stand und etwas verloren wirkte. Sie schaute sich suchend um, und als ihr Blick dem des jungen Mädchens begegnete, lächelte sie schüchtern.
Emilia ging zu der Frau hinüber. »Grüß Gott! Ich möchte mich nicht aufdrängen, aber suchen Sie jemanden? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Danke, das ist lieb von dir.« Die Stimme der jungen Frau klang freundlich und ein wenig erschöpft. »Ich kenne mich gar nicht aus in Bergmoosbach. Kannst du mir sagen, wie ich zum Hotel Sonnenhof komme? Und ob es ein weiter Weg ist?«
»Das sind ungefähr zehn Minuten, und Sie können den Weg gar nicht verfehlen. Die Hauptstraße entlang, und dann beim Brunnen am Marktplatz rechts abbiegen. Die Gasse müssen Sie ein Stück hinaufgehen, dann laufen Sie direkt auf das Hotel zu.«
»Danke, das schaffe ich«, antwortete die Fremde und griff nach ihrem großen Rollkoffer.
Emilia schaute sie prüfend an. Die junge Frau war schwanger, und unter ihren großen blauen Augen lagen zarte Schatten. Sie hatte ein sanftes Lächeln, das ihrem weichen, hübsch gerundeten Gesicht einen besonderen Schimmer verlieh. Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich von dem jungen Mädchen und machte sich auf den Weg.
»Bitte warten Sie!«, rief Emilia. Sie ging auf die Schwangere zu. »Ihr Rollkoffer sieht aus, als ob er ziemlich schwer ist. Vielleicht ist es besser, wenn ich ihn ziehe, und Sie schieben mein Rad? Das ist leichter, und Sie können sich beim Gehen ein bisschen darauf stützen. Ich bringe Sie zum Hotel hinüber.«
Die Augen der Frau schimmerten feucht. »Das ist sehr nett und fürsorglich von dir, ich nehme es dankbar an. Ich bin übrigens Fiona, Fiona Bartels.«
»Ich heiße Emilia Seefeld«, antwortete das junge Mädchen. Sie übernahm den Rollkoffer und gab Fiona ihr Rad. Im Weitergehen fragte sie: »Sind Sie ein neuer Gast im Sonnenhof, wollen Sie hier bei uns Urlaub machen?«
»Urlaub?« Die Stimme der werdenden Mutter war genauso sanft und lieblich wie ihr Lächeln. »Ja, so ungefähr.«
»Dann haben Sie sich einen sehr schönen Ort ausgesucht, es wird Ihnen bestimmt gefallen!«
»Ja, das glaube ich auch.«
»Und neben allem anderen sind Sie hier auch bestens medizinisch versorgt«, sagte Emilia mit hörbarem Stolz in der Stimme. »Wir haben hier eine richtig gute Arztpraxis und eine tolle Hebamme, Anna Bergmann heißt sie.«
Die Frau lachte leise auf, und es klang wie das zufriedene Schnurren einer seidigen Katze. »Das klingt wundervoll und sehr beruhigend. Ich freue mich wirklich, hier zu sein.«
Nachdem sie den Marktplatz überquert hatten, war es nur noch ein kurzes Stück die Gasse hinauf, und dann kam das Hotel in Sicht. Es war ein großes Gebäude, das mit dem warmen, gelben Anstrich seinem Namen alle Ehre machte.
»Hier ist es«, sagte Emilia. Nachdem sie der jungen Frau geholfen hatte, den schweren Rollkoffer über die Eingangsstufe zu ziehen, verabschiedete sie sich. »Ich wünsche Ihnen eine schöne Zeit in Bergmoosbach!«
»Oh, die werden wir sicher haben«, antwortete die junge Frau und legte mit einer liebevollen Geste ihre Hände auf ihren Bauch. Sie lächelte zärtlich auf die hohe Wölbung herab, die sich unter ihrem Sommerkleid abzeichnete. »Es ist übrigens ein kleiner Junge.«
»Glückwunsch! Haben Sie denn auch schon einen Namen für das Baby, oder bleibt der bis zur Geburt geheim?«
»Einen Namen haben wir noch nicht, den werden sein Vater und ich zusammen aussuchen«, antwortete die junge Mutter glücklich.
»Dann viel Spaß! Vielleicht sieht man sich ja mal.« Emilia winkte zum Abschied und schwang sich aufs Rad.
»Danke nochmals für deine Hilfe!« Fiona winkte freundlich zurück. Sie deponierte ihr Gepäck in der Lobby des Hotels und ging ins Restaurant hinüber, das auch über Sitzplätze im Garten verfügte. Mit einem zufriedenen Seufzer setzte sich die junge Frau in den Schatten eines alten Birnbaums und bestellte sich ein leichtes Mittagessen. Während sie auf ihre Seezunge wartete, genoss sie den Ausblick über die gepflegten Häuser und Gärten, die unterhalb des Hotels lagen, und das beeindruckende Alpenpanorama, welches sich am Horizont erhob.
In Gedanken versunken strich sie über ihren Bauch. »Du wirst es sehr gut hier haben, mein Kleiner«, flüsterte sie ihrem Baby zu. »Du und ich auch.«
Als Nachtisch wurde ein perfekter Kaiserschmarrn serviert. Er schmeckte so lecker, dass Fiona am liebsten die allerletzte Süße vom Teller geschleckt hätte, aber das tat sie natürlich nicht in der Öffentlichkeit. Stattdessen winkte sie der Kellnerin und bat darum, den Koch sprechen zu können.
Die Serviererin runzelte leicht die Stirn. »War mit dem Essen etwas nicht in Ordnung?«
»Aber nein, ganz im Gegenteil, es war hervorragend! Ich möchte Ihrem Koch – es ist doch Felix Messner aus München, nicht wahr? – persönlich danken.«
»Einen Moment bitte, ich werde Herrn Messner holen.«
Fiona lehnte sich entspannt zurück und wartete.
Der Kies knirschte unter raschen Schritten, und dann trat der Koch des Restaurants Sonnenhof an ihren Tisch.
Die junge Frau schaute auf und lächelte. »Hallo, Felix.«
Der junge Mann stutzte kurz, aber dann erwiderte er das freundliche Lächeln. Natürlich, jetzt hatte er sie erkannt: das sanfte Gesicht mit den blauen Augen, das blonde Haar mit dem Madonnenscheitel und dem weichen Nackenknoten, das unverwechselbare, süße Lächeln. »Fiona! Was machst du denn hier?«
»Dich besuchen, Felix.«
»Oh!« Jetzt war er überrascht. Fiona Bartels hatte in seinem Leben keine große Rolle gespielt. Kennengelernt hatten sie sich bei einem ausgelassenen Silvesterwochenende mit Freunden auf einer Berghütte. Drei Tage lang hatten sie eine Menge Spaß miteinander gehabt und waren dann auseinander gegangen. Obwohl beide zu diesem Zeitpunkt in München lebten, hatten sie keine Verbindung zu einander gesucht. »Wie komme ich denn zu dieser Ehre?«
Anstelle einer Antwort deutete Fiona liebenswürdig auf den freien Platz ihr gegenüber. »Möchtest du dich nicht ein wenig zu mir setzen?«
»Das wäre zwar nett, aber es geht nicht. Meine Arbeit wartet.«
»Das ist schade, aber ich kann es natürlich verstehen. Vielleicht können wir uns treffen, wenn du Feierabend hast?«
»Fiona, ich …« Felix unterbrach sich. Die junge Frau war ein Stück vom Tisch abgerückt und hatte sich in ihrem Stuhl zurückgelehnt. Erst jetzt bemerkte er, dass sie in einem fortgeschrittenen Stadium der Schwangerschaft war. »Du bekommst ein Baby.«
Fionas Lächeln war jetzt schüchtern, und ihre Augen schimmerten feucht. »Ja, ich erwarte ein Kind und …, und deshalb musste ich herkommen. Zu dir.«
»Aber warum? Was habe ich …?« Ungläubig starrte Felix die junge Frau an. Sein Herz raste, und ihm brach kalter Schweiß aus. Nein, das konnte doch wohl nicht sein!
Langsam füllten sich die blauen Augen mit Tränen. »Ich …, ich wollte …, bitte, verzeih mir, dass ich dich so überfallen habe. Ich will ja gar nichts von dir, ich will nur, dass du … es weißt.«
»Dass ich was weiß?«, flüsterte Felix atemlos.
»Dass … du Vater wirst!«, antwortete Fiona leise, und dann rollten die Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte.
In Felix’ Kopf war plötzlich alles blank und leer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Seine Beine drohten, unter ihm wegzusacken, und er griff blindlings nach einer Stuhllehne. »Nein!«, flüsterte er. »Nein!«
Fionas hübsches Gesicht war sehr ernst. »Doch, Felix. Mein kleiner Junge ist unser gemeinsames Kind«, antwortete sie leise. Mit den Fingerspitzen wischte sie die Tränen von ihren Wangen, und ihr gelang ein rührendes, zittriges Lächeln. »Es tut mir leid, dass es ein solcher Schock für dich ist. Du brauchst sicher Zeit, um dich an den Gedanken zu gewöhnen.«
»Ich …, ja, äh …, Zeit …«, stotterte Felix. Jetzt rasten seine Gedanken. Caro! Ich muss mit Caro reden!
»Vielleicht können wir uns heute Abend treffen und in Ruhe miteinander reden?«, schlug Fiona vernünftig vor.
»Heute Abend? Nein, ich muss erst …« Felix verstummte. Sein Blick fiel auf den Eingang zur Küche, wo eine Kollegin stand und ihm ungeduldig zuwinkte. »Gib mir deine Nummer, ich ruf dich heute Abend an, und dann machen wir ein Treffen aus.«
Die junge Frau nickte, und die beiden tauschten ihre Handynummern aus. Als Felix sich mit einem steifen Kopfnicken verabschiedete, sagte Fiona: »Ich kann verstehen, dass du jetzt geschockt bist, Felix. Das war ich auch, als ich bemerkte, dass ich schwanger bin! Aber man gewöhnt sich an den Gedanken, und dann beginnt man sich zu freuen. Ich weiß, dass wir kein Paar sind, aber wir werden Eltern. Gemeinsam kriegen wir das hin.«
»Ja«, murmelte Felix. Wie betäubt drehte er sich um und ging in die Küche zurück.
*
»Caro-Caro-Caro!«, begrüßte Kondor begeistert die junge Frau, als sie abends das Kapitänshaus betrat.
»Hallo, mein Hübscher! Ich freu mich auch, dich zu sehen.« Sie strich dem Papagei sanft über seinen gefiederten Kopf, und er verdrehte entzückt die Augen. »Kannst du mir vielleicht verraten, wo Felix ist? Eigentlich wollte er mich doch heute nach Praxisschluss abholen.«
»Ich bin hier.« Der junge Mann kam aus der Veranda ins Wohnzimmer hinüber.
»Hey, du!« Caro sauste zu ihm hinüber und schlang ihre Arme um seinen Nacken. »Wo warst du? Du wolltest mich doch abholen und …«
Felix erstickte ihre Worte mit einem verzweifelten Kuss, und seine heftige Umarmung fühlte sich an wie ein Klammergriff.
»He, was ist denn los?« Atemlos bog Caro ihren Kopf zurück, um ihm ins Gesicht schauen zu können. Sie sah, wie ernst, ja, verzweifelt Felix wirkte. »Ist etwas passiert?«
»Ja, das ist es. Wir müssen reden, Caro.«
Zutiefst beunruhigt ließ sich die junge Frau in einen Sessel fallen. Felix setzte sich ihr gegenüber und musterte sie mit einem so dunklen Blick, dass Caros Herz auf einmal bleischwer wurde. »Was …, worüber müssen wir denn reden?«
Felix nahm all seinen Mut zusammen, holte tief Luft und erzählte von dem unerwarteten Auftauchen Fionas im Sonnenhof.
Durch Caros Herz schossen tausend winzige, schmerzhafte Nadelstiche. »Du … wirst Vater? Mit einer anderen Frau …«
»Die ich nicht liebe und auch nicht geliebt habe! Caro, ich bin Fiona bisher nur ein einziges Mal begegnet, und das war letztes Silvester.«
»Das hat ja wohl auch gereicht!« Caroline hörte selbst, wie bitter ihre Stimme klang.
Felix atmete tief durch. »Wir hatten uns getrennt, du warst auf dem Absprung, aus München wegzuziehen und …«
»Darum geht es nicht, Felix! Ich mache dir keine Vorwürfe wegen dieser Sache, die geht mich nichts an.« Caro schaute ihren Freund eindringlich an. »Ich mache mir Gedanken darum, wie es weitergehen soll, denn das betrifft auch mich und geht mich sehr viel an!«
»Ich weiß, und deshalb habe dir auch sofort von dem Baby erzählt.«
Caro überlegte. »Gut, dann ruf sie an und verabrede einen Termin, an dem wir gemeinsam überlegen, wie es jetzt weitergeht.«
»Wir?« Felix zögerte. »Ist das nicht ein bisschen zu viel für den Anfang? Vielleicht möchte Fiona auch Persönliches erzählen, was nicht für Dritte bestimmt ist. Ich finde, zunächst sollte ich mich mit ihr allein treffen und hören, wie ihre Situation ist.«
»Nein, das finde ich nicht!«, antwortete Caroline kühl. »Es geht nicht um eure romantische Vergangenheit, sondern um die Zukunft des Kindes. Und weil du mein Lebenspartner bist, betrifft es auch mich. Ich möchte bei euren Gesprächen dabei sein!«
»Wir werden sehen«, antwortete Felix ausweichend. »Ich rufe Fiona jetzt erst einmal an.« Er ging mit dem Handy ins Nebenzimmer.
Hm, zumindest das Gespräch ist also nicht für meine Ohren bestimmt!, dachte Caro rebellisch. Allmählich hatte sie sich von dem anfänglichen Schock erholt, und ihr Kampfgeist erwachte. Natürlich sollte Felix für sein Kind sorgen, aber das musste noch lange nicht bedeuten, dass er sich ebenso um die Mutter kümmerte!
Als Felix wieder ins Wohnzimmer zurückkam, wirkte er immer noch sehr ernst, aber etwas weniger angespannt. Mit ihrer ruhigen, zurückhaltenden Art hatte Fiona ihn angenehm überrascht. »Sie ist einverstanden, dass wir uns zu dritt treffen«, erzählte er. »Fiona kann verstehen, dass du wissen möchtest, wie es weitergeht, und es tut ihr leid, wenn sie dir Sorgen bereitet.«
»Du hast sie gefragt, ob sie einverstanden ist, wenn ich bei dem Gespräch mit dabei bin?« Caro staunte. »Das hatten wir aber so nicht abgemacht!«
»Mach daraus jetzt bitte kein Problem!«, entgegnete Felix nervös. »Die ganze Situation ist schon schwierig genug. Ich bin froh, dass wir überhaupt einen einigermaßen reibungslosen Anfang gefunden haben.«
Einen Anfang wovon?, dachte Caro alarmiert. Das hier wird unser ganzes Leben auf den Kopf stellen!
Die junge Frau entzog sich, als Felix sie umarmen wollte. »Ich brauche jetzt etwas Zeit für mich, mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf. Ich gehe zum Joggen, jetzt brauche ich Auslauf und Bewegung. In einer Stunde bin ich wieder zurück.«
»Ist gut, mein Schatz, ich warte mit dem Abendessen auf dich.«
Caro zog sich um und lief los, schneller als gewöhnlich, aber sie bemerkte, dass ihre Gedanken mitliefen, Schritt für Schritt. Ihr Kopf wurde kein bisschen freier, sondern er füllte sich mit immer neuen, beunruhigenden Bildern einer Zukunft, die sie sich so nicht vorgestellt hatte.
Erst auf dem Rückweg ging es ihr besser, als das weiße Haus mit seinem soliden, schützenden Dach vor ihr auftauchte. Was konnte denn schon geschehen, was ihr Lebensglück mit Felix bedrohte? Sie liebten und vertrauten einander, und alles andere trat dahinter zurück!
Wie zur Bestätigung ihrer guten Gedanken traf sie auf der Straße vor der alten Gartenpforte auf Korbinian Wamsler, der einen Spaziergang machte. »Nun, Caro, sind die guten Neuigkeiten ein bisschen gesackt, und haben Sie beide schon Pläne für die Zukunft gemacht?«, erkundigte der Notar sich freundlich.
»Äh, ja, etwas«, antwortete Caro vage. Aus einem Impuls heraus lud sie den Mann zum Essen ein, und Felix’ Onkel nahm die spontane Einladung gern an.
Während der Mahlzeit bemerkte der ältere Mann, dass bei aller Freundlichkeit eine feine Anspannung in der Luft lag. Er schaute seinen Neffen aufmerksam an und fragte behutsam: »Wie geht es euch denn jetzt, mit all den Möglichkeiten und der großen Verantwortung, die diese Erbschaft mit sich bringt?«
»Oh, gut. Danke der Nachfrage, Onkel Korbinian«, antwortete Felix zurückhaltend.
»Ihr wisst, dass ich euch immer mit Rat und Tat zur Seite stehe, nicht wahr? Egal, ob es sich um Juristisches, Organisatorisches oder Persönliches handelt.«
»Danke, Herr Wamsler, das nehmen wir gern an!«, sagte Caro mit Nachdruck.
Der ältere Mann nickte. »Das beruhigt mich. Ihr habt Großes vor, der Schritt in die berufliche Selbstständigkeit hat viele Tücken und Fallstricke. Und, Caro, im Gegenzug könnten Sie mir auch einen Gefallen tun. Ich brauchte einen Arzttermin wegen meines Bluthochdrucks. Könnten Sie mich in der Praxis Seefeld möglichst schnell mit einplanen?«
»Natürlich, das ist kein Problem. Reicht Ihnen morgen Nachmittag? Dann kommen Sie doch gleich zu Beginn der Sprechstunde, ich schiebe Ihren Termin ein.«
»Vielen Dank! Ich werde pünktlich dort sein. Und jetzt vielen Dank für das Essen und den Abend mit euch, ich werde ins Hotel zurückgehen. Gute Nacht!«
Die jungen Leute räumten die Küche auf, zwischen Ihnen herrschte vorsichtiges Schweigen. Aber dann nahm Felix Caro in die Arme, senkte seinen Kopf zu ihr herab und lehnte seine Stirn gegen ihre. Das war eine Geste des Vertrautseins und der Verbundenheit, die sie mit niemand anderem teilten. »Caro, ich weiß, dass die kommende Zeit durch Fiona und das Baby besonders für dich schwer sein wird. Ich danke dir für dein Verständnis! Und bitte vergiss nie: du bist die Frau, die ich liebe und mit der ich mein Leben teile!«
»Ich weiß, Felix.«
Sie standen lange in dieser innigen Umarmung und schöpften Kraft aus ihrer Liebe und dem gegenseitigen Vertrauen.
*
Fiona Bartels hatte sich Emilias Worte über die ärztliche Versorgung hier vor Ort gut gemerkt und saß nun in der hübsch eingerichteten Praxis der Hebamme Anna Bergmann. Sie war untersucht worden, und alle Ergebnisse waren gut.
»Ihre leichte Anämie sollten wir in Auge behalten, Frau Bartels. Laut Mutterpass ist wieder eine Blutuntersuchung fällig. Ich empfehle Ihnen die Praxis von Doktor Seefeld, dort können wir auch gleich den nächsten Ultraschall machen. Und falls Sie länger in Bergmoosbach bleiben, könnten Sie sich auch für den Geburtsvorbereitungskursus anmelden.«
»Ja, bitte tragen Sie mich ein, und wann könnte ich den Ultraschalltermin in der Arztpraxis bekommen?«
»Wenn Sie wollen, gleich morgen Nachmittag, zu Beginn der Sprechstunde.«
»Schön, dann werde ich dort sein.«
Die erfahrene Hebamme musterte die Schwangere. Eigentlich war jetzt alles erledigt, und sie hätte gehen können, aber Fiona Bartels zögerte ihren Aufbruch hinaus.
»Haben Sie noch etwas auf dem Herzen? Kann ich Ihnen noch irgendwelche Fragen beantworten?«
Fiona lächelte schüchtern. »Ja, schon. Ich …, können die werdenden Väter mit zu den Vorbereitungskursen kommen?«
»Selbstverständlich kann Ihr Mann mit dabei sein!«
»Ich bin nicht mit dem Vater meines Babys verheiratet«, antwortete Fiona stockend. »Und unsere Situation ist ein wenig kompliziert. Vielleicht geht es nicht.«
»Warten Sie ab. Reden Sie mit ihm. Er wird Sie bestimmt unterstützen wollen! Ein liebevoller Partner ist das Beste für eine gut verlaufende Geburt.«
»Danke!« In Fionas hübschen Augen verlor sich der verzagte Ausdruck. »Ja, ich werde mit ihm reden. Bis morgen, Frau Bergmann.«
»Bis morgen, Frau Bartels.« Anna lächelte der Schwangeren aufmunternd zu. Fiona war eine dieser Frauen, die in der Schwangerschaft besonders gut aussahen. Haare, Haut, Augen – alles hatte einen besonderen Schimmer. Das feine Leuchten, das von ihr ausging, wirkte ansteckend. »Sie schaffen das!«
Jetzt lächelte die junge Frau ihr sanftes, süßes Lächeln. »Ja, inzwischen glaube ich das auch.«
In der Küche des Sonnenhofs war der Ansturm der Mittagsgäste abgeflaut, und der Chefkoch konnte sich eine kleine Pause gönnen. Felix holte sich ein großes Glas Rhabarberschorle und ging zu dem kleinen Sitzplatz hinaus, der für das Personal eingerichtet worden war. Mit einem zufriedenen Seufzer öffnete er die oberen Knöpfe seiner Kochjacke und wollte sich entspannt zurücklehnen, als sich die Gartenpforte öffnete und Fiona eintrat.
»Grüß Gott, Felix. Du hast gerade Mittagspause? Dann will ich dich nicht lange stören, du hast dir die freie Zeit wirklich verdient.«
»Hallo, Fiona«, grüßte Felix unbehaglich zurück. »Wie geht es dir?«
»Gut! Ich war eben bei der Hebamme zur Untersuchung, und alles ist in Ordnung. Ich habe nur eine leichte Anämie, aber das ist normal in der Schwangerschaft und wird überwacht, deswegen habe ich morgen einen Arzttermin bei eurem Doktor Seefeld.« Fiona holte etwas aus ihrer Handtasche und reichte es mit einem schüchternen Lächeln zu Felix hinüber. »Hier, das ist mein Mutterpass. Und das sind die Fotos vom Ultraschall. Ich dachte, vielleicht interessiert es dich, wie es unserem Kind geht und wie es aussieht?«
Sprachlos starrte Felix auf das seltsame schwarz-weiße Foto, das er in der Hand hielt. Unser Kind. Sein Kind! Je länger er starrte, desto mehr konnte er erkennen: die Rundung des Rückens, das Köpfchen … Er schluckte, sagen konnte er nichts.
»Morgen habe ich diesen Vorsorgetermin, bei dem auch wieder ein Ultraschall gemacht wird. Wir können unser Baby sehen, wie es sich bewegt, Felix! Und wir hören sein Herzchen schlagen! Das ist …, das ist einfach unbeschreiblich.« In Fionas blauen Augen schimmerten Tränen. »Ich bin in diesen Augenblicken immer allein gewesen, Felix, immer. Es wäre so schön, wenn du dieses Mal mitkommst. Du kannst dein Baby kennenlernen, deinen kleinen Jungen.«
»Wa-was?«, stammelte Felix, völlig überrumpelt. »Ja, ich, ja, ich komme gern mit.«
»Das ist sehr, sehr nett von dir!« Fionas Gesicht leuchtete. »Du ahnst nicht, wieviel mir das bedeutet, danke!« Sie verstaute den Mutterpass wieder in ihrer Tasche, das Ultraschallbild ließ sie auf dem Tisch liegen. »Das kannst du gern behalten, wenn du magst.«
»Ja«, flüsterte Felix.
Die junge Frau verabschiedete sich lächelnd. »Jetzt habe ich dich aber lange genug von deiner Pause abgehalten. Mach’s gut und bis morgen Nachmittag vor der Praxis Seefeld, in Ordnung?«
Felix nickte, die Augen auf das Foto gerichtet. Sein kleiner Junge! »Bis morgen, Fiona.«
Als er abends mit Caro am großen Esstisch über den Plänen für den nötigen Küchenumbau saß, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Immer wieder kreisten seine Gedanken um dieses unbekannte kleine Etwas, das sein Kind war.
Für das er die Verantwortung trug.
»Äh, übrigens hat Fiona morgen einen Termin in eurer Praxis«, sagte er.
»Ich weiß«, antwortete Caro, »morgen ist Hebammensprechstunde und Ultraschall. Ich habe ihren Termin gesehen.«
»Ich werde Fiona begleiten«, erwiderte Felix so ruhig, wie es ihm möglich war.
»Oh!« Caro blickte auf, in ihrem Blick lag mildes Staunen. »Warum musst du denn mitgehen? Es ist doch nichts Beunruhigendes, nur eine Routineuntersuchung.«
»Ich muss nicht mitgehen, ich möchte es!« Felix klang leicht gereizt. »Und warum sollte ich Fiona nicht begleiten? Immerhin ist es unser gemeinsames Kind, und bisher hat sie alles allei bewältigen müssen.«
Caro schluckte ihre bissigen Worte hinunter und bemühte sich um eine ruhige Antwort. »Du nimmst deine Verantwortung sehr ernst.«
»Gegenüber dem Kind, ja! Es kann nichts für diese seltsame Situation! Und irgendwie …, irgendwie denke ich, habe ich auch eine gewisse Verantwortung gegenüber der Mutter, das lässt sich nicht so einfach trennen.«
»In Ordnung, Felix. Dann erwarte ich euch morgen also zu zweit.«
Der junge Mann atmete auf und griff nach ihrer Hand. »Danke Caro! Ich kann mir vorstellen, wie seltsam dir das vorkommen mag. Ohne dein Verständnis wäre alles noch viel komplizierter.«
Caro gelang ein Lächeln.
»Schon gut, Partner. Lass uns jetzt weiter die Pläne des Architekten durchgehen.«
»Küsschen, Küsschen!«, krächzte Kondor von seiner Stange herüber.
»Gute Idee!«, grinste Felix. »Tante Magdalena hat gesagt, man soll ihm nicht widersprechen, sonst regt er sich nur fürchterlich auf.«
Sein Mund streifte Caros Lippen, und dann wandte er sich wieder den Plänen zu. Die junge Frau schaute zu dem Papagei hinüber, der leise »Caro-Caro-Caro« gurrte. Was hätte wohl Magdalena Albers zu diesem ganzen Schlammassel gesagt!, dachte sie.
*
Wie immer, warteten schon Leute auf der Bank vor dem Doktorhaus, als Caro die Tür aufschloss. Gerti saß über ihre Papiere gebeugt, als der erste Patient an ihren Tresen trat.
»Grüß Gott, Gerti Fechner!«, sagte eine warme Männerstimme, unter der ein Lächeln lag.
Gerti schaute auf, und ihr Herz blieb stehen. Blieb einfach für einen Sekundenbruchteil stehen und stolperte dann wieder los. Bilder längst versunkener Erinnerungen rasten an der älteren Frau vorbei. »Korbinian!«, hauchte sie. »Korbinian Wamsler!«
»So sehen wir uns wieder«, lächelte er. »Du, eine gestandene Frau als rechte Hand des Doktors, und ich ein älterer Mann, dem der Blutdruck zu schaffen macht.«
»Ja, äh, nein«, stammelte Gerti. »Fast fünfzig Jahre …«
»Ja, es ist lange her, dass du mir in der Tanzstunde den Kopf verdreht hast.«
»Ich …, was?« Fassungslos schaute Gerti zu dem Mann auf, der einmal ihre heimliche große Liebe gewesen war.
»Tanzschule Walthershof in der Kreisstadt? Abtanzball 1966? Sag bloß, du erinnerst dich nicht mehr!« Seine Augen lachten.
»Doch!« Mehr brachte Gerti nicht über die Lippen.
Zum Glück wurde das auch nicht von ihr erwartet, denn jetzt erschien Caro und bat Korbinian ins Sprechzimmer hinüber. Ehe er ging, reichte er Gerti seine Visitenkarte. »Ich möchte nicht noch einmal so viele Jahre vergehen lassen, ehe ich dich wiedersehe. Bitte ruf mich an, wenn du magst. Wir könnten uns verabreden.«
»Ja«, sagte Gerti schwach. Ihr Blick klebte an der Tür, die sich hinter dem Rücken des Mannes geschlossen hatte.
»Gerti? Gerti! Hallo, wo bist du?« Eine junge Stimme riss sie aus ihrer Fassungslosigkeit. Emilia stand mit einem breiten Grinsen vor ihr. »Gerti, ich hab jetzt schon zweimal gefragt, wo das Einschreiben ist, das ich zur Post bringen soll.«
»Äh, ja, das Einschreiben, das ist hier.« Mit fahrigen Bewegungen holte die Sprechstundenhilfe einen großen Umschlag hervor. Mit aller Macht versuchte sie, sich auf das zu konzentrieren, was bisher ihr Leben bestimmt hatte: ihre Arbeit. »Du musst bitte noch einen Moment warten, es sollen auch Proben eingeschickt werden, die sind aber noch nicht fertig verpackt.«
»Macht nichts, setz ich mich eben noch ins Wartezimmer und blättere die Zeitschriften durch.« Emilia setzte sich, und Gerti ging in einen anderen Raum, um das Päckchen versandfertig zu machen.
Jetzt war der Tresen nur mit Caro besetzt, die immer öfter auf die Uhr schaute. Sie war nervös. Gleich hatte diese Fiona Bartels ihren Termin, gemeinsam mit Felix. Als die beiden wenige Minuten später ankamen, holte Caro tief Luft und setzte ein freundliches Lächeln auf.
Süß!, war das erste Wort, das ihr durch den Kopf schoss. Diese Fiona wirkte einfach süß. Und war nicht dreist, wie sie es sich insgeheim vorgestellt hatte, sondern fast ein wenig schüchtern.
»Hallo, du musst Caro sein«, sagte sie leise. »Felix hat mir erzählt, dass du hier arbeitest. Es ist irgendwie eine komische Situation, aber wir werden schon das Beste daraus machen.«
»Sicher«, murmelte Caro. Sie versuchte, Felix’ Blick einzufangen, aber er schaute sie nicht an. »Bitte, setzt euch. Anna ist schon hier, und der Doktor ist gleich frei.«
Die beiden setzten sich zwischen die anderen Wartenden, die sie sehr aufmerksam musterten. Alle wussten, dass Felix und Caro ein Paar waren, deshalb fiel es auf, dass der junge Mann mit einer anderen Frau gekommen war. Einer anderen, schwangeren Frau!
Miriam Holzer hob die Zeitschrift vors Gesicht und raunte ihrer Nachbarin zu: »Vielleicht ist das ja seine Schwester? Blond und blauäugig sind beide.«
»Schmarrn! Seit wann hat denn der Messner Felix eine Schwester?«
»Stimmt auch wieder! Aber wer ist sie dann? Und schau mal, was die Caro für ein Gesicht macht!«
Die Tür zu Doktor Seefelds Sprechzimmer öffnete sich, er verabschiedete sich herzlich von Korbinian Wamsler und rief Fiona Bartels auf. Mit den vorsichtigen Schritten einer Hochschwangeren ging sie in das Zimmer, gefolgt von Felix, der für seinen erstaunten Onkel nur einen gemurmelten Gruß übrig hatte.
»Nanu?« Verwundert blieb Korbinian Wamsler am Tresen stehen und schaute Caro fragend an. »Warum geht Felix denn mit dieser jungen Frau gemeinsam zum Arzt?«
Er hatte nicht laut gesprochen, aber da das genau die Frage war, die sich auch die Damen im Wartebereich stellten, hörte man dort sehr genau zu. Caro lächelte gequält. »Das ist sozusagen ein Notfall, und es ist in Ordnung«, antwortete sie so leise, dass man es jenseits des Tresens kaum verstehen konnte.
Korbinian schaute sie scharf an. Er sah, dass die junge Frau nur mühsam die Fassung bewahrte. Nichts ist in Ordnung, dachte er alarmiert, sie will es nur hier in der Öffentlichkeit nicht sagen! Er beschloss, eine Notlüge aus dem Hut zu zaubern. »Äh, Caro, wir hatten doch locker einen Besprechungstermin für morgen Abend verabredet. Ist es Ihnen recht, wenn ich gleich nach Praxisschluss zu Ihnen ins Kapitänshaus komme? Dann können wir in Ruhe miteinander reden.«
Caro holte tief Luft und blinzelte die verräterischen Tränen weg. »Das ist mir sehr recht! Bis nachher, Herr Wamsler.«
»Korbinian, bitte! Bis nachher, Caro. Und bitte grüßen Sie noch einmal Ihre Kollegin von mir!«
»Gerti Fechner? Das tue ich gern.«
Korbinian verließ tief in Gedanken die Praxis. Wie das Leben so spielt! Eben noch war da nur die Freude über das unerwartete Wiedersehen mit seinem heimlichen Tanzstundenschwarm gewesen, jetzt schien es Kummer und ernste Schwierigkeiten im Leben seines Neffen zu geben, die ihn forderten.
In der Praxis zeigte die junge Sprechstundenhilfe eine äußerliche Gelassenheit, die sie nicht wirklich empfand. Immer wieder irrte ihr Blick zu dem Raum hinüber, in dem Felix und Fiona waren. Caro hätte zu gern gewusst, was sich jetzt hinter der geschlossenen Tür abspielte! Es war doch nur ein simpler Ultraschall, weshalb dauerte es denn so lange?
Sowohl die Blutabnahme als auch die routinemäßige Ultraschalluntersuchung waren gut verlaufen. Felix, der zunächst angespannt und merklich distanziert neben der Untersuchungsliege gestanden hatte, konnte sich der Faszination des werdenden Lebens nicht entziehen. Das war sein Kind, dessen Herz er schlagen hörte! Er sah sein Kind zusammengerollt im Mutterleib am Däumchen nuckeln! Es war unfassbar, und es war herzergreifend. Wie benebelt saß er später neben Fiona vor Doktor Seefelds Schreibtisch und hörte dem Gespräch zu.
»Wie sieht es mit Ihrem Schlaf aus, Frau Bartels, gibt es Schwierigkeiten? Hält Sie der Kleine oft nachts wach?«
»Nein, nicht mehr, als es in allen klugen Büchern steht. Es ist nur – ich kann allgemein nicht gut einschlafen und liege oft stundenlang wach«, antwortete Fiona leise.
»Warum? Gibt es körperliche Gründe? Rückenschmerzen oder vielleicht Wadenkrämpfe?«
»Nein, das ist es nicht. Es ist eher … meine gesamte Situation«, stammelte die junge Frau. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie senkte den Kopf.
Sebastian Seefeld und Anna wechselten einen beredten Blick. »Mögen Sie darüber reden, Frau Bartels?«, fragte die Hebamme sanft.
Fiona schien mit sich zu ringen. »Ich, ich schäme mich so!«, flüsterte sie. »Noch nie bin ich in einer derartigen Situation gewesen, so …, so hilflos. Alles ist mir aus den Händen geglitten. Ich habe meine Arbeit verloren, dann konnte ich die teuren Münchner Mieten nicht mehr bezahlen. Ich habe alles verkauft, was sich zu Geld machen ließ, alles. Jetzt habe ich nur noch den Koffer mit meiner Kleidung, und ich wohne in einem Hotel, das ich mir nicht leisten kann, aber ich weiß doch nicht, wohin! Ich habe niemanden aus meiner Familie mehr, ich bin ganz allein. Und ich habe solche Angst!«
Während des Redens hatte sie zu weinen begonnen, was sich immer weiter zu einem verzweifelten Ausbruch steigerte. Sie schluchzte und redete und verlor immer mehr die Fassung. Ihre Hände umklammerten die Stuhllehnen, ihr Gesicht war jetzt hochrot, und mit weit aufgerissenen Augen rang sie nach Atem. »… kriege… keine … Luft …!«
»Panikattacke!« Mit einem Schritt waren Doktor Seefeld und Anna bei ihrer verängstigten Patientin und hoben sie auf die Liege. »Doch, Sie bekommen Luft, alles wird gut!«, redete der Arzt beruhigend auf seine Patientin ein. »Sehen Sie? Ein Atemzug nach dem anderen, so ist es gut!«
»Wir lassen Sie doch nicht allein, wir sind bei Ihnen!« Das war die Hebamme, die beruhigend über Caros Stirn und die Schläfen strich. »Sie sind nicht allein!«
Unter Felix’ schreckgeweiteten Augen rang Caro noch ein paar Mal nach Luft, dann normalisierten sich ihre Atemzüge, und sie sank schlaff auf die Liege zurück. »Es ist mir so peinlich!«, stammelte sie. »Bitte, ich wollte nicht, dass Sie das mitbekommen.«
»Haben Sie diese Panikattacken schon länger?«, fragte der Arzt.
Fiona nickte. »Ja, seitdem mein Leben so aus den Fugen gegangen ist. Seitdem ich nicht mehr weiß, wo und wie ich leben kann.«
Sebastian und Anna wechselten einen Blick.
»Aber das ist ja furchtbar!« Felix beugte sich angstvoll über die junge Frau. »Ich hatte keine Ahnung, dass es dir so schlecht geht! Warum hast du mir das nicht gesagt?«
Caro schlug die Hände vors Gesicht. »Ich will dir doch nicht lästig fallen! Ich will nur, dass du von dem Baby weißt und zu ihm hältst. Um mich geht es doch gar nicht, wir sind kein Paar.«
Felix raufte sich buchstäblich die Haare. »Wie soll das denn jetzt weitergehen, Doktor Seefeld? Was braucht Fiona, damit es ihr wieder besser geht? Diese Anfälle bedeuten doch sicher auch einen wahnsinnigen Stress für das Baby.«
»Ja, das leidet auch«, antwortete die Hebamme bestimmt.
Der Landdoktor schaute Felix ernst an.
»Womit Frau Bartels am meisten geholfen ist, sind Ruhe und Sicherheit. Sie braucht zuverlässige Unterstützung und einen festen Bezugspunkt in ihrem Leben. Nur so kann sie wieder ins innere Gleichgewicht kommen.«
Der junge Mann schaute ebenso ernst zum Doktor zurück. »Ich verstehe!«, sagte er nachdrücklich. »Das können wir nur alle gemeinsam meistern, aber bei mir liegt die größte Verantwortung. Fiona, kannst du dir vorstellen, zu uns ins Kapitänshaus zu ziehen? So lange, bis du dich wieder stabilisiert hast oder vielleicht bis zur Geburt?«
»Das Kapitänshaus, was ist das? Und was wird deine Caro dazu sagen? Das kann ich ihr nicht zumuten.«
»So heißt das Haus, in dem Caro und ich wohnen. Und Caro ist großartig, sie hat bestimmt Verständnis für deine Situation, außerdem hat sie eine medizinische Ausbildung. Sie wird wissen, dass wir das jetzt einfach tun müssen.«
Wieder wechselten der Arzt und die Hebamme einen Blick.
»Anna, könntest du bitte hier bei Frau Bartels bleiben? Ich bin gleich wieder zurück. Herr Messner, würden Sie kurz mit nach nebenan kommen?«
Im Nebenzimmer sagte Doktor Seefeld leise: »Herr Messner, Ihr Verhalten ehrt Sie, aber Frau Bartels in Ihr Haus aufzunehmen, das ist ein sehr großer Schritt, besonders für Ihre Partnerin! Sie sollten sie nicht einfach vor vollendete Tatsache stellen. Bitte, erklären Sie ihr vorher die Situation!«
»Caro, natürlich! Kann ich kurz mit ihr sprechen?«
»Einen Moment.« Doktor Seefeld ging zur Anmeldung, bat Caro ins Zimmer und ließ das Paar dann allein.
»Caro, es gibt Probleme!« Felix’ Gesicht war gerötet, und seine Haare waren zerrauft.
»Ist etwas mit dem Baby?«, fragte die junge Frau erschrocken.
»Nein, mit ihm ist zum Glück alles in Ordnung, aber Fiona geht es sehr schlecht«, antwortete Felix, und dann erzählte kurz von ihrer finanziellen Lage und ihren Panikattacken.
»Moment, wie kann sie ihre Arbeit verlieren, wenn sie schwanger ist? Dann kann ihr doch nicht gekündigt werden«, entgegnete die vernünftige Caro.
»Was? Darum geht es doch jetzt nicht!« Wieder fuhr Felix sich nervös mit allen zehn Fingern durch die Haare. »Sie hat kein Geld, kein Dach überm Kopf und keine Familie, zu der sie gehen könnte. Ich bin für sie verantwortlich. Unser Haus ist so groß und hat so viele Zimmer, die wir im Augenblick nicht brauchen. Ich schlage vor, dass Fiona vorübergehend bei uns einzieht.«
»Das ist ein bescheuerter Vorschlag!«, erwiderte Caro böse. »Wie stellst du dir das denn vor!«
»Irgendwie wird es schon gehen. Bitte, Caro! Fiona ist hochschwanger und braucht Ruhe und Unterstützung. Das mit dem Wohnen ist doch nur für kurze Zeit, höchstens bis zur Geburt.«
»Nein, nicht bis zur Geburt! Eine Woche, bei mehr mache ich nicht mit«, antwortete Caro kühl. »Sie wird schon etwas finden. Du wirst sie und das Kind finanziell unterstützen, das muss reichen. Schließlich lebt sie nicht hier in Bergmoosbach. Sie ist nur gekommen, um dir von dem Kind zu erzählen.«
»In Ordnung. Danke, Caro, du bist großartig«, murmelte Felix. »Jetzt bringe ich sie erst einmal zu uns nach Hause.« Er verließ mit einer verweint aussehenden, aber gefassten Fiona die Praxis.
Caro stapfte zum Tresen zurück und versuchte, ihre Gefühle zu verbergen, als sie die nächste Patientin aufrief: »Frau Kornbichler, bitte.« Diesen Nachmittag freundlich und professionell zu bleiben, kostete die junge Frau sehr viel Mühe. Enttäuschung, Zorn und große Traurigkeit breiteten sich in ihr aus. Noch vor kurzem hast du mir Vergissmeinnicht geschickt. Wie konnte es nur passieren, dass unser Leben so aus den Fugen gerät?, dachte sie mit Tränen in den Augen.
*
Als die junge Frau an diesem Abend nach Hause kam, stand Felix in der Küche und bereitete das Essen zu. Seine Umarmung war innig, und es war deutlich, dass er sich sehr freute, Caro zu sehen. »Du bist großartig, mein Schatz!«, murmelte er. Er schmiegte seine Wange gegen ihr Haar und wiegte sie sanft in seinen Armen. »Glaub nur nicht, dass ich vorhin in der Praxis nicht immerzu an dich gedacht habe! Es muss doch eine ziemlich schräge Situation für dich gewesen sein.«
Caro stiegen Tränen in die Augen. »Ja, das war es auch. Aber ich weiß, wo du stehst, mein Liebster! Und es jetzt noch einmal von dir zu hören, macht es leichter.« Sie lächelte. »Wo ist denn unser unerwarteter Besuch?«
»Fiona sitzt im Garten. Es ist noch so schön warm, wir sollten draußen essen. Komm, nimm dir diesen Vitamintrunk mit nach draußen und setzt dich. In fünf Minuten bringen ich unser Essen.«
»Mhm, perfekt. Du bist mein Traummann!«
»Das will ich hoffen!«
Caro nahm sich ein Glas mit frisch gepresstem Möhren-Orangensaft und ging nach draußen. Unterwegs wurde sie begeistert von Kondor begrüßt, der auf ihre Schulter hüpfte. Der Papagei knabberte an ihren blauen Haarsträhnen und schwatzte ununterbrochen mit ihr.
»Das freut mich, dass du einen so schönen Tag hattest«, antwortete Caro amüsiert. Sie ging in den Garten hinaus, wo Fiona bequem zurückgelehnt in einem Stuhl saß, die Beine hochgelegt und mit einem Glas in der Hand. Als die junge Frau Schritte hörte, öffnete sie die Augen und zog ihre Beine zurück, sodass Caro sich setzen konnte.
»Oh, ich glaube, ich war tatsächlich eingenickt«, sagte sie entschuldigend.
»Das ist doch ein gutes Zeichen, dann geht es dir wieder besser?«
»Ja, danke. Ich konnte mich hier dank Felix’ liebevoller Betreuung ganz entspannen. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, euch neben eurer Berufstätigkeit so viel Mühe zu machen.«
Caro lächelte. Nein, ich werde jetzt nicht sagen: aber das ist doch keine Mühe, wir tun es gern für dich, dachte sie. Stattdessen antwortete sie leichthin: »Das passt schon, Felix und ich sind ein gutes Team. Besuch ist für uns kein Problem.«
»Das beruhigt mich.« Verlegen drehte Fiona ihr Glas mit Möhrensaft in den Händen. »Dass Felix und ich heute zusammen zur Untersuchung gegangen sind, muss doch komisch für dich gewesen sein. Ich meine, du …«
»Mach dir darüber keine Gedanken«, unterbrach Caro die andere Frau. »Felix und ich haben darüber gesprochen. Ich finde es gut, dass er zu seiner Verantwortung dem Kind gegenüber steht, das hat weniger mit dir zu tun.«
»Natürlich«, antwortete Fiona rasch.
»So, die Damen, dreimal Bayerische Brotzeit als Abschluss eines ereignisreichen Tages!«, verkündete Felix und stellte schwungvoll drei hübsch angerichtete Holzbretter auf den Tisch. »Guten Appetit!«
»Mhm, du verwöhnst uns. Danke, Schatz!« Caro küsste ihn, als er sich neben sie setzte.
Während sie und Felix mit gutem Appetit von den alpenländischen Spezialitäten aßen, pickte Fiona eher unlustig auf ihrem Brett herum.
»Schmeckt’s nicht?«, erkundigte Felix sich.
»Ich will nicht undankbar sein, aber… ein guter Salat hätte mir auch gereicht«, stotterte Fiona.
»Dann iss halt nur die Gemüsebeilage«, antwortete Caro unbekümmert.
Fiona knabberte eher lustlos an einem Tomatenstück herum. Ihre Augen waren auf Kondor gerichtet, der in einiger Entfernung auf seiner Stange hockte und ihren Blick starr erwiderte. »Ist dieser Vogel eigentlich überall mit dabei? Hat er denn keinen Käfig?«, fragte sie plötzlich.
»Nein, wieso?« Caro schaute überrascht auf.
»Mir ist aufgefallen, dass er überall in Haus und Garten sein darf.«
»Ihm gehört dieses Haus«, antwortete Felix trocken.
»Wie bitte?« Fiona schaute ihn verständnislos an.
Felix winkte ab und griff nach seinem Bierkrug. »Das erzählen wir dir ein anderes Mal.«
Fiona lächelte entschuldigend. »Ich meine ja nur – Papageien übertragen Krankheiten, und ich muss doch auf unseren Schatz aufpassen, Felix.« Mit einer liebevollen Geste streichelte sie über ihren runden Bauch.
»Du brauchst ihn ja nicht anzufassen. Ignoriere ihn einfach«, riet Caro.
Plötzlich reckte Kondor seinen Kopf vor und zischte wie eine Schlange. Dann krächzte er: »Magdalena, Magdalena, Magdalena!« Es lag etwas unglaublich Herausforderndes in seinem Ruf.
Felix und Caro wechselten einen Blick. »Es ist das erste Mal seit ihrem Tod, dass er Magdalenas Namen sagt«, stellte der junge Mann fest.
»Bitte seid mir nicht böse, aber ich finde ihn ein wenig unheimlich«, sagte Fiona. Unruhig schaute sie den Papagei an, der intensiv zurückstarrte. »Ich glaube, ich lege mich jetzt ins Bett und lese noch etwas. Es war ein langer Tag. Und nochmal danke an euch beide, dass ich hier wohnen kann!« Sie nickte ihnen freundlich zu und ging mit vorsichtigen Schritten hinüber zum Haus.
»Wo hast du sie eigentlich untergebracht?«, erkundigte Caro sich.
»Im kleinen Zimmer im Erdgeschoss, dann braucht sie keine Treppen zu steigen, und das Gästebad ist auch gleich nebenan.«
»Na gut, die paar Tage bis zu ihrer Abreise stehe ich durch.« Caro streckte die Hand nach ihrem Liebsten aus und zog ihn sanft zu sich herüber. »Und jetzt lass uns die Einquartierung vergessen und diesen Sommerabend in Magdalenas schönem Garten genießen!«
*
Auch im Doktorhaus nutzte man den lauen Sommerabend und saß zum Abendessen im Garten. Hebamme Anna, eine gute Freundin der Familie, war nach der gemeinsamen Sprechstunde geblieben und saß, wie so oft in letzter Zeit, mit am Tisch. Für sie waren diese Momente besonders schön und kostbar, denn sie hatte ihr Herz rettungslos an Sebastian Seefeld verloren. Sie wusste, dass er den tragischen Tod seiner geliebten Frau Helene noch nicht verwunden hatte, aber sie wusste auch, wie sehr er sie schätzte. Und dass es nicht nur berufliche Sympathien waren, die sie miteinander verbanden.
Sebastian legte sein Besteck zur Seite und warf seiner Tochter einen fragenden Blick zu. »Du bist heute so still, Emilia. Eben hast du kaum etwas gesagt, das kenne ich gar nicht von dir. Ist alles in Ordnung, meine Große?«
»Ja, schon, Papa.« Emilia lächelte kurz, aber dann erschien wieder diese leichte Falte auf ihrer Stirn, die ihrem Vater während der Mahlzeit aufgefallen war. »Es ist nur – ich finde diese Sache mit Felix und dieser Fiona schon komisch.«
Sebastian und Anna wechselten einen raschen Blick.
»Was meinst du damit?«, fragte Traudel, die gute Seele des Doktorhauses, alarmiert. Sie mochte die neue Sprechstundenhilfe sehr gern und freute sich mit ihr an ihrer jungen Liebe. »Von welcher Fiona sprichst du?«
»Dieser Frau, die ein Baby erwartet und sich irgendwie an Felix gehängt hat. Als ich auf die Post gewartet habe, hab ich das Getuschel im Wartezimmer mitbekommen und dann auch später auf der Post. Diese Fiona wohnt jetzt mit im Doktorhaus.«
»Seit wann kümmerst du dich denn um Gerede?«, warf ihr Vater ein. »Das interessiert dich doch sonst nicht.«
»Seitdem das etwas mit Caro zu tun hat!«, antwortete seine Tochter energisch. »Ich hab doch gesehen, dass sie heute in der Praxis fast geweint hat, als Felix mit der anderen Frau aus der Praxis gegangen ist.«
Wieder wechselten ihr Vater und Anna einen besorgten Blick.
»Ha! Das hab ich gesehen! Irgendetwas stimmt nicht mit Fiona, Felix und Caro«, sagte das junge Mädchen.
»Emilia, deine Freundschaft zu Caro in allen Ehren, aber bitte, verrenne dich nicht in etwas!«, gab ihr Großvater Benedikt zu bedenken. »Es sind drei erwachsene, vernünftige Menschen, die ihr Leben sehr gut selbst verantworten können.«
»Hab ich denn etwas anderes behauptet?« fragte Emilia kampfesmutig.
Ihr Großvater Benedikt lächelte sie über den Tisch hinweg liebevoll an. »Nein, hast du nicht. Du wirst schon wissen, was du tust und wo deine Grenzen sind.«
Emilia nickte zufrieden. Sie hatte keinesfalls vor, sich am dörflichen Gerede zu beteiligen, aber sie würde Augen und Ohren offenhalten. Sollte wirklich etwas nicht stimmen an dieser merkwürdigen Caro-Felix-Fiona-Geschichte, dann würde sie schon dahinterkommen.
Später am Abend begleitete Sebastian seine Kollegin und Vertraute Anna nach Hause. Gleichzeitig war es die letzte Runde für den Familienhund Nolan, und das verspielte Jungtier nutzte den Auslauf mit Begeisterung für aufregende Versteckspiele und ausgelassene Kapriolen. Dadurch zog sich der Weg zwischen dem Doktorhaus und Annas Wohnung über der Apotheke beträchtlich in die Länge, was aber weder Sebastian noch Anna störte. Im Gegenteil! Beide genossen diesen Spaziergang in der Gegenwart des anderen. Zwischen ihnen herrschte eine Art der Übereinstimmung, die mehr war als nur ein gutes kollegiales Verhältnis.
»Was hältst du eigentlich von Frau Bartels?«, fragte der Landdoktor plötzlich. »Es ist wirklich eine eigenartige Situation für alle Beteiligten.«
»Vor allem für Caro«, stimmte die junge Hebamme zu. »Zum Glück ist Frau Bartels zurückhaltend und drängt sich nicht rücksichtslos zwischen das Paar. Sie wirkt mindestens ebenso verunsichert wie Caro.«
»Ja, den Eindruck hatte ich auch. Sie stellt keine Forderungen, sondern es ist ihr sichtlich unangenehm, Felix zu bemühen.«
»Es wird für alle keine leichte Zeit. Du und ich wissen, dass Felix der Vater des Babys ist, aber damit wird Frau Bartels nicht hausieren gehen. Das heißt, dass die Gerüchteküche brodelt.«
»Wie Emilia bereits bemerkt hat!«
Anna nickte ernst. »Sie wird traurig sein, wenn sie erfährt, dass Caros und Felix’ Liebesgeschichte jetzt einer schweren Belastungsprobe ausgesetzt ist. Ich weiß, wie nett sie die beiden findet, und in letzter Zeit ist sie oft im Kapitänshaus gewesen. Sie ist Feuer und Flamme für die Zukunftspläne des Paares.«
»Vielleicht beruhigt sich die Situation ja bald. Frau Bartels ist hier nur zu Besuch, sie wird auch wieder abreisen. Felix findet bestimmt einen Weg, seiner Verantwortung gerecht zu werden und trotzdem mit Caro zu leben.«
»Das hoffe ich auch. Frau Bartels macht einen vernünftigen und sympathischen Eindruck. Das ist die beste Voraussetzung dafür, dass es nicht zu großen Konflikten kommt.«
Inzwischen hatte das Paar Annas Wohnung erreicht und musste sich von einander verabschiedeten. Wie immer geschah das mit leisem Bedauern und der heimlichen, prickelnden Vorfreude auf das nächste Wiedersehen.
»Gute Nacht, Anna, und bis bald!«
»Gute Nacht, Sebastian, bis bald!«
*
Gewitterstimmung lag über dem Land. Es war drückend und schwül, und Caro klebte das Kleid am Körper. Sie hatte den weißen Kittel geöffnet, aber viel half das bei dieser Hitze nicht. Sie freute sich auf ein entspannendes, kühles Bad und anschließend einen ruhigen Abend mit Felix. Es würde bestimmt ein Gewitter geben und dann wäre es schön, in der Veranda zu sitzen und dem Regen zuzuschauen, der über das Glasdach strömte. Bei dieser netten Vorstellung lächelte sie voller Vorfreude.
Und auf noch etwas freute sie sich, und das war Gertis Gesicht, wenn sie aus der Apotheke zurückkommen würde. Die Gärtnerei Tausendschön hatte einen Blumenstrauß geliefert, der für Gerti Fechner bestimmt war! Caro hatte ihn auf den Schreibtisch ihrer Kollegin gestellt.
Gerti war vom Wetter ebenso mitgenommen wie alle anderen, aber ihre Gereiztheit verflog, als sie die Praxis betrat. Ihr feiner Geruchssinn meldete ihr etwas Ungewöhnliches. »Oh! Wonach duftet es denn hier? Sind das etwa Veilchen?«
»Schauen Sie doch nach«, antwortete Caro vergnügt und wies auf den anderen Schreibtisch.
»Blumen? Für mich?« Ungläubig entfernte Gerti das Einwickelpapier – und dann musste sie sich setzen.
Veilchen. Die Blumen, die für sie untrennbar mit ihrer heimlichen Liebe verbunden waren. Ein fast fünfzig Jahre altes Sträußchen lag getrocknet und gepresst zu Hause in ihrem Lieblingsbuch in ihrem Zimmer.
Liebe Gerti, las sie auf der beiliegenden Karte, ich habe Dir schon einmal Veilchen geschenkt, vor vielen Jahren bei unserem Abtanzball, erinnerst Du Dich? Gerti, das Mädchen im silber-weißen Kleid, und der Duft von Veilchen gehören seitdem für mich zusammen.
Aus dem zarten Kleid ist inzwischen ein gestärkter Arztkittel geworden, und der dünne Junge von damals ist – nun, lass es mich so sagen – in seinen Namen Wamsler hineingewachsen.
Mach mir die Freude und triff Dich mit mir, wir könnten über alte Zeiten und alles, was das Leben uns gebracht hat, reden. Darf ich Dich morgen um 20:00h zum Essen abholen?
Es freut sich auf Dich
Korbinian
Gerti ließ die Karte sinken. Es war zu viel auf einmal, sie konnte es gar nicht ganz fassen, was da eben passiert war. Korbinian, ihre große, heimliche Liebe, schickte Blumen und wünschte sich eine Verabredung mit ihr? Sie begegnete Caros Blick mit leuchtenden Augen.
»Gerti, ist alles in Ordnung bei Ihnen?«, erkundigte sich ihre junge Kollegin.
»Wie? Ja, ich glaube, schon«, antwortete Gerti. Ihr Blick wanderte zwischen den Blumen und der Karte hin und her, und ihr Gesicht strahlte, wie Caro es noch nie erlebt hatte. »Es ist alles in Ordnung!«
»Wie schön, das freut mich«, antwortete Caro aufrichtig. Sie schaute zu, wie Gerti die Karte sehr behutsam in ihrer Handtasche verstaute.
Für den Rest des Nachmittags schwebten Veilchenduft und Gertis Lächeln wie eine nicht fassbare, zarte Verheißung durch die Praxisräume und sorgten trotz der drückenden Hitze für Leichtigkeit.
Ein wenig von dieser Leichtigkeit begleitete Caro, als sie abends nach Hause ging. Vor ihr lag ein schöner Abend mit ihrem Freund, den sie ohne Gespräche über oder gar mit Fiona verbringen wollte. »Liebling, bin jetzt zu Hause!«, rief sie in der Vorhalle und seufzte vor Behagen, als sie die Kühle des alten Hauses umfing. Sie schleuderte ihre Schuhe von den Füßen und lief über die Steinfliesen hinüber zu Felix, der in der Küche Salat zubereitete. Caro ließ sich in seine Umarmung fallen und rieb zärtlich ihre Nasenspitze an seiner. »Du Armer, hast heute am Herd stehen müssen! Gut, dass du dich wenigstens jetzt nur mit Salat beschäftigen musst.«
»Ja, Fiona meinte auch, dass Salat das einzige ist, was man heute Abend essen kann.«
So, Fiona meinte das also … Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute Caro auf die große Salatschüssel, in der sich das Gemüse häufte. »Fiona hat noch nicht gegessen?«
»Caro, sie ist bei uns zu Gast! Wäre das nicht ein bisschen merkwürdig, wenn wir sie allein essen ließen?«
»Hier ist so einiges merkwürdig!«, murmelte Caro. Weil sie gerade herzhaft in einen Apfel gebissen hatte, schien Felix es nicht gehört zu haben.
»Ich gehe jetzt in die Badewanne«, verkündete sie. »Darauf habe ich mich schon den ganzen Tag gefreut.«
»Hm, da musst du erst gucken, ob Fiona schon fertig ist.«
Caro glaubte, sich verhört zu haben.
»Wie bitte? Was macht Fiona oben in unserem Badezimmer?«
»Sie nimmt ein Bad!«, antwortete Felix mit leichter Ungeduld in der Stimme. »Unten gibt es nur eine Dusche.«
»Und das war unbedingt nötig? Dass sie badet? Oben in dem Bad, das hinter unserem Schlafzimmer liegt?«
»Mensch, Caro, jetzt hab dich nicht so!« Felix war genervt. »Sie ist schwanger, es ist heiß, ihre Knöchel waren geschwollen, und sie hatte Rückenschmerzen. Warum soll sie sich nicht in der Wanne entspannen dürfen?«
»Weil es unser persönlichster Bereich ist! Man muss durch unser Schlafzimmer gehen, und dort haben Dritte nichts verloren! Außerdem ist mir auch heiß, meine Füße sind auch dick, und ich will mich nach einem langen Arbeitstag in meiner Wanne entspannen!«
»Geh halt unter die Dusche und hör auf, dieses Theater zu veranstalten! Ist doch wurscht, ob du nun duschst oder badest.«
»Ist es nicht! Außerdem geht es …«
»Merkst du eigentlich, wie kindisch du dich anhörst?«, unterbrach Felix sie gereizt.
Caro blieb der Mund offen stehen. »Du verstehst aber auch rein gar nichts!«, fauchte sie und schlug wütend die Küchentür hinter sich zu. Mit wenigen Sätzen rannte sie die Treppe nach oben, durch ihr Schlafzimmer und bummerte heftig gegen die geschlossene Badezimmertür. »Fiona? Komm raus! Jetzt gehört meine Badewanne mir!«
Von innen antworteten leises Wasserplätschern und ein erschrockenes Stimmchen: »Oh, je, du klingst sauer. Entschuldige bitte, ich bin gleich fertig.«
Mit wütenden Bewegungen zerrte Caro frische Kleidung aus ihrem Schrank. Als die Badezimmer aufging, drehte sie sich mit einem Ruck um und schleuderte der anderen jungen Frau einen bitterbösen Blick zu. Fiona ließ den Kopf hängen. »Entschuldige bitte, ich wollte nicht aufdringlich sein! Felix hat mir euer Bad angeboten, und ich dachte, es sei in Ordnung.«
»Nein, das ist nicht in Ordnung! Es ist mir viel zu dicht!« Böse starrte Caro die andere Frau an. »Du strapazierst meine Gastfreundschaft und meine Nerven.«
»Es tut mir leid«, wisperte Fiona, und dann kamen die Tränen. »Ich wusste nicht, dass du dich so aufregen würdest. Ich wollte dich doch nicht verärgern! Es ging mir nicht besonders, und das Baden hat uns so gutgetan.« Wie beschützend legte sie die Hände auf ihren Bauch. Mit einem zittrigen Lächeln fragte sie: »Ist jetzt wieder alles in Ordnung zwischen uns?«
Caro schluckte die eigentliche Antwort hinunter und nickte. »Lass uns beim Essen weiterreden.« Sie wartete, bis die andere junge Frau das Zimmer verlassen hatte, dann verriegelte sie die Türen und ließ frisches Wasser in die Wanne laufen. Es war kühl, duftend und angenehm, aber die gewünschte Entspannung brachte es leider nicht.
Dunkle Gewitterwolken zogen sich langsam zusammen, als die drei jungen Leute in der Veranda am Abendbrottisch saßen. Fiona bemühte sich um gute Stimmung und versuchte, über unverfängliche Themen zu plaudern.
Felix schien den Streit in der Küche vergessen zu haben und unterhielt sich gut mit der jungen Frau.
Caro aß schweigend. Irgendwann legte sie das Besteck zur Seite und schob den noch halbvollen Teller von sich. »Ich glaube, es ist an der Zeit, ein paar Dinge zu klären«, begann sie. »Felix weiß jetzt von der Vaterschaft, und ihr werdet Dinge wie Unterhalt, Besuchsrecht usw. mit unserem Anwalt klären können.«
»Anwalt?« Fiona schaute erschrocken auf. »Aber wieso brauchen wir denn einen Anwalt? Wir verstehen uns doch auch so.«
»Es ist besser so, diese Dinge von einem Juristen festlegen zu lassen«, antwortete sie ruhig. »Das betrifft aber nur Felix und dich. Etwas anderes ist es mit deinem Besuch hier im Haus. Das geht so nicht mehr und deshalb frage ich ganz direkt, wann du nach München zurückfährst.«
Fiona biss sich auf die Lippen und warf Felix einen hilfesuchenden Blick zu. »Weißt du, das ist nicht so einfach«, begann sie zögernd. »Ich habe meine Wohnung in München aufgegeben. Das Leben dort ist teuer, und ich werde es mir mit dem Baby nicht leisten können. Außerdem finde ich, dass ich nicht das Recht habe, unseren Sohn von seinem Vater fernzuhalten oder Felix seinen Sohn vorzuenthalten. Deshalb wäre es das Beste für das Kind, wenn Felix und ich uns das Sorgerecht teilen, einvernehmlich und ganz ohne Streit. Ich werde hier in Bergmoosbach leben, und Felix und ich kümmern uns gemeinsam um die Erziehung unseres Sohnes.«
Caro blieb jede Antwort im Hals stecken. Sie starrte Felix an, der wie betäubt zwischen den beiden Frauen hin und her schaute.
»Hast du davon gewusst?«, fragte Caro.
»Was? Ich, nein, hab ich nicht«, stotterte er. »Ich bin von der Entwicklung genauso überrascht wie du. Aber – wenn ich darüber nachdenke, dann glaube ich, dass Fionas Vorschlag gut ist. Wenn wir alle hier vor Ort wohnen, kann ich mich wirklich am besten um den Kleinen kümmern.«
»Aber es ist nicht geplant, dass Fiona und das Baby mit im Kapitänshaus wohnen? Eine große, glückliche Familie unter einem Dach?«, antwortete Caro mit beißendem Spott.
»Natürlich nicht«, sagte Fiona unter Tränen. »Es tut mir so leid, dass alles so kompliziert ist! Ich suche mir so schnell wie möglich eine kleine, bezahlbare Wohnung hier in der Nähe. Ich habe schon Leute angesprochen, und die nette Kioskbesitzerin hat einen Aushang gemacht.«
»Afra!«, murmelte Caro und warf die Serviette zerknüllt auf den Tisch. »Na, bravo! Dann weiß es jetzt ja das ganze Alpenvorland.«
»Aber was soll ich denn tun?« Unglücklich schaute Fiona das junge Paar an. »Wenn ich eine Wohnung finden will, dann muss ich doch rumfragen.«
»Schon gut, mach dir jetzt keine Gedanken.« Felix drehte nervös das Glas zwischen seinen Fingern. »Wir müssen nur zusammenhalten, dann schaffen wir das!«
»Zu welcher von uns beiden hast du das jetzt gesagt?« Caro war sehr blass geworden. »Mir reicht’s an Gesprächen für heute Abend! Ich gehe ins Bett.«
»Caro, bitte …«, sagten Fiona und Felix wie aus einem Mund, aber das hörte die junge Frau nicht mehr, sie war schon halb die Treppe hinaufgelaufen.
»Sie ist verletzt«, sagte Fiona unglücklich. »Und das ist das Letzte, was ich wollte. Ach, Felix, ich wusste doch nicht, dass du mit einer Freundin zusammenlebst, als ich nach Bergmoosbach gereist bin.«
»Schon gut, du willst ja nur das Beste für das Baby«, murmelte Felix und tätschelte abwesend ihre Hand. »Caro wird sich wieder beruhigen.«
»Meinst du?« Fiona lächelte unter Tränen. »Der Gedanke, dass ihr meinetwegen streitet, ist ganz schrecklich! Ihr gehört doch zusammen!«
»Ja, das tun wir«, antwortete Felix. »Komm, setzt dich drüben ins Wohnzimmer und leg die Beine hoch. Ich räume ab, klare die Küche auf und gehe dann ins Bett. Morgen wartet ein langer Tag im Sonnenhof auf mich, wir haben eine Hochzeit.«
»Ich denke, ich werde auch ins Bett gehen, diese Zeit der Schwangerschaft ist ziemlich anstrengend. Gute Nacht, Felix, und danke für alles!« Fiona stand auf und hauchte einen zarten Kuss auf seine Wange. »Schlaf gut.«
»Äh, ja, schlaf auch gut, Fiona.«
Die Arbeiten in der Küche dauerten nicht lange, und bald darauf betrat Felix leise sein Schlafzimmer. Es brannte kein Licht, aber im Flackern des herannahenden Gewitters konnte Felix erkennen, dass Fiona wach im Bett lag. Er legte sich neben sie und zog sie behutsam in seine Arme. In ihren waldseegrünen Augen las Felix Liebe und Angst. In das Krachen der ersten Donnerschläge hinein sagte sie: »Bitte, Felix, lass nicht zu, dass das zwischen uns kommt. Ich liebe dich so sehr.«
»Und ich liebe dich, meine Einzige!«, murmelte er an ihren Lippen.
Caro schlang die Arme um seinen Hals und versank in seinem Kuss. Alles wird gut!, dachte sie verschwommen. Sie hörten weder den nächsten lauten Donnerschlag, noch den ängstlichen Schrei, der aus dem Treppenhaus zu kommen schien. Erst lautes Klopfen und dann das Öffnen ihrer Schlafzimmertür ließ das Liebespaar aufschrecken.
Fiona stand im Zimmer, barfuß und mit angstgeweiteten Augen. Mit ihren offenen, langen Haaren und dem weißen Nachthemd sah sie aus wie ein verloren gegangenes Sterntalermädchen. »Bitte, bitte«, flehte sie. »Ich kann nicht allein sein, ich habe solche Angst vor Gewitter, solche Angst!«
»Aber du möchtest jetzt nicht zu uns ins Bett!«, höhnte Caro bitter.
»Bitte!« Fionas Hände flogen an ihren Hals. »… keine … Luft …!«
»Fiona!« Mit einem Satz war Felix aus dem Bett und legte beruhigend den Arm um die heftig zitternde Frau. »Fiona, kein Grund für eine Panikattacke, wir sind bei dir! Siehst du? Du bist nicht allein.«
»Panikattacke? Du kennst das bereits an ihr?«, fragte Caro.
»Ja, neulich in der Praxis hat sie auch eine bekommen, ich hab es dir doch erzählt.« Er strich der verängstigten Frau die Haare aus der Stirn und wiegte sie wie ein Kind in seinen Armen. »Komm, Fiona, ich bringe dich jetzt nach unten ins Wohnzimmer, wickle dich in eine warme Decke und bleibe bei dir, bis das Gewitter vorüber ist.«
Mit einem Aufschluchzen barg die junge Frau ihr Gesicht an seiner Brust. »Danke! Ihr seid so lieb«, stammelte sie.
Felix warf Caro einen entschuldigenden Blick zu und führte Fiona hinaus.
»Und koch ihr eine heiße Schokolade, das hat so eine angenehm beruhigende Wirkung!«, rief Caro ihm bissig hinterher.
Sie starrte auf das leere Bett, in dem sie eben noch in liebevoller, leidenschaftlicher Umarmung gelegen hatten, griff nach Felix’ Kissen und boxte heftig darauf ein.
»So kann das nicht weitergehen! Verdammt noch mal, wer bin ich denn schon neben einer so süßen, hilflosen werdenden Mami!«, knurrte sie.
Aber unmerklich wurde aus dem wütenden Schimpfen einsames Schluchzen, und schließlich weinte Caro sich in den Schlaf.
*
Der nächste Schock kam, als der Paketbote in der Praxis die Päckchen für Doktor Seefeld abgab und dann zu Caro sagte: »Ich weiß ja, dass bei euch jetzt niemand zu Hause ist. Ich habe hier eine Lieferung fürs Kapitänshaus, soll ich die hier bei dir abstellen?«
Caro runzelte leicht die Stirn. »Lieferung? Ich wüsste nicht, dass wir etwas bestellt haben, aber vielleicht ist es etwas für Felix’ neue Gastroküche und er hat vergessen, es mir zu erzählen.«
»Gastroküche könnte hinkommen, das Paket ist Sperrgut.«
»So groß? Na gut, stell es am Hintereingang ab, ich komme gleich und unterschreibe die Annahme.«
Es war ein großes, sperriges Paket aus England, und es war tatsächlich an Felix Messner adressiert. »Ach, du meine Güte, das müssen wir mit dem Auto nach Hause transportieren. Keine Ahnung, was Felix da bestellt hat.«
In der Mittagspause rief Caro bei ihrem Freund an und erkundigte sich, was er Großes bestellt habe. »Ich? Nichts!«, antwortete Felix entschieden. »Wie heißt denn die Firma?«
»Silver Cross«, antwortete Caro, jetzt leicht beunruhigt. War sie einem Betrüger auf den Leim gegangen, hätte sie die Annahme verweigern sollen? »Ich suche mal im Internet nach der Firma und rufe dich wieder an.«
»Tu das, Schatz. Ich muss jetzt dringend weitermachen, wir arbeiten am Hochzeitsmenü. Hab dich lieb!«
Nachdenklich schaute Caro auf das Telefon in ihrer Hand. Wie konnte Felix sich nur so völlig normal verhalten? So, als hätte es den gestrigen Streit nicht gegeben und die halbe Nacht, die er mit Fiona im Wohnzimmer verbracht hatte? Den Morgen beim Frühstück, bei dem sie sich angeschwiegen hatten? Caro schüttelte den Kopf. Darum musste sie sich später kümmern, jetzt war erst einmal das seltsame Riesenpaket an der Reihe. Als sie den Namen Silver Cross in den Computer eingab, blieb ihr vor Staunen der Mund offen stehen. »Das darf doch wohl nicht wahr sein!«
»Was denn? Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Gerti alarmiert.
»Das kann man wohl so sagen! Wie es aussieht, habe ich gerade einen Luxuskinderwagen für die Oberen Zehntausend in Empfang genommen!«, japste Caro. »Ich fass es nicht!« Bewaffnet mit einem scharfen Brieföffner stürmte sie zum Hintereingang, wo das sperrige Paket stand. Energisch durchtrennte sie die Klebestreifen und klappte den Deckel zurück.
Gerade in diesem Augenblick bog Familie Seefeld um die Ecke, die gemeinsam eingekauft hatte. »Hoppla!« Der Arzt konnte seine Schritte gerade noch rechtzeitig an dem großen Hindernis vorbei lenken. »Was haben Sie sich denn Schönes bestellt?«
»Ich? Nichts! Aber ich kenne jemanden, der für das hier verantwortlich sein könnte!«, antwortete Caro grimmig.
Auch Emilia schaute in das Paket, das einen edlen, dunkelblauen Kinderwagen der Luxusklasse enthielt. »Krass, das ist ja mal ein Teil!«
»Darin werden englische Babys der Oberschicht von ihren Nannys durch den Park kutschiert«, informierte Caro sie. Die junge Frau hielt jetzt die Lieferunterlagen und die Rechnung in der Hand. »Und das Prachtstück kostete die Kleinigkeit von dreitausend Euro.«
Gerti schnappte nach Luft. »Jesses, wer kauft denn so etwas?«
Caro schaute genauer auf die Rechnung und wurde blass. Dieser Kinderwagen war mit Felix’ Kreditkarte bezahlt worden! »Ich ahne, wer ihn gekauft hat«, murmelte sie.
»Wer denn?«, erkundigte sich Emilia beunruhigt. So wütend hatte sie ihre Freundin noch nie erlebt!
»Fiona! Die süße Mami, die sich bei uns eingenistet hat!«, fauchte Caro.
Emilia zählte eins und eins zusammen. »Und diese Prachtkutsche ist von eurem Geld bezahlt worden?«
»Du sagst es!« Mit wütenden Bewegungen stopfte Caro das Verpackungsmaterial in den Karton zurück. »Für Felix’ Kronprinzen ist wohl nichts gut genug!«
»Felix'?«, echote Emilia. »Oh!«
»Ja, Felix ist der Vater, aber ich bin nicht die Mutter«, entfuhr es ihr, und dann brach sie in Tränen aus. »Entschuldigung! Ich wollte Sie nicht mit meinen privaten Sorgen belästigen.«
»Jetzt kommen Sie erst einmal mit«, sagte Traudel mütterlich, legte den Arm um die schluchzende Frau und führte sie durch den Garten auf die Terrasse. »Setzen Sie sich zu mir und erholen sich ein bisschen. Ich hole Taschentücher und etwas zu trinken, und ohne dieses Trumm von Kinderwagen direkt vor ihrer Nase geht es Ihnen gleich ein bisschen besser.«
»Danke«, schniefte Caro zwischen Lachen und Weinen. »Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist, normalerweise weine ich nicht so schnell.«
Traudel stellte einen Krug mit selbstgemachtem Kirschsaft auf den Tisch. »Nun, jetzt ist ja nicht ‚normalerweise’, jetzt haben Sie wohl eher den Ausnahmezustand.«
»Stimmt!« Durch Traudels mütterliche und bodenständige Art fühlte Caro sich getröstet. »Es ist wirklich ein bisschen heftig im Augenblick. Trotzdem tut mir mein Ausbruch vor der Familie leid. Emilia …«
»… ist bald erwachsen und empfindet sich als Ihre Freundin«, stellte Traudel klar. »Sie hat sich schon ihre Gedanken gemacht, und es ist gut, dass sie jetzt Bescheid weiß.«
»Danke!«, sagte Caro noch einmal. »Es ist gut zu wissen, dass man nicht allein ist.«
»Nein, das sind Sie gewiss nicht!« Traudel schaute die junge Frau fest an. »Und wenn es im Moment auch schwierig ist – Sie haben Felix, und Sie werden mit ihm wieder glücklich sein!«
Caro wusste, dass das nicht als billiger Trost einfach so daher gesagt war. Ihr wurde etwas leichter ums Herz, und sie konnte sogar wieder lächeln.
In der Zwischenzeit waren Sebastian und seine Tochter damit beschäftigt, die Einkäufe zu verstauen und den Kartoffelauflauf fürs Mittagessen in den Ofen zu schieben. Emilia war sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Schließlich fragte sie: »Papa, stimmt es, dass Fionas Baby von Felix ist?«
Der Arzt zögerte mit der Antwort. »Caro hat vorhin zwar darüber gesprochen, aber Frau Bartels ist meine Patientin. Deshalb kann ich nichts dazu sagen.«
»Ich verstehe, Schweigepflicht und so weiter.« Emilia sah sehr nachdenklich aus. Dann schaute sie ihren Vater eindringlich an. »Und wenn das Baby nun gar nicht von Felix ist? Wenn diese Fiona das nur behauptet?«
Sebastian schaute sie überrascht an. »Ich verstehe, dass du dir um deine Freundin Gedanken machst, aber jetzt kann ich nur wiederholen, was dein Großvater gesagt hat: verrenn dich nicht in diese unglückselige Geschichte!«
Emilia sah die Besorgnis im Gesicht ihres Vaters. »Keine Sorge, Papa, das tue ich nicht, und ich beteilige mich auch nicht am allgemeinen Gerede. Aber irgendwie komisch finde ich es schon, dass diese Fiona jetzt hier auftaucht, gerade nachdem Felix die Riesenerbschaft gemacht hat.«
Sebastian legte seiner großen Tochter den Arm um die Schultern und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Emilia, du liest entschieden zu viele Krimis.«
»Gar nicht!«, antwortete sie leicht genervt. »Ich frage mich nur: Wenn es ihr so furchtbar wichtig ist, dass das Kind möglichst nahe bei Felix aufwächst – wieso ist ihr das nicht früher eingefallen?«
*
Die Küche vom Sonnenhof vibrierte vor Geschäftigkeit. Neben dem normalen Betrieb war eine große Hochzeit auszurichten. Felix hatte mehr als genug mit der anspruchsvollen Menüfolge zu tun und hatte keine Zeit für seine Pause. Er glasierte gerade den Rehrücken, als ihm einer seiner Kollegen den Wink gab, zur Tür zu schauen. Im Eingangsbereich hatte sich Fiona an den Tisch gesetzt, an dem normalerweise das Personal aß. Sie war niemandem im Weg, verlangte nichts, sondern schaute nur mit glänzenden Augen zu ihm hinüber.
Felix unterbrach seine Arbeit. »Fiona, was gibt’s?«
»Nichts. Ich will nicht stören, ich wollte dir nur sagen, dass ich uns zur Geburtsvorbereitung bei Anna Bergmann angemeldet habe. Der Kursus beginnt nächsten Mittwoch um 19:00 Uhr.«
»Du hast was?« Felix klappte die Kinnlade hinunter.
Ein erschreckter Ausdruck zog über das Gesicht der jungen Frau. »Willst du mich bei der Geburt allein lassen? Willst du denn nicht mit dabei sein?«
»Nein, natürlich sollst du bei der Geburt nicht allein sein«, beeilte er sich zu sagen. Meine Güte, diese Frau konnte wirklich blicken wie ein waidwundes Reh! »Ich meine, deine beste Freundin oder eine Schwester würde doch sicher gern mit dabei sein.«
»Felix, ich habe keine Schwester. Das Baby und ich haben nur dich.« Jetzt schwammen ihre blauen Augen in Tränen. Sie blinzelte dagegen an und fuhr tapfer fort: »Aber wir sollten jetzt nicht darüber reden, du hast viel zu tun. Und eigentlich bin ich auch nur gekommen, um mich noch einmal für dein Verständnis heute Nacht zu bedanken. Du hast mir sehr geholfen. Natürlich habe ich bemerkt, dass deine Freundin davon nicht gerade begeistert war, und die Störung tut mir leid. Ich will es wiedergutmachen und habe zwei Kinogutscheine besorgt. Macht euch einen schönen Abend zu zweit.« Mit diesen Worten zog sie einen Umschlag aus ihrer Tasche und überreichte ihn Felix.
»Das ist nett, danke!«
»Ich gehe dann jetzt. Wahrscheinlich sehe ich dich erst morgen? Heute wird es wohl eine lange Nacht für dich. Wenn du nach Hause kommst, schlafen wir schon längst.« Sie ergriff Felix’ Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Servus, Papa.«
»Äh, ja, bis morgen«, antwortete er überrumpelt.
Fiona lächelte ihr süßes, inniges Lächeln und ging.
Heute wäre eigentlich Gerti mit dem Landdoktor zu den anstehenden Hausbesuchen gefahren, aber wegen ihrer Verabredung mit Korbinian Wamsler hatte sie mit Caro den Dienst getauscht.
»Das große Paket hat Platz in meinem Kombi. Sollen wir es mitnehmen, und ich setze es auf dem Rückweg bei Ihnen ab?«, bot Sebastian seiner Sprechstundenhilfe an.
»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete Caro mit zusammengebissenen Zähnen. Es war sehr deutlich, dass sie mit dem Inhalt dieses Kastens am liebsten nichts zu tun haben wollte!
Den Anfang der Hausbesuche machten sie beim alten Herrn Holzer, dem eine Thrombose im rechten Bein zu schaffen machte. Blutverdünnende Medikamente und das rechte Maß an Bewegung und Schonung hatten schon gut geholfen, und Sebastian Seefeld war mit dem Behandlungsverlauf zufrieden. Was ihm allerdings sehr schwer fiel, war der Kontakt mit Holzers Tochter Miriam! Die junge Frau hatte den Gedanken an eine Beziehung und Heirat mit dem gutaussehenden Arzt immer noch nicht aufgegeben, so unerwidert ihre Gefühle auch blieben. Kaum war der Wagen des Arztes auf den Hof gefahren, hatte sie ihr chices Büro verlassen und war zu ihm hinausgestöckelt, wie immer perfekt geschminkt, frisiert und in einem Designer-Outfit. Heute war es ein sehr gut geschnittener schwarzer Hosenanzug, der eher in die Chefetage eines Münchner Unternehmens gepasst hätte als in ein Sägewerk im Voralpenland.
Miriam trug eine angemessen ernste Miene zur Schau. »Sebastian, schön, dass du zum Vater gekommen bist! Begleite mich doch in mein privates Büro, damit wir in Ruhe über den Behandlungsverlauf sprechen können. Ich mache mir große Sorgen.« Sie trat ein wenig zu nahe an ihren alten Schulkameraden heran und legte ihre perfekt manikürte Hand auf seinen Arm. Ein flüchtiger Blick streifte die Sprechstundenhilfe. »Caro, du kannst dich hier ins Vorzimmer setzen.«
Sebastian Seefeld trat zur Seite und entzog sich dem leichten Griff ihrer Hand.
»Unsere Zeit ist knapp, Miriam. Caro und ich haben noch einige Besuche vor uns. Deinem Vater geht es gut, wir haben alles Nötige mit ihm besprochen«, antwortete er kühl.
Gekonnt warf Miriam ihre langen blonden Haare über die Schulter zurück. »Ein persönliches Gespräch wäre mir jetzt lieb, Sebastian.«
»Das ist nicht nötig!« Doktor Seefeld wandte sich zur Tür. »Es gibt nichts Neues zu besprechen. Guten Abend, Miriam.«
»Bis bald, Sebastian!« Sie warf ihm einen schmachtenden Blick hinterher, den er nicht beachtete.
»Caro, wohin jetzt?«
»Zum alten Wächtler. Seine Schwiegertochter hatte angerufen, dass er mit einem besonders schweren Gichtanfall im Bett liegt.«
Der Arzt seufzte. »Hat der alte Herr nicht gestern den achtzigsten Geburtstag gefeiert? Ich möchte nicht wissen, wie viele leckere Schweinshaxen da auf den Tisch gekommen sind!«
Caro lachte leise und ahmte gutmütig die Stimme der Schwiegertochter nach: »Ich weiß ja, dass Gicht und Schweinefleisch nicht zusammenpassen, Herr Doktor, aber wenn’s doch halt die Leibspeise vom Vater ist!«
»Schauen wir mal, was wir für den alten Wächtler tun können«, schmunzelte ihr Kollege.
Vom böse verstauchten Fuß einer Frau, die allein auf einem abgelegenen Hof lebte und nicht Auto fahren konnte, über eine Lungenentzündung mit hohem Fieber bei einem Feriengast, ging es weiter zum Mittner Hof, wo Sebastian nach dem Jüngsten, seinem Patenkind, schauen wollte. Der kleine Bastian war nach einer Mehrfachimpfung unruhig, zeigte aber keine weiteren Anzeichen einer Impfreaktion. »Alles in Ordnung mit dem kleinen Wonneproppen!«, sagte Sebastian und übergab das Baby wieder seiner Mutter Susanne. »Und bei dir? Merkst du manchmal noch etwas von unserer Verzweiflungstat?«
»Oh, du meinst den Notkaiserschnitt, den du und die Hebamme hier durchführen musstet? Na, ja, manchmal zwackt die Narbe noch, vor allem beim Wetterumschwung. Aber sonst ist alles wunderbar in Ordnung.« Sie strahlte Sebastian an.
Caro bekam kugelrunde Augen. »Was denn! Sie haben hier einen Notkaiserschnitt gemacht? Auf dem Hof?«
»Es ging nicht anders, wir hätten sonst Mutter und Kind verloren«, antwortete Sebastian, und wieder lief ihm ein Schauder über den Rücken. »Es war eine verzweifelte Situation, und eine ganze Heerschar an Schutzengeln muss an unserer Seite gewesen sein, sonst wäre es nicht so ausgegangen.«
»Oder weil du ein guter Arzt bist, der genau weiß, was er tun muss«, erwiderte Susanne.
Darauf antwortete Sebastian Seefeld nicht. Er wusste zwar, was er verantworten konnte, aber er wusste auch, dass es das Schicksal in jenen dunklen Stunden sehr gut mit ihnen gemeint hatte.
Nach dem Besuch bei Familie Mittner fuhren sie zu einer jungen Mutter von drei kleinen Kindern. Lydia Körber hatte vor einem Vierteljahr ihren Mann bei einem tragischen Autounfall verloren. Früher hatte sie ab und zu unter Migräne gelitten, aber seit dem Tod ihres Mannes traten die Anfälle gehäuft auf. Da sie allein für ihre Kinder sorgen musste, konnte sie es sich nicht leisten, im abgedunkelten Zimmer zu liegen und völlige Ruhe zu bewahren, egal, wie elend sie sich fühlte.
Auf den ersten Blick sahen der Doktor und Caro, dass es ihrer Patientin sehr schlecht ging. Wenn man von der Unordnung im Hause ausging, musste dieser Zustand schon seit einiger Zeit anhalten. »Frau Körber, so geht es nicht weiter, Sie brauchen unbedingt Hilfe«, sagte Sebastian Seefeld. »Fürs Erste gebe ich Ihnen jetzt eine Spritze gegen die Schmerzen, damit Sie wieder zu Kräften kommen. Und dann werde ich mich mit der Krankenkasse in Verbindung setzen, wenn es Ihnen recht ist. Ich denke, dass Ihnen eine Haushaltshilfe zusteht.«
»Vielleicht; aber ich habe keine Kraft, jetzt dafür zu kämpfen«, flüsterte die erschöpfte Frau.
»Das müssen Sie auch nicht!«, versprach Doktor Seefeld. »Mit ihrem Einverständnis werden wir uns darum kümmern.«
Während der Arzt die Frau versorgte und nach den Versicherungsunterlagen suchte, hatte Caro rasch und unauffällig das Abendbrot für die Familie und ein Fläschchen für das Baby zubereitet. Als sie das Häuschen verließen, ging es der jungen Mutter bereits ein wenig besser, und ein zarter Hoffnungsschimmer schien sich am Horizont abzuzeichnen.
»Eine bestellt sich eine Luxuskarosse für ihr Baby, eine andere kann sich noch nicht einmal im Krankheitsfall eine Hilfe leisten!«, sagte Caro bitter und knallte die Autotür zu.
»Wir arbeiten dran«, antwortete Sebastian. Und mit einem Seitenblick auf seine junge Kollegin fuhr er fort: »Und was den Kinderwagen angeht, habe ich das Gefühl, dass in dieser Angelegenheit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.«
»Wie recht Sie haben!«, bekräftigte Caro.
Wenig später rollte der Wagen des Landdoktors in die Einfahrt des Kapitänshauses, und Sebastian half Caro, das Paket ins Haus zu transportieren. Sie stellten den Kasten in der Eingangshalle ab, Doktor Seefeld verabschiedete sich, und Caro machte sich auf die Suche nach Fiona, um sie wegen des Luxuskaufs zur Rede zu stellen.
Aber die junge Frau war weder im Haus noch im Garten. Stattdessen fand Caro im Wohnzimmer einen duftenden Blumenstrauß aus hellen Rosen und Lavendel und eine hübsche Karte. Fiona schrieb, dieser Blumenstrauß sei ein kleines Dankeschön für die Gastfreundschaft und eine Entschuldigung für ihr störendes Verhalten in der Gewitternacht, Caro möge ihr das bitte nicht nachtragen. Fiona habe sich schon ins Bett zurückgezogen, und sie wünsche Caro und Felix eine gute Nacht.
»Tja, damit hast du mir wohl den Wind aus den Segeln genommen«, murmelte Caro. Unschlüssig drehte sie die Karte in den Händen. Süß, verletzlich, freundlich und verloren, unverschämt und übergriffig, all das war Fiona. Und offensichtlich immer für eine Überraschung gut. Sie ging zu Kondor hinüber, der auf seiner Stange herumturnte und sich mit Erdnüssen verwöhnen ließ. »Diese zuckersüße Fiona, was hältst du eigentlich von ihr?«, fragte Caro.
Der Papagei schien ihr mit schräg geneigtem Kopf konzentriert zuzuhören. Dann sagte er etwas, das sich verdächtig nach »raus-raus-raus« anhörte.
Caro kraulte seinen Kopf und seufzte tief auf.
»Bin ganz deiner Meinung, mein Bester! Leider wird das wohl nicht ganz so leicht werden, wie wir es uns wünschen.«
*
Während Caro an diesem Abend sehr daran zweifelte, dass ihr Wunsch in Erfüllung gehen würde, erlebte ihre Kollegin Gerti das genaue Gegenteil. Für sie wurde ein sorgsam gehüteter, heimlicher Wunsch Wirklichkeit: sie hatte eine Verabredung mit ihrer unvergessenen Tanzstundenliebe Korbinian Wamsler!
Gerti hatte sich für zwei Stunden im Badezimmer eingeschlossen, und als sich endlich wieder die Tür öffnete, bekam ihre Schwester Sieglinde große Augen vor Verwunderung – und Bewunderung: Gertis dunkles Haar mit dem beginnenden Grauschleier hatte nun einen sanften, kastanienfarbigen Schimmer, und die sonst so exakte Frisur umspielte weich und locker ihr Gesicht. Sie war dezent geschminkt und hatte ihre Fingernägel in einem modisch dunklen Farbton lackiert. Anstelle ihrer bevorzugten Kleidung – dunkle Röcke und gestärkte weiße Blusen – trug sie ein grünes Wickelkleid, das wunderbar zu ihrer rundlichen Figur passte.
»Donnerwetter!«, entfuhr es ihrer älteren Schwester. »Du siehst fantastisch aus! Was hast du denn heute Abend vor?«
»Ich habe eine Verabredung zum Essen«, informierte Gerti sie und schlüpfte in die neuen, halbhohen Schuhe. »Mit Korbinian Wamsler.«
»Hm, der Name kommt mir bekannt vor«, antwortete ihre Schwester. »Ich glaube, den schon irgendwann gehört zu haben, aber es muss lange her sein.«
»Möglich«, entgegnete Gerti, »er war damals auch in der Tanzschule Walthershof.«
Sieglinde verfügte über ein exzellentes Gedächtnis. »Korbinian? War das nicht dieser große, blonde Junge, der so besonders gut tanzen konnte? Moment, bist du nicht mit dem auf den Abtanzball gegangen?«
»Genau der ist es«, bestätigte Gerti.
Sieglindes Gedanken flogen in die Zeit zurück, als sie und ihre Schwester junge Mädchen gewesen waren, und sie lächelte. »Hm, ist da nicht ein bisschen mehr zwischen dir und diesem Korbinian gewesen als nur der Abtanzball?«
»Leider nein«, antwortete Gerti und griff zu ihrer Handtasche. Auch die war neu und deutlich hübscher und modischer als ihre Vorgängerin.
»Ich wünsche dir einen wunderschönen Abend!«, erwiderte Sieglinde freundlich und umarmte ihre Schwester. War da flatterndes Herzklopfen unter dem hübschen, neuen Kleid zu spüren?
»Danke, den werden wir bestimmt haben!«
Dann klingelte es, und Gertis heimlicher, sorgsam gehüteter Traum ging in Erfüllung: Korbinian stand vor der Tür, um sie zu einer Verabredung abzuholen.
»Gerti, du siehst fantastisch aus!«, begrüßte er sie, und sein Lächeln war immer noch das gleiche wie damals.
Sie fuhren in die benachbarte Kreisstadt, wo Korbinian in einem sehr guten Restaurant einen Tisch bestellt hatte. Es war ein lauer Sommerabend mit Blumenduft und Kerzenschimmer in gläsernen Windlichtern und einem nicht abreißenden Strom an Gesprächen. Jahrzehnte gelebtes Leben zogen an ihnen vorüber.
»Und jetzt bist du seit dreißig Jahren in der Praxis der Seefelds? Respekt, Gerti, das hört man nicht mehr oft heutzutage«, sagte Korbinian anerkennend.
Gerti zuckte leicht mit den Schultern. »Nun ja, ich bin halt kein ‚Wandervogel’, in keiner Beziehung. Ich mag die Beständigkeit.«
»Das gefällt mir«, sagte Korbinian weich.
»Es hat aber auch seine Schattenseiten«, gab Gerti zu. »Mit Veränderungen tue ich mich manchmal schwer. Als Doktor Seefeld jetzt die neue, sehr junge Kollegin eingestellt hat, war ich mit dieser Entscheidung überhaupt nicht glücklich.«
»Du meinst Caroline Böttcher?«
Gerti errötete. »Ja, Caro. Ich glaube, zuerst hatte ich Angst vor Veränderungen und Neuerungen, die sie einführen könnte. Zum Beispiel ist alles, was mit dem PC zusammenhängt, für sie ein Kinderspiel. Ich hatte Angst, neben ihr plötzlich als ziemlich dumm dazustehen.«
»Und ist es so gekommen?«
»Nein, ich habe mich geirrt«, antwortete Gerti aufrichtig. »Sie ist freundlich, und auf ihre Art und Weise arbeitet sie anders als ich, aber sie respektiert mich und meine Art. Wir kommen gut miteinander aus, und es tut mir sehr leid, dass sie jetzt eine so harte Zeit durchmachen muss.«
»Ich weiß davon«, antwortete Korbinian nachdenklich. »Felix ist ein Neffe meiner verstorbenen Frau, und über die Testamentseröffnung habe ich Caro kennengelernt. Ich mag sie auch sehr, und allmählich mache ich mir Sorgen um sie und die gemeinsame Zukunft mit Felix.«
»Ja, manchmal geht die Liebe, oder was man dafür hält, seltsame Wege.«
»Kann man wohl so sagen«, erwiderte Korbinian. Er griff nach seinem Weinglas und ließ es sacht gegen das der hübschen, älteren Frau klingen. »Auf alle Wege und alle Umwege, Gerti Fechner!«
»Auf alle neuen Wege, Korbinian Wamsler!«, antwortete sie lächelnd.
*
Ein neuer Morgen breitete seinen sommerlichen Glanz über Berge und Täler, die fruchtbaren Wiesen und Weiden des Allgäu. Der Sternwolkensee schimmerte im Sonnenlicht, und von der vergoldeten Wetterfahne auf der Turmspitze der barocken Kirche blitzten goldene Funken in die Fenster der umliegenden Häuser.
Caro erwachte inmitten dieser fröhlichen Helligkeit und drehte sich auf die Seite, hinüber zu Felix, der klaftertief neben ihr schlief. Erst in den frühen Morgenstunden war er von der Arbeit nach Hause gekommen und erschöpft ins Bett gefallen. Er hatte heute frei, und Caro wollte seinen mehr als verdienten Schlaf nicht stören. »Schlaf gut, mein Liebster«, hauchte sie, küsste ihn sanft auf die Wange und schlüpfte leise aus dem Bett.
Sie hatte sich auf ein einsames, schnelles Frühstück eingestellt, aber als sie nach unten ging, sah sie, dass Fiona auch schon aufgestanden war. Und nicht nur das: der große Karton und das Verpackungsmaterial waren verschwunden, dafür stand der Kinderwagen zusammengebaut in seiner ganzen verschwenderischen Pracht in der Eingangshalle.
Fiona begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. »Guten Morgen, Caro, hast du gut geschlafen? Sieh mal, was inzwischen angekommen ist! Ist dieser Wagen nicht wunderschön? Seitdem ich ein kleines Mädchen gewesen bin, habe ich von solch einem Kinderwagen für mein Baby geträumt.«
»Ein ziemlich kostspieliger Traum«, antwortete Caro trocken. »Den du mit Felix’ Kreditkarte bezahlt hast.«
»Hast du etwas dagegen einzuwenden? Immerhin ist es Felix’ Geld, nicht deines oder euer gemeinsames.« Für eine Sekunde flackerte etwas Stahlhartes in Fionas Augen auf, das sofort wieder verschwand und dem üblichen sanften Ausdruck Platz machte.
Caro schaute sie nachdenklich an. »Ja, da hast du wohl recht.« Sie stellte ihren noch halbvollen Kaffeebecher achtlos zur Seite und verabschiedete sich. »Ich muss in die Praxis. Bis irgendwann nachher.«
»Bis später! Ich kümmere mich um Felix, wenn er nachher ausgeschlafen hat«, antwortete Fiona sanft.
Während des Vormittags schweiften Caros Gedanken immer öfter hinüber zum Kapitänshaus und allem Unausgesprochenem, das in der Luft hing. So konnte es nicht weitergehen; sie würde verrückt werden, wenn jetzt nicht eine klare Entscheidung getroffen wurde!
»Gerti, können Sie den Nachmittag allein übernehmen?«, wandte sie sich an ihre Kollegin.
»Natürlich, das habe ich doch früher immer getan«, antwortete Gerti. »Wenn es etwas Wichtiges gibt, kann ich gern für Sie mit einspringen.«
»Gut! Dann frage ich jetzt Doktor Seefeld, ob ich frei bekommen kann«, sagte Caro entschlossen. Wenige Minuten später warf sie ihren Kittel über einen Bügel und stürmte aus der Praxis.
»Was immer du auch vorhast, ich wünsche dir Glück!«, murmelte Gerti voller dunkler Vorahnungen.
Im Laufschritt legte Caro den Weg nach Hause zurück und platzte atemlos in eine idyllische Szene im Garten hinein. Fiona lag entspannt in einer Hängematte und aß frische Erdbeeren, während Felix, der in einem Liegestuhl neben ihr ruhte, die Matte sanft vor und zurück schwang. An ihren heiteren Stimmen und dem leisen Lachen konnte Caro erkennen, dass sie sich offensichtlich sehr gut verstanden.
»Oh, hallo, Liebling! Du bist schon zurück? So früh habe ich gar nicht mit dir gerechnet. Komm, setz dich zu in die Sommerfrische«, begrüßte Felix sie träge.
»Nein!«, antwortete Caro schneidend. »Wir müssen reden. Allein!«
»Ach, komm, jetzt mach die friedliche Stimmung nicht kaputt, es ist so schön hier. Setz dich doch. Wir haben gerade Namen für das Baby überlegt. Was hältst du zum Beispiel von Paul oder Benjamin? Das sind so meine Favoriten.«
»Ich finde Marvin auch sehr schön«, ergänzte Fiona träumerisch.
Caro rang um Fassung. »Habt ihr mir nicht zugehört? Ich will jetzt mit Felix reden und zwar allein!«
Mit einem ungeduldigen Seufzer stand Felix auf. »Na gut; ich weiß zwar nicht, was so ungeheuer wichtig ist, aber bitte, reden wir.« Er schlenderte zur Veranda hinüber und ließ sich dort in einen Korbsessel fallen. Caro, die zu aufgebracht zum Stillsitzen war, ging während des Redens auf und ab.
»Ich achte und respektiere deine Entscheidung, dich um das Kind kümmern zu wollen, Felix!«, begann sie. »Aber ich respektiere weder Fionas Verhalten noch deine Uneindeutigkeit!«
»Uneindeutigkeit? Was soll das denn heißen?«, empörte er sich.
»Wir beide sind das Paar!«, erinnerte sie ihn. »Das scheinst du manchmal zu vergessen!«
»Ja, spinnst du? Da läuft nichts zwischen Fiona und mir!«
»Nein, aber du behandelst sie so, als ob! Du lässt sie hier mit im Haus wohnen, gibst ihr deine Kreditkarte, verbringst die halbe Nacht mit ihr, um ihre Angst vor Gewitter zu besänftigen.«
»Sie ist schwanger mit meinem Kind und sie hat niemanden sonst! Wie oft soll ich dir das denn noch sagen!« Allmählich wurde auch Felix sehr wütend. »Von dir habe ich mehr Verständnis erwartet!«
»Ich habe durchaus Verständnis, aber meine Geduld ist am Ende. Meinetwegen sorge für sie und das Kind, aber tue es nicht hier, in diesem Haus! Sie muss entweder ins Hotel oder in eine eigene Wohnung ziehen und zwar so schnell wie möglich. Diesen Zustand halte ich so nicht mehr länger aus.«
Felix schaute sie mit einem sehr seltsamen Blick an. »Es ist mein Haus, Caro, und auch mein Geld. Fiona hat mir erzählt, dass du ihr Vorwürfe wegen des teuren Kinderwagens gemacht hast, und das finde ich nicht richtig. Dazu hast du kein Recht.«
»Kein …« Fassungslos schaute Caro ihn an. So also dachte ihr liebster Mensch von ihr? »Es ist mir egal, wofür du dein Geld ausgibst, das brauche ich nicht! Es ist mir aber nicht egal zu sehen, wie eine andere Frau sich mehr und mehr hier einnistet und sich zwischen uns drängt! Fiona stiehlt mir mein Leben, Felix!«
»Das klingt aber verdammt melodramatisch«, brummte Felix. Er fühlte sich furchtbar unwohl, denn er konnte nicht leugnen, dass Caro wirklich in einer sehr seltsamen Lage war. Andererseits zerrte sein Verantwortungsgefühl gegenüber der Mutter und dem Kind an ihm.
»Felix, ich kämpfe um uns, um unsere Beziehung, merkst du das denn nicht?« Caro war verzweifelt und den Tränen nahe.
Felix’ Herz zog sich zusammen. Es tat ihm unendlich leid, dass Caro dermaßen unter der Situation litt, aber er konnte keinen Ausweg erkennen. Mit wenigen Schritten war er bei ihr und umfasste liebevoll ihr Gesicht mit seinen Händen. »Liebling, es ist eine schwere Zeit, für uns alle. Bitte, halte durch! Wenn wir zusammenhalten, dann schaffen wir es!«
Caro schüttelte unter Tränen den Kopf. »Es gibt keinen Platz für zwei Frauen unter diesem Dach und in deinem Leben, Felix.«
Er wich zwei Schritte von ihr zurück. »Und was soll das heißen?«, fragte er argwöhnisch.
»Dass du dich entscheiden musst. Entweder zieht Fiona aus oder ich.«
»Caro, wie oft denn noch! Fiona kann jetzt nicht allein leben!«
Caroline fühlte eine eigenartige Ruhe in sich aufsteigen. »Gut, dann gehe ich!«, sagte sie stolz.
Ohne Felix und seinen fassungslosen Protest weiter zu beachten, ging sie ins Haus und begann, ihre Sachen zu packen. Mit zwei Rollkoffern, die das Nötigste enthielten, stand sie wenig später in der offenen Haustür. »Für die ersten Tage wohne ich bei meiner Freundin Anna; du weißt also, wo du mich finden kannst.« Noch immer erfüllt von dieser unnatürlichen Ruhe, drehte sie sich um und verließ das Kapitänshaus.
Erst als sie Kondor laut und klagend »Caro-Caro-Caro!« rufen hörte, strömten die Tränen über ihr Gesicht.
Fassungslos stand Felix auf den Eingangsstufen und konnte nicht glauben, was eben geschehen war. Caro musste zurückkommen! Er konnte sie doch nicht einfach gehen lassen!
»Oh, nein, habt ihr euch etwa gestritten? Meinetwegen?« Plötzlich stand Fiona neben ihm und schaute ihn ängstlich an.
»Ich …, ja«, stotterte er.
»Das tut mir so leid!« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und schaute ihn sehr ernst an. »Soll ich mal mit ihr reden? Es gibt doch wirklich keinen Grund, auf mich eifersüchtig zu sein.«
»Nein, Fiona, mische dich bitte nicht ein, das würde alles nur noch schlimmer machen. Ich gehe jetzt zu ihr und versuche, sie zu beruhigen.«
Immer noch lag die Hand der jungen Frau auf seinem Arm. »Bitte, lass mich doch auch etwas tun. Ich fühle mich so schuldig! Wir beide sind für das Kind verantwortlich. Du hilfst mir so sehr, dann lass mich dir doch auch helfen!«
Wider Willen musste Felix lächeln. In Fionas großen blauen Augen lag ein so ernsthafter, flehender Ausdruck, der ihn berührte und besänftigte. »Das ist süß von dir«, sagte er. »Aber ich kenne Caro, man sollte sie jetzt erst einmal in Ruhe lassen. Und es ist zwar sehr nett, dass du mit ihr sprechen möchtest, aber das ist der falsche Weg. Ich werde heute Abend zu ihr gehen und mit ihr reden.«
»Felix, hast du denn vergessen, dass heute Abend der erste Kursus für die Geburtsvorbereitung ist? Das ist ein so wichtiger Termin für uns drei.«
Die blauen Augen schimmerten feucht.
Der junge Mann schluckte. Ja, er hatte den Termin tatsächlich vergessen. »Tut mir leid«, murmelte er. »Wir werden hingehen; ich weiß, wie wichtig es ist. Dann werde ich eben versuchen, jetzt mit Caro zu reden.«
Er machte sich auf den Weg, und Fiona ging wieder zurück ins Haus. In der Vorhalle blieb sie bei dem prächtigen Kinderwagen stehen, strich bewundernd über den spitzenbesetzten Stoff der Kissen und sagte laut: »Mein süßer Kleiner, das ist doch genau das Richtige für uns, nicht wahr? Und es ist erst der Anfang! Mami wird sich jetzt mit dem Laptop ganz gemütlich zurücklehnen, für dich die allerbeste Babyausstattung bestellen und für sich selbst einen Haufen wunderschöner Dinge, um es hübsch und bequem zu haben. Wozu haben wir denn Papis Kreditkarte? Und glaub mir, Baby, hinter dieser Kreditkarte steht so viel Geld, wie du es dir gar nicht vorstellen kannst. Das reicht für unfassbar viele Einkäufe und noch für eine Menge mehr.«
Trotz ihrer Schwangerschaft tänzelte sie anmutig durch die Räume. Sie holte sich Obst und etwas zu trinken aus der Küche und wollte nach ihrem Laptop greifen, als sie plötzlich das Gefühl hatte, beobachtete zu werden. Unbehaglich drehte sie sich um und bemerkte den Papagei, der sie anstarrte und dabei wieder wie eine Schlange warnend zischte. Der sorglose, vergnügte Ausdruck auf Fionas Gesicht erlosch schlagartig. »Halt deinen Schnabel, Mistvieh! Du bist der Nächste, der hier rausfliegt, verlass dich drauf!«
»Magdalena! Magdalena!«, schrie Kondor böse.
»Die ist nicht mehr hier; da kannst du rufen, solange du willst!«, antwortete Fiona gehässig. Triumphierend drehte sie sich um und ging hinaus in den Garten. Dort verbrachte die junge Frau sehr angenehme Stunden damit, sehr viel Geld auszugeben, das ihr nicht gehörte.
*
Natürlich war Caros Auszug im Handumdrehen Gesprächsthema Nummer eins. Emilia beteiligte sich nicht an dem allgemeinen Getuschel, aber in Gedanken beschäftigte sie es. Das Mädchen mochte Caro sehr gern und es tat ihr weh, die Freundin so bedrückt zu erleben. Die muntere, schlagfertige Caro war schweigsam geworden. Sie hatte viel von ihrer unbekümmerten Lebhaftigkeit verloren, selbst die witzigen, blauen Haarsträhnen schienen matt neben ihrem Gesicht zu hängen. Immer mehr beschäftigte Emilia die Frage, ob Felix wirklich der Vater des Babys war. Alle hatten Fiona geglaubt, sie war so sanft und rücksichtsvoll aufgetreten, wer würde ihr schon eine Lüge unterstellen? Es gab diesen eindeutigen Vaterschaftstest, aber der konnte erst nach der Geburt gemacht werden. Und wer weiß, was dieser Fiona in der Zwischenzeit noch alles einfallen würde, in der Caro so unglücklich war!
Als Anna und Emilia sich in der Eisdiele trafen, legte Emilia ihrer älteren Freundin gegenüber ihre Sorgen auf den Tisch. »Ich bin in der Zwickmühle«, beklagte das junge Mädchen sich. »Mit niemandem kann ich über meine Gedanken reden, denn es klingt ganz schnell nach blödem Tratsch. Fiona ist Papas Patientin, deshalb sind in der Familie Gespräche über sie sowieso tabu. Deine Patientin ist sie auch, also kann ich es bei dir auch nicht, dabei geht mir so viel durch den Kopf.«
»Ich bin zwar Frau Bartels’ Hebamme, aber auch Caros Freundin«, antwortete Anna. »Und Caro wohnt zur Zeit bei mir, da bleibt es gar nicht aus, dass wir über die Situation reden. Also, was beschäftigt dich denn so?«
»Warum ist Fiona jetzt aufgetaucht, nachdem Felix das viele Geld geerbt hat? Wenn er so wichtig als Vater des Babys ist, wie sie immer behauptet, dann hätte sie es ihm doch schon viel früher sagen können«, brachte das Mädchen ihre Überlegungen auf den Punkt. »Es passt zwar alles, aber was ist, wenn das Baby in Wahrheit einen anderen Vater hat?«
Anna schwieg. Nach einer Weile antwortete sie vorsichtig. »Manchmal haben Caro und ich uns diese Frage auch schon gestellt.«
Emilia nickte zufrieden und erzählte weiter. »Ich habe mich mal in den sozialen Netzwerken im Internet umgeguckt. Da gibt es eine Menge über Fiona, sehr viele Fotos und auch viele Bilder von ihr und Felix bei diesem Silvester auf der Hütte.«
»Ja, die kennen wir«, antwortete Anna.
»Und ist es nicht komisch, dass es danach kaum noch Bilder von ihr gibt? Und kein einziges, auf dem man ihre Schwangerschaft sieht?«
»Das kann viele Gründe haben, die wir nicht kennen«, warf Anna ein.
Emilia ließ sich nicht entmutigen. »Oder sie hat sie alle gelöscht, weil sie nicht zu ihrem Plan passen.« Sie zog ihren Laptop aus dem Schulrucksack und zeigte der Hebamme, was sie nach langer Suche gefunden hatte: Fotos von Fiona und einem anderen Mann namens Oliver Kant bei einer Party. Die beiden lachten, tanzten, knutschten miteinander. »Und jetzt guck dir das Datum an. Diese Party, auf der Fiona offensichtlich einen anderen Mann kennengelernt hat, war am sechsten Januar, genau eine Woche nach Silvester. Könnte es nicht sein, dass der andere Mann, dieser Oliver Kant, der Vater des Babys ist?«
»Möglich wäre es schon«, räumte Anna unbehaglich ein. »Aber wie will man das wissen? Dafür reichen diese paar Schmusebilder nicht aus.«
»Natürlich nicht, aber könnte man ihn nicht anrufen und nach seiner Beziehung zu Fiona fragen?«
»Emilia! Wie stellst du dir das denn vor! Ich bin Fionas betreuende Hebamme. Wenn ich mir so etwas erlaube, könnte es mich meinen Job kosten!«
»Du kannst das natürlich nicht tun, aber was ist mit Caro? Es sind schließlich ihr Leben und ihre Beziehung zu Felix, die sich durch Fiona so verändert haben. Vielleicht hilft es ihr, wenn sie mal mit diesem Oliver Kant redet?«
»Emilia, das wird nicht so einfach sein«, dämpfte Anna den Schwung des jungen Mädchens. »Aber ich muss zugeben, es ist vielleicht eine Spur in Fionas altes Leben, vom dem sie wirklich bemerkenswert wenig erzählt. Ich werde mit Caro über deine Entdeckung reden. Sie entscheidet dann, ob sie Kontakt zu ihm aufnehmen will oder nicht.«
Emilia atmete auf. »Wenigstens etwas, was ich tun konnte! Caro tut mir echt leid und Felix irgendwie auch. Ich finde es voll in Ordnung, dass er sich um sein Kind kümmern will, aber muss Fiona sich deshalb gleich wie eine Königin aufführen?«
»Wie eine sehr liebe und sanfte Königin, die immer alles bekommt, was sie will …«, antwortete Anna nachdenklich. Ihr Blick fiel auf Emilia, die zufrieden ihr Eis löffelte, und sie musste schmunzeln. »Dein Vater meinte zu dir, dass du zu viele Krimis liest? Recht hat er!«
»Die mit den Verschwörungstheorien mag ich am liebsten«, grinste Emilia und schleckte ganz unschuldig ihren Löffel ab.
*
Wie sich dann bei Caros Anruf herausstellte, war Oliver Kant, ein Bankberater aus München, ein freundlicher, ruhiger Mann, der zu einem Gespräch bereit war. Caro erzählte von Fionas plötzlichem Auftauchen in Bergmoosbach und ihrer Art, mit der sie sich Zutritt zum Kapitänshaus und zu Felix’ Leben verschafft hatte.
»Ja, das passt zu Fiona«, bestätigte Oliver mit einer gewissen Härte in der Stimme. »Sie streut einem mit ihrer Sanftheit Sand in die Augen. Zu spät erst bemerkt man, wie knallhart sie ihre Ziele verfolgt hat, das ist alles wunderbar in Süße und scheinbare Hilflosigkeit verpackt.«
»Du hast sie sehr gut beschrieben«, antwortete Caro bitter. »Genauso hat sie Felix an seine Verantwortung gegenüber dem Kind erinnert.«
Oliver schnappte hörbar nach Luft. »Moment! Was war das eben mit einem Kind?«
»Fiona ist schwanger und sie sagt, das Baby ist von Felix.«
»Aber sie kann nicht schwanger sein, sie hat doch abgetrieben!«, rief Oliver völlig verwirrt.
»Wie bitte? Nein, Fiona ist im achten Monat schwanger.«
»Das ist unmöglich!« Olivers Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. Die ganze Geschichte sprudelte aus ihm heraus: dass Fiona schwanger von ihm gewesen war, das Kind nicht haben wollte, dass sie sehr deswegen gestritten hatten, dass sie dennoch eine Abtreibung vornehmen ließ und dass sie sich deswegen getrennt hatten. »Und wie es scheint, hat sie gelogen! Sie hat das Kind nicht abgetrieben. Es wird bald auf die Welt kommen, und sie will es dem vermögenden Felix unterschieben.«
»Stopp! Über Felix’ Finanzen habe ich nichts gesagt, woher weißt du denn davon?«
»Die skurrile Geschichte von der großen Erbschaft, die ein Papagei gemacht hat, war eine kleine Zeitungsnotiz wert, und bald stand es auch mit Felix’ Namen im Internet. So wird auch Fiona davon erfahren und ihre Pläne gemacht haben.«
»Was für eine Gemeinheit!«, ächzte Caro.
»In der ganzen Angelegenheit ist das letzte Wort noch nicht gesprochen!« Oliver klang ernst und sehr entschieden. »Am Wochenende bin ich bei euch in Bergmoosbach, und dann stellen wir Fiona zur Rede!«
Caro schüttelte ungläubig den Kopf, nachdem sie das Telefonat beendet hatte.
»Das ist unglaublich! Wie kann Fiona nur so durchtrieben und hinterhältig sein!«
»Und dabei wirkt sie so nett und lieb, niemand hätte ihr doch etwas so Niederträchtiges zugetraut«, stimmte Anna ihrer Freundin zu.
»So kann man sich von Sanftmut täuschen lassen!«, antwortete Caro bitter. Dann verstummte sie, und plötzlich wurden ihre Augen rund und riesengroß vor Erstaunen. »Magdalena!«, flüsterte sie. »Magdalena hat es mir gesagt, ganz kurz vor ihrem Tod! Sie hat gesagt, dass die falsche Unschuld kommt, und dass ich mich vor der Macht der Sanften hüten soll! Es war gar kein Zeichen von Demenz, es war eine Warnung!«
»Wer weiß, was sie damals gesehen hat?«, sagte Anna ernst. »Man hat immer von Magdalena Albers behauptet, sie habe das Zweite Gesicht.«
Caro blieb lange Zeit in Gedanken versunken, dann sagte sie leise: »Weißt du, was? Ich finde das nicht unheimlich. Ich fühle mich eher so, als ob sie mich beschützt. Und ich brauche jetzt allen Beistand, der möglich ist.«
»Den hast du!«, versprach Anna von Herzen. »Deine Freunde stehen zu dir, und wer weiß? Vielleicht auch Magdalena Albers, wo immer sie jetzt auch sein mag.«
In Caros Augen kehrte etwas von ihrer früheren Lebensfreude und ihrem Kampfgeist zurück. »Zum ersten Mal seit langem habe ich wieder das Gefühl, es kann doch noch alles gut werden.«
*
Oliver Kant war ein gut aussehender Mann mit dunklen Haaren und braunen Augen. Er hatte im Hotel ein Zimmer genommen und traf sich mit Caro und Anna im Biergarten, um weitere Einzelheiten zu erzählen. Der Mann wirkte betroffen, aber ruhig. Seine sympathische Ausstrahlung machte es für Caro leichter, mit diesem Fremden über sehr Persönliches zu reden, und umgekehrt schien es ihm ebenso zu gehen. Caro hatte sich mit Felix verabredet und auch gesagt, dass sie Besuch mitbringen würde, ohne aber dessen Namen zu nennen. Fiona sollte auf keinen Fall vorgewarnt sein!
Die Begrüßung zwischen Felix und Caro war eine Mischung aus erwartungsvoller Freude, Traurigkeit und Unsicherheit. Es war so schmerzhaft vertraut, die Umarmung des anderen zu spüren, und gleichzeitig fühlte es sich seltsam an. Oliver stellte sich Felix vor, und dann gingen die drei hinaus in den Garten.
Fiona saß im Schatten eines Nussbaumes und blätterte in einer Zeitschrift, als sie die Schritte auf dem Kiesweg hörte. Sie schaute auf, und das Magazin glitt aus ihren Händen. »Oliver! Was tust du denn hier?«, fragte sie völlig überrascht.
»Dich besuchen, Fiona. Wie es aussieht, haben wir eine Menge zu besprechen!« Er wies auf ihren runden Bauch.
»Was? Wieso? Was hast du denn mit meinem Baby zu tun?«, fragte sie nervös. Ihr Blick huschte zwischen den beiden Männern hin und her, und sie streckte hilfesuchend ihre Hand aus. »Felix, setzt dich doch bitte zu mir, ich brauche dich. Oliver klingt so geheimnisvoll, er macht mir Angst!«
Felix legte demonstrativ seinen Arm um Caros Schultern. Er spürte die Spannung, die in der Luft lag. »Willst du mir nicht erzählen, wer Oliver ist? Du scheinst ihn ja gut zu kennen«, sagte er kühl, ohne einen Schritt von Caros Seite zu weichen.
»Das ist ein Freund von früher«, plapperte Fiona. »Wir hatten mal eine kurze Beziehung, aber die ist schon lange vorbei.«
Oliver drehte sich zu Felix um und erklärte alles, was es über ihn, Fiona und das Baby zu sagen gab.
Felix wurde sehr blass. »Dann ist das alles eine riesengroße Lüge, die du hier aufgetischt hast?«
»Nein, natürlich nicht!« Fiona war den Tränen nahe, aber dieses Mal waren sie echt. »Was redet ihr denn alle? Das Kind ist von dir, Felix! Und diese ganzen Vorwürfe, ich hätte das alles nur wegen deines Geldes getan, sind verrückt! Woher hätte ich denn von deiner Erbschaft wissen sollen?«
Caro antwortete mit nur einem Wort: »Internet!«
»Aber, aber was wollt ihr denn? Ihr spinnt doch alle! Und beweisen könnt ihr gar nichts!« Alle Sanftheit war plötzlich von Fiona abgefallen, und ihr süßes, rundes Gesicht wurde hart und kantig.
»Noch nicht, Fiona!«, entgegnete Caro eisig. »Aber im Moment der Geburt deines Kindes wird es einen Vaterschaftstest geben, verlass dich drauf!«
»Aber bis dahin könnt ihr mir gar nichts!«, giftete Fiona. Im selben Augenblick, als sie es gesagt hatte, begriff sie, dass sie sich verplappert hatte. »Verdammt!«, entfuhr es ihr.
Felix schaute sie fassungslos an. »Alles nur gespielt!«, murmelte er kaum hörbar. »Alles, bis hin zu perfekten Panikattacken.«
Oliver sagte kühl: »Du wirst jetzt deine Sachen packen und mitkommen. Ich habe im Hotel ein Zimmer für dich gebucht, die Gastfreundschaft von Felix und Caro hast du schon viel zu lange überstrapaziert. Morgen fahren wir zurück nach München.«
»Ich denke ja gar nicht daran!«
»Oh, doch, es gibt eine Menge für uns zu tun«, antwortete Oliver ruhig. »Du wirst dich auf die Geburt vorbereiten, und wir werden mit einem Anwalt und dem Jugendamt über das Sorgerecht sprechen. Ich bezweifle, dass aus uns jemals wieder ein Paar werden wird, aber nach allem, was geschehen ist, werde ich das Kind nicht allein deiner Verantwortung überlassen! Wir sind die Eltern, Fiona, ob es dir nun passt oder nicht, und ich schwöre, dass ich gut für mein Kind sorgen werde!
Der Test wird den eindeutigen Beweis bringen, aber Felix und Caro haben es verdient, dass sie jetzt aus deinem Mund die Wahrheit erfahren, Fiona: wer ist der Vater des Babys?«
Fiona schaute niemandem ins Gesicht, als sie flüsterte: »Du, Oliver.«
Es gab nichts mehr zu sagen.
Felix war immer noch wie vor den Kopf geschlagen. Er hielt Caros Hand umklammert wie einen Rettungsanker. »Wie hat das alles nur geschehen können? Warum haben wir ihr alle geglaubt?«
»Oh, Fiona kann sehr überzeugend sein!«, antwortete Caro trocken.
Sie standen in der Eingangshalle und sahen zu, wie Oliver Fionas großen Rollkoffer ins Auto lud. Der Mann wies auf den eleganten Kinderwagen und die luxuriöse Babyausstattung, die sich inzwischen angesammelt hatte. »Die Sachen werden zurückgeschickt, ich kümmere mich darum!«, versprach Oliver. »Du bekommst das Geld zurück, das Fiona sich erschlichen hat.«
»Nein, warte!«, sagte Felix plötzlich. »Nehmt es mit, in wenigen Wochen werdet ihr es brauchen können.« Er lächelte schief. »Irgendwie passt der Wagen besser nach München als ins ländliche Bergmoosbach. Wenn Caro und ich mal einen Kinderwagen brauchen, dann wird es ein ganz anderer sein.«
Bei diesen Worten spürte Caro ein Flattern wie von hundert Schmetterlingen in ihrem Bauch.
Oliver nickte. »Wie du willst.« Er schaute den anderen Mann prüfend an. »Das ist aber sehr großzügig von dir. Immerhin hat Fiona ein übles Spiel mit dir getrieben.«
»Es ist nicht für Fiona, es ist für den Kleinen«, antwortete Felix weich. »Und … er hätte ja auch mein Kind sein können.«
Oliver klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Du bist ein feiner Kerl, Felix, alle Achtung! Ich wünsche dir und deiner bemerkenswerten Caro alles Gute.«
»Danke, wir euch auch!«
Fiona wandte ihr blasses und verweintes Gesicht ab, als der Wagen anfuhr, und verschwand auf Nimmerwiedersehen aus Felix’ und Caros Leben.
Felix zog Caro in seine Arme und barg sein Gesicht an ihrer Schulter. »Bin ich wirklich ein feiner Kerl?«, murmelte er. »Ich bezweifle es. Wegen eines falsch verstandenen Ehrgefühls habe ich dich verletzt, und ich hätte dich beinahe verloren, Caro! Dabei bist du der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich möchte keinen Tag mehr ohne dich sein!«
»Mach’s doch nicht so kompliziert, mein Schatz! Worauf wartest du denn noch?« Unter Lachen und unter Tränen streckte sie ihm ihre Arme entgegen.
»Äh …, was …?«, stotterte Felix, der nicht ganz begriff.
»Na, trag mich doch endlich über die Schwelle des Kapitänshaus«, lächelte Caro. »Oder muss auch ich vier Jahren warten, so wie Magdalena auf ihren Heinrich?«
»Nein!«, rief Felix glücklich und wollte Caro schwungvoll auf die Arme heben, unterbrach aber plötzlich die Bewegung. »Moment! Bin gleich wieder zurück!« Weg war er und sauste die Treppe nach oben ins Schlafzimmer. Eine Minute später sprang er mit langen Sätzen die Treppe wieder hinunter und trat strahlend auf die Eingangsstufen des Kapitänshauses. In der Hand hielt er eine kleine, offensichtlich sehr alte Schachtel aus dunkelgrünem Leder mit verblasster Goldprägung. Er öffnete sie behutsam, und auf hellem Samt lagen drei alte Ringe.
Es waren die schlichten, goldenen Eheringe Heinrichs und Magdalenas und ihr Verlobungsring, ein wunderschöner Rubin, der von Diamanten umgeben in einer antiken Fassung ruhte. »Man kann nur über die Schwelle dieses Hauses getragen werden, wenn man es ganz ernst meint, Caroline, einmal und für immer. Dafür hat uns Tante Magdalena ihre Ringe hinterlassen. Sie hat gewusst, dass wir uns lieben werden.«
»Einmal und für immer, Felix!«, antwortete Caro strahlend.
Der Verlobungsring glitt auf ihren Finger, Felix hob sie in seine Arme und trug sie über die Schwelle des alten Hauses, das aus Liebe und für die Liebe gebaut worden war.
*
Bergmoosbach ist ein idyllischer, kleiner Ort, und Neuigkeiten verbreiten sich dort schnell. Die abenteuerliche Geschichte von Fionas Kommen und Gehen wurde ausgiebig diskutiert, ohne dass Einzelheiten an die Öffentlichkeit gerieten.
»Man wüsste ja schon gerne genauer, was da wirklich los war!«, sagte Afra im vertraulichen Tonfall zu Gerti, als sie wieder einen Termin bei Doktor Seefeld hatte.
»Da kann ich dir leider nicht weiterhelfen«, antwortete die ältere Sprechstundenhilfe freundlich.
»Nicht?« Gekränkt zog Afra die Augenbrauen in die Höhe. »Und das bei deinen Beziehungen! Du arbeitest doch mit Caro zusammen, und außerdem sieht man dich ja neuerdings nur in Begleitung dieses Anwalts, der das Testament eröffnet hat. Das ist doch ein Onkel vom Felix, gell? Hat der denn gar nichts erzählt? Oder bist du doch nicht so vertraut mit diesem Korbinian Wamsler?«
Gerti schaute von ihren Papieren auf und lächelte mit einem Schimmer in ihren hellen Augen, der früher nicht dagewesen war. »Wenn wir uns treffen, der Korbinian und ich, dann haben wir gar keine Zeit zu tratschen, liebste Afra. Dann sind wir sehr mit anderem beschäftigt«, antwortete sie honigsüß.
»Dann eben nicht!« Gekränkt verzog Afra sich ins Wartezimmer. Sie bekam nicht mit, wie Sebastian Seefeld und Caro im Nebenzimmer mit einander sprachen.
»Ich freue mich für Sie und Herrn Messner, dass dieser Spuk vorüber ist!«, sagte Sebastian. »Haben Sie beide Lust, heute Abend bei uns vorbeizuschauen? Ihre Freundin Anna kommt auch, ebenso Gerti und Herr Wamsler. Die Schatten der vergangenen Wochen haben uns alle ziemlich beschäftigt. Es wäre doch nett, wenn wir jetzt alle Ihre glückliche Zukunft feiern können.«
»Danke, wir kommen sehr gern!«, strahlte Caro.
Das unkomplizierte Treffen im Garten des Doktorhauses wurde zu einer Art improvisierten Verlobungsfeier. Es wurde viel erzählt und gelacht, man stieß auf das Glück des Paares an, und der Kummer wegen Fionas Intrige gehörte endgültig zur Vergangenheit. Die Menschen, die hier zusammensaßen, wussten, dass sie einander vertrauen konnten.
»Was hätte wohl Magdalena dazu gesagt, wenn sie gewusst hätte, was ihr Testament auslöst«, sagte Traudel nachdenklich.
»So seltsam es sich anhört: Ich glaube, ein wenig davon hat sie vorausgesehen«, antwortete Caro und erzählte von der eigenartigen Warnung der alten Dame.
Gerti hörte mit angehaltenem Atem zu. Unter dem Tisch, wo es nicht jedermann unbedingt gleich sehen konnte, schlüpfte ihre Hand in die von Korbinian. Hatte Magdalena nicht auch ihr etwas Seltsames gesagt, an dem Tag, an dem sie zum letzten Mal in die Praxis gekommen war? Dass das Warten bald vorbei sein werde … Und Korbinian war zurückgekehrt. Nach Bergmoosbach und in Ihr Leben und er war gekommen, um zu bleiben.
Gerti spürte ihr Glück wie etwas Greifbares, das sie umgab.
Emilias Haut kribbelte vor Freude, weil sich alles zum Guten gewendet hatte, und weil ihre Suche in die richtige Richtung, zu Oliver Kant, geführt hatte. Über ihren Fruchtcocktail hinweg tauschten sie einen verschwörerischen Blick mit Freundin Anna.
»Hm, das habe ich gesehen!«, sagte Sebastian argwöhnisch. »Und ich kenne diesen Blick! Sag mal, Spatz, dieser Oliver Kant ist ja wohl nicht zufällig vom Himmel gefallen. Kann es sein, dass du dabei ein bisschen deine Finger im Spiel gehabt hast?«
»Och, Papa, nur so’n bisschen Internetrecherche«, antwortete Emilia mit einem unschuldigen Augenaufschlag.
»So, so«, murmelte ihr Vater, und nun wechselte er einen Blick mit Anna.
Die junge Hebamme lächelte. »Du kannst stolz auf Emilia sein«, sagte sie leise. »Sie hat sich am wenigsten von Fiona blenden lassen.«
»Ja, sie entwickelt tatsächlich ein bemerkenswertes Gespür für Menschen.«
»Ihre Familie lebt es ihr vor.«
»Und ihre Freundinnen, besonders diese eine hier!«, antwortete Sebastian so leise, dass nur sie allein es hören konnte.
»Was für ein schöner Abend!« Caro kuschelte ihren Kopf an Felix’ Schulter und schaute glücklich in die freundlichen Gesichter um sich herum. »Jetzt habe ich Fiona wirklich schon fast vergessen.«
»Ich auch, mein Herz«, antwortete er und küsste zärtlich ihre Hand, an welcher der kostbare, alte Verlobungsring im Kerzenschimmer aufleuchtete. »Und ich hoffe, dass wir niemals mehr von ihr hören werden!«
Und dieser Wunsch sollte von allen der einzige sein, der nicht gleich in Erfüllung ging, denn wenige Wochen später flatterte ein Brief ins Kapitänshaus. Es war eine Geburtsanzeige auf zartem, rosa Papier mit dem Foto eines sehr hübschen Babys mit dunklen Haaren und dunklen Augen. Der Text lautete:
Das Leben hört nicht auf, uns zu überraschen! Eva-Maria Kant hat uns zu glücklichen Eltern gemacht.
Fiona Bartels und Oliver Kant
– E N D E –