Читать книгу Begegnungen - T.F. Carter - Страница 11
Unvollendete Bergtouren
ОглавлениеAm vierten Tag vor Ort erwachte Matthias, müde und erschöpft vom Nichtstun. Es war noch dunkel, aber Helligkeit hatten sie die letzten Tage eh nicht erlebt. Vorsichtig schob er die Vorhänge hinter seinem Bett zur Seite, spähte hindurch und… musste seine Augen zusammenkneifen.
Gleißender Sonnenschein strahlte ihm entgegen, streute goldenes Licht über den bewaldeten, steil abfallenden Hang vor dem Hotel, wurde in dem See tief unter ihnen reflektiert. Und, direkt gegenüber, erschien das gigantische schneebedeckte Bergpanorama unter einem wolkenlosen Himmel. Die Viertausender waren zurück!
Er rüttelte Caroline wach, stürzte nach unten zum Schlafzimmer von Sebastian und Julia, klopfte sie aus dem Bett. Begeisterung machte sich breit und der Übermut entlud sich. Sebastian war überaus kitzlig, wie Julia einst verraten hatte, und in einem Anfall infantiler Regression aufgrund des Lagerkollers, dem sie nun entkommen konnten, jagten die anderen ihn durch das Appartement. Schließlich versuchte Sebastian, sich in das Schlafzimmer zu retten und über das Bett zu hechten, doch er berechnete seine Flugbahn vollkommen falsch.
Krachend landete er mitten im Doppelbett, und ebenso krachend gab das Schlafmöbel dem Druck nach, der plötzlich massiv auf den Lattenrost einwirkte. Sebastian steckte in einer absonderlichen Haltung im Bett fest. Matthias bedauerte es, dass immer dann kein Fotoapparat zur Hand war, wenn man ihn am besten gebrauchen könnte.
Nach der gelungenen Rettungsaktion des Jagdopfers entfernten die Vier die Matratzen und lernten innerhalb der nächsten Viertelstunde, wie nicht geborstene Lattenroste unter Spannung glücklicherweise erneut in den Rahmen eingesetzt werden konnten. Mission erfüllt!
Sie entschieden sich nach diesem handwerklichen Abenteuer, vor dem eigentlich dringend notwendigen Einkauf im Tal, eine Spontanwanderung zu unternehmen. Es gab einen Weg den Hang hinunter bis an den See, durch den Wald. Gut gelaunt riss Sebastian seinen Wanderrucksack, den er extra gekauft hatte, an sich. Sie stürmten nach draußen, waren bald im Wald völlig alleine, kamen gut vorwärts. Spott ergoss sich über Matthias, da er, angeregt durch übermäßigen Teegenuss, in der ersten halben Stunde nahezu jeden einzelnen Baum markieren musste. Aber alles in allem lief es nun gut. Caroline gefiel der Weg, Sebastian und Julia liefen flott und gut, die Sonne strahlte, der Wald spendete Schatten, und nachmittags würden sie endlich auch etwas anderes zum Essen haben als nur Brühwürfel.
Unten, am See, besichtigten sie eine Grotte, stiegen dann über Weiden und saftige Wiesen wieder auf. Die Sonne glühte, es war mittags, es war heiß. Sehr heiß. Dennoch, sie sind Sportler, kamen schnell voran, bis ein merkwürdiges Pfeifen Matthias innehalten ließ. Unwillkürlich schaute er auf die Strecke einer an dieser Stelle nebenan verlaufenden Standseilbahn. Wurde die mit Dampf betrieben?
Julia hetzte mit erschrockenem Blick an ihm vorbei, und er sah Sebastian am Boden sitzen, verzweifelt nach Luft ringend. Erst einige Minuten später schien sicher zu sein, dass er durchkommen würde, aber nun erfuhren Caroline und Matthias, dass Sebastian, der Leistungssportler, Asthmatiker war. Im Sport wusste er, wie er sich zu verhalten hatte, doch hier, am Hang, in der Sonne, mit dem Rucksack, in unbekanntem Terrain, hatte er einfach überpowert.
Matthias übernahm den Rucksack, fragte sich, was Sebastian alles mit sich herumtrüge, da das Gewicht ihn selbst fast zu Boden zog, und dann ging es weiter, viel langsamer, bis sie irgendwann wieder beim Hotel angekommen waren. Sebastian hatte sich wieder erholt, sie fuhren einkaufen, gaben ihr spärliches Vermögen aus, hatten endlich ein nettes Abendessen.
Sie beschlossen, dass Rucksäcke leichter zu sein hatten, dass sie etwas langsamer gehen würden, dass sie sich aber alle auf die nächsten Wanderungen freuten. Und das Ziel der nächsten Wanderung gleich am folgenden Tag war der Hausberg. Nahe dem Hotel war eine Seilbahnstation, aber sie waren jung und knackig, wie sie sich gegenseitig bestätigten. „Seilbahnen sind was für Weicheier“, grinste Sebastian, der gerade die erste etwas schwerere Steigung knapp überlebt hatte. Matthias überlegte kurz, ob er den Vorfall vom gleichen Tag noch einmal thematisieren sollte, sah dann aber davon ab. Zu präsent war für ihn noch das Lästern über die Gefrierbox, das noch durch das Drama der tagelang verschwundenen Berge überlagert wurde. Was könnte nun Spott seinerseits auslösen? Bei seinem Glück würden ab sofort bestimmt sämtliche Lebensmittelläden im näheren und weiteren Umkreis für die nächsten Tage geschlossen haben.
Sie bestiegen also den Hausberg per pedes, würden ihn auf herkömmliche Weise bezwingen. Und oben, wichtig für Caroline, die immer ein bestimmtes Ziel brauchte (und ein Gipfelkreuz war kein gültiges Ziel), war eine kleine Restauration. Sie quälten sich einen unansehnlichen und langweiligen Weg nach oben, staunten, dass der Berg vor ihren Füßen zu wachsen schien, aber dann, irgendwann, waren sie endlich oben, genossen ein überwältigendes Panorama, nun zu beiden Seiten, einen grandiosen Blick in zwei benachbarte Täler, spielten mit den frechen Bergdohlen, sahen in der Ferne sogar einige Steinböcke.
Der Restauration rangen sie vier fantastische Eisbecher ab, schlangen sie herunter, kehrten in die Sonne zurück, wollten nun über einen schmalen Weg über einen Berggrat zum nächsten Gipfel aufsteigen. Kaum hatten sie das Gebäude verlassen, teilte Julia mit: „Mir ist schlecht.“
Sebastian und Julia saßen nur Minuten später im Sessellift nach unten, während Caroline und Matthias dem eigentlichen Weg folgten. Er war nicht sonderlich schwer, aber atemberaubend. Der Anblick der majestätischen Berge flimmerte im Sonnenlicht, und als sie schließlich über eine Felsflanke abstiegen und auf einer blühenden Sommerwiese standen, Gämsen in der Wand neben sich beobachteten, grasende Kühe vor sich bemerkten, war der Tag perfekt. Fröhlich ging Matthias zum ersten Kälbchen, wollte es gutmütig auf die Stirn tätscheln, da hörte er von hinten nur ein „Ähem“ von Caroline.
Irgendetwas ist hier falsch, dachte er, und er bemerkte es erst, als er das knuffige Wesen erreicht hatte. Der Kopf fuhr herum, wurde abgesenkt, das Kälbchen schnaubte unwillig. Ein Bulle! Es ist ein Bullenkälbchen! Ausgerechnet er, der er zahllose Sommerurlaube auf Bauernhöfen verbracht hatte, der ständig in Kuhställen gewesen war, ausgerechnet er hatte nicht gesehen, dass sie über eine Wiese mit kleinen Bullen liefen! Caroline hatte klug Abstand gehalten und stand längst, schadenfroh lächelnd, an einem Gatter, während Matthias sich, sorgsam den kleinen Bullen im Blick, vorsichtig zurückzog.
„Na?“ sagte sie. Es war nur dieses eine Wort. Eigentlich sprach sie mehr. Viel mehr. Aber so hatte in dieser Situation dieses eine kleine Wort, bestehend aus zwei gewöhnlichen Buchstaben, unglaubliche Kraft. Sie lachte über ihn, ohne zu lachen. „Na?“ Es blitzte in ihren Augen. Er hätte sie auf der Stelle küssen können, aber die Bullen hinter ihm ließen jegliche Romantik stark abkühlen.
Im Hotel berichteten sie von der Wanderung, beschrieben die Erlebnisse, machten Sebastian und Julia klar: Diesen Weg müsst ihr erlebt haben! Sofort stand fest, dass sie ihn am nächsten Tag noch einmal gehen würden, diesmal aber unter Benutzung des Sesselliftes aufwärts!
Erneut folgten sie nun dem Berggrat, erneut war es heiß, erneut war das Panorama fantastisch. Leider hatten die beiden Frauen sich, als sie den zweiten Gipfel erreichen, über irgendetwas gestritten. Caroline, wütend auf Julia, stieg bereits ab, war ein paar Meter vor den anderen. Sie fanden keine Zeit zum Pausieren, folgten ihr sofort. Julia lief vor Matthias, strauchelte, trat fehl. Ein peitschenartiges Geräusch hallte durch die Luft. Caroline hörte es bis zu sich, drehte sich um, während Julia aufstöhnend zu Boden sank. Sebastian, angehender Arzt, öffnete ihren Schuh.
Sie alle brauchten kein abgeschlossenes Medizinstudium, um sofort zu erkennen, dass Julia mit diesem Fuß keinen Meter mehr gehen würde. Das Gelenk schwoll bereits an, zeigte blaue Färbung. Ein anderes Pärchen warf ihnen zwar eine Binde zu, um das Gelenk zu stützen, doch Julia konnte keinesfalls mehr auftreten. Mühsam streiften sie ihr den Schuh über, banden ihn nur noch provisorisch zu, damit er nicht verlorenging.
Was nun? Sie waren in fast 2.300 Metern Höhe, fernab der nächsten Straße oder Seilbahn. Zurück über den Berggrat? Der Weg war nicht schwierig, aber lang. Wie bekamen sie die Verletzte zur Bergstation? Caroline und Matthias erinnerten sich an zwei Berghütten etwas unterhalb ihrer Stelle. Und dorthin führte ein holpriger Fahrweg. Wenn sie sie wenigstens bis zur nächsten Berghütte transportieren könnten… Von dort wäre es möglich, Julia abholen zu lassen, ohne gleich die Bergwacht alarmieren zu müssen.
Die beiden Männer nahmen die Verletzte in die Mitte, bemühten sich, sie hinabzutragen, doch Sebastian war nicht wohl im Magen. Mochte er in seiner Ausbildung so Manches sehen, was ihm berufsbedingt höchste Professionalität abnötigte und daher während der Arbeit emotional eher kalt ließ, so traf ihn die Verletzung seiner Freundin persönlich. Matthias versuchte es mit Schultern der Verletzten, kam gut ein paar Meter abwärts, erreichte das Ende einer steilen Partie, doch nun wurde ihr das Tragen unbequem. Über die vor ihnen liegende Almwiese konnte er sie aber auf andere Weise tragen. Huckepack. Sie trug kurze Shorts. Matthias griff um ihre nackten Beine links und rechts, sie schlang ihm die Arme um den Hals, hatte ihre gute Laune wiedergefunden, meinte, dass sie noch nie so weit oben gewesen sei und lachte. Aus Matthias‘ Perspektive war alles sehr interessant zu beobachten. Sie war klein und leicht, es würde schon gehen. Vorsichtig und langsam ging er weiter, Caroline vor, Sebastian hinter ihm. Ein anderer Wandertrupp kam ihnen entgegen. Matthias überlegte, was die wohl von ihnen hielten.
Julia zuckte zusammen, griff sich unter ihr Bein. Will sie sich nur kratzen? schoss es Matthias durch den Kopf. Etwas Rotes blitzte auf. Sie blutet! Dachte er. Sie ist verletzt! Oder sie hat ihre Tage! Was für merkwürdige Gedanken man in einem derartigen Augenblick hatte…
Er trat fehl, kam ins Taumeln, versuchte, sich – und damit sie beide – abzufangen. Der Hang der Almwiese war zu steil. Sie stürzten seitwärts, kullerten übereinander, überschlugen sich, verwoben unfreiwillig ihre Gliedmaßen ineinander. Matthias registrierte beiläufig, dass Julia rot lackierte Fingernägel hatte. Er umklammerte immer noch ihr verletztes Bein, bemühte sich, es in dem Chaos stets nach oben zu halten, während sie den Hang hinunterrollten. Endlich kamen sie zum Halt, ein menschlicher Knoten, mussten lachen. Auch Caroline und Sebastian, erleichtert, dass sie noch lebten, kicherten nun. Die anderen Wanderer machten, dass sie an den Irren, die sich die Almwiese hinunterwarfen, so schnell wie möglich vorbeikamen.
Wenig später waren sie, ohne weitere Stürze, an der oberen Hütte angekommen. Matthias‘ Beine waren schwer wie Blei, seine Knie schmerzten, das Gewicht auf seinem Rücken schienen Tonnen zu sein, obwohl es eine Frau war, die massemäßig bestenfalls als Floh zu bezeichnen war. Sie setzten sich auf eine Bank vor der Hütte, starrten auf den Fahrweg vor ihnen. Von hier gingen Caroline und Matthias alleine weiter, den gleichen Weg wie schon am Tag zuvor.
An der unteren Hütte sahen sie einen Geländewagen, und ein Schäferhund lief in dem Gatter vor dem Gebäude hin und her, sie bereits erwartend. Hier gab es Hilfe! Hier würde jemand sein, der Julia wenigstens bis ins Hotel führe, und von dort aus kämen sie schon selbst ins Krankenhaus. Sie erreichten das Gatter, waren schon dabei, es zu öffnen, als sie bemerkten, dass der Hund keineswegs besonders begeistert von ihren Besuch zu sein schien. Böse bellte er sie an, fletschte die Zähne. Nichts rührte sich sonst, obwohl es ihnen schien, als hätten sie eine leichte Bewegung hinter den Fenstern der Hütte wahrgenommen.
Es half nichts. Matthias wagte sich in das Gatter, legte die Meter bis zur Eingangstür zurück, musterte den Hund, der ihn wütend umkreiste. Immerhin ließ er ihn doch zum Eingang. Er klopfte, wartete, vernahm nach einer Unendlichkeit Geräusche im Inneren. Die Tür wurde geöffnet, und wenn es ein Klischee für Bewohner von Schweizer Alpenhütten gab, dann entsprach die Gestalt diesem in allen Punkten. Wache Augen blickten ihn aus einem verwitterten Gesicht an, ein weißer Bart ließ nur erahnen, wo sich ein Mund befinden könnte. Auf dem Kopf thronte ein Filzhut, die Kleidung war grob und zweckmäßig. Ein Almöhi! stellte Matthias‘ Unterbewusstsein sachlich fest. Das ist ein Almöhi. Er erfüllt sämtliche Kriterien der Almöhischaft.
Der Hund knurrte, der Mann vor Matthias sagte nichts, erwiderte auch nicht seinen Gruß. Der Hilfesuchende bemühte sich, sein Anliegen so schnell und so komprimiert wie möglich zu vermitteln: „Eine Freundin von uns… Unfall… Fuß kaputt… oben auf der nächsten Hütte… Hotel… Auto… Hilfe?“
Lange schon schwieg er nun, während der Mann immer noch seinen Blick in seine Augen bohrte. Konnte er Gedanken lesen? grübelte Matthias. Konnte der Almöhi sehen, dass er die Situation gleichzeitig als bizarr, erheiternd und beklemmend empfand? Schließlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wendete der Almbewohner sich ab, ging zurück in die Hütte, schloss die Tür. Der Hund knurrte, bedeutete seinem ungeliebten Besucher unmissverständlich, dass es nun an der Zeit sei, diesen Ort zu verlassen.
Caroline öffnete ihrem Freund das Gatter, schlug es nur knapp vor dem nun zornig schnappenden Hund zu. Ratlos starrten sie auf die Hütte. Ihnen war gleichzeitig nach Lachen und nach Weinen zumute.
Und da! Da öffnete sich die Tür, und heraus trat der schweigsame Hüttenbesitzer. Tätschelte dem Hund den Kopf, durchquerte das Gatter, ohne das Pärchen eines Blickes zu würdigen, ging zu seinem Auto, stieg ein und fuhr den holprigen Weg zur zweiten Hütte empor.
„Oh mein Gott!“ entfuhr es Matthias, und er muss kichern.
„Du hast vielleicht zu schnell gesprochen“, mutmaßte Caroline. „Er hat deine Information gespeichert und musste sie erst langsam, Schritt für Schritt, verarbeiten.“ Matthias war bis zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt, dass Caroline Affinitäten zur Computertechnologie hätte, aber er nahm sich vor, diese Einschätzung zu überdenken.
Frisch beschwingt eilten sie nun ihrem Hotel entgegen, wurden nach ein paar Minuten von dem Auto überholt, aus dem ihnen Sebastian und Julia zuwinkten.
Schließlich, nach einem anständigen Restmarsch, erreichten sie ihre Unterkunft. Carolines Auto war nicht an seinem Platz.
„Sie werden doch wohl nicht…“, begann sie zornig.
„Sie werden doch“, bestätigte ich ihre schlimmsten Befürchtungen. „Schau‘ mal, bis wir hier sind, sind die schon zweimal bis zum Krankenhaus und zurück.“
„Und wo sind sie dann, wenn es denn so wäre?“ Herausfordernd atomisierte sie seine Logik und zeigte auf den leeren Parkplatz.
Er bemühte sich, sie zu besänftigen, während sie um ihr Auto zitterte. „Schau‘ mal, auf der Strecke sind kaum Laternen, nur ein paar schlecht befestigte Serpentinen. Es kann also gar nichts passieren. Und einschlafen wird er schon nicht.“
„Man kann nie wissen…“, grübelte sie vielsagend und schritt schließlich voran, ins Hotel hinein.
Nach der Rückkehr von Sebastian und Julia wurde dieses Thema glücklicherweise nicht mehr bemüht. Viel zu spannend waren die Berichte über die Fahrt abwärts zum Hotel. Der Transport hatte in völliger Wortlosigkeit stattgefunden, nur am Ende hatte der Retter unmissverständlich und unzweideutig die Hand aufgehalten.
„Vielleicht war er ja stumm“, überlegte Caroline.
„Bestimmt nicht“, lachte Sebastian. „Er hat mit einem Dorfbewohner vor dem Haus durchaus gesprochen. Mit uns allerdings nicht.“