Читать книгу Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman - Tessa Hofreiter - Страница 25
Оглавление»Ja, habt ihr denn schon diesen eigenartigen Wagen bemerkt, der seit Stunden drüben beim Herrn Pfarrer steht?« Die alte Ederin wies auf den gegenüberliegenden Parkplatz, und die Damen in Fanny Lechners Lebensmittelgeschäft reckten interessiert die Hälse. »Hat man hier so was schon gesehen!«
»Hübsch, nicht wahr?« Traudel, die gute Seele des Doktorhauses, guckte ganz unschuldig zwischen den Packungen mit verschiedenen Müslis hervor. »Bissl altmodisch und gemütlich. Ist halt mal etwas anderes, gell?«
»Na, ich weiß nicht recht.« Frau Eder rückte ihre Brille zurecht und musterte unschlüssig die gegenüber liegende Straßenseite. »Schaut so ein Auto aus?«
Das Gefährt, über das man sich angeregt unterhielt, unterschied sich wirklich sehr von den anderen Wagen, die auf dem Parkplatz standen. Es ließ sich nicht genau sagen, ob es ein Wohnwagen, ein Wohnmobil oder einer dieser wunderschönen, alten Wagen war, mit denen früher die Landfahrer unterwegs gewesen waren. Irgendwie schien es eine Mischung aus allem zu sein.
Seine hölzernen Außenwände waren zu silbrigem Grau verwittert, die unterteilten Fenster und die hübsche alte Tür in einem warmen, dunklen Grün gestrichen und soweit man es mit prüfenden Blicken durch die Fenster beurteilen konnte, verfügte er über einen sehr individuell gestalteten Innenraum.
Dieser Wagen schien als Werkstatt und gleichzeitig auch als Wohnung zu dienen. Derjenige, der ihn so gestaltet hatte, musste nicht nur einen guten Geschmack haben, sondern auch das Bedürfnis, sich bei der Arbeit in einer angenehmen Atmosphäre aufzuhalten.
»Wem der wohl gehören mag?«, fragte Afra in die Runde.
»Einem Bekannten vom jungen Doktor«, antwortete Traudel beiläufig. »Fanny, wann bekommst du denn die nächste Lieferung? Wir warten noch auf das Müsli mit den getrockneten roten Früchten und den …«
»Nun lass mal das langweilige Müsli!«, fiel Afra ihr ins Wort. »Ein Bekannter vom jungen Doktor? Vom Sebastian Seefeld? Der kennt jemanden mit so einem Wagen? Nun erzähl schon!«
Traudel unterdrückte einen leisen Seufzer. Alles, was mit dem Doktorhaus zu tun hatte, war in der dörflichen Gemeinschaft von Interesse, und sie als Haushälterin wurde gern als Informationsquelle angezapft. Dabei fiel niemandem auf, dass Traudel niemals irgendetwas wirklich Wichtiges oder gar Persönliches von der Familie Seefeld preisgab, sondern immer nur von Offensichtlichem oder Belanglosem sprach.
»Na, wie man sich halt so kennt«, antwortete sie unverbindlich. »Er wird für einige Zeit hier in Bergmoosbach bleiben. Ihr wisst doch, dass in unserer Kirche die Orgel dringend restauriert werden muss. Doktor Seefelds Bekannter wird sich darum kümmern, er ist Orgelbauer. Sein Name ist Leander Florentin.«
»Leander Florentin!«, meinte Hannerl schwärmerisch. Sie war Fannys kleine Schwester und dreizehn Jahre alt. »Wenn er so hübsch ist wie sein Name …«
»Was dann! Dann ist die Welt mal wieder ein bissl schöner geworden, gell? Aber bis es so weit ist, räum‘ bitte weiter die Regale mit den Waschmitteln und dem Toilettenpapier ein! Du bist hier, um zu helfen und dein Taschengeld aufzubessern«, antwortete Fanny resolut.
»Manno!« Hannerl verzog sich grollend zwischen die Regale. Wenn man schon so uralt war wie die große Schwester, Ende Zwanzig, dann hatte man wohl überhaupt kein Verständnis mehr für Romantik. Ein Orgelbauer namens Leander Florentin, der als Auto eine Art altmodischen Zirkuswagen fuhr, der konnte doch nur total romantisch sein! Aber wahrscheinlich verlor man jenseits der Zwanzig dafür jedes Gespür. Hannerl beschloss, dass ihr das niemals passieren würde!
*
Hätte das Mädchen den Mann gesehen, der jetzt an der Seite des Herrn Pfarrer und des Gemeinderats die Kirche besichtigte, wäre sie sicher wieder ins Schwärmen geraten. Leander Florentin sah in der Tat sehr gut aus. Er war groß und breitschultrig, mit dichten, dunklen Haaren und dunklen Augen. Der lässige Drei-Tage-Bart passte zu seinen markanten Gesichtszügen. Der Blick seiner braun-goldenen Augen war zurückhaltend und gleichzeitig voller Wärme. Bekleidet war er mit einer gut geschnittenen, schwarzen Jeans, weißem T-Shirt und einem leichten, anthrazitfarbenen Wollpullover mit V-Ausschnitt. Der Mann verfügte über eine männliche, angenehm ruhige Ausstrahlung. Er war ein stiller, in sich gekehrter Mensch, dem oberflächlicher Kontakt zu anderen nicht leicht fiel. Warum viele Worte machen, wenn man eigentlich nichts zu sagen hatte? Er schwieg lieber, hörte Musik und lauschte den Erzählungen, die darin verborgen waren.
Nun schaute er sich in der schönen Kirche Bergmoosbachs um und hörte seiner Begleitung aufmerksam zu. Die Kirche war seit geraumer Zeit in aller Munde. Endlich waren Gelder zu einer längst fälligen Renovierung bewilligt worden. Man dachte an eine Überholung der Orgel, Erneuerung einiger Vergoldungen und das Auffrischen der weißen Wandfarbe. Dabei hatte man eine Entdeckung gemacht, die für Aufsehen sorgte: an einer Seitenwand war unter dem Weiß eine alte Wandmalerei verborgen.
Bergmoosbachs Kirche war an die dreihundertfünfzig Jahre alt, und das übertünchte Fresko ließ sich weit zurück datieren. Es stammte von keinem bekannten Künstler und war also kein sensationeller Fund, aber wichtig genug, dass man es erhalten wollte. Es hatte viele und hitzige Diskussionen darüber gegeben, welcher Fachmann in der Lage und bezahlbar sei, um diese großflächige Malerei wieder zum Leben zu erwecken. Aber schließlich hatte man sich auch in diesem Punkt einigen und die Arbeit in Auftrag geben können.
Bisher hatte Leander allen Ausführungen interessiert zugehört, aber allmählich wünschte er sich, dass seine Auftraggeber und der Pulk von wichtigen Amtsträgern, die sie umgaben, endlich gehen würden. Er wollte in dem Gebäude allein sein und es in aller Ruhe auf sich wirken lassen. Jede Kirche und jede Orgel waren anders, jede hatte ihre eigenen Klangfarben. Leander wollte durch den Raum gehen, dem Hall seiner Schritte lauschen und das Gestühl und die Stoffe begutachten, die zum Schmuck der Kirche gehörten. All das und noch so viel mehr beeinflusste die Klänge mit, welche die Orgel erzeugte.
Endlich schienen sich alle darüber einig zu sein, dass jetzt nichts Bedeutendes mehr zu sagen war, und verabschiedeten sich. Erholsame Stille füllte den Kirchenraum. Leander Florentin ging zur Treppe, welche zur Orgelempore hinauf führte, und machte sich ans Werk.
Der Mann wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als er in dem Spiegel, der ihm den Kirchenraum in seinem Rücken zeigte, eine Bewegung wahrnahm. Irritiert unterbrach er die Tonfolgen und schaute sich um.
Unten auf den Altarstufen stand eine Frau.
Sie ließ sich durch ihn nicht stören und musterte den Innenraum mit einem ähnlich prüfenden Blick, wie er es vorhin getan hatte. Leander wurde ärgerlich. Er fühlte sich aus seiner Arbeit herausgerissen und beobachtet, und das schätzte er überhaupt nicht! Da er sich in einer Kirche befand, konnte er nicht einfach von der Empore zu ihr herab rufen, sondern ging die Treppe hinunter und durch den Mittelgang auf sie zu.
Es war eine ungewöhnliche Frau, die dort stand und ihm ruhig entgegen schaute. Sie war sehr zart und wirkte fast zerbrechlich. Wahrscheinlich stammte sie aus dem Süden, denn ihre Haut hatte einen warmen Ton, und die Augen und die fein geschwungenen Brauen waren tief dunkel. Sie hatte exakt geschnittenes, kinnlanges Haar von auffälliger Farbe. Das ursprüngliche Schwarz lag nur noch als Ahnung unter schimmerndem Silber. Zu ihrem jungen Gesicht und der zierlichen Figur bot dieses aparte Silbergrau einen reizvollen Kontrast.
Bekleidet war sie mit einer schmalen Jeans, einem knappen schwarzen Blazer und einem opulenten Schal aus dunkelroter Seide mit Rosenmuster. Leanders Künstlerauge sah sofort, dass diese Blüten handgemalt waren. Ihre schmalen Hände schmückten zwei moderne Silberringe mit grünem Stein.
Er fand diese Frau apart, wunderschön und äußerst störend.
»Äh, bitte, hätten Sie nicht gemeinsam mit den anderen gehen können?«, fragte er gereizt.
Die dunklen Augen musterten ihn ruhig. »Nein«, erwiderte sie. Ihre Stimme war Gesang.
»Ich, äh, ich möchte arbeiten und das kann ich am besten, wenn ich ungestört bin!«, sagte er einigermaßen beherrscht.
»Genau wie ich«, kam die sachliche Antwort.
Leanders Kopfhaut begann zu prickeln. Wie so viele Menschen, die ganz in ihrer Arbeit aufgehen, verlor er manchmal den Anschluss ans wirkliche Leben. Er konnte vergessen, dass es außerhalb der Musik und des Orgelbaus noch anderes Wichtiges gab, das Menschen beschäftigte.
»Dann lassen Sie sich doch bitte nicht aufhalten!«, sagte er ungeduldig.
»Keineswegs!«, antwortete die Fremde, wandte ihren Blick von ihm ab und ließ ihn wieder konzentriert durch das Kirchenschiff schweifen.
Leander hielt die Luft an, zählte innerlich bis zehn und sagte dann sehr deutlich: »Ich habe hier zu arbeiten und möchte dabei ungestört sein!«
Jetzt erschien eine steile Falte auf der glatten Stirn der jungen Frau. »Dann arbeiten Sie doch!«, entgegnete sie verärgert. »Ich habe weder vor, hier für ein Rockkonzert zu proben, noch einen Jazz-Dance einzustudieren. Sie können sich also weiter mit Ihrer Orgel befassen, wo ist eigentlich das Problem?«
»Das Problem sind Sie!«, antwortete er prompt.
Die Frau zuckte kühl die Achseln und ging zu dem Teil der Wand hinüber, die bereits neu getüncht worden war. Suchend glitten ihre Fingerspitzen über den weißen Farbaufstrich, sie wirkte hochkonzentriert und beachtete Leander nicht weiter.
Bitte, sollte sie! Was immer sie hier tat, es schien keinen Lärm zu verursachen, und sie ließ auch nicht mehr diesen irritierend intensiven Blick durch den Raum schweifen. Leander ging zur Empore zurück und versuchte, sich wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren. Es war so, wie er befürchtet hatte: die Restaurierung würde wesentlich aufwändiger sein und viel länger dauern als geplant.
Dass ihm jetzt auch noch eine Schönheit mit schwarzen Augen durch den Sinn geisterte, machte es nicht gerade einfacher.
*
Im Doktorhaus stand Emilia auf der Terrasse und schaute zufrieden auf den großen Tisch, den die Familie eben gemeinsam gedeckt hatte. Auf dem weißen Leinentuch standen der Korb mit frischem Brot, in das getrocknete Tomaten eingebacken waren, gewürzte Butter, Feldsalat mit Walnüssen und Orangen, verschiedene Käsesorten und ein Wacholderschinken aus Bergmoosbachs bester Räucherkammer. Sollte das den Geschmack der Gäste nicht treffen, lagen natürlich auch Weißwürste und Brezen in Traudels Vorräten bereit. Als Dessert lockten selbst gemachtes Schokoladeneis, nach dem man süchtig werden konnte, und Bayerische Crème mit Himbeersauce.
»Das ist alles so lecker! Hoffentlich kommen die Gäste bald, damit wir anfangen können zu essen«, meinte Emilia ungeduldig. »Papa, woher kennst du diesen Orgelbauer eigentlich?«
»Aus dem Krankenhaus«, antwortete Sebastian Seefeld. »Das war eine sehr dramatische Geschichte. Leander hat eine ältere Schwester, an der er sehr hängt. Sie hat ihr erstes Kind durch eine Totgeburt verloren und ist vor Kummer sehr krank geworden. Alles deutete auf einen Herzinfarkt hin, und die Patientin sollte entsprechend behandelt werden. Ich habe noch eine weitere Untersuchung veranlasst und dabei zeigte sich, dass die Frau gar keinen Herzinfarkt gehabt hatte.«
»Sondern das ›Gebrochenes-Herz-Syndrom‹?«, fragte der Doktor Benedikt Seefeld, sein Vater, interessiert.
»Was ist das denn? Gibt es wirklich eine Krankheit, die so heißt?«, erkundigte sich Emilia.
»Ja«, erklärte Sebastian seiner Tochter weiter. »Sie ist noch weitgehend unbekannt. Wenn man einen großen seelischen Schmerz erlitten hat, so wie Leanders Schwester durch den Verlust ihres Babys, dann kann das Herz unter diesem enormen Stress so krank werden, dass es sich anfühlt und aussieht wie ein Herzinfarkt. Und wenn das dann falsch behandelt wird, kann es lebensgefährlich sein.«
»Mann! Das ist ja krass!«, erwiderte Emilia betroffen. »Dann ist es also nicht nur so eine dramatische Redensart, dass jemand an gebrochenem Herzen gestorben ist?«
»Nein, offensichtlich nicht«, antwortete ihr Vater und beendete mit einem liebevollen Lächeln das Gespräch. Er wollte nicht, dass Emilia sich mit einem so ernsten Thema weiter belastete.
Aber seine Tochter musste unbedingt noch etwas wissen: »Papa, was ist dann aus der Schwester dieses Leander geworden? Ist sie wieder gesund?«
»Ganz und gar!«, konnte der Arzt seine mitfühlende Tochter beruhigen. »Sie hat inzwischen ein gesundes Baby zur Welt gebracht, einen kleinen Jungen. Und nun rate mal, wie der heißt!«
»Na, Sebastian, natürlich!«, sagte Traudel im Brustton der Überzeugung. Sie fand, das sei ja wohl das Mindeste, was man für ihren Bub tun konnte, nachdem er das Leben der Mutter gerettet hatte!
Sebastian lachte und drückte ihr einen festen Schmatzer aus die Wange. »Ja, ja, du hast halt ein Genie großgezogen!«, meinte er mit einem Augenzwinkern.
»Hier, du Genie! Dann schnapp dir doch bitte mal unseren neuen, angeblich so perfekten Korkenzieher und öffne die Weinflaschen!«, sagte Benedikt Seefeld und drückte seinem Sohn die Flasche in die Hand.
Unter viel Gedrehe und Gezerre an dem widerspenstigen Teil gelang es dem jungen Doktor schließlich, den Korken zu ziehen, und der aromatische Rote konnte in die Karaffe umgefüllt werden. Keinen Augenblick zu früh, denn soeben knirschten Schritte auf dem Kiesweg, und Leander kam über den Gartenweg zum Haus. Es gab ein lebhaftes Wiedersehen zwischen den Männern, der Rest der Familie wurde vorgestellt, und dann setzte man sich an den Tisch. Leander zeigte sich von der Schönheit des alten Doktorhauses und des prachtvollen Gartens beeindruckt und gewann damit sofort Traudels Sympathie.
»Unser zweiter Gast ist aufgehalten worden und bittet um Entschuldigung«, sagte Sebastian. »Es gab Lieferschwierigkeiten bei einigen ihrer Utensilien, aber sie beeilt sich und wird gleich hier sein. Bis dahin lasst uns auf das Wiedersehen und auf das gute Gelingen deiner Arbeit anstoßen, Leander.«
In den feinen Klang der Gläser, die einander berührten, mischte sich das Geräusch leichter Schritte, die über den Kiesweg eilten. »Bitte entschuldigen Sie nochmals die Verspätung!«, sagte die junge Frau, welche jetzt die Terrasse betrat.
Apart. Silbergraue Haare und nachtschwarze Augen. Leander schluckte. Sie war der Störenfried aus der Kirche.
Sebastian hatte sich erhoben. »Wie schön, dass Sie jetzt bei uns sind!«, sagte er freundlich. »Darf ich vorstellen? Das ist Sophia Corelli, die Künstlerin aus der Toskana, welche bei uns in der Kirche das übermalte Fresko retten wird.«
Die anderen nannten ebenfalls ihre Namen, und Sophia setzte sich auf den einzigen freien Platz – wie hätte es anders sein können – neben Leander. Ihr Duft streifte ihn, es war eine Mischung aus Bergamotte und Lavendel, sommerwarmen Zypressen und Kreidefarben. Sie trug eine schmale, schwarze Leinenhose und eine Seidentunika in den Farben eines verblassenden Sonnenuntergangs, und sie leuchtete.
Sophia war nicht sehr erfreut, dem Orgelbauer hier zu begegnen. Über seinen Auftritt in der Kirche hatte sie sich geärgert, aber sie bemühte sich, das jetzt nicht zu zeigen. Sie unterhielt sich mit der Familie und stellte fest, dass sowohl Sebastian als auch sein Vater nicht nur interessante Gesprächspartner, sondern auch sehr charmant waren.
Leander bemerkte, dass es für ihn nicht so einfach war, sich an den Gesprächen zu beteiligen. Seine Unfreundlichkeit gegenüber der italienischen Malerin tat ihm leid, aber das mochte er hier nicht ansprechen. Jetzt locker mit ihr zu plaudern, als wäre nichts gewesen, empfand er auch als nicht richtig. Also schwieg er meistens und begnügte sich mit der Rolle des Zuhörers.
»Erlauben Sie mir eine Frage?«, wandte sich Benedikt Seefeld an die Künstlerin. »Wie kommt es, dass Sie so gut Deutsch sprechen? Selbst wenn ich Italienisch lernte, würde ich es auch nach vielen Jahren nicht so perfekt sprechen können.«
Sophia Corelli lächelte. »Das ist eine Vorliebe, die von den Frauen in meiner Verwandtschaft weitergegeben wird«, antwortete sie. »In unserer Familie flüstert man einander etwas von einer heimlichen Liebesgeschichte zwischen meiner Ur-Urgroßmutter und einem deutschen Kunstmaler zu. Niemand weiß, ob diese Geschichte stimmt. Tatsache ist, dass Grande-Bisnonna Francesca ein kleines Mädchen mit bemerkenswert blauen Augen und einem ebenso bemerkenswerten Talent zum Malen zur Welt gebracht und eine deutliche Vorliebe für die deutsche Sprache entwickelt hat.«
»Dann fühlen Sie sich hier vielleicht nicht so fremd, und falls doch, dann kommen Sie uns besuchen«, bot Sebastian mit einem charmanten Lächeln an. »Abends allein in einem Hotelzimmer zu sitzen ist nicht immer angenehm.«
»Das ist schön, danke! Ich werde sicherlich darauf zurückkommen«, antwortete Sophia.
Inzwischen hatte sich das Abendrot hinter die Wälder verzogen, und der Himmel wurde unmerklich dunkler. Man entzündete Kerzen in den Windlichtern, und als die Sprache auf Musik und die Orgel kam, wurde Leander gebeten, etwas auf dem Flügel zu spielen. Die Fenster vom Wohnzimmer öffneten sich in die warme Sommernacht, und Kerzenschimmer fiel auf die Rosen, welche die Terrasse säumten. Die Gespräche wurden von den leisen Klängen herrlicher Musik begleitet, die Leander zum Leben erweckte.
Sophia erzählte aus ihrer toskanischen Heimat, und Sebastian und Emilia aus der Zeit, als die Familie noch in Kanada gelebt hatte. Irgendwann wurde die Tafel aufgehoben, und die Gäste verabschiedeten sich. Während Traudel und Benedikt die Spülmaschine einräumten und die restlichen Lebensmittel verstauten, löschten Sebastian und seine Tochter die Kerzen, brachten Kissen und Decken ins Haus und verriegelten die Türen.
»Diese beiden Künstler sind wirklich interessante Menschen«, meinte Sebastian. »Ich hoffe, Leander geht noch ein wenig aus sich heraus und erzählt mehr von seinem Beruf. Ich weiß zwar in ganz groben Zügen, wie eine Orgel gebaut wird, trotzdem grenzt es für mich an Zauberei, diese Klänge damit erzeugen zu können.«
»Ja, dieses Können bewundere ich auch sehr!«, antwortete Benedikt. Dann verabschiedete er sich von den anderen und ging in sein Schlafzimmer hinauf. Auch Traudel zog sich in ihre eigene kleine Wohnung zurück.
Sebastian und Emilia trödelten zwischen dem Bad und ihren Zimmern hin und her und unterhielten sich über den Abend. Das junge Mädchen wirkte sehr locker, fast ein wenig aufgekratzt, und ihr Vater meinte liebevoll: »Na, dir scheint der Abend ja besonders gut gefallen zu haben, Emilia.«
»Hat er auch!«, bestätigte Emilia. »Und vor allen Dingen finde ich diese Sophia so richtig, richtig nett. Irgendwie erinnert sie mich an Mama.«
»Tatsächlich?« Sebastian war überrascht. »Aber sie sieht Mama doch gar nicht ähnlich.« Seiner goldenen Helen mit den strahlend grauen Augen, die sie ihrer Tochter vererbt hatte. »Mama sah ganz anders aus als Sophia Corelli«, sagte er weich.
»So meinte ich das nicht«, antwortete seine Tochter. »Sie ähneln sich nicht im Aussehen, sondern irgendwie anders. Beide sind doch Malerinnen, so der künstlerische Typ. Mama hätte sich bestimmt auch prima mit ihr verstanden. Und ist dir aufgefallen, dass sie das gleiche Parfum benutzt, das Mama auch hatte?«
Sebastian verspürte einen Stich. Helens Duft – begann er ihn zu vergessen?
Emilia, mit den Gedanken noch in der Vergangenheit, kicherte plötzlich. »Ich meinte das Parfum, das du ihr mal zu eurem Kennenlerntag geschenkt hast. Es muss ziemlich teuer gewesen sein, und es roch so toll. Ich wollte es auch benutzen, und dann ist es mir im Bad auf die Fliesen gefallen, und der Flakon ist zerbrochen. Mama war so sauer auf mich! Sie hat mit mir geschimpft, weil ich ohne zu fragen an ihre Sachen gegangen bin. Ich hab furchtbar geheult, und dann tat Mama alles leid, und wir sind in die Stadt gefahren, um ein riesiges Versöhnungseis zu essen.«
»Und ich habe ihr am nächsten Tag einen neuen Flakon mitgebracht und dir etwas Fruchtig-Frisches, ganz allein für große kleine Mädchen«, erinnerte Sebastian sich.
»Bist eben ein toller Papa, du – Genie!«, grinste seine Tochter und gab ihm einen dicken Gutenachtkuss, ehe sie in ihrem Zimmer verschwand.
Sebastian blieb noch für einen Augenblick in Gedanken versunken im Flur stehen. Diese Sophia Corelli – war es nur die unbewusste Erinnerung an das Glück mit Helen, das diesen Abend auch für ihn so besonders schön gemacht hatte?
*
Währenddessen waren Sophia und Leander zum Hotel Sonnenhof hinüber gegangen, in dem ihre Zimmer auf sie warteten. Kurz vor dem erleuchteten Eingang blieb der Mann plötzlich stehen. »Hören Sie, Signora Corelli«, begann er.
»Sophia, bitte!«, unterbrach ihn die Frau.
»Also, Sophia, ich möchte mich entschuldigen! Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so unfreundlich war und Sie quasi aus der Kirche hinauswerfen wollte. Ich hatte ja keine Ahnung, wer Sie sind, und dass Sie selbst dort arbeiten wollen. Hoffentlich hat dieser blöde Anfang unsere Zusammenarbeit nicht gefährdet.«
»Wir werden sehen!«, antwortete sie und ging weiter. Nach zwei Schritten blieb sie stehen und schaute über die Schulter zu ihm zurück. »Danke für Ihre Entschuldigung, die war nötig.«
Lachten ihre dunklen Augen ihn aus? Er konnte es in dieser Beleuchtung nicht genau erkennen.
Im Hotel saß eine sehr junge Frau, offensichtlich eine Aushilfe, am Tresen und blätterte in einer Zeitschrift. Auf ihrem Namensschild prangte der Name Shakira Plaschke. Sie war müde, schlecht gelaunt und gelangweilt, als die beiden Restauratoren das Hotel betraten und um die Schlüssel baten. Mit einem mürrischen: »Hier, bitte, Zimmer Nr.4!«, legte sie einen Schlüssel auf den Tresen.
»Entschuldigung?«, versuchte es Leander, nachdem Shakiras Aufmerksamkeit gleich wieder der Zeitschrift galt. »Ist das nun der Schlüssel für Signora Corelli oder für mich?«
»Wie!«, raunzte Shakira. »Das ist Ihr Schlüssel!«
Leander und Sophia schauten sich an. »Aha«, meinte die junge Frau. »Wenn dieses der Zimmerschlüssel von Herrn Florentin ist, wo bleibt dann meiner?«
Shakira knallte die Zeitschrift zu. Sie war gerade bei den Fotos einer Promihochzeit angekommen und hatte absolut keine Lust, sich davon weiter ablenken zu lassen. »Wieso Ihr Schlüssel? Sie haben ein Doppelzimmer!«
»Nein, haben wir nicht!«, antworteten Sophia und Leander wie aus einem Mund und sehr entschieden.
»Sie werden jetzt die Buchung überprüfen«, sagte Sophia kühl, »und feststellen, dass ich ein Einzelzimmer gebucht und bestätigt bekommen habe!«
»Dasselbe gilt für mich!«, erklärte Leander.
Alles andere als freundlich und entgegenkommend, schaute Shakira in die Unterlagen und zog einen Flunsch. Seitens der Hotelleitung war alles ordnungsgemäß gebucht, aber die junge Aushilfe hatte sich nur flüchtig die Anreise zweier Restauratoren gemerkt und ihnen ein Doppelzimmer gegeben.
»Das dürfte doch kein Problem sein«, meinte Leander. »Dann bekommt Signora Corelli die Nr.4, und mir geben Sie ein anderes Zimmer.«
»Sommerferien. Wir sind ausgebucht!«, antwortete Shakira, und für sie war damit klar, dass alles gesagt war, was es dazu zu sagen gab.
Wieder wechselten die beiden Gäste einen Blick, er schwankte zwischen Belustigung und Ärger. »Und? Was schlagen Sie nun vor?«, fragte Sophia.
Shakira zuckte die Achseln. »Wie gesagt, wir sind belegt. Entweder Sie teilen sich das Zimmer, oder einer von Ihnen schläft woanders. Ich glaube aber nicht, dass Sie noch was finden. In den Sommerferien ist hier alles voll.« Nach dieser Ansage widmete sie sich endgültig dem Artikel über den legendären Rockstar und seine Kindfrau, die noch nicht einmal halb so alt war wie er.
Diese Unverschämtheit machte die beiden Gäste zunächst sprachlos, dann brachen sie in Gelächter aus. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend!«, meinte Sophia spöttisch, »Lassen Sie sich nur nicht von Ihrer interessanten Lektüre abhalten!« Sie spielte mit dem Zimmerschlüssel und schaute Leander an. »Und nun? Wollen wir losen?«
»Das ist nicht nötig«, antwortete Leander. »Sie können das Zimmer gern haben. Ich habe meinen ausgebauten Wagen hier, in dem ich schlafen kann. Zu dieser späten Stunde möchte ich nicht mehr bei den Seefelds klingeln und um ein Nachtquartier bitten. Es reicht, wenn sie bei medizinischen Notfällen gerufen werden. Es wäre nur nett, wenn ich Ihr Bad benutzen könnte. Bei mir an Bord kann ich zwar einen Kaffee kochen, aber mit Duschen und Zähneputzen sieht es schlecht aus.«
»Natürlich! Holen Sie Ihre Sachen«, antwortete Sophia. Sie hatte zwar überhaupt keine Lust, Leander in ihrem Zimmer zu sehen, aber sie wollte nicht unhöflich sein.
»Danke! Morgen wird sich bestimmt eine bessere Lösung finden«, entgegnete er.
Während Leander seine Sachen holte, richtete sich Sophia in ihrem Zimmer ein. Es war ein gemütlicher Raum mit viel bayerischem Charme, und seine Fenster gingen auf einen großen Garten hinaus.
Als Leander sich zum Duschen in ihr Badezimmer zurückzog, setzte sie sich aufs Bett, gab im Internet seinen Namen ein und forschte nach, was über ihn bekannt war. Sie fand Einträge, die seinen beachtlichen beruflichen Werdegang dokumentierten, und wenige Lebensdaten. Er war ein wenig älter als sie, Anfang Vierzig, arbeitete als Selbstständiger, hatte seinen festen Wohnsitz an der Grenze zu Österreich und war anscheinend ledig.
»Ja, dann …« Leander stand plötzlich vor ihr, mit feuchten Haaren und seiner geschmackvollen Ledertasche unter dem Arm. Er brachte einen Hauch von Sandelholz mit ins Zimmer, der zu ihrem Bett hinüberwehte. »Danke nochmals für die Badbenutzung! Ich nehme an, wir sehen uns morgen?«
»Höchstwahrscheinlich«, antwortete Sophia zerstreut. Der Duft des Sandelholzes irritierte sie. »Also, schlafen Sie gut!«
»Danke, Sie auch!«, antwortete Leander und zog leise die Tür hinter sich ins Schloss.
Die junge Frau beschloss, keine Zeit mehr vor dem Laptop zu vertrödeln. Die Nacht war kurz, und morgen wartete viel Arbeit auf sie. Sie griff nach ihrem Nachthemd und ihrer Kosmetiktasche und ging ins Bad. Sophia war heikel, was die Benutzung ihres Badezimmers durch einen Unbekannten betraf, und sie fragte sich naserümpfend, wie sie es wohl vorfinden würde.
Es war perfekt aufgeräumt. Die Duschwände abgezogen, keine feuchten Fußabdrücke auf den Bodenfliesen. Benutzte Handtücher lagen im Wäschekorb, und das Waschbecken verunzierten weder Haare noch Reste von Zahncreme. Nur ein leichter Dunstschleier auf dem Spiegel zeigte an, dass das Bad vor kurzem benutzt worden war.
Man konnte gerade noch die Worte Gute Nacht! erkennen, die er für sie in die zarte Feuchtigkeit gemalt hatte.
*
Am anderen Morgen erwachte Sophia mit einem dumpfen Druckgefühl unter der Schädeldecke. Sie hoffte, dass sich der Kopfschmerz nicht zu einer richtigen Migräne auswuchs, unter der sie oft zu leiden hatte. Trotz der ruhigen Lage ihres Zimmers hatte sie nicht gut geschlafen, und sie stand müde aus dem Bett auf. Nach einer Wechseldusche und einem leichten Frühstück ging es ihr etwas besser, und bei einer letzten Tasse Kaffee ging sie in Gedanken die Arbeiten des heutigen Tages durch.
Es würde jetzt in erster Linie darum gehen, die weiße Wandfarbe weiter zu entfernen und festzustellen, wie großflächig die alte Malerei darunter war. Man wusste bereits, dass es größere Stellen gab, an denen früher der alte Putz herabgefallen und erneuert worden war. Damit waren Teile des alten Freskos unwiederbringlich verloren. Es würde sich also eher um Teile einer alten Malerei als um ein vollständiges Szenario handeln, das sie freilegen und restaurieren sollte.
Leander war wahrscheinlich bereits drüben in der Kirche, er schien auf ungestörtes Arbeiten – das heißt, dass er allein blieb – großen Wert zu legen. Bitte, das konnte er haben. Sophia hatte nicht die Absicht, ihn in lange Gespräche zu verwickeln. Ihre Arbeitsgänge waren naturgemäß leise, er sollte sich also durch sie nicht gestört fühlen. Wie es im umgekehrten Fall war, blieb abzuwarten. Es könnte sein, dass die Kirche stundenlang von ein und demselben schrägen Ton widerhallte, an dessen Korrektur der Orgelbauer arbeitete. Mit einem unbewussten Seufzer griff Sophia nach der dicken Strickjacke, die sie gegen die Kühle in der Kirche brauchen würde, und machte sich auf den Weg zu ihrer Arbeit.
Nur wenige Straßen entfernt rüstete sich Doktor Seefeld für seinen ersten Patiententermin. Frau Sonnleitner, die Besitzerin des Hotels Sonnenhof, hatte um einen außerplanmäßigen Termin gebeten, ihre Magenbeschwerden machten ihr wieder sehr zu schaffen.
»Grüß Gott, Herr Doktor, Sie können sich gar nicht vorstellen, wieviel Ärger ich im Augenblick habe! Kein Wunder, dass mir das auf den Magen schlägt!«, informierte ihn seine Patientin und ließ sich mit einem Seufzer in den Stuhl vor Sebastians Schreibtisch fallen.
Zenzi Sonnleitner war klein und korpulent, man sah ihr die Vorliebe für deftiges Essen an. Sie war eine hervorragende Köchin und kannte sich bestens in der heimischen Küche aus. Wer viel arbeitet, muss viel essen, lautete ihr Credo. Da Zenzi Sonnleitner von morgens bis abends beschäftigt war, aß sie gut und reichlich, und für die Seele gab es Schokolade. In jüngeren Jahren war das nur in hübschen Rundungen zu Buche geschlagen, aber jetzt, mit Mitte Fünfzig, machten sich Leber und Galle bemerkbar. Der Landdoktor hatte schon seit geraumer Zeit zur nötigen Operation geraten, aber Frau Sonnleitner lehnte das ab.
»Herr Doktor, woher soll ich denn die Zeit nehmen, um ins Krankenhaus zu gehen? Und dann später die Zeit des Ausruhens zu Hause? Wer macht mir denn die Arbeit im Hotel und in der Wirtstube?«, sagte sie auch jetzt.
»Ihr Mann und die älteste Tochter arbeiten doch im Betrieb mit, und Sie haben Angestellte«, entgegnete Sebastian.
»Angestellte!« Zenzi Sonnleitner schaute den Arzt voller Empörung an. »Was die sich heutzutage leisten! Nicht jeder hat so eine Perle wie Sie mit der Gerti Fechner, Herr Doktor! Soll ich Ihnen mal sagen, was sich dieses Madl aus Berlin, diese Shakira Plaschke, geleistet hat? Hat doch glatt ein Zimmer doppelt belegt und wurde auch noch pampig, als die Gäste von ihr Hilfe bei der Suche nach einem anderen Quartier erbeten hatten! Hat überhaupt kein Benehmen, und an den guten Ruf des Hauses denkt sie schon mal gar nicht!« Frau Sonnleitners Blutdruck kletterte bedenklich in die Höhe. »Welchen Eindruck hinterlässt das denn jetzt bei den beiden Künstlern, die drüben in der Kirche arbeiten? Kein Wunder, dass mir die Galle überläuft nach dem, was mir die Signora Corelli heute morgen erzählt hat!«
Sebastian horchte auf. »Es gab Ärger wegen des Zimmers der italienischen Malerin?«
»Und das des Orgelbauers«, nickte die Wirtin und erzählte von dem Geschehen der letzten Nacht.
Der Landdoktor zögerte nur kurz (eigentlich zögerte er überhaupt nicht) und erwiderte: »Bitte, richten Sie Signora Corelli aus, dass im Doktorhaus ein Gästezimmer zur Verfügung steht. Sollte sie während der Hochsaison nichts anderes finden, kann sie gern hier wohnen, wir freuen uns über ihren Besuch!«
Frau Sonnleitner strahlte. »Ach, Herr Doktor, das ist nett von Ihnen und Traudel! Damit ist die Ehre des Sonnenhofs gerettet, vielen Dank! Ich gehe gleich in der Kirche vorbei und sage der Signora Bescheid.«
»Freut mich, wenn ich Ihnen damit helfen konnte«, lächelte Sebastian. »Jetzt lassen Sie uns aber schauen, ob ich Ihnen auch mit Ihrer rebellischen Galle helfen kann!« Er bat seine Patientin auf die Liege und begann mit der Untersuchung.
Später stand er ein ganz klein wenig schuldbewusst in der Küche und informierte Traudel darüber, dass er spontan einen Gast eingeladen hatte, was natürlich Mehrarbeit für die gute Seele des Doktorhauses bedeutete. Traudel winkte lächelnd ab. Sie hatte den Haushalt gut im Griff und war Übernachtungsgäste gewohnt, das bedeutete keine große Sache für sie.
»Aber sag‘ mir eines, Bub. Warum hast du die fremde Signora eingeladen, bei uns zu wohnen? Warum nicht den Orgelbauer, der doch ein Bekannter von dir ist?«
»Ich …«, Sebastian stutze überrascht. »Keine Ahnung, Traudel. Es ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen.«
»Na, macht ja nichts, es war einfach nur eine Frage. Ich richte gleich das Zimmer her«, lächelte sie.
»Danke, du bist die Beste!« Sebastian drückte seiner Ersatzmama einen liebevollen Kuss auf die Wange und verschwand wieder in der Praxis. Die Frage, die Traudel ihm eben gestellt hatte, geisterte noch durch seinen Kopf, aber sie wurde schnell verdrängt durch die heftige Mandelentzündung der kleinen Marei, die seine nächste Patientin war.
Im Spiegel an der Orgel konnte Leander die junge Künstlerin beobachten. Er versuchte sehr, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, fühlte sich aber immer wieder abgelenkt. Halb verärgert, halb über sich selbst amüsiert beschloss Leander, eine kleine Pause einzulegen und seine Kollegin zu begrüßen. Er füllte zwei Becher mit duftendem Orangentee und stieg hinunter zu Sophia, die seit geraumer Zeit damit beschäftigt war, vorsichtig den alten weißen Farbanstrich zu entfernen.
»Guten Morgen!«, grüßte er und reichte der jungen Frau einen Becher. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Sie jetzt lieber Tee als Kaffee trinken?«
Sie lächelte. »Ihr Gefühl ist richtig, ich trinke sehr gern Tee. Nur manchmal ziehe ich einen starken Espresso vor.« Ihr Blick glitt durch das Kirchengewölbe, dessen Weiß und Gold im Sonnenlicht aufleuchtete. Sie zog ihre Gummihandschuhe aus und umfasste, dankbar für die Wärme, mit beiden Händen den Becher. »Wir haben zwar Sommer, aber in Kirchen ist es trotzdem immer kühl, und ich arbeite mit kaltem Wasser, da tut etwas Warmes gut. Danke für den Tee!« Sie setzte sich auf das Gerüst und baumelte mit den Beinen. »Haben Sie gut geschlafen in ihrem Allzweckwagen?«
»Danke, sehr gut; ich bin es gewohnt«, antwortete er. »Es ist schön dort oben unter dem gewölbten Dach, und ich habe ein Fenster eingebaut. Vom Kissen aus kann man direkt in die Sterne schauen.«
»Letzte Nacht war es bewölkt«, stellte Sophia nüchtern fest.
»Ich habe nicht die letzte Nacht gemeint!«, konterte Leander.
Darauf fiel der jungen Frau nicht sofort die passende Antwort ein, und sie schwieg. Wie so oft in letzter Zeit. Schließlich wechselte sie das Thema von Sternennächten zur Notwendigkeit, ein Quartier zu finden. »Es war nett von Ihnen, mir Ihr Zimmer zu überlassen, aber natürlich gehört es ab heute Ihnen. Ich habe mein Gepäck in mein Auto getragen, Sie können gleich einziehen.«
»Denken Sie an das, was dieses reizende Wesen an der Rezeption gesagt hat: in der Hochsaison ist hier alles ausgebucht«, gab Leander zu bedenken. »Ich habe doch meinen Wagen zum Schlafen.«
Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Auf Dauer ist das keine Lösung, ich werde schon ein Zimmer finden«, sagte sie bestimmt.
Leander stand an das Gerüst gelehnt, auf das er die Ellbogen gestützt hatte. Er war ihr so nahe, dass ihr warmer Atem sein Gesicht streifte, als sie ihm den Teebecher zurückgab. Fasziniert schaute er in ihre ungewöhnlichen Augen. Sie waren tatsächlich schwarz und schienen von einer unauslotbaren Tiefe zu sein. Alles an dieser Frau wirkte zart, fast zerbrechlich, begonnen bei den feinen Gesichtszügen bis zu ihrer unwirklich schlanken Figur, und gleichzeitig spürte Leander eine Kälte in ihr, die ihn an eine scharf geschliffene Klinge denken ließ.
Wer bist du, Sophia Corelli, unter dem Schutzschild deiner perfekten, kühlen Schönheit?, dachte er.
Die junge Frau sprang vom Gerüst und streifte wieder ihre Gummihandschuhe über. »Also, Ihr Zimmer gehört Ihnen, und ich muss jetzt weiterarbeiten«, sagte sie bestimmt.
Er nickte schweigend und ging zurück zur Orgelempore. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er die schmale Gestalt in weißer Latzhose vor einer Wand, von der behutsam, Schicht um Schicht, das glatte Weiß abgetragen wurde, um die Bilder freizulegen, die darunter lagen. Sehr nachdenklich setzte Leander sich an die Orgel und widmete sich wieder seiner Arbeit.
*
»Danke, Traudel, dein Essen war mal wieder fantastisch!« Zufrieden schob Sebastian Seefeld seinen geleerten Teller zur Seite und griff zu den Dessertschalen. Es hatte geeiste Erbsensuppe gegeben und frisch gebackenes Walnussbrot mit Butter, und nun wartete eine französische Pfirsichtarte auf die Leckermäuler rund um den Tisch im Doktorhaus. »Ich weiß, dass du mit Liebe kochst, Traudel, aber es macht eben auch viel Arbeit. Geht es wirklich in Ordnung, dass ich dir jetzt auch noch auf unbestimmte Zeit einen Hausgast zumute?«
»Das ist keine Zumutung, sondern es macht mir Spaß«, stellte Traudel richtig.
»Ein Hausgast? Wen hast du denn eingeladen, Papa?«, erkundigte sich Emilia vorsichtig. Bei ihrem Vater konnte man nie wissen, wer kam: von durchgeistigten Professoren, die bei Tisch die absonderlichsten Dinge diskutierten, bis hin zum Studienkumpel mit seiner flippigen Freundin war alles möglich.
»Sophia Corelli, die italienische Malerin«, informierte Sebastian seine Familie.
»Wie cool!«, freute sich Emilia. »Wann kommt sie denn?«
»Ich denke, heute Abend. Ich gehe gleich noch in der Kirche vorbei und spreche selbst mit ihr. Inzwischen hat Frau Sonnleitner ihr zwar sozusagen als Wiedergutmachung unsere Einladung überbracht, aber ich möchte es auch persönlich tun.«
»Ich geh mit«, entschied Emilia. »Ich muss sowieso zum Training, und die Kirche liegt auf dem Weg.«
Vater und Tochter machten sich mit dem verspielten Junghund Nolan auf den Weg hinüber zur alten Kirche. Dabei redete Emilia wie ein kleiner Wasserfall, registrierte ihr Vater schmunzelnd. Die Anwesenheit der jungen Frau schien seiner Tochter gut zu tun.
Die Kirche empfing die beiden Besucher mit ihrer gewohnten barocken Pracht, der auch das Gerüst und Handwerksgegenstände nichts von ihrer Schönheit nahmen. Nach der Sommerhitze draußen empfanden Vater und Tochter die Kühle unter dem steinernen Gewölbe als angenehm, und Nolan streckte sich im Vorraum zufrieden auf den Steinplatten aus.
»Doktor Seefeld!« Die italienische Malerin wandte sich zu ihm um, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Wie nett von Ihnen, mir ein Quartier anzubieten! Frau Sonnleitner hat es mir schon gesagt, und im Hinblick auf die ausgebuchten Zimmer komme ich gern.«
»Oh!« Es war nicht eindeutig herauszuhören, ob die Enttäuschung in diesem Ausruf gespielt war oder echt. »Nur im Hinblick auf die ausgebuchten Zimmer?«, lächelte Sebastian.
»Natürlich nicht!«, versicherte Sophia. Sie musste den Kopf ein wenig anheben, um dem Mann in die Augen schauen zu können, Sebastian Seefeld war deutlich größer als sie. Und er hatte, wie sie überrascht feststellte, eine Art zu lächeln, die sie traf wie eine sanfte Berührung.
»Wir alle freuen uns auf Sie«, sagte er aufrichtig.
Emilia war inzwischen an die Wand getreten und begutachtete die Fläche, welche die Restauratorin bisher freigelegt hatte. »Ich finde das so spannend!«, sagte sie. »Wenn man sich mal vorstellt, dass genau hier vor Hunderten von Jahren ein anderer Künstler gestanden und das alles gemalt hat, was jetzt langsam wieder ans Licht kommt. Dass wir jetzt wieder erkennen können, was er sich beim Malen gedacht hat. Wie es wohl aussieht, wenn Sie fertig sind!«
»Du interessierst dich für Kunst?«, fragte Sophia. Sie freute sich über die Art, in der das junge Mädchen von dem Wandgemälde sprach, und über ihre Gedanken zur Malerei.
»Natürlich!«, antwortete Emilia, als wäre das für eine Vierzehnjährige ganz selbstverständlich. »Tut mir leid, aber jetzt muss ich los zum Fußballtraining. Ich freu mich auf heute Abend, wenn Sie wieder bei uns sind!« Schwungvoll drehte sie sich um und verschwand mit wehenden Haaren zwischen den Bankreihen.
»Eine interessante Tochter haben Sie!«, stellte Sophia fest. »Fußball und Kunstinteresse.«
»Ja, nicht wahr?« Das war unüberhörbar der stolze Vater. Dann glitt sein Blick über Sophias schmales Gesicht, das jetzt von Müdigkeit gezeichnet war. »Wann haben Sie eine Pause eingelegt? Sind Sie etwa seit heute Morgen hier mit kaltem Wasser beschäftigt? Sie sehen aus, als könnten Sie eine kleine Abwechslung vertragen. Wollen wir zusammen ein Stündchen durch die Sonne gehen? Ich versuche, das regelmäßig zwischen den Sprechzeiten zu tun, und es bekommt mir sehr gut.«
Sophia Corelli war der Typ, der ungern seine Arbeit unterbricht, und oft konnte sie sich bis zur Erschöpfung in ihrem Atelier verlieren. »Danke, ich komme gern mit!«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen sagen. Sebastian und sie gingen auf die weit geöffneten Kirchentüren zu, und im Vorbeigehen winkte der Landdoktor einen freundlichen Gruß zur Orgelempore hinauf, auf der Leander saß.
Der Orgelbauer trat ein wenig heftiger, als es eigentlich nötig gewesen wäre, auf das Pedal, welches einen besonders schrägen Ton von sich gab. Das, was die Orgel im Augenblick hergab, klang alles andere als harmonisch. Es war die perfekte Untermalung zu seinen düsteren Gedanken. Als Dank dafür, dass Sophia ihm gestern ihr Badezimmer überlassen hatte, hatte er sie heute Abend zu sich in den alten Landfahrerwagen einladen wollen. Einige italienische Spezialitäten und einen guten Wein hatte er schon besorgt, ebenso weiße Kerzen, und er hatte einen Krug mit Gräsern und dunkelrotem Mohn gefüllt. Daraus wurde ja nun nichts, Sophia würde abends mit Sack und Pack beim hilfsbereiten Herrn Doktor einziehen.
»Jesses!« Afra, die unten im Altarraum mit dem Blumenschmuck beschäftigt war, zuckte zusammen. »Ich hab gar nicht bemerkt, dass die Orgel dermaßen verstimmt ist!«
Regina, die Haushälterin des Herrn Pfarrer, nickte. »Ja, irgendwie klingt sie heute wirklich grauslig, das ist mir sonst nicht so aufgefallen.«
Beide Damen beeilten sich mit dem Blumenschmuck, um den Misstönen, welche das Kirchenschiff durchzogen, schnell zu entkommen.
Auf dem Kirchplatz hob Sophia genießerisch ihr Gesicht ins Sonnenlicht. »Wie gut die Wärme tut!«, seufzte sie. Im Gehen zog sie ihre dicke, handgestrickte Jacke aus und rollte die Ärmel ihres Langarmshirts hoch. Sie wollte so viel Sonne wie möglich auf der Haut spüren.
Sebastian lachte leise. »Wissen Sie, woran Sie mich erinnern? An eine elegante, schwarze Katze, die sich in der Sonne ein warmes Plätzchen sucht.«
»Ein hübsches Bild.« Sophias Stimme war freundlich und verriet nichts von der leichten Unsicherheit, die sie empfand. Sie war Komplimente gewohnt, südländische Männer gingen verschwenderisch damit um. Aber das, was dieser Doktor sagte, klang anders. Es war besonders und alltäglich in einem. Wie ein bestimmter Farbtupfer auf der Leinwand, der für sich genommen gar nicht ins Auge fällt, aber dem ganzen Bild einen besonderen Glanz verleiht.
Sophia beobachtete den jungen Landdoktor bei ihrem Spaziergang und hörte mehr zu, als dass sie selbst erzählte. Immer wieder wurde Sebastian Seefeld gegrüßt, manche verwickelten ihn sofort in Gespräche über ihre alltäglichen Sorgen. Die junge Frau registrierte, wie freundlich und ernsthaft er auf die Menschen einging, jedoch ohne sich zu sehr mit Beschlag belegen zu lassen.
»Wie machen Sie das nur?«, fragte sie bewundernd.
»Machen? Was denn?«
»Dass Sie so offen und zugewandt sind, ohne sich von den Menschen schlucken zu lassen«, antwortete sie nachdenklich. »Ich meine, das hier ist doch Ihre Mittagspause! Sogar dann haben Sie keine Ruhe, sondern werden immer wieder angesprochen. Und Ihr Interesse bleibt echt, selbst nach dem zehnten ›Grüß Gott, Herr Doktor, ich hätt da mal eine Frage …‹ und dabei wollten Sie doch einfach nur spazierengehen.«
Sebastian schmunzelte. »Ich mag die Menschen, und das spüren sie. Wenn ich nur meine Ruhe haben will, dann darf ich nicht zu dieser Zeit durchs Dorf gehen, da müssen es dann stille Waldwege sein.«
Auf dem Marktplatz stand ein alter, viereckiger Brunnen, auf dessen steinerne Einfassung sich die beiden setzten und sich ein Eis schmecken ließen. Nolan, der einen Kumpel aus der Hundeschule entdeckt hatte, überschlug sich schier vor Freude und tobte ausgelassen auf dem Platz herum. Inmitten des Arbeitstages und der sommerlichen Betriebsamkeit des Ferienortes fühlte Sophia sich wie auf einer freundlichen, kleinen Insel. Überrascht stellte sie fest, dass sich ihre dumpfen Kopfschmerzen verzogen hatten, und auch die schmerzhafte Verspannung zwischen den Schulterblättern hatte sich gelöst.
»Sie sind wirklich ein guter Doktor!«, sagte sie unvermittelt.
»Wie bitte?« Überrascht schaute Sebastian sie an.
Sophia schüttelte nur den Kopf, pflückte eine tiefrote Geranienblüte vom Brunnenrand und steckte sie in ihre Haare. »Ach, nichts, ich habe nur laut gedacht«, antwortete sei. »Jetzt sollte ich weitermachen, damit ich noch ein gutes Stück des Wandgemäldes freilegen kann. Wir sehen uns dann heute Abend?«
»Bis dahin«, nickte Sebastian.
Er schaute ihr hinterher, als sie mit leichten Schritten zurück zur Kirche ging. Die dunkle Strickjacke wippte beim Gehen in ihrer Hand, und das Letzte, was Sebastian von ihr sah, war das Leuchten der kirschroten Blüte in ihren Haaren.
Als Sophia den Kirchraum betrat, bemerkte sie dankbar, dass jemand, vielleicht der Küster, ihren Wasserkanister frisch aufgefüllt und das Gefäß mit dem Schmutzwasser geleert hatte. Sie wollte schon in ihre Gummihandschuhe schlüpfen, als ihr Sebastian Seefelds Bemerkung von der schwarzen Katze durch den Kopf schoss. Sophia lachte amüsiert auf, griff nach ihrem Skizzenblock und einem Kohlestift und entwarf mit wenigen, gekonnten Linien genau das, wovon der Mann gesprochen hatte.
Männliche Schritte ließen sie aufblicken und sie bemerkte Leander, der mit dem zweiten Wasserkanister aus der Sakristei kam. »Sie haben an frisches Wasser gedacht?«, fragte sie überrascht. »Das ist nett, danke sehr!«
Der Orgelbauer nickte. »Ich brauchte mal eine kleine Pause«, sagte er nur. Sein Lächeln war freundlich, aber zurückhaltend.
Die Leichtigkeit, die Sophia auf dem Spaziergang mit dem Landdoktor empfunden hatte, hallte noch in ihr nach, und mit einer spontanen Bewegung löste sie das Bild aus ihrem Skizzenblock. »Hier bitte, ein kleines Dankeschön fürs Wassertragen!«
Überrascht schaute Leander auf die Zeichnung. Es war eine Skizze, und sie war perfekt: wenige Striche deuteten einige alte Steinplatten an, auf denen eine schwarze Katze ruhte. Die Haltung des Tieres war königlich und zugleich völlig entspannt. Obwohl auf dem Bild keine Sonne zu sehen war, schien genau deren Wärme von dem Tier eingefangen und an den Betrachter abgegeben zu werden.
»Das ist wundervoll!«, sagte Leander in aufrichtiger Bewunderung. »Man hält Sonnenlicht in den Händen.«
Wortlos schaute sie in Leanders dunkle Augen, und ihr Herz öffnete sich vor seinem Einfühlungsvermögen und Verständnis.
Der Mann räusperte sich unter ihrem intensiven Blick. »Sie, äh, Sie haben inzwischen eine Bleibe gefunden, habe ich gehört. Heute sind Sie sicher mit Ankommen und Eingewöhnen beschäftigt, aber haben Sie vielleicht morgen Abend Zeit? Ich würde Sie gern in meinen alten Landfahrerwagen einladen, wenn Sie mögen. Als Dank, dass Sie mir Ihr Badezimmer zur Verfügung gestellt haben.«
»Wie schön! Ich bin gespannt darauf, Ihr ungewöhnliches Zuhause kennenzulernen!«, freute Sophia sich.
Leander nickte und wandte sich wieder seinen Aufgaben zu. Jetzt lächelte er, und die Töne, die unter seinen Händen entstanden, klangen deutlich leiser und harmonischer als noch vor kurzem.
*
»So, und das hier ist Ihr Zimmer.« Einladend wies Traudel auf die geöffnete Tür. Die Restauratorin betrat den Raum und lächelte.
Heller Holzfußboden und Sprossenfenster mit schlichten, weißen Baumvollstoffen. Ein Bauernbett mit Leinenbettwäsche, daneben ein gemütlicher Sessel mit Beistelltisch und einer edlen Designerlampe zum Lesen. Alt und Modern ergänzten sich zu einer ruhigen Einheit. Auf dem tiefen Fensterbrett leuchtete eine Schale mit englischen Rosen, und in den Kommodenschubladen verströmten kleine Seidenbeutel mit getrocknetem Lavendel einen dezenten Duft.
»Danke, es ist wunderschön hier!«, sagte Sophia. Ihre leichte Unsicherheit verflog angesichts der natürlichen Herzlichkeit, mit der sie im Doktorhaus aufgenommen wurde. Zunächst hatte sie sich unsicher gefühlt, weil sie inmitten dieser ihr fremden Familie wohnen würde. Sie war ein Mensch, der einen gewissen Abstand zu anderen brauchte. Die unkomplizierte Fröhlichkeit, die innerhalb dieser Familie herrschte, war ihr im Laufe ihres Lebens verloren gegangen. Von unten drangen das Bellen des Hundes, Emilias helle Stimme, die tiefe ihres Großvaters und Klaviermusik zu ihr herauf. Plötzlich fühlte sie sich in ihre Kindheit versetzt, in das toskanische Dorf, in dem sie aufgewachsen war, und unwillkürlich musste sie lächeln. Was war das für ein Zauber, der über diesem Haus und seinen Bewohnern lag? Anstatt sich von dem Leben, das hier pulsierte, angestrengt und überreizt zu fühlen, war sie voller Vorfreude auf den Abend. Beschwingt lief Sophia die Treppe des ehemaligen Bauernhauses hinab und betrat das gemütliche Wohnzimmer, an das ein wunderschöner Wintergarten angebaut worden war.
»Da habe ich gerade noch rechtzeitig den Heimweg geschafft!«, stellte Emilia fest, griff nach einem Apfel und ließ sich mit einem hörbaren Plumps in das Korbsofa mit den hellen Leinenkissen fallen. »Jetzt gießt es wie aus Eimern.«
Ein kurzes, aber heftiges Gewitter hatte sich entladen und war in einen starken, gleichmäßig strömenden Regen übergegangen. Das Wasser lief über das Glasdach des Wintergartens und rann an seinen Seiten herab, was die Gemütlichkeit in seinem Inneren nur noch unterstrich.
»Sie wohnen sehr schön hier«, sagte Sophia über die Kerzenflammen hinweg zu ihren Gastgebern. »Alt und Modern harmonisch kombiniert, damit haben Sie eine wundervolle Atmosphäre geschaffen. Und auch die Gemälde, die im Haus hängen, sind etwas ganz Besonderes.«
»Ja«, lächelte Sebastian, »das sind sie.«
Die italienische Künstlerin stand auf und schlenderte zu einem Landschaftsbild hinüber, das im Eingangsbereich der Wohnstube hing. Es war großformatig und in sanft leuchtenden Farben gemalt, eine grüne Landschaft mit See und nebelhaft verschwommenen Bergen im Hintergrund. Auf den ersten Blick hätte man es für die Umgebung hier halten können, aber beim genauen Hinschauen erkannte man eine größere, rauere Landschaft, die eine andere Klarheit und Kälte in sich barg als das Allgäu. Konzentriert begutachtete Sophia das Bild. »Man könnte meinen, es wäre ein Grayson«, murmelte sie halb zu sich selbst.
»Es ist ein Grayson!«, bestätigte Sebastian.
Überrascht schaute Sophia ihn an, dann leuchtete ihr Gesicht auf. »Natürlich!«, rief sie freudig. »Der Stil ist unverkennbar. Und wie ich vorhin gesehen habe, hängen noch mehr Bilder dieser Künstlerin in Ihrem Haus?«
Sebastian nickte und wechselte einen kurzen Blick mit seiner Tochter, dem Sophia aber keine Beachtung schenkte. »Ja, wir lieben Helens Bilder«, sagte er sanft und fügte erklärend hinzu, »Helen Grayson-Seefeld … ist meine Frau.«
Auch dieses winzige Zögern in Sebastians Worten entging der jungen Frau. »Helen Grayson ist Ihre Frau?«, wiederholte sie begeistert. »Das ist fantastisch! Ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Wo ist sie, ist sie im Moment verreist?«
Erst jetzt wurde sie sich des betretenen Schweigens im Raum bewusst.
Sebastian räusperte sich. »Meine Frau ist gestorben«, sagte er leise.
»Nein!« Entsetzt schlug Sophia die Hand vor den Mund. »Ich …, es tut mir so leid! Bitte entschuldigen Sie meine Taktlosigkeit, das ist …, ich weiß nicht, wie ich das wiedergutmachen kann!«
»Sie sind nicht taktlos«, antwortete Emilia und blinzelte ihre Tränen weg. Ihr gelang ein kleines, ehrliches Lächeln. »Sie haben nicht gewusst, dass Mama tot ist?«
Sophia schüttelte sprachlos den Kopf. Ihr immer noch entsetzter Blick wanderte von einem Gesicht zum anderen, aber sie sah keine schockierte Ablehnung, sondern Ernst und Freundlichkeit.
»Helen hätte sich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte Sebastian.
»Ja, und sie hätte Sie bestimmt stundenlang mit in ihr Atelier genommen, und sie beide hätten geklönt und gefachsimpelt«, fügte Emilia hinzu. Ihre grauen Augen glänzten. »Es ist toll, dass jetzt wieder eine Malerin im Haus ist.«
Sophia schluckte. »Jetzt ist mir auch klar, wieso du dich für Kunst interessierst und so viel Verständnis für das alte Wandgemälde hast.« Sie suchte Sebastians Blick, der freundlich auf ihrem Gesicht ruhte. Alles ist gut!, sagte dieser Blick. »Malst und zeichnest du auch gern?«, wagte sie sich behutsam weiter vor. Wenn ihr nur nicht wieder so ein entsetzliches Fehler passierte!
Emilia kicherte unbeschwert. »Ja, das tue ich, aber von Mamas Talent habe ich leider so gar nichts geerbt.«
»Jetzt untertreibst du aber, Emilia!«, sagte Traudel prompt. Emilia war ihr Herzenskind, ihr Augenstern, und sie konnte sehr gut malen! »Jedes deiner Bilder ist schön!«
»Traudel, du bist süß!«, rief Emilia und warf ihrer Ersatzmutter und –großmutter die Arme um den Hals. »Das sagst du immer.«
»Weil’s die Wahrheit ist!«, antwortete die ältere Frau entschieden, und die leise Melancholie, die noch im Raum schwebte, löste sich in freundlichem Gelächter und liebevoller Neckerei wegen Traudels kritikloser Bewunderung auf.
Es wurde kein langer Abend, den die Familie gemeinsam mit ihrem Gast verbrachte, denn morgen wartete auf alle ein neuer Arbeitstag. Als Sophia in ihrem Zimmer ihre Sachen zusammensuchte, fühlte sie sich wie vorhin seltsam geborgen durch die leisen Stimmen und Schritte, die gedämpft durch die alten Holzdecken klangen. Ihr Gästezimmer lag an einer Abzweigung des Flurs, und auf dem Weg in das dazugehörige Bad blieb sie vor einer großen, schön gerahmten Fotografie stehen. Es war ein Hochzeitsbild von Helen und Sebastian, eine Momentaufnahme während des Tanzes. Sophia sah die Liebe und tiefe Verbundenheit des Paares, und wieder überrollte sie eine Welle heißer Scham wegen ihrer Taktlosigkeit vorhin. Sie wusste nichts von Helen Graysons Ehe und Tod, und obwohl Sebastian freundlich reagiert hatte, hallte ihre grausame Bemerkung immer noch in ihr nach. ›Ist sie verreist?‹ Wie hatte sie das nur fragen können!
Ein leises Geräusch in ihrem Rücken, wie das Öffnen und Schließen einer Schublade, ließ sie sich umdrehen. Sophia stand vor einer halb geöffneten Tür, durch die Licht in den Flur fiel. Sie sah Sebastian Seefeld an einem Schreibtisch sitzen, vor sich ein aufgeschlagenes Buch, zu dem er sich handschriftliche Notizen machte. Sophia sah, dass er zum Lesen eine Brille trug, ein Modell mit modernem, dunklem Rahmen, das sehr gut zu seinen markanten Gesichtszügen passte. Einem ersten Impuls folgend, wollte sie anklopfen und sich noch einmal für ihre unbedachte Bemerkung entschuldigen. Sie musterte seinen konzentrierten Gesichtsausdruck, die Andeutung einer steilen Falte zwischen den Augenbrauen, die fließenden Bewegungen, mit denen er schrieb. Unsicher fragte sich die junge Frau, ob sie wirklich in diesen Raum, der offensichtlich sein eigenes Wohn- und Schlafzimmer war, eintreten sollte. Würde sie ihn stören? Vielleicht machte sie mit einer weiteren Entschuldigung nur alles noch schlimmer? Wahrscheinlich wäre es doch das Beste, sie ließe es auf sich beruhen. Sehr leise zog Sophia sich zurück und verschwand in dem kleinen Badezimmer, das für die Gäste eingerichtet worden war.
Kurze Zeit später klappte Doktor Seefeld sein Buch zu, nahm die Brille ab und rieb über seine müden Augen. In Gedanken ging er den morgigen Tag durch, der für ihn mit mehreren Nachsorgeterminen bei operierten Patienten begann. Grimmig schüttelte er den Kopf. Er wusste, dass die Krankenhäuser aus Kostengründen die Menschen immer früher entließen, und das machte ihn wütend. Ändern konnte er daran nichts. Mit einem Seufzer schob er den medizinischen Wälzer zur Seite und legte einen englischen Krimi auf sein Bett. Dann lief er noch rasch nach unten, um sich eine Flasche Mineralwasser zu holen.
In dem Raum, in dem sie vorhin gesessen hatten, schwebte noch ein Hauch von Sophias Parfum in der Luft. Bergamotte und Lavendel, sommerwarme Zypressen und Kreidefarben. Fruchtig und herb zugleich. Er musste an das denken, was Emilia über das Parfum der italienischen Malerin gesagt hatte. Es stimmte nicht, es war nicht der gleiche Duft, den Helen getragen hatte. Dieser war ein wenig dunkler, auf eine andere Art weiblich und sehr angenehm.
*
Morgensonne lag über dem Garten, auf den Sophia von ihrem Fenster schaute, und verwandelte die Feuchtigkeit der Nacht in einen zarten Dunstschleier, der das alte Haus flüchtig berührte. Sophia freute sich an dem sanften Spiel von Licht und Schatten, dem Konzert der Vögel und den leisen Geräuschen morgendlicher Betriebsamkeit. Um draußen zu frühstücken, war es noch zu feucht, also hatte Traudel den Tisch wieder im Wintergarten gedeckt. Mit einem fröhlichen Gruß wehte Emilia zur Tür hinaus, um zur Schule zu fahren, und auch Sebastians Platz war leer. Er war zu einer sehr frühen Runde von Hausbesuchen aufgebrochen, um die Operierten zu versorgen. Traudel, eine begabte Näherin, war bereits unterwegs zu ihrer Freundin Regina, um ihr beim Ausbessern der Kirchengewänder zu helfen. Nur der Senior der Familie, Benedikt Seefeld, saß noch gemütlich am Frühstückstisch, als Sophia den Wintergarten betrat. Er schenkte ihr eine Tasse Kaffee ein und musterte die junge Frau mit einem verständnisvollen Lächeln.
»Guten Morgen, Sophia, hat der Trubel unseres Hauses Sie geweckt? Ich habe ein wenig im Internet über Sie recherchiert und gelesen, dass sie allein leben. Das nicht immer leise Leben in unserem Haus muss doch eine Herausforderung für Sie sein«, sagte er freundlich.
Die Künstlerin lachte leise. »Im Gegenteil, es ist nett, vom Leben geweckt zu werden. Außerdem bin ich eine wesentlich größere Familie gewohnt, ich bin in einem italienischen Dorf aufgewachsen«, erinnerte sie den alten Doktor. »Dort ging es lebhafter und lauter zu als hier in Ihrem Haus.«
Benedikt nickte und ließ das Thema auf sich beruhen. »Ich muss jetzt hinüber in die Praxis, zu bestimmten Zeiten vertrete ich meinen Sohn«, erklärte er. »Bitte fühlen Sie sich wie zu Hause und genießen Sie Ihr Frühstück.«
Die junge Frau hatte sich gerade frische Früchte in ihr Müsli geschnitten, als sie ein höfliches Klopfen hörte. Eine sportlich aussehende junge Frau mit brünetten Haaren, die einen großen Rucksack geschultert hatte, trat durch die Tür des Wintergartens und schaute sichtlich überrascht auf den weiblichen Gast am Tisch. »Guten Morgen! Ich, ähm, ich wollte eigentlich zu Doktor Seefeld. Wissen Sie, wo er ist?« Sie streckte eine schmale Hand aus. »Ich bin übrigens Anna Bergmann, die Hebamme.«
»Sophia Corelli! Zur Zeit wohne ich hier«, stellte die Künstlerin sich vor. »Der ältere Doktor ist drüben in der Praxis, und wo Sebastian ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich glaube, er macht Hausbesuche.«
So, so, Sebastian also …
Anna ließ ihren Rucksack samt pinkfarbenen Fahrradhelm auf einen Korbsessel gleiten und nahm am Tisch Platz. Sie musterte die unbekannte Schöne kritisch: alles an der anderen Frau war perfekt aufeinander abgestimmt, selbst in der weißen Latzhose und dem schlichten Shirt fiel ihre zierliche, sehr gepflegte Erscheinung ins Auge. Bis auf dezentes Augen-Make-up und leuchtend roten Lippenstift war sie ungeschminkt, und ihr silbernes Haar schimmerte perfekt frisiert.
Da versteht sich aber jemand in Szene zu setzen!, dachte Anna. Besonders sympathisch war ihr diese Fremde im Hause Seefeld nicht.
Sophia spürte die instinktive Ablehnung der anderen Frau und wunderte sich, hatte aber weder Lust noch Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Rasch verabschiedete sie sich und ging hinüber in die Kirche. Auch Anna verließ das gastliche Doktorhaus und machte sich auf den Weg, um ihre Schwangeren oder jungen Mütter zu betreuen. Im Stillen hoffte sie, bei ihrer Runde auf Sebastian Seefeld zu treffen. Vielleicht würde sie von ihm Näheres über die neue Bewohnerin des Doktorhauses erfahren.
Leider begegnete sie zunächst nur dem üblichen Damenkränzchen, das sich zum Austausch von Neuigkeiten und zum Einkaufen in Fannys Lebensmittelgeschäft traf. Wie immer war es zwar nur harmloser Klatsch, der hier die Runde machte, aber er machte Anna das Herz nicht gerade leichter.
»Es ist doch wirklich nett vom Doktor, dass er dieser Malerin ein Zimmer angeboten hat! Wo hätte sie denn mitten in der Hochsaison auch bleiben sollen?«
»Hätt sie halt fahren müssen, im Umland wäre doch bestimmt irgendetwas zu finden gewesen!« Das war Miriam Holzer, die ihre unberechtigten Hoffnungen auf Sebastian nicht aufzugeben gedachte.
»Wie besonders sie ausschaut! Das ist eine aparte Erscheinung, die wirklich gut zu unserem Doktor passt«, sagte Frau Leutner.
Finde ich nicht!, dachte Anna rebellisch.
»Überhaupt ist es doch hübsch, dass endlich wieder eine junge Frau im Doktorhaus wohnt«, steuerte die Ederin zur Unterhaltung bei.
»Wir werden das im Auge behalten.« Das war die gute Afra, die das Gras wachsen hörte. »Immerhin wohnt sie erst seit gestern beim Doktor, man kann nie wissen, was noch passiert!«
»Guten Morgen, die Damen!« Vorsichtiges Schweigen breitete sich aus, als Sebastian Seefeld das Geschäft betrat. »Fanny, haben Sie zufällig Süßkartoffeln in Ihrem Sortiment?«
Die junge Ladenbesitzerin schmunzelte. »Bei einem Kunden, der in Kanada gelebt hat, sollte ich darauf vorbereitet sein. Wollen Sie etwas Kanadisches kochen, Doktor?«
»Ich versuche es zumindest. Jedenfalls möchte ich nicht italienisch kochen, den Vergleichen halte ich wohl nicht stand«, antwortete Sebastian.
»Sie kochen für die italienische Malerin?«, hakte Afra sofort nach.
»Ja«, antwortete der Landdoktor zerstreut. Seine Augen suchten Anna. Er hatte ihr pinkfarbenes Mountainbike vor dem Geschäft gesehen und hoffte, die junge Hebamme hier zu treffen. »Anna! Schön, dich zu sehen! Magst du heute Abend zu uns kommen? Emilia und ich wollen kochen.«
»Ich komme gern!«, antwortete die junge Frau. Es könnte interessant sein, den Arzt und die Malerin zusammen zu erleben. Vielleicht würde Anna dann etwas mehr darüber erfahren, welche Bedeutung der Besuch im Doktorhaus hatte.
»Er kocht schon für sie …«, sagte Afra nachdenklich.
»Na, sie schaut ja auch aus, als ob sie das nicht kann!«, stellte die Ederin abschließend fest.
Zur selben Zeit stand Sophia Corelli auf ihrem Gerüst und arbeitete konzentriert, ohne zu ahnen, welchen Sog aus Spekulationen, Neugier und Anflügen von Eifersucht ihre Anwesenheit ausgelöst hatte. Ihr Kopf war frei von allen störenden Gedanken, sie war nur bei den Farben, die sie unter dem alten Anstrich hervorholen wollte. Stunden um Stunden verstrichen, ohne dass sie die Zeit bemerkte. Als plötzlich Leander neben ihr auf dem Gerüst auftauchte, zuckte sie überrascht zusammen.
»Machen Sie niemals Pause? Kein Wunder, dass Sie so gut vorankommen. Man kann schon viel von dem ursprünglichen Bild erkennen«, sagte er anerkennend. »Schade, dass man in den alten Kirchenbüchern oder anderen Unterlagen nichts über den Maler gefunden hat.«
Sophia zog ihre Gummihandschuhe aus und rieb die kalten Hände aneinander. Sie schaute auf die Figuren, die sie inzwischen freigelegt hatte. »Ja, ich hätte auch gern etwas über ihn gewusst, zumindest den Namen.«
Nachdenklich schaute Leander auf Sophias Arbeit. »Bei diesem Wandgemälde gibt es keine Signatur, der Künstler wird also unbekannt bleiben. Ist das nicht irgendwie ungerecht? Er hat doch lange daran gearbeitet, sein Wissen, Können und seine Persönlichkeit darin einfließen lassen. Dann sollten sein Kunstwerk und sein Name auch zusammengehören.«
Sophias Gesicht wurde hart. »Ja«, antwortete sie nur.
Leander schaute sie von der Seite an. Das Strahlen war aus ihren Augen gewichen, und die Begeisterung, mit der sie eben noch von ihrer Arbeit gesprochen hatte, erloschen. Sehr konzentriert wischte sie mit einem alten Lappen ihre Hände ab. Es sah aus, als wollte sie noch etwas anderes als Farbreste verschwinden lassen. Leander spürte, dass bei Sophia ein wunder Punkt getroffen worden war. Sie ist nicht glücklich, dachte er. Irgendetwas oder irgendwer hat sie tief verletzt. Ich wünschte, ich könnte mit ihr darüber reden.
»Ich freue mich auf heute Abend«, sagte er sanft.
Sie schien aus einer alten Erinnerung zu erwachen. »Ja, ich mich auch.« Mit einem entschuldigenden Lächeln griff sie zu Wasser und Lappen und widmete sich wieder ihrer Arbeit.
Leander setzte sich an die alte Orgel, und während seine Hände Töne wie fließendes Silber erklingen ließen, waren seine Gedanken bei der schönen Frau mit dem erstarrten Herzen.
*
»Hallo, bin wieder zu Hause!« Schwungvoll ließ Sebastian Seefeld die Haustür hinter sich zufallen, freute sich an Nolans stürmischer, tapsiger Junghundbegrüßung und verschwand im Bad, um sich die Hände zu waschen. Anschließend ging er zu Traudel in die Küche, die gerade Rote Grütze gekocht hatte. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und fragte gutgelaunt: »Wo sind denn alle hin?«
»Dein Vater ist hinten im Obstgarten, Pfirsiche ernten, und Emilia ist mit Markus auf dem Brunnenhof bei Tonis Familie. Sie haben seit gestern Zwillingsfohlen, und die wollten sie zum ersten Mal anschauen. Emmchen hat gesagt, sie kommt heute etwas später, ist aber zum Abendbrot wieder zuhause.«
»Hm, schade, ich hatte gedacht, sie und ich könnten heute Abend zusammen kochen«, antwortete Sebastian. »Aber es macht nichts, dann tue ich es eben allein. Ich habe gedacht, ich könnte etwas Kanadisches für Sophia kochen. Hat sie irgendetwas gesagt, wann sie heute Abend kommt?«
Traudel drehte sich um und schaute ihren Beinahe-Sohn aufmerksam an. »Sie kommt nicht zum Essen, Bub. Sofia Corelli ist heute Abend mit dem Orgelbauer Florentin verabredet.«
»Oh!« Sebastian sah für einen Augenblick enttäuscht aus, aber er fing sich schnell und ging mit einem Achselzucken über die Nachricht hinweg. »Na, macht nichts. Wir anderen essen Hirschsteak mit Cranberries und Süßkartoffelauflauf ja auch sehr gern und von Anna weiß ich, dass sie es ebenfalls mag.«
»Du hast auch die Hebamme eingeladen?«, erkundigte sich Traudel. Sie klang leicht erstaunt.
»Warum fragst du?« Überrascht schaute Sebastian die ältere Frau an. »Das ist doch nichts Besonderes, Anna geht inzwischen bei uns ein und aus.«
»Ach, nur so«, lenkte Traudel ab. »Was planst du als Dessert?«
»Ähm, ich kenne da eine Zauberin, die macht einmaliges Schokoladeneis. Und wie ich gehört habe, soll sie gerade eines sogar mit karamellisierten Pekannüssen gemacht haben?«
Traudel musste lachen. »In Ordnung, Bub, das ist dann der Nachtisch.«
»Fantastisch! Dann werde ich jetzt mal in den Garten gehen und Salatzutaten holen.« Sebastian griff nach Korb und Küchenmesser und verschwand nach draußen.
Traudel ließ ihre Hände für einen Augenblick untätig ins warme Spülwasser sinken und schaute dem Mann nachdenklich hinterher. Sie hatte die veränderte Atmosphäre im Haus genau gespürt. Seitdem Sophia Corelli hier wohnte, wirkte Sebastian lebhafter, so als wäre er aus einem langen Schlaf erwacht. Auch Emilia schien fröhlicher zu sein, und Benedikt verhielt sich der italienischen Malerin gegenüber charmant, ausgesprochen charmant. Traudel griff zur Bürste und bearbeitete energisch ihre Töpfe. Sie hatte nichts gegen Sophia Corelli; im Gegenteil, die Malerin war ein angenehmer, höflicher Gast. Die warmherzige, bodenständige Traudel konnte nur nicht verstehen, worin die kühle Anziehungskraft dieser Frau bestand, und sie hatte so eine Ahnung, dass es der Hebamme ähnlich ergehen könnte. Im Stillen war Traudel froh, dass heute Abend nur Anna mit in der Runde im Doktorhaus sitzen würde.
Die Vermutung der klugen älteren Frau war richtig gewesen.
Zum ersten Mal ging Anna nicht voller Freude und geheimem Herzklopfen zu Familie Seefeld. Die Hebamme war voller Unbehagen und Unsicherheit, denn sie wusste nicht, was sie an diesem Abend erwartete. Sebastian, der sich um eine andere Frau bemühte? Eine Frau, die ebenfalls Malerin war, wie Helen? Eine verwandte Künstlerseele, in der Sebastian seine verstorbene Frau erkannte, an der immer noch sein Herz hing?
Kritisch musterte Anna ihre Erscheinung im Spiegel. Nein, apart und zerbrechlich war sie nicht, aber sportlich und hübsch mit einer gesunden Gesichtsfarbe, funkelnden grünen Augen und brünetten Haaren. Sie hatte sich für ein kurzes, sommerliches Wickelkleid entschieden, das sowohl ihre schlanke Figur als auch ihre langen, sonnengebräunten Beine zur Geltung brachte. Jetzt noch Lippenstift und einen Hauch ihres fruchtigen Parfums, und sie war bereit für das Treffen mit Sebastian und der eleganten Künstlerin.
»Na ja, vielleicht nicht wirklich bereit, aber was soll man machen?«, wandte sie sich an ihre geliebte Mitbewohnerin, ein grau-schwarz getigertes Katzenkind namens Betty. »Ich bin nun mal die, die ich bin, und bisher hat Sebastian mich doch ganz nett gefunden, oder?«
Mit gespitzten Öhrchen hatte Betty aufmerksam zugehört. Jetzt schmiegte sie sich in die streichelnde Hand der jungen Frau und erzählte ihr mit hingerissenem Schnurren, dass sie sowieso die Allerbeste weit und breit sei!
»Danke, Betty, jetzt geht’s mir gleich besser!« Anna gab dem Katzenkind ein Küsschen zwischen die winzigen Ohren und machte sich auf den Weg.
Sebastian selbst öffnete die Tür. »Hallo, Anna!« Bewundernd schaute er die junge Frau an. Sie war durch leichten Nieselregen gelaufen, und das Licht der Eingangslampe zauberte Hunderte schimmernde Punkte in die Feuchtigkeit auf ihrem langen, dunklen Haar. »Du siehst fantastisch aus.«
»Was? Oh! Danke«, stammelte Anna überrascht.
»So lebendig und voller Leben. Man sieht dir an, dass du dich viel an frischer Luft bewegst«, fuhr Sebastian fort.
Die junge Frau schwieg verunsichert. Sie wusste, dass der Arzt ihr ein Kompliment gemacht hatte, aber leider fühlte sie sich nach seinen Worten eher wie eine nette, rustikale Landpomeranze.
In der Küche wurde sie mit der üblichen Herzlichkeit begrüßt und half Traudel beim Anrichten des Salats. Während Sebastian sich dem Braten der Hirschsteaks widmete, unterhielten sich die anderen sowohl über das Dorfgeschehen als auch die Weltpolitik. Dann wurde die Hintertür aufgerissen und Emilia, übervoll mit den Ereignissen auf dem Brunnenhof, und Nolan stürmten herein. Es wurde lebhaft und bunt, und Anna fühlte sich zu Hause.
Ein winziger Stich in die Herzgrube kam, als alle bei Tisch saßen, Emilia sich umschaute und erstaunt fragte: »Und wo ist Sophia?«
»Sie kommt nicht«, informierte ihr Vater das Mädchen. »Heute Abend ist sie mit dem Orgelbauer verabredet.«
Anna hörte aufmerksam zu, aber zu ihrer Erleichterung konnte sie keinen enttäuschten Unterton in Sebastians Worten erkennen.
Anders als bei Emilia. »Och, schade! Ich finde es toll, wenn sie hier ist.« Das Mädchen schaute zu Anna hinüber. »Hast du sie schon kennengelernt?«, fragte sie.
»Flüchtig. Ich bin ihr heute Morgen begegnet, als ich kurz hier war.«
»Sie ist klasse, findest du nicht?«, fuhr Emilia eifrig fort. »Und sie hat sofort Mamas Bilder erkannt!«
»Das ist bestimmt schön für euch gewesen«, antwortete die junge Frau aufrichtig, obwohl diese Antwort sie einige Überwindung kostete.
»Ja!«, sagte Sebastian mit jenem leisen Lächeln, das Anna so sehr liebte. »Ich hatte gar nicht gewusst, dass Helens Bilder auch nach Europa verkauft worden sind. Jedenfalls ist eines auf Umwegen bei Freunden von Sophia gelandet, und sie hat Helens Stil hier gleich wiedererkannt.«
Traudels aufmerksamem Blick entging nicht, dass Anna angestrengt wirkte, und auf ihrer runden Stirn erschien eine leichte Falte. Sie mochte es nicht, wenn das atmosphärische Gleichgewicht innerhalb ihrer Familie beeinträchtigt wurde, und die junge Hebamme tat ihr leid. Traudel hatte längst gespürt, dass Annas Gefühle für Sebastian über berufliches Interesse hinausgingen.
»Aber lasst uns doch jetzt von etwas anderem reden«, wechselte Sebastian das Thema. »Anna, ich habe gehört, dass Frau Graubner Drillinge erwarten soll? Das ist allerdings ein reicher Kindersegen auf einmal!«
»Das bedeutet für mich enge Zusammenarbeit mit der Uni-Klinik. Sanna Graubner möchte, dass ich sie mitbetreue und auch bei der Entbindung dabei bin.«
Die Gespräche drehten sich nun um berufliche Themen, Emilias anstehende Klassenfahrt nach Prag und Traudels Kalligraphie-Kursus, den sie seit kurzem besuchte. Dann verwandelte das sensationelle Schokoladeneis jedes Gespräch in genießerisches Schweigen, und anschließend wurde Schafkopf gespielt. Weder Helen oder – noch beunruhigender – Sophia wurden erwähnt, und letztendlich konnte die junge Hebamme den Abend doch noch genießen. Vor allem deshalb, weil Sebastian eine letzte Runde mit Nolan drehen und Anna dabei nach Hause begleiten wollte!
Immer noch fiel angenehmer, hauchfeiner Nieselregen, der im Schein der Straßenlaternen das Pflaster zum Glitzern brachte. Es roch nach Sommer, nach feuchter Erde und Geißblatt, und Anna war sich Sebastians Nähe zutiefst bewusst. Sie wünschte, ihr gemeinsamer Gang durch die kühle Sommernacht möge kein Ende nehmen, nur sie und der Mann an ihrer Seite …
Leider sind die Entfernung innerhalb Bergmoosbachs nicht groß, sehr schnell war der Marktplatz überquert, und sie standen vor der Apotheke, über der die Hebamme arbeitete und wohnte. Das Schaufenster war nicht mehr beleuchtet, sodass das Paar nicht wie auf dem Präsentierteller stand, als Sebastian sich liebevoll zu der jungen Frau umdrehte. »Anna, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er weich. »Ich hatte heute Abend manchmal das Gefühl, dass dich etwas bedrückt. Du warst stiller als sonst.«
»Ich …, ähm, … nein, da ist nichts«, stotterte Anna überrascht. Sebastian stand so dicht vor ihr, dass sie den Duft seines Rasierwassers wahrnahm, und sie sah die dunklen Einsprengsel in seinen grauen Augen. Er war nah, gefährlich nah, es wäre so leicht, diesen einen, winzigen Schritt zu tun, sein Gesicht zu berühren und zu sagen … »Nein, es ist alles in Ordnung!«, bekräftigte die junge Frau und wich von ihm zurück.
»Wirklich, Anna?« Ohne es zu bemerken, griff er nach ihrer Hand. »Du weißt, dass du mir alles sagen kannst?«
Er hat meine Hand genommen!, dachte Anna. »Ja, also, da ist nichts«, fuhr sie atemlos fort. »Mich interessiert halt nur …, wie …, wie findest du diese italienische Malerin?«
»Sophia Corelli?«, fragte Sebastian verblüfft. Zunächst verstand er den Sinn der Frage nicht, aber dann lachte er laut auf. Annas Hand glitt aus seiner. »Also, da es dich wirklich zu interessieren scheint: ich finde sie interessant, klug, apart und kühl. Sie ist eine bemerkenswerte Frau, aber überhaupt nicht mein Typ.«
Dabei hätte Anna es belassen können, aber sie musste einfach weiterfragen. »Wieso wohnt sie bei euch? Und wenn dir schon aufgefallen ist, dass ich heute stiller war, dann habe ich bemerkt, dass du lebhafter bist als sonst. Vielleicht ist es dir nicht bewusst, aber seitdem die Italienerin hier ist, hast du dich verändert.«
Nachdenklich schaute Sebastian sie an. »Wahrscheinlich hast du recht«, antwortete er bedächtig. »Der Kontakt mit ihr tut mir gut. Ich kann nicht sagen, was es ist, aber ihre Anwesenheit gefällt mir. Vielleicht ist es ihr Verständnis von Kunst?« Nach einem kurzen Zögern fügte er hinzu: »Sophia Corelli selbst ist ein Kunstwerk. Die Frau, die mein Herz berührt, muss eine ganz andere sein, Anna!« Wie in Gedanken hob er seine Hand und strich ihr behutsam eine seidige Haarsträhne aus der Stirn. »Gute Nacht, Anna.«
»Guten Nacht, Sebastian«, antwortete sie glücklich.
*
Auch die junge Frau, um die andere sich so viele Gedanken machten, war im Nieselregen zu ihrer Verabredung aufgebrochen. Aber anders als Anna war Sophia nicht beschwingt durch die seidige Feuchtigkeit gelaufen. Sie hasste Regen und hatte sich frierend in ihren Mantel verkrochen. Wie sehr sie die Hitze und Trockenheit der Toskana vermisste! Zum Glück war der Weg vom Hotel bis zu dem Platz, auf dem Leanders Wagen stand, nicht weit. Trotzdem atmete Sophia auf, als sie das abenteuerliche Gefährt sah, hinter dessen Fenstern warmes Licht schimmerte. Die Tür stand einladend geöffnet, und erleichtert schlüpfte die junge Frau unter das gewölbte Vordach.
»Guten Abend, Sophia. Wie schön, dass Sie da sind!« Leander begrüßte die Malerin mit einem warmherzigen Lächeln. Eigentlich hatte er die Tür geöffnet lassen wollen, aber als er sah, wie verfroren Sophia wirkte, schloss er sie vorsorglich. Den langen Mantel hängte er zur Seite und bat die junge Frau, Platz zu nehmen.
Nachdem Sophia der Nässe entkommen war, erwachten ihre Lebensgeister, und sie schaute sich interessiert in der ungewöhnlichen Behausung des Orgelbauers um. Das Innere des Wagens war hell, zweckmäßig und gleichzeitig geschmackvoll gestaltet. Es waren sowohl Elektrizität als auch einige Windlichter mit weißen Kerzen vorhanden und sogar ein paar Grünpflanzen in schlichten Tontöpfen. Ein Holztisch war mit Leinensets und einem Glaskrug mit gelben Rosen gedeckt. Dunkelroter Wein funkelte in einer Karaffe, und verschiedene Antipasti waren auf weißem Porzellan angerichtet.
Leander musterte die junge Frau aufmerksam. »Möchten Sie lieber etwas Warmes trinken? Einen Tee oder vielleicht einen Espresso?«
»Danke, gern den Kaffee«, antwortete Sophia, gerührt von seiner Aufmerksamkeit.
Im Handumdrehen war er zubereitet, und Leander stellte das Tässchen auf den Tisch. Dann wies er auf den Brotkorb. »Dieses Brot ist Honigbrot, eine Spezialität, die hier im Ort gebacken wird. Ich dachte, wenn ich schon keine einheimische Kost vorbereitet habe, dann erweise ich der Region die Ehre, indem ich dieses Brot kaufe.« Dann blinzelte er Sophia zu und sagte: »In Wahrheit war ich zu spät dran und habe kein Ciabatta mehr bekommen!«
Die junge Frau lachte. »Macht nichts! Das Brot wird auch in meinem Hotel zum Frühstück serviert, und es schmeckt köstlich, gar nicht so süß, wie der Name vermuten lässt. Sind wir doch einfach experimentierfreudig und essen Honigbrot zu Antipasti.«
Hingerissen schaute Leander die Künstlerin an, die immer so beherrscht und perfekt wirkte. Jetzt funkelten ihre dunklen Augen belustigt, als sie etwas Käse auf das Brot legte, es mit getrockneter Tomate krönte und zierlich davon abbiss. »Mhm, wirklich köstlich!«
Leander belegte sein Brot ebenso und stellte angenehm überrascht fest, wie lecker es schmeckte. Es war ein gelungener Auftakt für den Abend, und das Paar hatte viel Spaß dabei, die Bergmoosbacher Spezialität in immer wieder neuen Kombinationen zu probieren.
Schließlich räumte Leander die Reste in seinen winzigen Kühlschrank und stellte Pfirsiche und Trauben auf den Tisch. Langsam zog die Nacht herauf, und der Kerzenschein spiegelte sich in den Fensterscheiben und der silbernen Schale neben den Rosen. Sanfte Dämmerung und warmes Kerzenlicht hüllten das Paar an diesem einmaligen Ort ein und schienen es von der Außenwelt abzutrennen. Leander hatte Barockmusik aufgelegt, und unvergängliche Klänge zogen leise durch den Raum.
Mit einem Seufzer der Zufriedenheit lehnte die junge Frau sich auf der Sitzbank zurück. »Es ist wunderschön bei dir, Leander.«
Der Mann betrachtete sie lächelnd. Vielleicht hatte sie gar nicht bemerkt, wie sie ihn angeredet hatte? Sophias Kopf ruhte entspannt auf dem Kissen, das sie ans Fenster in ihrem Rücken gelehnt hatte. Ihr Haar breitete sich wie ein silberner Fächer über den dunkelroten Stoff, der wie durch Zauberei genau zu dem roten Leinenkleid passte, das sie heute Abend trug. Die Kerzenflammen entzündeten winzige Lichtreflexe in ihren nachtschwarzen Augen. Sie trug Armstulpen aus burgunderfarbenem Samt, und ihre schmalen Finger schmückte moderne Silberschmiedekunst.
Sie war hinreißend, und Leander wusste, dass er sein Herz an sie verloren hatte.
In das gute Schweigen hinein sagte der Mann behutsam: »Ich weiß so wenig von dir, Sophia. Einiges habe ich über dich im Internet gelesen. Über deinen beruflichen Werdegang steht dort vieles, über dein Privatleben nur wenige Daten.«
»Man sollte vorsichtig mit privaten Einzelheiten sein«, antwortete Sophia und drehte ihr Glas zwischen den Fingern. »Man sollte überhaupt vorsichtig sein mit dem, was man von sich preisgibt!«
Leander schwieg. Hatte sie ihm damit sagen wollen, dass sie weder etwas von sich erzählen noch etwas von ihm erfahren wollte? Oder gab es böse Erfahrungen, die Narben hinterlassen hatten? Ihr Lächeln war ebenso vorsichtig wie ihre Worte.
»Ich bin ebenfalls im Internet spazieren gegangen«, antwortete Sophia. »Und was dein Privatleben angeht, habe ich auch nur ein paar nüchterne Zahlen gefunden.«
»Wärest du denn an mehr interessiert?«, fragte Leander und bemerkte im selben Augenblick, wie zweideutig seine Worte aufgefasst werden konnten. »Ich meinte, an mehr Informationen!«, beeilte er sich hinzuzufügen.
Wieder konnte er nicht genau erkennen, ob ihre Augen funkelten, weil sie sich amüsierte, oder aus anderen Gründen.
»Du hast einen seltenen Beruf«, antwortete Sophia. »Es würde mich schon interessieren, wie du dazu gekommen bist.«
Sein Blick glitt durch das Fenster irgendwo in die Ferne. »Das weiß ich nicht«, antwortete er. »In mir ist ganz einfach Musik, die heraus möchte. Also gebe ich ihr eine Stimme, indem ich Instrumente baue.«
Bei seinen schlichten, aber tief empfundenen Worten glühte Sophia. Er hatte ganz genau das ausgedrückt, was sie selber empfand, schon ihr ganzes Leben lang! Es hatte sie triumphierend glücklich gemacht und sehr einsam. Es war Qual und Arbeit und Zweifel und Erfolg. Wenn es mit Liebe Hand in Hand ging, war es ein Geschenk –, das sich unter Umständen als leere Mogelpackung herausstellen konnte. So oder so machte es sehr verletzlich.
Hatte dieser Leander Florentin die gleichen Erfahrungen gemacht?
»Ja, das kann ich verstehen«, griff Sophia vorsichtig seine Worte auf. »Bei mir ist es die Malerei. Meine früheste Erinnerung ist, dass ich in einem Korb unter dem Olivenbaum in unserem Garten liege und Sonnenstrahlen sehe, die durch die Blätter hervorblitzen. Es ist Schwarz, Braun und Grün, Silber und Gold in einer unendlichen Vielfalt, die ich unbedingt festhalten will.«
Sophia brach ab und lachte verlegen auf, als ihr bewusst wurde, wovon sie sprach. Was war das an diesem Mann, das sie sich öffnete und ihre tiefsten Erinnerungen hervorholte?
»Alles Unsinn, sagte meine Nonna, ich war noch ein Baby und lag in unserem Wäschekorb. Es ist unmöglich, dass ich mich an diesen Augenblick erinnern kann.«
»Und warum nicht?«, antwortete er ernsthaft. »Du trägst Farben in dir wie ich Musik. Ich finde es wunderschön, dass du diese Erinnerung hast, mit der alles begann.«
Sophia schluckte. Sie war eine ruhige, beherrschte Frau mit einem sehr präzisen Blick auf die Welt, und jede übertriebene Gefühlsäußerung war ihr fremd. Aber dieses Verständnis, das ihr dieser Mann entgegenbrachte, rührte sie zu Tränen.
Leander, der ihre Bewegung bemerkte, berührte wie absichtslos ihre Hand. Es war ein flüchtiges Streifen der Fingerspitzen, das mehr wärmte, als hätte er ihr einen Mantel um die Schultern gelegt. Es war wunderbar, und es war zu viel für sie.
Die junge Frau rückte unmerklich ein Stückchen zur Seite. Interessiert ließ sie ihren Blick über die Inneneinrichtung des Wagens schweifen. Neben dem schlichten, gut ausgeleuchteten Holztisch gab es Einbauschränke, Werkzeugregale und eine winzige Kaffeeküche. Unter dem gewölbten Dach befand sich ein eingebautes Podest mit Polstern, das bequem genug aussah, dass man darauf auch schlafen mochte. Bücher waren auf Wandborden untergebracht, und die Fenster ließen sich mit schlichten weißen Rollos verdunkeln.
»Wie bist du darauf gekommen, dich in diesem Wagen einzurichten?«, fragte sie.
»Zuerst der Not gehorchend«, erzählte Leander. »Ich verdiente zu wenig Geld, um mir eine Wohnung und eine Werkstatt leisten zu können. Ein Auto brauchte ich auch, weil ich mobil sein musste. Also kaufte ich mir zunächst ein ziemlich klappriges Wohnmobil. Irgendwann sah ich dann diesen alten Landfahrerwagen, und es war um mich geschehen. Allmählich hatte ich begonnen, mir in meinem Beruf einen Namen zu machen, und konnte den Wagen Stück für Stück so herrichten, wie ich es wollte.« Zufrieden glitt sein Blick über das, was er geschaffen hatte. »Jetzt ist er nicht nur meine Werkstatt, sondern auch mein zweites Zuhause.«
»Und dein erstes Zuhause, wo ist das?«
»In einem kleinen Ort nahe der österreichischen Grenze. Freunde von mir bewirtschaften dort einen Hof. Ich habe eine winzige Wohnung bei ihnen gemietet, kann einen Schuppen als weitere Werkstatt nutzen und meinen Wagen dort abstellen. Es ist idyllisch dort, ganz ähnlich wie hier in Bergmoosbach.« Er suchte ihren Blick. »Du könntest mich dort besuchen, irgendwann.«
»Vielleicht.«
»Wir könnten nach Salzburg oder Wien fahren, wenn dir das dörfliche Nebeneinander von Mensch und Tier und Natur zu langweilig wird.«
»Wir werden sehen.«
»Was …, was wirst du denn tun, wenn dein Auftrag hier in Bergmoosbach beendet ist?« Leander war von Sophias sparsamen Antworten verunsichert und hoffte, dass sie sich durch seine Frage nicht bedrängt fühlte.
»Ich fahre nach Italien, in mein Heimatdorf. Meine Nonna feiert ihren neunzigsten Geburtstag, und es wird ein großes Fest geben mit allen Verwandten, Bekannten, Nachbarn und zufällig Vorbeikommenden.« Sophia lächelte. »So etwas liebt meine Nonna.«
»Und du?« Leander musterte ihre elegante, zerbrechliche Erscheinung und konnte sie sich inmitten eines lauten, wild zusammen gewürfelten Dorffestes nicht vorstellen.
»Es ist Nonnas Fest, nicht meins!«, antwortete sie ausweichend. Sie schob ihr geleertes Glas über den Tisch zurück und erhob sich. »Ich sollte jetzt gehen, morgen wartet wieder eine Menge Arbeit auf uns. Danke für den schönen Abend bei dir, Leander.«
Der Mann reichte ihr ihren Mantel und den opulenten Seidenschal, den sie getragen hatte, als er sie das erste Mal sah. Er schaute in die sommerliche Dunkelheit hinaus, die von Feuchtigkeit gesättigt war. »Ich würde dich gern nach Hause bringen, Sophia«, bot er an.
»Danke, das ist nicht nötig, mein Hotel liegt ganz in der Nähe.«
Nötig nicht unbedingt, aber schön!, dachte Leander bedauernd. »Gute Nacht, Sophia.«
»Gute Nacht. Bis morgen!«
Er schaute der jungen Frau hinterher, bis ihre zarte Gestalt die Kirche umrundet hatte und in der Dunkelheit verschwunden war.
*
Das Fortschreiten der Arbeiten in der heimischen Kirche blieb im Dorf von allgemeinem Interesse. Sogar in der Grundschule, wo die kleine Marei Plättner in der ersten Klasse saß, erzählte die Lehrerin von dem alten Wandgemälde, das jetzt wieder zu neuem Leben erwachte. Es war eine Menge von Kunst und Unvergänglichkeit die Rede, und Marei hörte sehr genau zu.
Marei war das mit Abstand jüngste Kind in ihrer Familie, und sie musste sich neben vier älteren Brüdern und einer Schwester behaupten. Das war nicht immer leicht, und die Kleine fand, dass sie oftmals unterging im Kreis der fünf Großen. Das sah ihre Familie allerdings anders, denn Marei verfügte über viel Temperament und eine blühende Fantasie, mit der sie das Leben anging.
Das kleine Mädchen wollte möglichst schnell so wie die großen Geschwister sein, deren Leben viel aufregender und geheimnisvoller war als ihres. Jetzt sah sie eine gute Gelegenheit gekommen, um ein eigenes Geheimnis zu haben! Ein richtig gutes, das die Jahrhunderte überdauern würde. Und ein tolles Abenteuer würde sie dabei auch erleben.
Das war Mareis Plan: Ausgestattet mit ihrem besten Filzstift würde sie abwarten, bis niemand in der Kirche war, und dann auf das Gerüst bei der Wandmalerei klettern. An einer schönen Stelle würde sie etwas Winziges in das Bild malen, etwas, das nicht sofort ins Auge fiel. Zunächst wäre es ihr Geheimnis, ein Wissen, das sie den Großen voraushatte! Später würde sie es dann ihren Kindern sagen und die wiederum deren Kindern und so weiter und so fort: Marei hatte sich in dem Wandgemälde verewigt!
Deshalb also trödelte Marei heute auf dem Heimweg von der Schule herum. Sie verabschiedete sich schon beim Brunnen von ihrem besten Freund Hubi, anstatt wie üblich gemeinsam mit ihm weiterzugehen, und schlenderte betont lässig Richtung Kirche. Dort verstaute sie im Vorraum ihren Ranzen hinter dem Regal mit den Gesangbüchern und machte sich zwischen den Bankreihen so gut wie unsichtbar.
Eine ganze Weile geschah gar nichts, außer dass von der Orgel zarte oder gewaltige Töne durchs Kirchenschiff schwebten und dass die Malerin sich auf ihrem Gerüst bewegte. Sophia war voller freudiger Erwartung, denn heute würde sie die letzte weiße Farbe abgetragen haben und mit dem nächsten Schritt der Restaurierung beginnen können.
Zum letzten Mal wischte sie mit Schwamm und Lappen über den unteren Rand des Gemäldes, dann rief die junge Frau zur Orgel hinauf: »Geschafft, Leander! Jetzt bin ich mit dem ersten Teil der Arbeit fertig!«
Die Orgel schwieg, und wenig später tauchte Leander neben ihr auf. Er sah die Freude in ihren dunklen Augen und war berührt davon. »Du hast viel geschafft in dieser kurzen Zeit!«, sagte er anerkennend. »Es war bestimmt ein schwieriger Teil deiner Arbeit und nicht der schönste.«
»Ich freue mich auf das, was jetzt kommen kann!«, strahlte die Restauratorin. »Und ich bin auch froh, dass bald das Gerüst abgebaut wird und ich dann einfach auf einer Leiter arbeiten kann. Bisher war es eine Hilfe, aber gleichzeitig stört es auch und hindert mich daran, einen Gesamteindruck von dem Gemälde zu bekommen.«
Der Blick des Orgelbauers folgte dem Aufbau aus Gestänge, Planken und Leitern, und er sagte: »Ganz ehrlich? Ich habe dich immer bewundert, dass du dich so selbstverständlich auf dem Gerüst bewegt hast. Für mich wäre das nichts, ich habe nämlich Höhenangst.«
Sophia schaute auf das Gerüst. »So hoch ist es gar nicht, ich schätze es auf ungefähr acht Meter. Aber für jemanden mit Höhenangst ist es bestimmt acht Meter zu hoch!«, sagte sie verständnisvoll. »Wie gut, dass die Orgelemporen immer eine zuverlässige Brüstung haben.«
»Da bin ich ganz deiner Meinung!«
»Kommst du mit auf eine Brotzeit in den Biergarten? Wir haben uns eine Pause verdient.« Unternehmungslustig schaute sie ihn an, und Leander antwortete mit einem strahlenden Lächeln. Ihre Offenheit und ihr unbekümmerter Schwung machten ihn glücklich.
Nachdem die beiden Restauratoren das Kirchenschiff verlassen hatten, krabbelte Marei unter der Bank hervor und ging auf Zehenspitzen zum Gerüst hinüber. Zufrieden dachte sie, dass sie einen richtig guten Zeitpunkt erwischt hatte, die Brotzeit würde die beiden Künstler eine Weile beschäftigen. Von unten betrachtet sah das Gerüst wirklich nicht furchtbar hoch aus. Was acht Meter in voller Höhe bedeuteten, konnte das Mädchen sich nicht genau vorstellen; viel war es wohl nicht, das hatte die hübsche Malerin selbst gesagt. Entschlossen strich Marei ihre dunkle Lockenmähne hinter die Ohren zurück, griff nach den Leitersprossen und begann ihr Abenteuer.
Vorsichtig kletterte sie Stufe für Stufe empor und hatte bald den dritten Laufsteg erreicht. So schwer war es eigentlich gar nicht. Uneigentlich war ihr ein bisschen komisch zumute, weil sich die ganze Angelegenheit deutlich wackeliger anfühlte, als sie gedacht hatte. Das Gerüst war zwar fest in der Wand verankert, aber die Bretter, auf die Marei trat, schwangen ganz leicht unter ihren Bewegungen. Und die Eisenstangen klirrten merkwürdig, wenn sie stieg … zwar nur wenig, aber merkwürdig. Tapfer hielt das kleine Mädchen seinen Blick immer nur auf die eine Leitersprosse gerichtet, die es zu erklimmen galt.
Vielleicht war sie schon hoch genug? Sie hatte eigentlich vorgehabt, beim Gewand des Engels am Halsausschnitt einen hübschen blauen Stern zu malen, aber vielleicht reichte es auch am unteren Saum? Dann brauchte sie nicht noch eine Etage höher zu steigen. Vorsichtig löste Marei ihren Blick von der Leiter und stellte erleichtert fest, dass sie sich auf der richtigen Höhe befand. Das Gewand des Engels schwebte in Reichweite ihres Filzstiftes.
Leider befand sich ihr Ziel nicht direkt neben der Leiter, die dem kleinen Mädchen einen gewissen Rückhalt bot. Marei würde zur Mitte des schmalen Laufstegs gehen müssen und der hatte anstelle einer Brüstung nur eine Eisenstange, an der man sich festhalten konnte. Und hinter dieser Eisenstange gähnte der Abgrund, das Kirchenschiff, das dem Mädchen noch nie so riesig erschienen war. Marei versuchte ein, zwei Schritte auf der Planke, die eine Hand um die Eisenstange geklammert, die andere gegen die feste Wand ausgestreckt, die sie so gerade eben mit den Fingerspitzen berührte. Das reichte bei weitem nicht aus, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu geben! Ihre Angst wurde bodenlos, so bodenlos wie der Abgrund zu ihrer Linken.
Umkehren, ich muss zurück!, dachte sie panisch. Aber dazu hätte sie sich auf dem Holzsteg umdrehen müssen, und Marei erkannte, dass das ganz und gar unmöglich geworden war. Wenn sie jetzt einen Fuß hob, dann würde sie fallen …, fallen …, »Mama, hilf mir!«, flüsterte sie mit weißen Lippen. Marei stand in absoluter Panik erstarrt, wagte nicht zu rufen, wagte kaum zu atmen und wusste, dass dieses hier niemals wieder gut werden würde.
*
Im Biergarten der Brauerei Schwartz herrschte Hochbetrieb. Sophia und Leander hatten zum Glück einen schönen Platz im Schatten einer der alten Kastanienbäume gefunden und ließen sich ihre bayerische Brotzeit gut schmecken. Die Malerin hatte sich für dunkles Bauernbrot mit Radi und Geselchtem entschieden, Leander für Wurstsalat. Nur auf die traditionelle Maß Bier verzichteten sie, weil noch ihre Arbeit auf sie wartete.
Leander war glücklich, Sophia so entspannt und gesprächig zu erleben. Sie sprudelte über von Ideen, die sie bei ihrem nächsten Arbeitsschritt verwirklichen wollte, lachte und hatte zum ersten Mal, seitdem der Mann sie kennengelernt hatte, offensichtlich richtig Spaß.
Plötzlich entdeckte sie Sebastian und seine Tochter, die ihr Rad mit dem Schulrucksack schob. Sophia winkte und machte eine einladende Geste, aber der Landdoktor schüttelte den Kopf. »Traudel erwartet uns zum Mittagessen«, sagte er über die Hecke hinweg, »aber es ist trotzdem gut, dass ich euch beide getroffen habe. Bei unseren Freunden auf dem Gestüt Brunnenhof sind Fohlen angekommen, Zwillinge und absolut hinreißend. Wir sind von der Familie eingeladen worden, am Sonntag auf das Gestüt zu kommen. Wir wollen uns einen schönen Nachmittag machen und auch den Nachwuchs besichtigen. Wie ist es, habt ihr Lust mitzukommen?«
»Ach, bitte! Die Kleinen sind so wunderschön, ich habe sie schon gesehen. Je mehr wir bei diesem Ausflug sind, desto schöner wird es!«, sprudelte Emilia hervor.
Leander und Sophia wechselten einen Blick verständnisvoller Belustigung und sagten der Verabredung zu.
»Sehr schön!« Sebastian klopfte Leander kameradschaftlich auf die Schulter. »Dann haben wir auch mal etwas Zeit für einander. Bisher habe ich dich ja kaum zu Gesicht bekommen.«
Was daran liegt, dass du Sophia eine Unterkunft angeboten hast und dich sehr gut und viel um sie kümmerst!, dachte der Orgelbauer im Stillen. Er nickte nachsichtig. »Dann also bis Sonntag.«
Die Seefelds wollten sich gerade verabschieden, als eine Frau, die einen aufgelösten Eindruck machte, auf den Biergarten zulief. Es war Frau Plättner, die mittlerweile ihre Jüngste vermisste. »Grüß Gott, Herr Doktor, haben Sie vielleicht die Marei gesehen? Sie ist nicht von der Schule heimgekommen!«
»Tut mir leid, Frau Plättner, ich habe Ihre Tochter nicht gesehen«, antwortete Sebastian ruhig. »Wie lange vermissen Sie die Kleine denn schon?«
»Vor ungefähr zwei Stunden hätte sie zu Hause sein sollen. Der Hubi hat sich am Brunnen von ihr verabschiedet, sagt er, und seitdem ist sie verschwunden. Die ganze Familie sucht nach ihr!«
Sebastian hörte die wachsende Angst in der Stimme der Mutter und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Jeder hier kennt den Wirbelwind Marei, sie wird bestimmt bald gefunden werden!«
»Wenn es Sie beruhigt, drehe ich eben noch eine Runde um den Sternwolkensee«, bot Emilia an. »Vielleicht verfüttert sie das Pausenbrot an die Schwäne und hat einfach die Zeit vergessen.«
»Danke, das ist lieb von dir!« Frau Plättners Augen suchten den Biergarten ab und flogen weiter zu Afras Kiosk, bei dem es auch kleine Süßigkeiten und Eis zu kaufen gab. »Ich muss weiter suchen. Vielen Dank für eure Hilfe!« Sie lief weiter.
»Hoffen wir, dass die Kleine bald wieder auftaucht!«, sagte Sebastian ernst. Er wusste zwar, dass Marei ein kleiner Tausendsassa war und gern mal die Zeit verspielte, aber nicht von der Schule nach Hause zu kommen, das war etwas anderes.
»Wir halten auch die Augen offen!«, versprach Sophia.
Erst nachdem der Landdoktor sich verabschiedet hatte, fiel ihr auf, dass Leander blass und sehr still am Tisch saß. »Geht es dir gut?«, fragte sie besorgt.
»Wie?« Er schreckte aus seinen Gedanken auf. »Ja, danke, es geht mir gut. Hoffen wir, dass die Kleine bald wieder zuhause ist.«
»Wahrscheinlich sitzt sie irgendwo bei einer Freundin im Garten in einer selbstgebauten Höhle und kocht aus Blättern und Beeren ein Mittagessen für ihren Teddy!«, versuchte Sophia die verlorene Leichtigkeit wiederherzustellen.
»Ja, wahrscheinlich«, murmelte Leander. Er schob seinen Teller zur Seite. »Entschuldige, ich habe keinen Appetit mehr.«
Sophia aß den Rest ihres Brotes in bedrücktem Schweigen, und dann gingen die beiden in die Stille der Kirche zurück.
Leander, der eine sehr schmerzliche Erinnerung wegen eines verschwundenen Kindes hatte, riss sich zusammen, um wieder auf Sophias Schwung und Elan eingehen zu können. Er wollte so gern, dass sie den Tag genießen und mit Freude an den künstlerischen Teil der Arbeit gehen konnte.
»Also, was wirst du jetzt als Nächstes tun?«, fragte er betont munter.
Sophias Blick glitt an dem Gerüst in die Höhe. »Ich werde oben beginnen, die ursprünglichen Farben zu … Was ist denn das?« Ihr erstaunter Ausruf ließ auch Leander aufblicken.
»Meine Güte!« Mit einem Blick hatte er die Situation erfasst. »Das muss die verschwundene Marei sein!«
»Was macht sie nur da oben? Mein Himmel, das ist doch viel zu gefährlich! Wie leicht kann sie unter der Stange hindurchrutschen!« Unwillkürlich war Sophias Stimme immer lauter geworden.
»Psst! Nicht so laut! Wenn wir sie erschrecken, könnte sie den Halt verlieren!«, sagte er leise. Behutsam näherte der Mann sich dem Gerüst, bis er genau unter dem Kind stand. Er hob den Kopf und sagte so normal wie möglich: »Hallo, du da oben! Ich bin Leander, bist du vielleicht die Marei?«
Ein unmerkliches Kopfnicken antwortete.
»Weißt du, Marei, du machst das mit dem Stillstehen und dem Festhalten richtig gut. Kannst du das noch ein wenig länger tun und genau so stehenbleiben? Ich komme jetzt hoch zu dir, und wir beide zusammen klettern dann ganz langsam und gemütlich wieder runter, einverstanden?«
Von oben kam keine Regung.
»Leander, nicht! Du hast Höhenangst! Ich hole die Kleine runter!«, flüsterte Sophia.
Der Mann war weiß wie die Wand, aber er schüttelte den Kopf. »Nein!«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Sie hat Todesangst und wird sich wie ein Klammeräffchen an dich krallen, du wirst sie nach unten tragen müssen. Das schaffst du nicht allein. Ruf Sebastian an, er soll der Mutter sagen, dass wir die Kleine gefunden haben. Ich gehe jetzt und hole sie. Die Hauptsache ist, dass wir jetzt alle ganz ruhig bleiben!«
Sophia nickte wortlos, und dann umfassten ihre Hände sein Gesicht, und ihre dunklen Augen hielten seinen Blick ganz fest. »Gib auf dich acht, Leander!«
Für einen Herzschlag vergaß er seine Angst vor der Höhe, die Angst um das Kind, die Angst vor dem gemeinsamen Abstieg. Es gab nur ihn und diese Frau. Sein Lächeln umarmte sie, dann trat er einen Schritt zur Seite und griff nach der ersten Leiterstufe. »Also, Marei, ich komme jetzt zu dir.«
Vorsichtig zog er sich in die Höhe, Hand um Hand, Fuß um Fuß. Er versuchte, nicht auf seine Angst zu achten, und zwang sich zum ruhigen, gleichmäßigen Atmen. Es ging, er kam tatsächlich voran! Von unten hörte er Sophias Stimme, die leise ins Handy sprach, von oben kam kein Laut. Seine ganze Konzentration richtete er darauf, seine Angst zu besiegen und in Bewegung zu bleiben. Jetzt hatte er die Planke erreicht, auf der das Kind wie angewurzelt stand.
»Hallo, Marei, jetzt sind wir also zu zweit hier oben«, sagte er freundlich. »Und zusammen schaffen wir auch den Abstieg. Was meinst du, kannst du dich jetzt mal ganz langsam umdrehen und zu mir an die Leiter kommen? Ich streck dir ganz weit meinen Arm entgegen, siehst du?«
»Kann … nicht … loslassen!«
»Das musst du auch nicht!« Beruhigend sprach Leander auf das Kind ein. »Versuche, auch die zweite Hand auf die Stange zu legen. Dann hast du mehr Halt.«
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, dann löste die Kleine tatsächlich ihre Fingerspitzen von der Kirchenwand und umklammerte jetzt mit beiden Händen die Eisenstange, die sie vom Nichts trennte.
»Sehr gut!«, sagte Leander ruhig. »Du hast es schon fast geschafft! Jetzt lässt du einfach deine Füße ein bisschen weiter zu mir rutschen, du brauchst sie gar nicht von der Planke abzuheben. Und mit den Händen machst du es genauso. Rutsch einfach zu mir her, so langsam du willst, wir haben ganz viel Zeit.«
Seine Einfühlsamkeit in die Lage des Kindes und seine Ruhe übertrugen sich auf Marei, und es gelang ihr, sich Millimeter für Millimeter in seine Nähe zu schieben. Irgendwann war sie in seiner Reichweite, sein Arm legte sich um ihren Körper, und mit einem Schluchzer unendlicher Erleichterung fiel sie in seinen schützenden Halt.
Im ersten Moment wusste Leander nicht, wer sich mehr an wen klammerte! Er war unendlich erleichtert, so weit gekommen zu sein, aber noch stand ihm der Abstieg bevor. Dem Mann war klar, dass das Mädchen nicht allein gehen würde, sie hing wirklich wie ein Äffchen vor seiner Brust und umklammerte ihn mit Armen und Beinen. Er holte tief Luft. »So, Marei, dann wollen wir mal zusehen, dass wir nach unten kommen. Ich habe so eine Ahnung, dass deine Mama schon eine ganze Weile mit dem Mittagessen wartet, hm? Was soll es denn heute bei euch geben?«
»Pfannkuchen«, flüsterte es neben seinem Ohr. »Mit Apfelmus.«
»Na dann: Pfannkuchen, wir kommen!«
Mit angehaltenem Atem verfolgte Sophia den Abstieg. Vor Anspannung hatte sie ihre eiskalte Hand in den Arm des Landarztes verkrallt, ohne dass sie es bemerkte. Emilia stand neben ihnen und hatte schützend den Arm um Frau Plättner gelegt. Mareis Mutter hatte beide Hände vor den Mund geschlagen, um jeden Ausruf zu unterdrücken, ihre Angst war beinahe körperlich fassbar!
Und dann spürte Leander endlich festen Boden unter den Füßen!
»Hey, kleine Klette«, sagte er mit zitternder Stimme, »wir haben’s geschafft! Du kannst mich jetzt loslassen.«
Langsam lösten sich die Arme von seinem Hals, die dünnen Kinderbeine rutschten von seinen Hüften, und Marei stand wahr und wahrhaftig auf dem Erdboden. »Mama!« Mit einem Aufschrei warf sich das kleine Mädchen in die ausgebreiteten Arme ihrer Mutter. »Mama, Mama!«
»Marei! Mein Himmel, bin ich dankbar, dass dir nichts passiert ist!« Frau Plättner lachte und weinte in einem Atemzug. »So froh bin ich, so froh!«
Leander sackte auf der nächstbesten Kirchenbank zusammen. Sophia und Sebastian sahen, dass sein T-Shirt völlig durchgeschwitzt war. Mit dem Kinn wies er auf das Gerüst. »Acht Meter, hm? Ich bin eben auf einen Achttausender gestiegen!«
»Und wieder gut abgestiegen!« Sophia kniete neben ihm und schaute ihn mit glänzenden Augen an. »Ich bin so erleichtert, dass dir nichts passiert ist!«
»Alles in Ordnung, Leander?« Der Landdoktor musterte den Mann aufmerksam und griff beiläufig nach dessen Handgelenk, um den Puls zu messen. Er war eindeutig noch viel zu schnell.
»Danke, ich danke Ihnen so sehr!« Jetzt stand auch Frau Plättner vor ihm, mit der kleinen Marei fest an der Hand. »Sie sind ein Held, Herr Florentin!«
»Nein, bin ich nicht!«, wehrte Leander ab. Allmählich begann ihn die allgemeine Aufmerksamkeit zu stören. »Marei ist jetzt wieder daheim, und alles ist gut.«
»Ja, aber nur ganz allein Ihretwegen!« Frau Plättner war nicht davon abzubringen. »Das werden wir Ihnen nie vergessen!«
»Du hast deine Höhenangst überwunden, das ist eine enorme Leistung, Leander!«, sagte Doktor Seefeld ruhig.
»Da hab ich eine Neuigkeit für dich, Doktor!«, brummte der andere Mann. »Die hab ich nämlich nicht überwunden, sie ist immer noch da. Müsste laut medizinischer Lehrbücher zwar verschwunden sein, ist sie aber nicht!«
Erstaunt blickte Sophia zu Sebastian auf. Sie konnte Leanders gereizten Tonfall nicht verstehen, warum war er jetzt so verärgert? Als Antwort auf ihre stumme Frage schüttelte der erfahrene Arzt leicht den Kopf.
»Das ist in Ordnung so«, antwortete er.
»Ach ja? Ich klettere im Schneckentempo auf ein Gerüst, auf dem andere tagtäglich spazieren gehen, und bin ein Held? Das ist doch Schwachsinn!«, brauste Leander auf. Er schaute auf Sophia, die immer noch neben der Bank kniete und verständnislos zu ihm aufschaute. In zorniger Ratlosigkeit schüttelte er den Kopf. »Entschuldige!«, sagte er leise. »Ich …, ich muss jetzt los.« Ohne ein weiteres Wort verließ der Orgelbauer die Kirche.
»Was war das denn?« Verblüfft wandte Sophia sich dem Landdoktor zu.
»Eine Stressreaktion«, antwortete er ruhig.
»Aber es ist doch alles gut ausgegangen! Warum kann Leander sich nicht daran freuen?«
»Das kommt noch. Er braucht einfach Zeit, um mit dem Erlebten fertig zu werden. Wir sollten ihn jetzt in Ruhe lassen.«
»Wenn du meinst …« Unschlüssig schaute Sophia auf das Portal, durch das Leander fluchtartig verschwunden war. Ihr Gefühl drängte sie, dem Mann nachzugehen, aber ihr Verstand riet ihr, auf die Worte des erfahrenen Landdoktors zu hören.
»Was willst du denn jetzt tun?«, meldete sich Emilia zu Wort. »Willst du weiterarbeiten oder machst du auch Schluss für heute? Dann könnten wir doch alle zusammen zu uns nach Hause gehen.«
»Ich denke, ich arbeite weiter«, entschied die Restauratorin. »Wir sehen uns dann heute Abend.«
Nachdem sich die Kirche geleert hatte und wieder Ruhe eingekehrt war, suchte die junge Frau das nötige Material zusammen und begann behutsam, den Farben des Engels auf der Wand neues Leben einzuhauchen. Sie arbeitete mit höchster Konzentration und gleichzeitig bemerkte sie, dass etwas in ihr abgelenkt war, auf etwas zu warten schien. Es dauerte eine Weile, bis sie wusste, was es war: Sie lauschte.
Bisher hatten Klänge ihre Arbeit begleitet. Oftmals war es nur ein einzelner Ton gewesen, den Leander so lange bearbeitete, bis er wieder rein und klar durch das Kirchenschiff hallte. Manchmal hatte es so schräg geklungen, dass sie die Arbeit des Orgelbauers verwünschte und nur ihre Ruhe haben wollte.
Nun schwieg die Orgel, und Sophia wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Leander dort oben wäre und sie im Gleichklang mit ihm arbeiten könnte.
*
»Was für ein Tag!«, seufzte Sebastian Seefeld, als er es sich nach dem Abendbrot in seinem Lieblingssessel auf der Terrasse gemütlich machte. »Zwei Runden Hausbesuche, der übliche Praxisalltag, der Wirbel um das kleine Kletteräffchen und dann noch der Notruf zum Hartung-Hof, Blinddarmdurchbruch! Es ist ja schön und gut, wenn die Leute nicht wegen jedes Wehwehchens gleich zum Doktor rennen, aber der Hartung-Bauer muss tagelang schon furchtbare Bauchschmerzen gehabt haben.«
»Lass mich raten: Es musste noch Heu gemacht werden, ehe man Zeit für einen Arztbesuch hat?«, mischte sich Benedikt Seefeld ins Gespräch.
»Du sagst es, Vater!«, seufzte Sebastian und ließ sich das wohlverdiente Feierabendbier schmecken.
»Kommt es denn häufig vor, dass Patienten hier zu spät zum Arzt gehen?«, erkundigte Sophia sich.
»Nicht gerade häufig, aber wir kennen dieses Verhalten schon. Die Arbeit vieler Menschen hier ist vom Wetter abhängig, da überlegt man es sich zweimal, ob und wann man zum Arzt gehen kann.«
Sophia musterte den älteren und den jungen Doktor, die ihr gegenüber saßen. Sie wirkten so ausgeglichen und in sich selbst ruhend. Obwohl sie schwere Berufe hatten, liebten sie ihre Arbeit.
»Die Menschen hier können glücklich sein, von solchen Ärzten versorgt zu werden«, sagte Sophia aufrichtig.
»Das Kompliment können wir von ganzem Herzen zurückgeben!«, erwiderte Benedikt Seefeld charmant. »Was wäre unsere Kirche ohne Ihre Arbeit. Und wenn Sie schon längst abgereist sind, wird etwas von Ihnen hier bleiben und die Zeit überdauern.«
So lange, bis der nächste Depp auf die Idee kommt, das Wandgemälde zu übertünchen!, dachte Traudel im Stillen. Ihr Blick hing an Benedikts Gesicht, während er mit Sophia sprach. Jede feine Lachfalte um die dunklen Augen unterstrich die Wärme seines Blickes, und sein Lächeln war so liebenswürdig, dass Traudels Herzschlag sich auch nach vierzig Jahren stiller Liebe noch beschleunigen konnte.
Beruhigenderweise schien sein Charme auf die italienische Malerin eine andere Wirkung zu haben, sie lächelte nur freundlich und etwas zerstreut. Ihr Blick glitt über den Garten, über dem die Abenddämmerung heraufzog. »Es ist noch so schön draußen, ich glaube, ich werde noch einen Spaziergang machen.«
»Dann können wir zusammen gehen«, sagte Emilia freudig. »Wir nehmen Nolan mit und drehen eine Abendrunde.«
»Das ist nett von dir, Emilia, aber ich möchte lieber allein gehen«, antwortete Sophia freundlich.
»Oh! Entschuldigung!« Das Mädchen wurde dunkelrot. »Ich …, ich wollte nicht aufdringlich sein!« Sie wirkte so verlegen wie nur eine Vierzehnjährige sein kann, die meint, in ein dickes Fettnäpfchen getreten zu sein.
»Du bist überhaupt nicht aufdringlich, Emilia«, beruhigte die Künstlerin sie, »sondern sehr freundlich. Nur würde ich heute eben lieber ohne Begleitung spazieren gehen.« Mit einem freundlichen Kopfnicken wünschte sie gute Nacht und verabschiedete sich.
Ihre Gedanken waren im Laufe des Nachmittags immer öfter zu Leander gewandert, und sie musste ihn ganz einfach sehen. Es war nicht nur ihre Sorge um ihn, die sie jetzt aus der netten Gesellschaft hinausgetrieben hatte, es war Sehnsucht, erkannte Sophia. Sehnsucht nach seinen dunklen Augen, dem Drei-Tage-Bart, dem Lächeln, das sein stilles Gesicht aufleuchten ließ. Sehnsucht nach seiner Stimme, die sanft und einfühlsam klingen konnte.
Nachdem die junge Frau zunächst ziellos und in Gedanken versunken durch den Ort gegangen war, schlug sie jetzt die Richtung zu Leanders Hotel ein, höchstwahrscheinlich würde sie ihn dort antreffen. Ungeduldig beschleunigte sie ihre Schritte, aber an der Rezeption des Hotels erlebte sie eine Enttäuschung.
»Herr Florentin ist nicht im Haus«, teilte ihr Shakira Plaschke mit. Das Donnerwetter ihrer Chefin schien gewirkt zu haben, denn dieses Mal war die junge Frau freundlicher und auskunftsbereiter. »Herr Florentin ist am frühen Nachmittag hier gewesen und hat kurze Zeit später das Hotel wieder verlassen.«
»Danke.« Sophia überlegte. Sie erinnerte sich, wie ausgelaugt Leander gewesen war. Vielleicht hatte er geduscht, sich umgezogen und dann das Zimmer wieder verlassen? Sie hoffte, dass er nicht zu einem weiten Spaziergang oder einer Wanderung aufgebrochen war, dann würde sie ihn nicht finden. Es fiel ihr nur ein Ort ein, an dem sie ihn vielleicht antreffen konnte.
Leanders alter Wagen war abseits des Pfarrhauses, geschützt durch eine Hainbuchenhecke, auf einer Wiese abgestellt. Langsam näherte sich Sophia dem Gefährt. Sie sah, dass alle Fenster unbeleuchtet waren, und neue Enttäuschung stieg in ihr auf. Sollte Leander nicht hier sein, an diesem sehr persönlichen Rückzugsort? Die junge Frau umrundete die Hecke und atmete unbewusst erleichtert auf. Auf dem hölzernen Treppchen, das zur geöffneten Eingangstür führte, saß Leander. Die Dunkelheit wurde nur vom Licht einer einzelnen Laterne erhellt, die ein wenig abseits im Gras stand.
»Guten Abend, Leander«, grüßte sie leise.
Er schaute auf; nicht überrascht, sondern eher so, als hätte er sie erwartet. »Guten Abend, Sophia.«
»Störe ich dich oder kann ich mich zu dir setzen?«
Als Antwort rutschte der Mann zur Seite und deutete einladend mit der Hand neben sich.
»Danke!« Die Stufen waren nicht sehr breit, und Sophia saß so dicht neben dem Mann, dass sich ihre Schultern leicht berührten. Wieder war da sein Duft nach Sandelholz, so seltsam vertraut nach dem ersten Abend, an dem sie sich das Bad geteilt hatten.
»Geht es …, hast du den heutigen Tag gut verkraftet?«, fragte die junge Frau behutsam.
Leander nickte wortlos und griff nach einer Flasche, die auf einem Tischchen in der Dunkelheit neben ihm stand. Er schenkte samtigen Rotwein in einen Silberbecher und reichte ihn der Künstlerin. »Ich hatte gehofft, dass du kommst«, sagte er leise.
Sie trank einen Schluck und überließ sich dem weichen, fruchtigen Geschmack des Weines. Es war ein edler Tropfen, und er passte in seiner dunklen Weichheit zu der warmen Sommernacht.
»Ich …, ich wollte mich bei dir entschuldigen«, fuhr Leander fort. »Ich war vorhin in der Kirche nicht gerade freundlich zu dir, das tut mir leid.«
»Das ist schon in Ordnung. Bei uns allen lagen die Nerven blank, mach dir deswegen keine Gedanken.«
»Ich weiß, es ist lächerlich, sich davor zu fürchten, auf ein Gerüst zu klettern, das noch nicht einmal besonders hoch ist. Wenn du in einer Kathedrale arbeitest, bist du doch ganz andere Höhen gewohnt.«
»Es ist niemals lächerlich, sich vor etwas zu fürchten!«, antwortete Sophia ernst. »Und hat nicht jeder Mensch irgendwelche Ängste? Ich werde zum Beispiel niemals tauchen! Der Gedanke, unter Wasser nicht wie gewohnt durch die Nase atmen zu können, jagt mir furchtbare Angst ein. Ich habe deswegen schon Streit mit guten Freunden gehabt, die begeisterte Taucher sind und auch leidenschaftlich gern schnorcheln. Wir haben zusammen Urlaub in Ägypten verbracht, und sie wurden richtig sauer, weil ich nicht mit unter Wasser wollte. Ich sei unglaublich stur, sagten sie, und ich würde mir die schönsten Erfahrungen entgehen lassen.« Sophia zuckte mit den Schultern. »Ich gönne ihnen ihr Hobby und ich bestreite ja nicht, dass die Unterwasserwelt faszinierend ist, aber ich will das nicht erleben.«
Die junge Frau hatte sehr entschieden gesprochen und sich ganz auf ihre eigenen Worte konzentriert, deshalb war ihr entgangen, dass der Mann an ihrer Seite erstarrte. Er biss die Kiefer zusammen und starrte geradeaus. Nach einem kurzen Schweigen schien er sich wieder zu entspannen und griff nach seinem Weinbecher. »Du versuchst, mich zu trösten, das ist nett von dir«, erwiderte er.
Sophia schüttelte leicht den Kopf. »Das ist nicht nett, sondern die Wahrheit. Jeder Mensch hat seine Besonderheiten, und du magst eben keine Höhe.«
»Besonders dann nicht, wenn sich keine massive Brüstung zwischen mir und dem Abgrund befindet!«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu.
In Bergmoosbachs Häusern erloschen langsam die Lichter. Das Funkeln der Sterne am nächtlichen Himmel wurde deutlicher, und die Dunkelheit gewann einen anderen Farbton. Die tiefe Stille wurde nur vom Zirpen der Grillen unterbrochen. Es duftete süß nach Geißblatt und der sommerwarmen Erde.
Sophia legte sacht ihre Hand auf Leanders Arm. »Ich habe das Gefühl, dass das noch nicht alles ist. Seit heute Mittag bist du verändert. Du warst entspannt und gut gelaunt, aber seitdem Frau Plättner nach der verschwundenen Marei gefragt hat, wirkst du bedrückt. Jetzt ist doch alles in Ordnung, Marei ist wohlbehalten wieder bei ihrer Familie. Du musst dir keine Gedanken mehr um sie machen.«
»Es ist nicht Marei, es geht um ein anderes Kind«, antwortete Leander langsam.
Sophia spürte, wie der Mann an ihrer Seite mit sich und seinen Erinnerungen kämpfte, und wartete schweigend.
»Wir waren drei Kinder zu Hause, mein älterer Bruder, dann ich, dann meine kleine Schwester Esther. Sie war das Nesthäkchen, wir waren dreizehn und elf Jahre älter als sie. Dass sie sich oft einsam gefühlt haben muss, haben wir damals natürlich nicht verstanden. Wir lebten in unserer eigenen Welt – Pubertät, Mädchen, Musik, Sport, Führerschein. Die Kleine war zwar da, aber irgendwie gehörte sie auf einen anderen Stern. Natürlich wollte sie immer bei uns sein, wollte alles mitmachen. Was kann man zusammen ›spielen‹, wenn man achtzehn, sechzehn und fünf Jahre alt ist? Sie schien einfach immer zu stören«, sagte er mit bitterem Bedauern.
Sophias Hand lag immer noch auf Leanders Arm, und der Trost, der von dieser sanften Berührung ausging, fand den Weg durch seine schmerzlichen Erinnerungen hindurch. Er legte seine Hand auf ihre, und ihre Finger verschränkten sich zu einem zuverlässigen Halt.
»Dann kam das Weihnachtsfest, und Esther bekam die heiß ersehnten Schlittschuhe geschenkt, mit denen sie endlich zusammen mit den großen Brüdern auf den zugefrorenen See konnte. Natürlich war es schwierig für sie, immer wieder ist sie hingefallen. Wie war sie böse auf die Großen, die mal wieder alles besser konnten als sie, aber am allermeisten war sie böse auf sich selbst, weil ihr das Schlittschuhlaufen nicht so gelingen wollte, wie sie es sich erträumt hatte. Und wie eifrig sie war! Hinfallen, aufstehen, wieder hinfallen, wieder hoch – sie war unermüdlich!« Ein wehmütiges Lächeln glitt über Leanders Gesicht. »Ich sehe sie noch vor mir: Ein Zwerg im roten Schneeanzug, der sich immer wieder von neuem aufrappelt und vor Glück laut lacht, wenn es gelingt, auf den Beinchen zu bleiben und ein paar Schritte über das Eis zu machen.«
Er schwieg, und Sophia hielt den Atem an. Sie ahnte, wie die Geschichte weitergehen würde.
»An diesem Abend fiel sie völlig übermüdet, aber mit blitzenden Augen ins Bett. ›Morgen übe ich weiter, so lange, bis ich es kann!‹, verkündete sie energisch. ›Ihr werdet schon sehen!‹
Was wir dann am nächsten Morgen sahen, war ihr leeres Bett. Esther war verschwunden, ebenso ihr Schneeanzug und ihre Schlittschuhe.
Als gestern Frau Plättner an unseren Tisch kam und nach ihrer Tochter fragte, da habe ich wieder meine Mutter gesehen, die von Haus zu Haus irrte und jeden nach Esther fragte. Sie war getrieben von Angst und der wahnwitzigen Hoffnung, das Mädchen möge irgendwo sein, egal wo – nur nicht draußen auf dem Eis. Über Nacht war Föhn aufgekommen und mit ihm Tauwetter. Der See war zu einer tödlichen Falle geworden und alle Spuren deuten darauf, dass Esther genau dorthin gegangen war.
Wir fanden sie am Abend des zweiten Tages. Die Strömung hatte sie unter das Eis gezogen und dort lag sie. Ein Zwerg im roten Schneeanzug, der nie wieder aufstehen würde.«
Sophias Herz zog sich zusammen. Mit Tränen in den Augen stammelte sie: »Und …, und ich erzähle dir von meiner Angst, unter Wasser nicht atmen zu können.«
Leander wandte seinen Kopf zu ihr. Sein Blick war ruhig und liebevoll, trotz des Schmerzes. »Nicht! Tu es nicht«, sagte er sanft. »Mach dir keine Vorwürfe wegen deiner Worte. Sie haben nichts mit diesem alten Schmerz zu tun. Im Gegenteil, ich finde dich sehr verständnisvoll, und dein Mitgefühl tut mir gut.« Er legte seinen Arm um die junge Frau und wollte sie an sich ziehen, aber Sophia schüttelte den Kopf.
»Offenbar habe ich eine seltene Begabung, an alte Wunden zu rühren«, sagte sie bitter. »Dich erinnere ich unbeabsichtigt an den Tod deiner kleinen Schwester und Sebastian an seine verstorbene Frau.«
So, wieder einmal Sebastian …, dachte Leander. Fast hätte er seinen Arm von den schmalen Schultern der Frau zurückgezogen, aber dann schüttelte er innerlich über sich selbst den Kopf. Sophia war hier, bei ihm, und er würde jetzt keinen weiteren Gedanken an den anderen Mann verschwenden. »Ich freue mich, dass du hier bist«, sagte er weich. Seine Hand strich über Sophias Wange, und mit einem leisen Seufzer bettete sie ihren Kopf an seine Brust.
»Ich freue mich auch«, antwortete sie leise. »Und ich bin dankbar, dass du dir mein Herumtrampeln auf deinem Schmerz nicht übel nimmst.«
Jetzt erklang ein freundliches, leises Lachen. »Wie kann ein so elfengleiches Wesen wie du auf etwas oder jemandem herumtrampeln? Du wiegst doch gar nichts, also hör bitte auf, dir deswegen Gedanken zu machen.«
Seine Worte nahmen der Situation ihre Schwere und Bitterkeit. Die Nacht gewann ihre sanfte Sternenschönheit zurück, und sowohl Leanders als auch Sophias Herz kamen zur Ruhe. In innigem Schweigen vereint saßen sie auf den Stufen des alten Wagens, genossen die Nähe des anderen, das vorsichtige Wachsen gegenseitigen Vertrauens und ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit.
*
»Jawoll, so muss ein richtiger Ausflug aussehen!«, stellte Emilia fest. Ihr Blick glitt zufrieden über die Menschen, die sich an diesem sonnigen Sonntagnachmittag beim Doktorhaus versammelt hatten, um gemeinsam zum Gestüt Brunnenhof zu fahren. Neben ihrer Familie waren auch Hebamme Anna, die treue und unverzichtbare Sprechstundenhilfe Gerti Fechner und deren Schwester Sieglinde, Sophia und der Orgelbauer mit von der Partie. Und natürlich Markus, der etwas ungelenk mit Nolan herumalberte, damit sein bewundernder Blick nicht andauernd an dem hübschen Mädchen hing. Emilia trug Jeans mit abgeschnittenen Beinen und ein helles Top, ihre glänzenden, kastanienfarbigen Haare hatte sie zu einem lockeren Knoten zusammengesteckt. Von der Sonne hatte ihre Haut einen Goldton angenommen, der ihre großen grauen Augen besonders zum Strahlen brachte. Sie sah einfach umwerfend aus, fand Markus.
»Wenn du fertig bist mit Gucken, können wir dann vielleicht mal fahren?«, fragte Emilia grinsend. Sie und Markus wollten mit den Rädern zum Brunnenhof fahren, die Erwachsenen würden mit ihren Autos unterwegs sein.
Markus wurde knallrot, schwang sich auf sein Mountainbike und legte ordentlich Tempo vor. Im Handumdrehen hatte das Mädchen ihn eingeholt, und beide verschwanden hinter der nächsten Wegbiegung.
»So, ab mit dir ins Auto!«, scheuchte Sebastian den begeisterten Nolan in den Geländewagen, in dem bereits Anna, Traudel und Benedikt warteten. Die anderen verteilten sich auf die restlichen Wagen und dann ging es hinaus zum Gestüt Brunnenhof.
Nachdem sie die Landstraße verlassen hatten, fuhren sie über eine gewundene Zufahrt bergauf zwischen blühenden Wiesen und Weiden, auf denen die edlen Tiere des Brunnenhofs standen. Sie passierten zwei steinerne Torpfosten, dessen Türgitter einladend geöffnet waren. Eine breite Zufahrt aus Kies führte zu dem schönen, alten Anwesen und seinen Gärten und Wiesen, die es umgaben.
Familie von Raven bewirtschaftete den Hof, der sich im Laufe der Zeit zu einem namhaften Gestüt entwickelt hatte, in der vierten Generation. Es gab sechs Kinder in dieser bunten, lebhaften Familie, und Tochter Antonie, genannt Toni, war Emilias beste Freundin. Das Mädchen empfing die Gäste mit einem freudigen Wedeln ihrer Arme, und sie wies in den Obstgarten, wo unter alten Apfelbäumen eine lange Kaffeetafel gedeckt war.
»Wie schön!«, sagte Sophia andächtig.
Das hohe Gras bildete einen dichten, grünen Teppich, zwischen dem Laub der Bäume spielte das Sonnenlicht, und der rustikale Holztisch war mit weißem Leinen, Silber und weißem Steingut gedeckt. Einzelne Blüten entfalteten ihre Farbenpracht in unterschiedlichen Gläsern, und Buchsbaumzweige lagen zwischen den Gedecken. Glasierte Apfelkuchen mit Walnüssen, Erdbeertörtchen und Schokoladentorten warteten neben frischen Pfirsichen, Aprikosen, kräftigem Bauernbrot, Geselchtem und würzigem Bergkäse auf die Gäste.
»Na, verhungern wird hier niemand«, meinte Sieglinde Fechner und fügte mit einem anerkennenden Blick auf die Gastgeberin hinzu: »Wieviel Mühe Sie sich gemacht haben!«
»Das ist keine Mühe, das ist mein ganz normaler Alltag«, erwiderte Elise von Raven lächelnd. »Wir sind halt eine große Familie, und wir haben gerne Gäste. Außerdem packt jeder mit an, anders geht es nicht.«
»Schon, aber eine Familie mit sechs Kindern zu versorgen, das ist gewiss keine Kleinigkeit«, erwiderte die ältere Frau. Ihr Blick glitt über die Tafel, die für über zwanzig Personen gedeckt war.
»Vor allem nicht, wenn es immer mehr werden, denn die Kinder bringen ganz selbstverständlich ihre Freunde mit. Aber wem sage ich das! Sie sind doch selbst bis vor kurzem als Löwenbändigerin beschäftigt gewesen«, antwortete Elise von Raven mit einem Augenzwinkern.
»Wohl war!«, seufzte Sieglinde Fechner, die bis zu ihrer Pensionierung als Lehrerin im Gymnasium der benachbarten Kreisstadt gearbeitet hatte. »Und der Bildungshunger mancher Löwen hat zeitweilig zu wünschen übrig gelassen.« Die unverheiratete Sieglinde war mit Herz und Verstand Lehrerin gewesen, aber jetzt genoss sie ihren Ruhestand in vollen Zügen. Zufrieden ließ sie ihren Blick über die lange Tafel schweifen, an der Jung und Alt zusammen saßen.
Sophia fühlte sich an Sonntage ihrer Kindheit erinnert, wenn die italienische Großfamilie zusammenkam. Sie saß neben Leander, und immer, wenn sich ihre Blicke begegneten, schlug ihr Herz schneller, wenn sie das Lächeln in seinen dunklen Augen sah.
Habe ich Schmerz und Wut und Misstrauen, mit der meine letzte Liebe zerbrochen ist, endlich hinter mir gelassen?, dachte sie im Stillen. Sind Roberto Alvarino und die Narben, die er mir zugefügt hat, nur noch Geschichte? Und ist Leander der Mann, mit dem ich in eine gemeinsame Zukunft gehen kann? Noch weiß ich wenig über ihn, er ist so zurückhaltend.
Sophia spürte seinen Arm, der auf der Rückenlehne ihres Stuhles lag, und sie lehnte sich leicht dagegen. Leanders Hand glitt auf ihre Schulter, und es fühlte sich an wie eine Umarmung.
»Äh, Signora Corelli?«, meldete sich Toni zu Wort. »Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie die ganze Zeit anstarre. Ich möchte nicht unhöflich sein, aber ich habe ganz einfach das Gefühl, Sie schon einmal gesehen zu haben, Ihr Gesicht ist mir so vertraut.«
»Gut, dass du mich darauf ansprichst«, antwortete Sophia. »Ich habe deine prüfenden Blicke wohl bemerkt und mich allmählich gefragt, ob mit meinem Gesicht etwas nicht in Ordnung ist.«
»Oh! Nein, das ist alles prima«, sagte Toni rasch. »Ich frage mich eben die ganze Zeit, an wen Sie mich erinnern.«
Ihre Mutter Elise war dem Gespräch gefolgt, und nun warf auch sie der Künstlerin einen prüfenden Blick zu. »Ich hab’s!«, sagte sie plötzlich. »Ich weiß, wen du meinst. Es ist das Bild der italienischen Schönen, das zwischen den Fenstern im oberen Flur hängt!«
»Ja, genau! Daher kenne ich Sie. Sie sehen der anderen Frau wirklich verblüffend ähnlich«, rief Toni aus.
»Welcher Frau?«, erkundigte sich Sophia interessiert.
»Wir wissen nicht, wie sie heißt, das scheint eine Art Familiengeheimnis zu sein«, erzählte jetzt Herr von Raven. »Bekannt ist nur, dass mein Ur-Ur-Großvater Albert nach einer längeren Italienreise sehr still und in sich gekehrt nach Hause gekommen ist. Albert von Raven hatte einen guten Ruf als Portraitmaler und er war nach Italien gereist, um dort Studien zu betreiben. Nach seiner Rückkehr hat er nur noch ein einziges Bild gemalt, jenes Portrait, das bei uns im Haus hängt. Danach hat er Pinsel und Farben nie wieder angerührt.
Jahre später hat er Leontine geheiratet, und es geht die Familiensaga, dass meine Ur-Ur-Großmutter ein gutes Leben an seiner Seite hatte, und er ihr jeden Wunsch erfüllte. Nur nicht ihre beiden Herzenswünsche: dass er ein Portrait von ihr malte und das Bild der unbekannten Schönen, das in seinem Arbeitszimmer hing, in eine Abstellkammer verbannte.«
»Wie romantisch!«, seufzte Emilia und bekam Sternchenaugen. »Das klingt nach einer ganz großen, ganz traurigen Liebesgeschichte.«
»Na, Emilia, woher hast du denn diese Erkenntnis? Ich glaube, ich muss mal ein wenig mehr darauf achten, welche Romane du liest«, zog ihr Vater sie auf.
Würdevoll ignorierte Emilia den gutmütigen väterlichen Spott. »Wie die Frau wohl hieß? Schade, ihren Namen und ihre Geschichte werden wir wohl nie erfahren.«
Vor Aufregung drückte Sophia Leanders Hand so fest, dass es wehtat. Überrascht schaute der Mann sie an. Was an dieser alten Geschichte berührte die junge Frau so sehr, dass sich ihre Wangen röteten und ihre Augen blitzten?
»In meiner Familie geht die Geschichte so«, berichtete Sophia. »Ein deutscher Adliger, ein Künstler, mietete sich eine Villa in der Nähe des toskanischen Dorfes, in dem meine Ur-Ur-Großmutter Francesca lebte. Bisnonna Francesca war ein ganz junges Mädchen, nur wenig älter als Emilia, als sie bei dem Maler als Dienstmädchen in Stellung ging. Der Mann blieb über ein Jahr in der Toskana, und als er ging, nahm er Francescas Herz mit sich.
Ziemlich genau neun Monate nach seiner Abreise brachte Francesca eine Tochter mit blauen Augen zur Welt. Es heißt, dass seitdem in unserer Familie eine gewisse Vorliebe für die deutsche Sprache und die Begabung zum Malen vererbt werden.«
»Sophia!« Leander küsste ihre Hand, ganz einfach so, in aller Öffentlichkeit. »Das heißt, dass du wahrscheinlich deinen namenlosen Ur-Ur-Großvater gefunden hast?«
»Francesca?«, wiederholte Herr von Raven nachdenklich. »Albert und Francesca? Die Frau auf dem Gemälde trägt ein Medaillon, und wenn man sehr genau mit einer Lupe hinschaut, dann erkennt man …«
»… die ineinander verschlungenen Buchstaben A und F«, vervollständigte Sophia den Satz. Sie griff nach ihrer feinen Goldkette, die sie um den Hals trug, und zog sie unter ihrem Sommerkleid hervor.
An der Kette hing ein zartes, ovales Medaillon, dessen Rand mit winzigen Brillanten und Rubinen besetzt war. Die Mitte zierte eine kunstvolle Gravur, welche die miteinander verbundenen Buchstaben A und F darstellte.
»Es ist der wertvollste Besitz meiner Familie«, sagte Sophia zärtlich, »und er wird immer von der Mutter auf die erstgeborene Tochter vererbt.«
»Was für eine Geschichte!« Herr von Raven schaute Sophia an. »Dann sind wir also über einen gemeinsamen Ur-Ur-Großvater miteinander verwandt?«
»Es scheint so«, antwortete die junge Künstlerin. »Ich würde mir jetzt sehr gern das Portrait ansehen, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sehr recht sogar. Willkommen in der Familie von Raven, Sophia!« Er hob sein Glas und trank der jungen Frau zu.
»Ganz meinerseits! Willkommen in der Familie Corelli, Leopold!«
Unter allgemeinem Plaudern und Lachen löste sich die Tafelrunde auf. Sophia, Leander und die Seefelds gingen mit ihren Gastgebern ins Haus, um das Portrait anzuschauen, die anderen schlenderten hinüber zu den Ställen, um die Zwillingsfohlen zu begrüßen.
Das Portrait, welches Sophia mit großem Interesse begutachtete, zeigte tatsächlich eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr: die gleichen schwarzen Augen, die gleichen zarten Gesichtszüge, die Haltung des Kopfes, das Lächeln, das Medaillon. Die Frau auf dem Gemälde war jünger als Sophia, und das Haar, welches in einem schweren Knoten im Nacken ruhte, schwarz-braun, mit Locken, die sich über den Schläfen ringelten, aber das waren die einzigen Unterschiede.
»Unglaublich!« Sophia schüttelte den Kopf. »Ich habe zwar schon gehört, dass ich eine große Ähnlichkeit mit meiner Bisnonna haben soll, aber dass sie so vollkommen ist…«, staunte sie.
Leander schaute sie von der Seite an. Er sah ihr zartes Profil, das glatte, wie Silber schimmernde Haar, die auffallenden schwarzen Augen, die Intensität, mit der Sophia die Frau auf dem Bild betrachtete. Für sie muss es sein, als ob sie in einen Spiegel schaut, dachte er.
Und während Sophia in dieser fremden Ahnin sich selbst begegnete, erwachte in Leander eine Melodie. Die ersten, feinen Töne schwangen seit gestern in seinem Unterbewusstsein, seitdem Sophia neben ihm auf den Stufen gesessen und der Stille der Nacht gelauscht hatte. Jetzt reihte sich Ton an Ton, Akkorde erklangen, erzählten den Beginn einer Geschichte. Eine Komposition begann, sich in seinen Gedanken zu formen, ein Lied für Sophia.
Er würde ein Lied für Sophia schreiben.
»Und wie ist es dann mit deiner Ur-Ur-Großmutter weitergegangen? Was wurde aus ihr und ihrem kleinen Mädchen?«, nahm Emilia das Gespräch wieder auf, das sie im alten Apfelgarten geführt hatten.
Liebevoll schaute Sophia zu dem Portrait ihrer Vorfahrin auf. Es war ein so junges, klares Gesicht, aus den dunklen Augen leuchtete die Liebe zum Leben und zu dem Mann, der sie malte. Aber lag nicht auch ein kaum sichtbarer Schatten in ihrem Lächeln? Umspielte schon eine Ahnung des Kommenden ihre feinen Züge? »Natürlich war es sehr schwer für meine Bisnonna. Es war nicht nur der endgültige Abschied von ihrem geliebten Albert, sondern sie musste mit der Schande ihres unehelichen Kindes leben.«
»Ein uneheliches Kind eine Schande?«, fuhr Emilia empört auf.
»Vergiss nicht die Zeit, in der Francesca gelebt hat«, erinnerte Anna sie. »Im neunzehnten Jahrhundert ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen und das in einem kleinen, abgelegenen italienischen Dorf –, das bedeutete etwas ganz anderes als heute.« Unwillkürlich traf sich ihr Blick mit dem des Landdoktors, und sie konnte seine Gedanken lesen: nicht nur damals und nicht nur dort kann es mit sehr viel Leid verbunden sein.
»Ja, es hätte die Hölle für Francesca und ihr Kind werden können, aber zum Glück hatte sie starke Eltern, die sich mit all ihrer Liebe hinter ihre Tochter und die Enkelin stellten«, fuhr Sophia fort.
»Wie heißt die Kleine denn?«, fragte Emilia voller echter Anteilnahme.
»Die ›Kleine‹ wäre jetzt weit über hundert Jahre alt, und ihr Name war Angelina«, lächelte die Malerin.
»Und hat die Mama später geheiratet und noch mehr Kinder bekommen?«
»Nein, Francesca hat nicht geheiratet. Für sie hat es immer nur den einen gegeben. Aber ihre Tochter Angelina war glücklich verheiratet, und sie hat neun Kinder bekommen. Ihre jüngste Tochter heißt Anna-Maria und ist meine Großmutter. Nonna hat in diesem Sommer ihren neunzigsten Geburtstag, und ich freue mich sehr darauf, sie dann zu besuchen und mit ihr zu feiern.«
»Wie schön!«, seufzte Emilia zufrieden. »Irgendwie ist das doch auch so eine Art Happy End.«
»Du hast recht, Emilia«, antwortete Leopold von Raven nachdenklich, »nach so langer Zeit hat sich der Kreis geschlossen.«
Der Orgelbauer hatte sich nicht an den Gesprächen beteiligt. Er stand neben Sophia und machte einen leicht abwesenden Eindruck, aber der Eindruck täuschte. Leander hatte sehr genau zugehört, und er übersetzte die Worte in Musik. Das Schicksal, von dem erzählt worden war, würde in seine Komposition einfließen, alles gehörte zu Sophias Lied. Sein Lächeln, mit dem er die junge Künstlerin anschaute, mochte verträumt und abwesend wirken, aber in Wahrheit war er hellwach und mit allen Sinnen und Gedanken bei ihrer Geschichte.
»Wenn es euch recht ist, würde ich gern ein Bild meines Ur-Ur-Großvaters sehen. Ich weiß nicht, wie Grande-Bisnonno Alberto ausgeschaut hat«, wandte Sophia sich an ihre Gastgeber.
Die von Ravens stimmten gern zu und führten ihren Besuch in den sogenannten Gelben Salon. Er hatte seinen Namen von den alten Damasttapeten, die matt golden schimmerten. Hier hingen die Familienportraits. Sophia war etwas überrascht, dass Leander mitgekommen war, denn auch hier schien er mehr aus Höflichkeit als aus echtem Interesse vor dem Bild zu stehen.
Schade, Leander scheint sich nicht für meine Familiengeschichte zu interessieren, dachte Sophia, er sieht tatsächlich etwas gelangweilt aus. Warum bin ich eigentlich deswegen enttäuscht? Habe ich denn einen Grund, etwas anderes von ihm zu erwarten? Sie schüttelte den störenden Gedanken ab und konzentrierte sich auf das Portrait, das sich dunkel von der mattgoldenen Wand abhob.
Dieses Gemälde zeigte Albert von Raven als reifen Mann. Seine dunkelblonden Haare waren bereits mit Silber durchzogen und wichen aus der Stirn zurück. Er hatte die markanten Gesichtszüge eines Mannes, der eine große Verantwortung trägt und gewohnt ist, Anordnungen zu erteilen. Das Lächeln in seinen Mundwinkeln war nur angedeutet, und im Blick seiner bemerkenswert blauen Augen hielten sich Freundlichkeit und Strenge die Waage. Er war ein Mann, der Charakterstärke, Stolz auf sein Lebenswerk – und einen kaum wahrnehmbaren Hauch von Einsamkeit ausstrahlte.
Sophia schaute das Bild, das neben dem Portrait seiner Frau Leontine hing, lange und sehr aufmerksam an. Dann nickte sie, als ob eine stille Frage eine Antwort gefunden hatte.
»Mein Ur-Ur-Großvater hat nichts von Angelina gewusst«, bestätigte Leopold von Raven leise.
Sophia nickte. »Ja, das sehe ich«, antwortete sie schlicht. Sie schaute an Leander vorbei, der immer noch diesen höflich-desinteressierten Gesichtsausdruck hatte. »Wo ist mein Grande-Bisnonno beerdigt worden?«
»Hier auf unserem alten Gutsfriedhof«, antwortete Elise von Raven. »Wenn du möchtest, können wir sein Grab besuchen.«
»Sehr gern.« Sophia war gerührt von dieser freundlichen und aufmerksamen Geste.
Die Gäste gingen auf den Gutshof hinaus und von dort über eine kleine, steinerne Brücke, welche den Fluss zum Sternwolkensee überspannte. Links davon befand sich eine Buchsbaumhecke mit einem rostigen Tor aus Schmiedeeisen, neben dem links und rechts alte Rosenstöcke ihre duftende, weiße Pracht entfalteten.
»Was für ein schöner letzter Ruheplatz«, sagte Sophia andächtig.
Sebastian Seefeld legte einen Arm um seine Tochter und den anderen um Annas Schultern. »Wir sollten jetzt zu den anderen gehen und Sophia diesen Moment alleine, für sich haben lassen«, schlug er rücksichtsvoll vor.
»Das ist lieb von dir«, antwortete Sophia, »aber ihr stört mich nicht. Im Gegenteil, ich würde mich freuen, wenn ihr mitkommt.«
Nach einem fragenden Blick zur Dame des Hauses pflückte die junge Künstlerin eine weiße Rosenblüte und betrat den kleinen, sonnenbeschienenen Friedhof. Zwischen den weichen Graswegen ruhten die alten Gräber längst verstorbener Mitglieder der Familie von Raven. Das älteste war das des Ur-Ur-Großvaters der italienischen Malerin. Auf dem schlichten Grabkreuz aus hellem Stein standen sein Name und seine Lebensdaten eingemeißelt. Lächelnd betrachtete Sophia das samtige Moospolster, welches die von Efeu gerahmte Ruhestätte bedeckte. Ganz unten auf dem steinernen Kreuz, fast verborgen von den Efeuranken, war die Figur eines Engels eingemeißelt. Sie hatte langes, offenes Haar, und sie saß mit abgewandtem Kopf auf einem Grenzstein, wie Sophia sie aus der Toskana kannte. Vom Gesicht des Engels sah man nichts außer der Rundung der Wange und ein Schläfe, über die sich eine Locke ringelte. Die zarten Hände der Figur waren erhoben, es wirkte wie eine freundliche Willkommensgeste.
Leopold von Raven hatte bemerkt, was Sophias Aufmerksamkeit fesselte, und er sagte leise: »Es heißt, Albert von Raven hat bestimmt, dass sein Grabkreuz ganz genauso aussehen solle. Die Vorlage für den Engel hat er selbst gezeichnet. Es war das erste und einzige Mal, dass er nach seiner Rückkehr aus Italien wieder einen Stift in die Hand genommen hat, ungefähr ein Jahr vor seinem Tod. Und es heißt auch, dass der Steinmetz bei diesem Auftrag einiges auszustehen hatte, bis mein Vorfahre mit dem Ergebnis wirklich zufrieden war.«
»Er hat den Stein vor seinem Tod in Auftrag gegeben und selbst überwacht, dass alles genauestens ausgeführt wurde?«, fragte Sophia überrascht.
»Ja. Er wollte es ganz genau so und nicht andres haben!«
»Ich verstehe«, antwortete die Künstlerin. Ihre Hand berührte sanft den Namen auf dem alten Stein, dann legte sie die weiße Rose in das weiche Moos. »Vi porto i saluti da Francesca«, sagte sie leise. Ich bringe dir Grüße von Francesca.
In der Ferne war der Ruf eines Kuckucks zu hören, und in den blühenden Linden des Hofes summten die Bienen, sonst war es sehr still. Es roch nach Sommer, nach warmer Erde, Blumen und Heumahd, und Schwalben zogen ihre eleganten Flugbahnen vor der blauen Unendlichkeit. Mit einem zufriedenen Lächeln wandte Sophia sich an die Freunde, die neben ihr standen. »Es war schön, der Vergangenheit zu begegnen, aber jetzt sollten wir auch Zeit für die Gegenwart haben. Sind wir nicht eigentlich hergekommen, um uns zwei neugeborene Fohlen anzuschauen?«
»Dann kommt, unsere beiden Schönheiten sind wirklich eine Augenweide!«, sagte Elise von Raven stolz.
Gemeinsam gingen sie zu den Stallungen hinüber und waren schnell in angeregte Gespräche über Pferdezucht und Reiten vertieft. Dabei erzählten Sebastian und Emilia, dass sie in Kanada bei Freunden, die eine Farm bewirtschafteten, oft geritten waren. »Es ist lange her, dass ich geritten bin, aber ich würde es sehr gern wieder einmal tun«, warf Sophia ein.
»Warum denn nicht jetzt?«, fragte Elise. »Diejenigen, die Lust dazu haben, könnten einen Ausritt machen.«
»In dieser Kleidung?« Die Malerin wies auf das zarte Sommerkleid aus Baumwollbatist, das sie trug. »Wohl eher nicht.«
»Hm!« Toni musterte abschätzend Größe und Figur der zierlichen Sophia. »Wenn du magst, kannst du gern meine Reitkleidung haben, sie müsste dir passen.«
»Wenn du sie entbehren kannst, dann leihe ich sie mir gern aus«, antwortete die junge Frau. Ihre dunklen Augen blitzten unternehmungslustig. »Wer kommt denn alles mit?«
Nach einigem Hin und Her wegen fehlender oder nicht passender Stiefel und Reiterhelme blieben schließlich nur Sebastian, seine Tochter und Sophia übrig, die sich für einen Ausritt entschieden. Als Emilia bemerkte, dass weder Toni noch Markus mitkommen würden, blieb auch sie zurück. »Es ist toll, ohne Schulaufgaben oder Training oder irgendwelche anderen Aufgaben mit meinen Freunden zusammen zu sein«, sagte sie zu ihrem Vater. »Mal einfach nur quatschen und Musik hören zu können. Wir sehen uns dann später.« Mit wehender Haarmähne war sie auf und davon Richtung Garten, wo Toni und Markus auf sie warteten.
»Dann also nur wir beide«, stellte Sebastian fest. Er half Sophia beim Aufsitzen auf eine elegante Schimmelstute namens Sternsinger und bestieg dann den dunkelbraunen Wallach Deichgraf. »Bis nachher!«, verabschiedete er sich, und das Paar trabte über die Einfahrt hinaus ins Gelände.
Vor ihnen öffnete sich im Hintergrund das herrliche Alpenpanorama, und in ihrer Nähe lockten die sanft gewellten Hügel mit ihren blühenden Wiesen und Weiden. Die beiden Reiter blieben zunächst in der Nähe des Gutshauses, dann folgten sie in einem sandigen Reitweg, der in weitem Bogen durch den Wald wieder zurück zum Brunnenhof führte. Anfangs waren sie getrabt, auf dem breiten Reitweg sogar in Galopp gefallen, aber nun ritten sie gemächlich im Schritt nebeneinander her und unterhielten sich.
»Das Ende dieser Liebesgeschichte ist schon erstaunlich«, sagte Sebastian mit einem kleinen Auflachen. »Wer hätte gedacht, dass du ausgerechnet hierher kommst und deinen unbekannten Vorfahr aufspürst!«
»Ja, damit habe ich ganz und gar nicht gerechnet. Meine Familie wird überrascht sein, wenn ich ihnen die Lebensgeschichte des Mannes, der bisher immer nur Alberto war, erzählen kann.«
»Eine anrührende Liebesgeschichte – mit einem bitteren Ende«, sagte Sebastian nachdenklich.
Sophias Gesicht wurde hart. »Ist das nicht bei fast allen Liebesgeschichten so?«, fragte sie. »Bei dir hat der Tod ein Ende gesetzt, und bei mir …« Sie schwieg.
Der junge Arzt schwieg in seine eigenen Gedanken versunken. Erst nach einer ganzen Weile fragte er behutsam: »Ja? Und bei dir …?«
Sophia zuckte mit den Schultern. »Die alte Geschichte: Frau liebt Mann, Mann liebt Frau, am allermeisten aber sich selbst. Betrug, aus, Ende, vorbei.«
»Das klingt nach sehr viel Schmerz«, wagte Sebastian sich weiter vor. »Der Mann, den du geliebt hast, hat dich betrogen?«
Sophia lachte bitter auf. »Das kann man wohl so sagen!« Sie sah das Mitgefühl in den Augen des Mannes und wusste nicht, ob es ihr guttat oder ob es sie beschämte. »Lass uns von etwas anderem reden«, wich sie aus. »Der Tag ist so schön, und ich will ihn mir nicht durch Vergangenes verderben lassen. Das Leben geht weiter, und nicht alle Männer sind so mies wie dieser Roberto Alvarino! Du, zum Beispiel, bist das völlige Gegenteil. Dir würde ich keine Falschheit zutrauen, Dottore.«
»Na, das hoffe ich doch sehr!«, ging der Landdoktor auf ihren Tonfall ein. »Und von so netten Männern wie mich gibt es noch eine ganze Menge mehr.«
»Zum Beispiel diesen Orgelbauer«, hörte sie sich zu ihrem eigenen Erstaunen plötzlich sagen.
»Leander Florentin, magst du ihn?«, fragte Sebastian vorsichtig. Er war sich nicht sicher, wie Sophia reagieren würde, vielleicht war ihr diese Frage zu direkt?
Sie überraschte ihn. »Ich mag ihn sogar sehr! Er ist freundlich, einfühlsam, eine verwandte Seele. In seiner Musik lebt er so wie ich in meiner Malerei. Es könnte ganz einfach sein, aber manchmal weiß ich trotz aller Übereinstimmung nicht, woran ich bin.«
»Wie meinst du das?«
»Manchmal wirkt er so abwesend, und das überrascht mich. Vorgestern haben wir zusammengesessen, und Leander hat mir etwas sehr Persönliches und Schmerzhaftes aus seiner Vergangenheit erzählt. Wir sind uns sehr nahe gewesen.
Heute, als sich nach und nach meine Familiengeschichte zusammenfügte, da hätte ich mich über diese Nähe gefreut. Aber irgendwie stand Leander nur höflich und mäßig interessiert neben mir. Es schien nicht wichtig für ihn zu sein oder ihn in wirklich zu berühren.«
»Das tut mir leid«, antwortete Sebastian aufrichtig.
Sophia straffte ihre schmalen Schultern und reckte das Kinn in die Höhe. »Ist nicht so wichtig«, sagte sie betont munter. »Schließlich ist es nur eine uralte Liebesgeschichte, die schon lange keine Bedeutung mehr hat.«
»Die Geschichte deiner Vorfahren vielleicht nicht, aber was ist mit deiner Beziehung zu Leander?«, fragte der junge Landdoktor weiter.
»Keine Ahnung.« Die Künstlerin schaute stur geradeaus. »Außer, dass wir gemeinsam arbeiten, gibt es keine Beziehung zwischen uns.«
Das klang aber eben noch ganz anders!, dachte Sebastian, sagte aber weiter nichts dazu. Er ging auf Sophias Plaudern ein, die von ihrer Nonna Anna-Maria und deren bevorstehendem Geburtstag erzählte. Dabei erwähnte die junge Frau beiläufig, dass sie selbst wenige Tage vorher Geburtstag hatte.
»Oh, dann gibt es in deiner Heimat ja besonders viel zu feiern«, lächelte Sebastian. Dann schaute er sie von der Seite an. »Das heißt, dass du an deinem eigenen Geburtstag noch in Bergmoosbach bist? Wie willst du ihn denn hier feiern?«
»Gar nicht«, antwortete die junge Frau. »Es ist ja kein besonderer, und ich bin davon ausgegangen, ihn allein in meinem Hotelzimmer zu verbringen.«
»Jetzt wohnst du aber bei uns«, erinnerte sie Sebastian. »Und im Hause Seefeld wird immer Geburtstag gefeiert! Was, glaubst du, werden Traudel und Emilia zu deinen minimalistischen Plänen sagen?«
Sophia lachte. »Wahrscheinlich gäbe es Proteste.«
»Und dazu lassen wir es gar nicht erst kommen«, entschied Sebastian. »Du feierst bei uns!«
»Si, Dottore!« Die junge Frau salutierte scherzhaft. »Ärztlichen Anweisungen sollte man sich nicht widersetzen.«
»Das erkläre mal manchen meiner Patienten!«, seufzte der Landdoktor im Spaß.
Den Rest des Ausritts verbrachten sie mit der Planung von Sophias Geburtstagsfeier und viel Gelächter und kehrten in bester Stimmung auf den Brunnenhof zurück.
Dort hatte Anna die Zeit mit dem Bewundern der beiden unwiderstehlichen Fohlen Arthus und Aldebaran, netten Gesprächen mit ihren Gastgebern und traumverlorenen Faulenzen in der Hängematte unter den alten Apfelbäumen verbracht. Als sie Sebastian und Sophia energiegeladen und sich gegenseitig neckend vom Sattelplatz kommen sah, war sie schlagartig hellwach. Die beiden schienen sich blendend zu verstehen, so lebhaft hatte sie die Malerin bisher nicht erlebt.
Sebastians Worte gingen ihr durch den Kopf: dass er Sophia für ein schönes Kunstwerk hielt, aber dass sie nicht der Typ Frau ist, der sein Herz erreicht. Das müsse eine ganz andre Frau sein … Anna wusste, dass ihre Gedanken eigentlich kindisch waren, sie hatte kein Recht, irgendetwas von Sebastian zu erwarten. Aber was sollte sie gegen das Herzjagen tun, das sie befiel, wenn sie sein Lächeln sah?
»Hey, Anna Bergmann, wo bist du mit deinen Gedanken?« Seine scherzhaften Worte rissen die junge Hebamme aus ihren Gedanken. »Im Doktorhaus wird gefeiert, und du bist eingeladen.«
»Wie? Oh, schön!«, stammelte sie überrumpelt. »Danke.«
Der restliche Nachmittag verging damit, dass Sophia alle Anwesenden zu ihrer Geburtstagsfeier einlud und dass Pläne für das Fest geschmiedet wurden. Es würde eine Gartenparty mit italienischen und bayerischen Spezialitäten geben, man würde tanzen und einfach seinen Spaß haben können. Für Getränke und das Buffet sorgte Sophia, die Kuchen wurden zur Ehrensache für Traudel und Elise von Raven.
»Und den Geburtstagskuchen, den man morgens anschneiden muss, den übernehme ich!«, erklärte Emilia.
»Ich helfe bei der Deko«, versprach Toni. »Schließlich bist du so eine Art … ja, was denn eigentlich?« Hilfesuchend schaute sie in die Runde.
Unter Gelächter und teils ernsthaften, teils absurden Vorschlägen erforschte die Runde, welche Bezeichnung für die abenteuerliche verwandtschaftliche Beziehung korrekt war. Schließlich einigte man sich auf ›die italienische Cousine‹.
»Und was ist dein Beitrag zu Sophias Geburtstagsfeier?«, wandte Sebastian sich an Leander, der die ganze Zeit schweigend mit am Tisch gesessen hatte.
Ein sehr liebevolles Lächeln erwachte auf dem Gesicht, das eben noch in die Ferne geträumt zu haben schien. »Etwas … Besonderes«, antwortete er mit leuchtenden Augen.
»Hm!«, machte die praktische Traudel (die erfahrungsgemäß die meiste Arbeit haben würde). »Und was kann ich mir darunter vorstellen? Bringen Sie etwas für das Büffet mit?«
»Nein, es ist nichts zu essen«, antwortete Leander knapp, und dann war er mit seinen Gedanken auch schon wieder woanders.
Traudel begegnete Gertis Blick und verdrehte amüsiert die Augen, Künstler!, sagte sie wortlos.
*
Erst am Abend, als alle wieder zurück in Bergmoosbach waren, schien der Orgelbauer aus seiner höflichen Zurückhaltung zu erwachen. Er war mit in Sophias Auto gefahren, und als sie ihn am Hotel absetzen wollte, schüttelte er den Kopf. »Ich würde gerne noch eine Weile in meinem alten Landfahrerwagen mit dir zusammensitzen. Hast du Lust mitzukommen? Wir haben zwar schon den halben Tag miteinander verbracht, aber irgendwie habe ich das Gefühl, wir hatten gar nicht richtig Zeit füreinander.«
Woran das wohl liegt!, dachte Sophia säuerlich. Sie war enttäuscht von Leanders Verhalten, aber gleichzeitig freute sie sich auch über seine Worte. Es war spät geworden, die Abenddämmerung zog bereits herauf, lange würde sie nicht bei Leander bleiben. »Also gut, für eine Stunde komme ich noch mit zu dir«, entschied Sophia.
Wie an jenem anderen Abend setzten sich die beiden auf die Treppenstufen des Wagens und schauten dem Aufgehen der Sterne zu. Jetzt war nichts Träumerisch-Distanziertes in Leanders Verhalten. Sophia fühlte sich ihm wieder sehr nahe und sie wusste, dass es ihm ebenso ging.
»Ich weiß noch so wenig von dir, Sophia Corelli«, sagte Leander sanft. »Ich möchte mehr von dir kennenlernen. Du bist so schön, aber seitdem ich dich zum ersten Mal gesehen habe, frage ich mich, was unter deiner Vollkommenheit liegt. Trägst du einen großen Schmerz in dir?«
Seine behutsame und zugleich sehr direkte Art nahm Sophia den Atem. Niemals war sie das gefragt worden, und noch nie hatte sie von sich aus darüber gesprochen. Bis jetzt.
»Ja, da gibt es etwas«, begann sie tastend. Leanders Arme legten sich um sie, er zog sie behutsam an sich, und es fühlte sich an wie Heimkommen. Sophia begann, von Roberto Alvarino zu erzählen, dem italienischen Künstler, mit dem sie mehrere Jahre zusammengelebt hatte. Es war eine leidenschaftliche, laute Liebe gewesen, die bestimmt wurde von Robertos Temperament, seinen Launen und seinem brennenden Verlangen nach Erfolg. Sie vereinten sich als Paar und als Künstler und erlebten anstrengende, erfüllte, leidenschaftliche und von Erfolg gekrönte Jahre.
Bis Sophia begann, mit ihrer Kunst Robertino zu überflügeln. Sie entwickelte einen eigenen Stil, der sich mehr und mehr von seinem unterschied, und sie war erfolgreich. Roberto wurde eifersüchtig, machte ihr heftige Szenen und warf ihr vor, ihre Gemeinsamkeit zu verraten. Sophia war mehr und mehr von seinen Auftritten erschöpft; sie brauchte ihre Kräfte fürs Malen und wollte sich nicht in sinnlosen Streitereien verzetteln. Sie malte zwar weiter, aber sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück.
Dann sollte es eine große Ausstellung mit neuen Werken Robertos geben. Er lebte wie im Rausch und redete nur von dem Tag, an dem er den ganz großen Erfolg haben würde. Sophia gönnte ihm seine Leidenschaft und seine Exzentrik, aber ihr selbst wurde der ganze Rummel zuviel. Deshalb fuhr sie in ein einsames Bergdorf, mietete eine einfache Unterkunft und genoss zwei Wochen Ruhe vor der großen Ausstellungseröffnung in Mailand.
Sophia hatte ruhig und beherrscht erzählt, aber jetzt stahl sich kalte Wut in ihre Stimme, als sie weitersprach. »Ich kam also nach Hause und freute mich auf Robertos großen Tag. Unser Haus war leer, aber damit hatte ich gerechnet, ich würde Roberto wie verabredet am nächsten Tag in Mailand treffen.
Ich dachte, ich hätte noch ein paar ruhige Stunden vor all dem Trubel, aber als ich in mein Atelier kam, traf mich fast der Schlag: es war so gut wie leer. Alle guten Bilder, die ich in den letzten Jahren gemalt hatte, waren verschwunden! Ich dachte zuerst an einen Dieb, aber es gab keine Spuren eines Einbruchs. Ich war völlig außer mir und rief sofort Roberto an.
Er versuchte, mich zu beruhigen und sagte, den Bildern sei nichts passiert, sie wären in Mailand.
›Wieso in Mailand?‹, rief ich völlig konfus.
›Nun, sie warten in der Galerie auf die Ausstellungseröffnung‹, sagte Roberto ganz ruhig.
›Was? Meine Bilder?‹
›Nein, meine!‹
Ich verstand gar nichts mehr. ›Rühr dich nicht von der Stelle! Ich komme, so schnell ich kann!‹, schrie ich.
Wie eine Irre bin ich nach Mailand gerast, ein Wunder, dass nichts passiert ist! Ich stürmte in die Galerie und dann begann ich zu verstehen.
Hier hingen meine Bilder, in einer angesagten, teuren Galerie, professionell ausgeleuchtet und in Szene gesetzt. Es war ein Anblick, von dem ich lange geträumt hatte. Allerdings war dieser Traum zu einem Albtraum geworden, denn jedes einzelne meiner Bilder – trug Roberto Alvarinos Signatur! Seine Fälschung war handwerklich perfekt, man sah nicht, dass unter seinem Namen ein anderer gestanden hatte.«
»Sophia!« Leanders Stimme zitterte vor Empörung. »Wie kann …, wie kann er so etwas tun? Das ist einfach unfassbar!«
»Ja«, sagte sie schlicht. »Und das Schlimmste ist: er ist damit durchgekommen. Man feierte und lobte den ›neuen Alvarino‹ in den höchsten Tönen, er hat meine Bilder für sehr viel Geld verkauft.«
»Aber …, aber das gibt’s doch gar nicht!« Leander war noch immer fassungslos. »Du hast ihn nicht verklagt? Sein Betrug hätte sich doch bestimmt nachweisen lassen können!«
»Dazu hatte ich keine Kraft«, erwiderte Sophia. »Der Betrug hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Diese Gemeinheit zu beweisen, wäre ein langer und beschwerlicher Weg gewesen. Du kennst die Kunstszene: man hätte sich gierig auf diesen Skandal gestürzt, und es wäre sehr viel Hässliches geschrieben worden, dem wollte ich mich zu allem anderen nicht aussetzen.«
»Stattdessen hast du still gehalten«, sagte Leander ernst. Er schaute nachdenklich vor sich hin, dann legte er seine Hand unter ihr Kinn und hob sanft ihr Gesicht zu sich empor. »Ich glaube, ich hätte genau dasselbe getan.«
Sophias dunkle Augen glänzten von ungeweinten Tränen und vor Glück, in Leander eine verwandte Seele getroffen zu haben. »Ja, das glaube ich auch«, antwortete sie leise.
Ihr Schweigen war erfüllt von Freundschaft und vielleicht auch etwas anderem, und in dieser Stunde war alles war gut.
*
Die nächste Zeit verging wie im Flug.
Die Arbeiten in der Kirche gingen gut voran; das Wandgemälde trat immer deutlicher zu Tage, und die Orgel gewann ihre alte Klangfülle zurück. In ihrer freien Zeit traf Sophia sich häufig mit den von Ravens, und es wurde viel aus der Familiengeschichte erzählt. Im Stillen wünschte Sophia sich mehr dieser ruhigen, vertrauten Abende mit Leander oder dass er sie zu den Besuchen auf Gut Brunnenhof begleiten würde. Aber Leander schien sehr mit sich selbst und seinen Dingen beschäftigt zu sein. Bis weit nach Mitternacht brannte in seinem Wagen das Licht, und oft trug sein Gesicht diesen leicht abwesenden Ausdruck, der Sophia bei ihrem ersten Besuch auf dem Gestüt aufgefallen war. Sie hoffte auf ihre Geburtstagsparty, die sie mit fast vergessener Lebensfreude und Temperament vorbereitete. Vielleicht würde Leander dann wieder mehr aus sich herausgehen. Er hatte gesagt, dass er etwas Besonderes mitbringen wolle und Sophia konnte nicht verhindern, dass in ihr eine geradezu kindliche Vorfreude auf dieses geheimnisvolle Etwas wuchs.
Leander komponierte in jeder freien Minute an seinem Lied für Sophia. So viele Ideen und Ansätze erklangen in seinem Kopf, die er verwarf, weil sie noch nicht seinen Vorstellungen entsprachen. Er arbeitete mit Hochdruck an seinem Werk, denn es sollte zu ihrem Geburtstag auf ihrem Tisch liegen, und es sollte perfekt sein.
Und es wurde perfekt! Am Tag vor dem Geburtstag war er fertig, seine Komposition stand auf dem Notenpapier und brachte das Leben der jungen Frau zum Klingen. Leanders Musik erzählte von dem Baby, das im Körbchen lag und Licht und Farben entdeckte, sie begleitete Sophia auf ihrem weiteren Lebensweg, sie erzählte von Schönem, Schwerem und von Einsamkeit. Leidenschaftliche Liebe kam darin vor und Schmerz, schrille Dissonanzen erzählten von Verrat und Betrug. Sein Werk endete in einer sanften Harmonie, die letzte Tonfolge erklang als wortlos gesprochener Satz.
Das Lied sagte: das alles bist du, Sophia. Du bist wundervoll, und ich liebe dich!
Leander betrachtete die Papiere, auf denen seine Noten von Sophias Leben und zugleich von seiner tiefen Liebe zu ihr erzählten. Sie würde es verstehen, das wusste er. Sie würde verstehen und mit ihrer Liebe antworten.
Behutsam rollte er die Notenblätter ein und wand ein edles, weiß-goldenes Band um die Rolle. Der Mann wollte, dass sein Geschenk das allererste war, das Sophia am Geburtstagsmorgen erhielt, eine Überraschung, mit der sie nicht gerechnet hatte.
Deshalb machte er sich in den frühen Morgenstunden, als in Bergmoosbach die meisten Fensterläden noch geschlossen waren, auf den Weg zum Doktorhaus. Äußerst leise und vorsichtig betrat er den Garten. Er wusste, dass Sophias Fenster auf die Terrasse hinausging, und hoffte inständig, dass sie noch schlafen möge. Das Fenster war geöffnet, die weißen Vorhänge waren geschlossen. Nichts rührte sich.
In dem Blumengeschäft, bei dem er Sophias opulenten Blumenstrauß bestellt hatte, hatte er auch zwei zarte Girlanden aus Buchsbaum, Efeu, Schleierkraut und Moosröschen in Auftrag gegeben. Leander wusste, wo am Tisch Sophia ihren Lieblingsplatz hatte. An diesem Stuhl befestigte er die eine Girlande, die andere platzierte er davor auf dem Tisch. Dorthin legte er auch die Rolle mit den Notenpapieren. Mit kritischem Blick überprüfte er noch einmal das Schleifenband, das sein Geschenk umschloss. Ja, es sah perfekt aus.
Leander warf noch einen sehnsüchtigen Blick zu dem stillen Fenster im Obergeschoss des Hauses hinauf, dann ging er ebenso leise, wie er gekommen war. Sophias Ehrentag würde mit seiner Liebesgabe beginnen, und der Abend wäre der Auftakt ihrer gemeinsamen Geschichte. Erfüllt von Glück und prickelnder Vorfreude ging Leander hinüber in die Kirche und setzte seine Arbeit an der Orgel fort.
Der junge Künstler hatte seine liebevolle Überraschung für Sophia genau geplant: er hatte die Wettervorhersage verfolgt, ob Regen oder Wind, der das Notenpapier hätte davontragen können, zu erwarten waren. Er hatte überlegt, was er tun sollte, falls Nolan den Eindringling verbellen würde. Was er sagen würde, wenn jemand aus der Familie Frühaufsteher wäre und draußen bei seinem ersten Kaffee säße.
Womit Leander überhaupt nicht gerechnet hatte, war das Auftauchen von Aloysius, dem Kater der Kioskbesitzerin Afra. Aloysius war flink, unternehmungslustig und mindestens ebenso neugierig wie sein Frauchen. Ein Abstecher in den Garten des Doktorhauses war der Schlusspunkt seiner nächtlichen Streifzüge. Wenn er Glück hatte, war Traudel schon auf den Beinen, und es gab ein paar Streicheleinheiten und freundliche Worte, meistens auch einen kleinen Leckerbissen. Heute waren die Türen noch geschlossen, aber etwas lag auf dem Terrassentisch und bewegte sich ganz leicht im Wind. Zwei weiß-goldene Bänder hingen über der Tischkante und schaukelten vor und zurück – ein unwiderstehliches Signal an Aloysius‘ Jagdinstinkt!
Ein Satz, ein Hieb mit der Pfote – und zack, lag Sophias Lied auf dem Boden. Aloysius war begeistert, so ein schönes Spielzeug! Er schubste das Papier hin und her, seine Krallen rissen Fäden aus dem Schleifenband, und die leichte Beute flog über den abschüssigen Rasen. Der muntere Kater verfolgte das verlockende Flatterding bis weit unter die Rhododendronhecke, er verpasste ihm noch einige spielerische Pfotenhiebe und spazierte dann zufrieden über die benachbarten Grundstücke nach Hause.
Wenig später zog Sophia die Vorhänge zurück und schaute aus dem Fenster. Strahlender Sonnenschein lag über den Häusern und Gärten, den Wäldern und dem Sternwolkensee, der in der Ferne glitzerte. Schwalben schossen an ihrem Fenster vorbei, und im Weinlaub lärmten die Spatzen. Was für ein fröhliches Geburtstagslied!, dachte Sophia glücklich. Dann fiel ihr Blick auf die Terrasse mit dem umkränzten Ehrenplatz, und sie lachte entzückt. Noch nie hatte sie ein so schön und liebevoll gestalteter Tisch an ihrem Geburtstagsmorgen erwartet.
Dass etwas ganz Entscheidendes, das Herzstück dieser Überraschung, fehlte, ahnte sie nicht.
Unten öffneten sich die Terrassentüren, und Emilias helle Stimme klang zu ihr herauf. »Ich freu mich so, dass der Kuchen was geworden ist! Oft wird er doch gerade dann schief oder klebt an der Form fest, wenn man es besonders gut machen will. Warum ist das eigentlich so?«
»Pure Gemeinheit«, antwortete Traudel mit einem Augenzwinkern. »Aber dieser hier ist dir doch richtig gut gelungen.«
Von oben sah Sophia, wie ein klassischer Gugelhupf mit Puderzucker auf den Tisch gestellt wurde. Er war von Buchsbaumzweiglein umkränzt, und in seiner Mitte wartete eine weiße Kerze aufs Anzünden. Die junge Frau war von der Mühe, die sich ihre Gastfamilie mit der Gestaltung ihres Geburtstages gemacht hatte, gerührt. Diese Aufmerksamkeit hatte sie weder als Mädchen in einer kinderreichen Familie noch später im Erwachsenenleben erfahren. Sie beeilte sich mit Duschen und Ankleiden und lief dann beschwingt hinunter zu ihren Freunden.
Sophia wurde liebevoll begrüßt und mit guten Wünschen und Geschenken bedacht. Sprachlos machte sie der Umschlag, den Sebastian ihr überreichte. Er hatte ihr Karten für eine Ausstellung der großen Impressionisten in Salzburg geschenkt und anschließend ein Dinner in einem Sternerestaurant. Sophia fiel dem jungen Arzt spontan um den Hals. »Danke, Sebastian, das ist einfach fantastisch, ich habe mir sehr gewünscht, in diese Ausstellung zu gehen! Und dann noch in einem so edlen Lokal essen zu können – du verwöhnst mich wirklich sehr!« Ihr Blick umfasste die Familie, den hübsch gedeckten Tisch, und sie fuhr fort: »Ihr alle verwöhnt mich mit eurer liebevollen Art, vielen Dank! Allein diese hübsche Idee, meinen Platz mit Blumen zu schmücken, ist so süß.«
»Da müssen wir dich leider enttäuschen«, antwortete Sebastian. »Diese gute Idee hatte jemand anderes. Als wir heute Morgen aufgestanden sind und den Frühstückstisch decken wollten, war der Blumenschmuck schon hier.«
»Wirklich? Und ihr habt keine Ahnung, wer ihn angebracht haben könnte?«, erkundigte sich Sophia erstaunt.
»Nein, wir haben keine Ahnung, und der gute Nolan hat keinen Mucks von sich gegeben«, sagte Benedikt Seefeld und zauste dem jungen Hund liebevoll das Fell. »Dabei sollte er doch eigentlich Haus und Hof bewachen.«
»Kann er noch nicht, dazu ist er noch zu jung!«, verteidigte Emilia prompt ihren geliebten Hund. »Außerdem hat er in meinem Zimmer geschlafen, und dessen Fenster gehen zur anderen Seite raus, also konnte er es nicht hören.«
»Vielleicht hat er es gehört und nicht gebellt, weil er die Person kannte?«, sagte Traudel nachdenklich.
»Klingt spannend!« Emilias Augen blitzten. »Hast du einen heimlichen Verehrer, Sophia?«
»Nicht wirklich«, antwortete die junge Frau. »Außer euch und der Familie von Raven kenne ich hier doch kaum jemanden.«
»Dafür kennt dich das halbe Dorf und nimmt regen Anteil an deinem Leben«, lachte Sebastian. »Vielleicht ist der Unbekannte heute Abend auf deiner Party?«
Sophia zuckte mit den Schultern. »Ich lass mich überraschen.«
Der Tag verging rasch mit Vorbereitungen. Traudel und Sophia teilten sich die Küche, und es entstanden ein köstlicher Zwiebelrostbraten, raffinierte Antipasti, Käseplatten mit bayerischen und italienischen Spezialitäten, selbst gebackene Brote, Tiramisu und Bayerische Crème mit Himbeersauce.
Nach der Schule wuselten Emilia und Freundin Toni eifrig durch Haus und Garten, um für Sitzgelegenheiten, Deko und Musik zu sorgen. Im Handumdrehen wurde es Abend, und die ersten Gäste klingelten.
»Liebe italienische Cousine, du siehst hinreißend aus!«, sagte Leopold von Raven charmant.
»Ich bin ganz deiner Meinung, Schatz«, stimmte seine Frau ihm zu.
Sophia trug ein schlichtes, schwarzes Leinenkleid mit einem spektakulären Rückenausschnitt und als einzigen Schmuck die zarte Goldkette mit dem alten Medaillon. Ihre silbrigen Haare hatte sie hochgesteckt, was die feine Linie ihres Nackens und Rückens hervorhob. Bewegt schaute sie das Geschenk der Familie an. Ihre neuen Verwandten hatten ein geschmackvolles Album mit dem abfotografierten Bild des älteren Albert von Raven und Fotos des Brunnenhofes und der jetzigen Bewohner zusammengestellt.
»Meine Familie wird sich freuen, von euch zu erfahren und die Bilder anzusehen. Und besonders schön werden sie es finden, jetzt ein Bild von Francesca zu besitzen«, sagte Sophia. Sie strich mit der Hand über das Bild ihrer Ur-Ur-Großmutter. Leopold von Raven hatte das Gemälde der jungen Frau abfotografieren, vergrößern und ebenso rahmen lassen wie das Original, das auf dem Gestüt Brunnenhof hing.
»Wie heißen eigentlich alle Vorfahrinnen zwischen deiner Ur-Ur-Großmutter und dir?«, erkundigte sich Emilia, die selbst einen italienischen Vornamen trug, interessiert.
»Francesca, Angelina, Anna-Maria und Rosa, das ist meine Mama«, antwortete Sophia. »Und wie kommst du als Kind einer Kanadierin und eines Deutschen zu deinem italienischen Namen?«
Das hat mit unserer Hochzeitsreise nach Italien zu tun, dachte Sebastian Seefeld, aber dieses zärtliche und intime Wissen behalte ich für mich. »Aus keinem besonderen Grund«, antwortete er lächelnd. »Uns hat der Name einfach gefallen.«
Jetzt winkten Gerti und ihre Schwester Sieglinde von der geöffneten Terrassentür, und Sophia ging zu den beiden Frauen hinüber. Sie hatte gerade ihr Sektglas mit dem Begrüßungstrunk wieder abgestellt, als sie den einen Gast sah, auf den sie unbewusst gewartet hatte.
»Leander!« Strahlend ging sie auf ihn zu.
»Guten Abend, Sophia«, antwortete er mit belegter Stimme. Sein Herz raste und er hatte Mühe, das leichte Zittern seiner Hände unter Kontrolle zu halten. Wie wunderschön und begehrenswert Sophia aussah, und wie strahlend sie ihn ansah! Sie kam mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, so wie er es sich beim Schreiben des Liedes immer vorgestellt hatte. Sein ganzes Herz lag in seinem Blick, als er sie anschaute und seine Glückwünsche überbrachte.
»Leander!« Gerührt schaute die Künstlerin auf den großen Blumenstrauß, den der Mann ihr überreichte. »Was für eine liebevolle und ausgefallene Überraschung. Dass du dir das gemerkt hast!«
Auf den ersten Blick hatte sie den Strauß wiedererkannt: bis ins kleinste Detail war er dem Gemälde eines dänischen Blumenmalers des frühen neunzehnten Jahrhunderts nachgebildet. Sophia hatte Leander das Bild in einem Kunstband gezeigt und erzählt, wie wunderschön sie es fand. Der Orgelbauer hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um dieses Bild für sie lebendig werden zu lassen.
»Wie lieb von dir, ich freue mich so sehr darüber.« Sophia stellte sich auf die Zehenspitzen und streifte seine Wange mit einem Kuss. »Du bist wundervoll!«
Leander legte seinen Arm um sie und atmete den Duft ihrer Haut und ihres Parfums. Sophia, konnte er immer nur denken, Sophia …
Langsam hob die junge Frau ihren Blick von dem traumhaften Bouquet in ihrer Hand, und sie schaute ihn zärtlich lächelnd an. »Heute am sehr frühen Morgen ist ein geheimnisvoller Unbekannter auf die Terrasse gekommen und hat meinen Platz geschmückt. Das bist du gewesen, nicht wahr?«
»Ja, Sophia, das kam von mir.«
Ihr Arm flog um seinen Hals, und für einen flüchtigen, kostbaren Augenblick legte sie ihr Gesicht gegen seines. »Das war eine wunderschöne Idee, ich danke dir! Noch nie hat ein Geburtstag so begonnen. Du bist ein wirklich bemerkenswerter Mann, Leander Florentin!«
Und wie hat dir das Lied für Sophia gefallen?, wollte er sie gerade fragen, da löste sie sich von ihm und schaute sich suchend um. »Emilia? Sieh dir diesen traumhaften Blumenstrauß an! Wo finde ich bei euch denn eine Vase, die groß genug dafür ist?«
»Komm mit, ich zeig’s dir.« Bewundernd schaute das Mädchen das Gebinde an. »Es sieht wirklich toll aus, so einen habe ich noch nie gesehen, außer …«, sie runzelte nachdenklich die Stirn, »außer in diesem Buch von Mama, in dem es um dänische Blumenmaler geht.«
Sophia lachte übermütig auf und hakte sich bei Emilia ein. »Kluges Kind! Es ist bis zur letzten Blüte genauso ein Strauß aus dieser alten Zeit.«
»Krass! Den gleichen Strauß gibt’s als altes Gemälde? Das hätte Mama auch gefallen!«, sagte sie freudig und zog Sophia mit sich Richtung Geschirrkammer, in der auch die Vasen standen.
Mühsam schluckte Leander seine Enttäuschung hinunter. Sein sehnsüchtiger Blick folgte der jungen Frau, die sich gut gelaunt zwischen ihren Gästen bewegte. So gesprächig und ausgelassen kannte er die junge Frau gar nicht, und Eifersucht stieg in ihm auf. Bei der gemeinsamen Arbeit (war sie überhaupt gemeinsam?, fragte er sich plötzlich) blieb die Künstlerin still und in sich gekehrt; auch wenn sie sich abends getroffen hatten, wirkte Sophia nicht so unbeschwert wie jetzt. Sie alberte mit den Kindern der Familie von Raven herum, tanzte mit dem ältesten Sohn Ferdinand ebenso ausgelassen wie mit dem jüngsten, dem neunjährigen Dominik. Sie stand Arm in Arm mit Traudel vor dem herrlichen Buffet und regierte mit einem fröhlichen Lachen auf die Komplimente für das Essen, das die beiden Frauen geschaffen hatten. Als Emilia mit einer glitzernden Tiara auftauchte und meinte, die müsse das Geburtstagskind unbedingt tragen, setzte Sophia den billigen Modeschmuck glücklich lachend in ihre Haare, und es war ihr völlig egal, dass sie damit ihre perfekte Frisur in Unordnung brachte.
»Die Party scheint ihr zu gefallen«, sagte Sebastian zufrieden.
Leander musterte den anderen Mann, der jetzt neben ihm stand, mit einem unergründlichen Blick. »Ja, sie amüsiert sich wirklich gut.«
»Und du? Fühlst du dich auch wohl bei uns?«
»Und wie!« Leander versuchte, Ironie und Bitterkeit nicht zu deutlich zu zeigen, aber es war ihm nicht gut gelungen.
Sebastian hatte den scharfen Unterton gehört. »Leander, ist alles in Ordnung?«, fragte er leise.
»Aber sicher! Was soll denn nicht in Ordnung sein?« Betont lässig hob der Orgelbauer sein Glas und ließ es gegen Sebastians klingen. »Auf eure schöne Party!« Er lächelte.
Vielleicht habe ich mich geirrt, dachte Sebastian. »Komm doch mit zu Vater hinüber, er brennt darauf, sich mit dir über den Orgelbau zu unterhalten«, sagte er und zog den anderen Mann mit sich.
Den ganzen Abend über hatte Leander mit seiner Enttäuschung zu kämpfen. Nichts war so gekommen, wie er es sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte. Sophia war bezaubernd, und sie schien seine Nähe zu genießen, aber sie sagte kein einziges Wort über seine Komposition. Ihre freundliche Aufmerksamkeit galt auch nicht ihm im Besonderen, sondern seine Angebetete schien sich in Gesellschaft aller wohl zu fühlen.
Leander sah sie drüben im Wintergarten stehen, wo Benedikt Seefeld ihr ein Cocktailglas reichte. Ihre Augen lachten, und sie hatte schwesterlich (oder mütterlich?) den Arm um Emilia gelegt. »Ihr ahnt ja gar nicht, wie sehr ich mich über euer Geschenk freue!«, hörte Leander sie sagen. »Diese Ausstellung ist wirklich ganz besonders, und ich kann das Wochenende mit Sebastian in Salzburg kaum erwarten.«
Natürlich – Sebastian. So freundlich und verständnisvoll, überaus gutaussehend und mit einer großen Liebe zur Malerei. Und das Schicksal hatte ihm eine schwere Bürde aufgeladen.
Sophia an seiner Seite –, war es das, was die Seefelds zu sehen begannen?
Leander setzte abrupt sein Glas ab. Das musste er sich nicht weiter mit anschauen! »Ich möchte die Feier nicht mit einer Verabschiedungsrunde stören, aber ich muss jetzt los«, sagte er zu Traudel. »Danke für die Einladung. Richten Sie bitte Sophia meine Grüße aus. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Leander«, sagte Traudel überrumpelt. Verwundert schaute sie dem Mann hinterher. Was mochte der Grund für seinen plötzlichen Aufbruch gewesen sein? Einen Moment noch machte sie sich darüber Gedanken, aber dann bat Benedikt sie zum Tanzen und nichts anderes war mehr wichtig.
»Eigenartig, dass Leander so sang- und klanglos verschwunden ist«, sagte Sophia später, als sie gemeinsam mit der Familie die Küche aufräumte. »Er hat mir nicht einmal auf Wiedersehen gesagt.«
»Bist du enttäuscht deswegen?«, fragte Sebastian.
»Ein wenig schon«, gestand die junge Frau. »Wir hatten …, es gab Momente, da dachte ich, wir stehen uns besonders nahe.«
»Mach dir nicht zu viele Gedanken deswegen.« Benedikt legte väterlich seinen Arm um ihre Schultern. »Vielleicht war es ihm einfach nur zu laut und umtriebig hier. Er scheint mir eine empfindsame Künstlerseele zu sein, jemand, der die Zurückgezogenheit schätzt.«
»Da hast du wohl recht. Auf jeden Fall war es ein wunderschöner Tag, den ich mir nicht durch dunkle Gedanken trüben lassen will!«, antwortete Sophia entschieden. Was immer es auch gewesen sein mochte, was Leander zu seinem frühen Aufbruch getrieben hatte, ihr blieben sein wunderbarer Einfall mit den Blumen und die Mühe, die er sich gemacht hatte, heimlich ihren Platz zu schmücken. Also konnte sie dem Mann nicht gleichgültig sein, und dieser Gedanke erfüllte Sophia mit einem prickelnden Glücksgefühl.
*
Die Arbeiten an der Kirche in Bergmoosbach waren fast abgeschlossen. Leander trug schwer an der Enttäuschung, dass Sophia seine Komposition mit keinem Wort erwähnte, und sein Stolz hielt ihn davon ab nachzufragen. Wie hätte er damit leben sollen, wenn die junge Frau seine Liebe direkt zurückwies? Ihre indirekte Antwort, ihr Schweigen war schon schlimm genug für ihn.
Dazu kam das Wissen um das Wochenende, das Sophia mit Sebastian in Salzburg verbrachte. Obwohl der Orgelbauer versuchte, sich abzulenken und nicht andauernd an das Paar zu denken, ging seine Fantasie mit ihm durch. Sophia, beeindruckt von der Ausstellung, in Fachgespräche mit Sebastian vertieft. Sophia, Hand in Hand mit ihm beim Bummeln durch alte Gassen. Die elegante Sophie beim Diner im Sternerestaurant, ihr gegenüber der weltgewandte, charmante Doktor Seefeld. Sophia und Sebastian im Hotel, hingebungsvoll und leidenschaftlich … Leanders Kopfkino versorgte ihn mit äußerst lebendigen und äußerst störenden Bildern.
Am Montag nach diesem Wochenende war er ein Wrack.
Er hatte nicht geschlafen, kaum etwas gegessen und hätte aus der Haut fahren können! Sophia hatte eine Woche Urlaub genommen und war nur zu einer kurzen Stippvisite auf die Orgelempore gekommen, um sich von ihm zu verabschieden, sie war bereits beim Packen für den Besuch bei ihrer Großmutter in der Toskana. Aber so viel Zeit, um ausgiebig von der Fahrt nach Salzburg zu schwärmen, hatte sie!
»Ich kann dir gar nicht in allen Einzelheiten beschreiben, wie schön es tatsächlich gewesen ist«, schloss sie ihre begeisterte Erzählung. »Es war toll mit Sebastian! Er weiß so viel, sowohl über Salzburg, als auch über die impressionistische Malerei, wir haben uns so gut verstanden.«
»Das ist ja schön«, antwortete Leander erschöpft.
»Ich muss jetzt meine Sachen packen und mich auf den Weg nach München zum Flughafen machen.« Plötzlich lagen Sophias Arme um seinen Hals, und ihre Lippen streiften den Winkel seines Mundes. »Auf Wiedersehen, Leander.«
»Wiedersehen«, murmelte er, ohne die Umarmung oder den Kuss zu erwidern.
Sophias leichter Schritt verhallte auf der Treppe der Empore, und Leander blieb allein zurück.
Wenn sie aus der Toskana zurückkommt, bin ich weg, dachte er. Morgen bin ich mit meiner Arbeit fertig, und dann reise ich ab. Adieu, Sophia!
Mechanisch verrichtete er seine Arbeit, die sonst seine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatte. Irgendwann fiel ihm auf, dass es Mittagszeit war, und dass er großen Hunger hatte. Müde ging Leander in den Biergarten der Brauerei Schwartz hinüber und ließ sich auf einen freien Platz fallen. Er fühlte sich einsam unter den anderen Gästen, aber eigentlich war es ihm egal. Stumpfsinnig wartete er darauf, dass sein Essen serviert wurde, und leerte erst einmal eine Maß Bier. Und zum Essen eine zweite.
Leander war ein Mensch, der wenig Alkohol trank und wenn, dann mäßig. Deshalb hatte das Bier, das er schnell auf nüchternen Magen getrunken hatte, eine ziemliche Wirkung auf ihn, die von der zweiten Maß noch erheblich verstärkt wurde. Nur so konnte er sich im Nachhinein sein Verhalten erklären, das zu dieser peinlichen Auseinandersetzung mit Sebastian führte …
Der Landdoktor war von seinen Hausbesuchen gekommen, die ihn müde, hungrig und vor allem durstig gemacht hatten. Er wusste, dass ihn heute zu Hause niemand erwartete, seine Familie war ausgeflogen, also ging er hinüber in den Biergarten. Er sah den Orgelbauer alleine, an einem Tisch sitzen und ging zu ihm hinüber. »Hallo, Leander, was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?«, fragte er freundlich.
»Mhm«, kam die gebrummelte Antwort.
Sebastian setzte sich gemütlich zurecht, streckte entspannt die Beine von sich und leerte seine große Apfelschorle in einem Zug. »Das tat gut!«, sagte er zufrieden.
»Ja? Auch wenn es kein französischer Champagner war?«, fragte Leander.
»Champagner?« Überrascht lachte Sebastian auf. »Wie kommst du denn jetzt darauf?«
»Na, das Sternerestaurant in Salzburg. Habt ihr da keinen Schampus getrunken?«
»Wie bitte?« Perplex schaute der Landdoktor sein Gegenüber an. »Wie kommst du auf die Idee, ich hätte Champagner getrunken?«
»Macht man das denn nicht, wenn man mit einer tollen Frau ausgeht und sie beeindrucken will?«, sagte Leander dümmlich.
Erstaunt musterte Sebastian den Orgelbauer, der gereizt zurück starrte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, das war nicht der freundliche, zurückhaltende Leander Florentin! Der Arzt fasste den anderen Mann genau ins Auge. »Leander, was ist los?«
»Gar nichts!«, kam die scharfe Antwort. »Alles bestens! Zumindest für dich, nicht wahr, mein alter Freund? Hattest ein tolles Wochenende mit einer tollen Frau. Ist ja auch ganz einfach für dich, du Frauenversteher! Man fühlt sich ja so wohl in deiner Gesellschaft! Dafür kennst du eine Menge Tricks, stimmt’s? Sag doch mal, Doktor Seefeld, gehört es auch in deine Trickkiste, dass du anderen ihre Überraschung stiehlst?« Leander war während seiner Anfeindung immer lauter geworden, und Sebastian bemerkte voller Unbehagen, dass man an den Nebentischen bereits aufmerksam zuhörte.
»Leander, ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst!«, erwiderte er ernst.
»Ach, nee!« Der Orgelbauer grinste gefährlich. »Was lag denn an Sophias Geburtstag morgens auf dem Gartentisch, nachdem ich es dort deponiert hatte, hm? Und was sie dann offensichtlich nicht gefunden hat! Zuerst hab ich gedacht, es hat ihr nichts bedeutet, aber was, wenn ich falsch gedacht habe? Wenn sie das Lied überhaupt nicht bekommen hat, weil du es vorher weggeschafft hast?«
»Von welchem Lied sprichst du?«, fragte Sebastian irritiert. Er war sich des Schweigens an den Nachbartischen peinlich bewusst und wäre am liebsten im Erdboden verschwunden.
»Von meiner Komposition, die du unterschlagen hast! Ich habe sie selbst auf Sophias Platz gelegt!«
»Ich habe nichts unterschlagen, und außer der Blumengirlande lag nichts auf dem Tisch!«, antwortete Sebastian fest. Ihm war klar, dass Leander nicht nur grundlos eifersüchtig, sondern obendrein auch betrunken war. Er stand auf und legte dem anderen Mann die Hand auf den Arm. »Komm jetzt mit, Leander. Ich glaube, es ist besser, wenn ich dich ins Hotel bringe.«
»Fass mich nicht an!« Der Orgelbauer sprang auf und riss mit einem heftigen Ruck seinen Arm aus dem Griff des Arztes. Dabei wandte er viel zu viel Kraft auf, außerdem stand er unsicher auf den Füßen – er stolperte gegen den Tisch, griff reflexartig nach Halt und landete samt karierter Tischdecke und einem Teil des Geschirrs auf dem Kiesboden!
Sebastian Seefeld atmete einmal tief ein und wieder aus. Na, bravo, dachte er, das Dorf hat Gesprächsstoff für die nächsten zwanzig Jahre! Er kniete sich neben Leander auf den Boden und streckte seine Hand aus. »Alles in Ordnung? Hast du dich verletzt?«
»Wie? Nein, ich glaube nicht«, stammelte Leander, den der Schock seiner unsanften Landung wieder zur Besinnung gebracht hatte. »Was tue ich hier unten?«
Sebastian unterdrückte einen Seufzer. »Ist ‘ne längere Geschichte. Jetzt komm erst einmal hoch, wir reden woanders weiter.«
Während Leander sich aus dem von ihm verursachten Chaos aufrappelte, regelte Doktor Seefeld den Schaden mit der Kellnerin, griff nach dem Arm seines Freundes und bugsierte ihn unter reger Anteilnahme der anderen Gäste aus dem Biergarten hinaus und hinüber ins Doktorhaus. Dort drückte er ihn in einen bequemen Terrassenstuhl, reichte ihm eine kalte Wasserflasche und sagte: »So! Und nun bitte die ganze Geschichte!«
Und Leander Florentin packte aus: er erzählte von seiner wachsenden Zuneigung, die sich in Liebe verwandelt hatte, von seinen Träumen und Hoffnungen, vom Lied für Sophia, von seiner Enttäuschung, weil die angebetete Frau nicht darauf reagiert hatte. Von seinem Stolz, sie darauf nicht ansprechen zu wollen. Von seiner Eifersucht auf Sebastian und den quälenden Vorstellungen, dass Sophia und er bei ihrem romantischen Wochenende ein Paar geworden waren.
»Du Depp!« Sebastian, der bisher wortlos zugehört hatte, schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Mann, du kannst einen aber auch wahnsinnig machen! Sich so einen Blödsinn einzureden! Erstens: es hat kein Notenpapier auf dem Tisch gelegen, darauf hast du mein Wort! Zweitens: Sophia Corelli ist eine bemerkenswerte Frau, aber nicht mein Typ, ich wollte und will nichts von ihr! Und drittens: weißt du, wer bei unserem ›romantischen Wochenende‹ mit von der Partie gewesen ist? Du!«
»Wa …?« Leander klappte der Mund auf.
»Ja, du!«, fuhr Sebastian fort und musste sich ein Grinsen verkneifen. »Von morgens bis abends ging es in einer Tour: Leander hier und Leander dort und Leander überhaupt, und warum nur ist Leander immer so zurückhaltend? Mann, Sophia hat sich bei mir ausgeheult, weil sie annimmt, dass sie dir nichts bedeutet!«
»Das …, das ist …«, stammelte Leander fassungslos.
»Die Wahrheit!«, erwiderte Sebastian energisch. »Und jetzt ab mir dir ins Badezimmer! Halt den Kopf unter den kalten Wasserhahn, damit du wieder klar denken kannst, und dann kommst du raus in den Hof. Ich warte im Wagen auf dich.«
»Wieso?« Leander fühlte sich von den Ereignissen überrollt.
Sebastian verdrehte die Augen. »Sophia hinterher! Sie ist auf dem Weg zum Flughafen in München und ich schätze, mit deinem alten Gefährt brauchst du zwei Tage, bis du dort ankommst.«
Leander stürzte ins Badezimmer, und Sebastian ging kopfschüttelnd zu seinem Auto hinaus. In der Einfahrt traf er auf seinen Vater, der ihn mit hoch gezogenen Augenbrauen musterte. »Du warst in eine Wirtshausprügelei verwickelt?«, fragte er ungläubig.
Sein Sohn seufzte. »Wer …?«
»Die gute Afra, unser Dorfpolizist Gregor Leutner, Elvira Draxler, Therese Kornhuber, der alte Eder«, zählte Benedikt auf, »und noch gefühlt fünfzig andere.«
»Das ist eine lange Geschichte, Vater, die ich erzähle, wenn ich aus München zurück bin. Und um es ein für allemal klarzustellen: ich bin NICHT in eine Wirtshausprügelei verwickelt gewesen!«
»Aha! Und was willst du in München?«
»Zwei Künstlerseelen unter die Arme greifen, die den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen!«, grinste Seefeld junior.
*
Sophia hatte alle Kontrollen passiert und wartete am Gate darauf, an Bord gehen zu können. Sie hatte noch viel Zeit, eigentlich hätte sie es sich in einem der Restaurants gemütlich machen können, aber dazu war sie nicht in der Stimmung. Wo war die Freude über Nonnas Geburtstagsfeier geblieben? Wo die Freude darüber, mit einer aufregenden Neuigkeit nach Hause zu kommen?
Sie waren überlagert von der Enttäuschung über Leanders kühlen Abschied und der Erkenntnis, dass ihre Gefühle unerwidert blieben. Hier, inmitten der vielen, geschäftigen Menschen, überwältigte Sophia ihre Einsamkeit. Um die aufsteigenden Tränen zu verbergen, senkte sie den Kopf und starrte blicklos auf die Zeitschrift, die ungelesen in ihrem Schoß lag. Auf den freien Platz neben sie setzte sich ein Mann, den sie nicht beachtete. Der Duft seines Rasierwassers streifte sie, und Sophia schloss die Augen. Sandelholz, dachte sie, Leander …
»Könntest du bitte die Augen öffnen?«, sagte eine vertraute Stimme direkt neben ihr.
Seltsam, dachte Sophia, ich rieche Leanders Duftwasser, und schon habe ich seine Stimme im Ohr. Das muss aufhören!
»Na-a? Ich warte …«
Wie im Traum wandte Sophia ihren Kopf, öffnete die Augen und – »Leander! Du bist hier!«
Plötzlich war er Wirklichkeit, und sie lag in seinen Armen. »Ich … kann es gar nicht fassen! Was … tust du hier?«, stammelte sie atemlos.
»Dir hinterher reisen; wenn es sein muss, bis ans Ende der Welt!«
»Wollen wir mit der Toskana beginnen?«, flüsterte Sophia irgendwo zwischen Lachen und Weinen. »Und dann schauen, wohin es uns führt?«
»Deswegen bin ich hier, meine Liebste!«, antwortete Leander, und alles Zögern, alle Missverständnisse, das verschollene Lied für Sophia und alle Einsamkeit verflüchtigten sich unter der sanften Berührung ihrer Lippen.
– E N D E –