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Roter Nagellack und heilige Rollstühle

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Die Diagnose hatte einen Bänderriss ergeben, Julia besaß nun einen bandagierten Fuß. Für die mehr als zwei verbliebenen Wochen würde sie an Krücken gehen müssen. Der Wanderurlaub war für sie vorbei. Caroline und Matthias wechselten bedeutungsschwangere Blicke, während Julia verlautbaren ließ: „Ach, das macht nichts. Ich kann hier lesen und Essen vorbereiten, während ihr zu dritt wandert.“ Sie lachte, deutete auf Krücken und Rollstuhl, Equipment des Krankenhauses: „Ich bin ja vollständig mobil hier.“

Sie beschlossen einen Stadtrundgang in Bern, fuhren am nächsten Tag bei glühendem Sonnenschein ins Tal, erreichten problemlos ihr Ziel (manchmal ging es auch ohne Un- oder sonstige Zwischenfälle), entluden den Rollstuhl, und los ging es. Frohgemut schob Sebastian seine Julia, sie freuten sich auf einen schönen Stadtrundgang.

Doch schnell lernten sie, was barrierefrei im wahrsten Sinne des Wortes bedeutete. Und Bern war alles andere als barrierefrei. Schon die erste Kreuzung reduzierte das Quartett beinahe um eine Person. Sebastian bemühte sich, den Bordstein zu überwinden, fuhr vorwärts über die Schwelle, unterschätzte die Höhe. Julia kreischte, kippte, sprang, fiel gleichzeitig aus dem Rollstuhl. Aber sie war Vollblutsportlerin! Irgendwie gelang es ihr, ihren Körper vollständig zu koordinieren, landete auf dem gesunden Fuß, stand dort nun, mitten auf der Kreuzung, zwischen hupenden Autos, wie eine griechische Statue der Artemis.

„Fährt man einen Rollstuhl nicht rückwärts über ein Hindernis?“ fragte Matthias Sebastian. Dessen vernichtender Blick ließ ihn vermuten, dass seine Bemerkung vollkommen unnötig gewesen war. Offen blieb, für alle Ewigkeit, die Frage, warum er vorwärts über den Bordstein gefahren war. Schließlich war Sebastian Mediziner, wusste, wie man einen Rollstuhl zu bedienen hatte. War es ein Versehen gewesen? Oder hatte es wie ein Unfall aussehen sollen? Erneut wechselten Caroline und Matthias bedeutungsschwangere Blicke, bemühten sich, der Situation den nötigen Ernst zukommen zu lassen.

Julia hatte inzwischen wieder in ihrem Gefährt Platz genommen, lachte, bat Sebastian, demnächst solche Aktionen sein zu lassen. Sie retteten sich in eine nahe Kirche. Julia wuchtete sich aus dem Rollstuhl, griff nach den Krücken, sie betraten andächtig das kühle Kirchenschiff. Beim Verlassen des Gebäudes bemerkten sie einen Reisebus, dessen Insassen, unzählige ältere Personen, sich auf den Bürgersteig ergossen. Diese glitten, miteinander schnatternd, dem Kirchenportal entgegen. Die Vier wollten an den Rollstuhl heran, doch noch würden sie keine Gelegenheit dazu haben. Der Strom der Menschen riss nicht ab, und kaum jemand ließ die Chance aus, den Rollstuhl zu berühren, ehe der Ort der Besinnung betreten wurde.

Die Vier blickten sich an, ernannten Julias fahrbaren Untersatz zum Heiligen Rollstuhl, warteten darauf, dass jemand Krücken in die Luft warf und „Ich kann gehen!“ rief, stießen schließlich weiter in die Innenstadt vor. Aber sie kamen nicht weit. Bern schien im Wesentlichen aus Bordsteinen zu bestehen. Und wenn es keine Bordsteine gab, waren dort unzählige Treppen. Niemand von ihnen hatte jemals so viele Treppen in einer Stadt wahrgenommen wie an diesem Tage. Die Vermutung lag nahe, dass es derartige Treppen überall in den Städten dieser Welt gab, nur jetzt, mit dem Heiligen Rollstuhl, jetzt fiel es besonders auf. Sie brachten das Vehikel zurück zum Auto, und den Rest des Weges unternahm Julia an Krücken.

Der Muskelkater kam spät am Abend, vorbestimmt, wie das Amen in der Kirche, aber noch herrschte Hochstimmung. Sie hatten einen schönen Tag verbracht. Zu Viert!

„Und morgen“, ließ Julia verlauten, „morgen macht ihr Drei eine schöne Wanderung! Ich werde die Ruhe genießen.“

Die Wanderung am nächsten Tag war unzweifelhaft wunderschön. Die Drei stiegen auf und ab, liefen über Wiesen, kletterten über Geröll, fanden sich in engen Tälern wieder. Es war so, wie Matthias die Berge kannte und liebte. Stundenlang waren sie unterwegs, hatten immer noch Julias Worte im Ohr: „Lasst euch Zeit, ich habe ja zu lesen.“

Als sie zurückkehrten, schien die Temperatur im Appartement knapp über dem Gefrierpunkt zu liegen. Julia saß auf dem Sofa, begrüßte sie: „Ich dachte schon, ihr kommt gar nicht mehr zurück!“

„Uh“, machte Caroline. Sie war selbst eine Frau. Sie hatte es mit Sicherheit die ganze Zeit geahnt, denn Julia hatte Sebastian nur getestet. Lass Dir Zeit, komm‘ nicht zu früh zurück! bedeutete, übersetzt ins maskuline Deutsch, nichts anderes als Wehe Du lässt mich hier allein, aber ich sage Dir das nicht, denn das musst Du schon selbst wissen, dass Du mich hier nicht alleine lassen kannst, mich armes, immobiles verletzliches Wesen, Du beziehungstechnischer Holzklotz! Sebastian hatte in dem Augenblick verloren, als er es gewagt hatte zu sagen: „Du hast wirklich nichts dagegen?“ – „Aber natürlich nicht!“ (Was soviel bedeutete wie das ist deine letzte, deine allerletzte Chance. Wenn Du jetzt nicht begreifst, dass Du nicht gehen darfst, auch wenn ich sage, dass Du gehen kannst, dann ist Dir auch nicht mehr zu helfen. Ich habe Dir alle goldenen Brücken dieser Welt gebaut, und Du missachtest meine eindeutigen, unmissverständlichen Hinweise.)

Caroline und Matthias zogen sich dezent zurück, was in einer gemeinsamen Maisonette-Wohnung nur bedingt möglich war.

Am Abend, nach dem Essen, zubereitet von der Dahinsiechenden, die sich mittlerweile beachtlich agil auf den Krücken bewegte, gestählt durch den anstrengenden Besuch von Bern am Vortag, äußerte Julia den Wunsch: „Ich möchte mir die Fingernägel lackieren.“ In Matthias stieg die Erinnerung an den gemeinsamen Absturz über die steile Almwiese auf, ausgelöst von Nagellack. Lackierte Fingernägel konnten viel bewirken.

Das Badezimmer mit den Utensilien befand sich im unteren Geschoss, nur über eine Wendeltreppe zu begehen, eine tatsächliche Herausforderung für die Verletzte. Sebastian eilte – und kehrte zurück.

„Äh, welchen Nagellack.“

„Den Roten!“ Die Stimme wirkte freundlich, aber es schwang dieser gewisse Vorwurf mit, warum Sebastian nicht erfühlt hatte, dass an diesem Tag rot angesagt sei.

Caroline und Matthias nahmen auf einem nahen Sofa die Logenplätze ein. Gäbe es Popcorn, sie würden es sich kaufen, um, mit allem Wichtigen versorgt, dem nun beginnenden Unterhaltungsprogramm zu folgen.

Sebastian eilte erneut von dannen, kehrte nur Sekunden später mit einem roten Nagellack zurück und überreichte ihn wohlgemut. Doch wer nun erwartet hätte, dass seine Bemühungen honoriert würden, wurde schwer enttäuscht.

„Ich sagte, den Roten!“ In Julias Stimme schwang unüberhörbar der Zusatz Kannst Du mein – richtiges - Rot nicht von Deinem – falschen - Rot unterscheiden, Du Wurm? mit.

Matthias runzelte die Stirn. Die Flasche war eindeutig rot. Caroline sagte nichts. Er erkannte nur am Zucken ihrer Mundwinkel, dass sie ahnte, was kommen würde. Er kannte sich mit ihren Nagellackflaschen nicht aus. Ganz wie Sebastian in Julias Sortiment. Sie tauschten einen Blick, und er las in den Augen seiner Freundin Jetzt wird’s erst richtig interessant. Watch, listen and repeat!

Sebastian eilte und kehrte ein drittes Mal zurück, diesmal alles in seinen Händen tragend, was auch nur annähernd an einen roten Nagellack hätte erinnern können. Mattias fand, Sebastian hatte sich durchaus achtbar geschlagen, doch er sah Carolines diabolisches Lächeln neben sich. Wo ist die Pointe? Er musste nicht lange warten.

„Wieso schleppst du jetzt alles herbei? Ich sagte den Roten. Bist du nicht in der Lage, einen roten Nagellack zu erkennen, dass du jetzt so ein Chaos verbreitest?“

Caroline drehte sich zu ihrem Freund. In ihren Augen blitzte es vor Vergnügen, und sie übermittelte ihm die unausgesprochene Botschaft: Hast Du es begriffen? Auch ich könnte mal verletzt sein, und dann weißt Du, was zu tun ist! Nein, dachte Matthias, Gott möge die Füße meiner Freundin beschützen!

Begegnungen

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