Читать книгу Begegnungen - T.F. Carter - Страница 9
Startschwierigkeiten
ОглавлениеEs war alles bereit für einen wunderschönen Urlaub. Das Semester war beinahe vorbei, und die Möglichkeit zur unendlichen Entspannung erschien nun immer mehr am nicht mehr allzu fernen Zeithorizont. Endlich hatte Matthias seine Freundin Caroline überzeugen können, nicht am Meer zu relaxen, sondern in seine geliebten Berge zu fahren. Und nicht nur das. Sie würden zu viert sein, da sie ein befreundetes Pärchen, Sebastian und Julia, begleitete.
Was sind wir für ein Haufen! dachte Matthias. Caroline, Sebastian, er selbst, drei Studenten ohne viel Geld. Nur Julia war bereits in Lohn und Brot. Aber sie hatten gespart, bekamen ein Sponsoring von den Eltern, und so war die Entscheidung auf ein schönes Hotel mitten in den Bergen gefallen. Definitiv nicht preiswert, aber man konnte dort ja Appartements buchen und sich selbst versorgen, wie Matthias vorgeschlagen hatte.
„Das Kochen übernehme ich!“ bot sich Julia an. Schließlich hatte sie, mit Sebastian zusammen, bereits seit einiger Zeit einen eigenen Hausstand und einen Haufen Erfahrung, während Caroline und Matthias noch jeweils zu Hause wohnten. Sie waren zwar auf der Suche nach einer bezahlbaren Wohnung, nur war das schwieriger als erwartet in den ausgehenden 1980er Jahren im Westteil Berlins.
„Prima“, konterte Matthias‘ Freundin. Sie war alles andere als jemand, der gerne kocht, und auch Matthias selbst gehörte eher zur Fraktion der puren Konsumenten. „Ich übernehme das Putzen“, fuhr sie fort. Matthias wechselte mit seinem Freund einige Blicke. Unsere Rollen werden sich irgendwo zwischen Kochen und Putzen ansiedeln, grübelte er.
Nun saßen sie in einem kleinen Restaurant mitten in Berlin und freuten sich auf die anstehende Reise. Ihnen stand eine lange Fahrt bevor, keiner von ihnen war jemals eine derartig lange Strecke gefahren, aber jeder besaß einen Führerschein, und sie hatten auch nicht weniger als zwei Zwischenstopps eingeplant. Bei Verwandten, bei Freunden… Das Quartett hatte zwei Autos, einen Audi, einen Honda, und auch wenn der Honda etwas klapprig war, sie würden ganz gemütlich in die Schweiz reisen, ohne Eile, voll entspannt.
„Auf einen schönen Urlaub!“ sagte Sebastian, und alle fielen ein. Es war spät geworden, nach einem langen Sportwettkampf, zwei Uhr morgens. Selbst in Berlin waren um diese Zeit nicht viele Restaurants geöffnet, aber dieses winzige Lokal war ein echter Geheimtipp. Schade nur, dass der Weg nach Hause nicht gerade kurz sein würde, bedauerte Matthias. Aber was soll‘s? In nur wenigen Tagen würden sie unendlich entspannen können.
„Auf uns!“ fielen alle ein und stießen an. Nur noch zwei Tage… Spät – oder eher früh – verabschiedeten sie sich und fuhren nach Hause.
Schon am nächsten Tag in der Frühe, nach wenigen Stunden, sahen sie sich wieder. Caroline holte Matthias ab, und sie fuhren zum gemeinsamen Sporttraining. Unterwegs sahen sie mitten auf einer großen Straße einen Unfallwagen, wie für die Ewigkeit mit einem schräg stehenden Laternenmast verbunden.
„Na, da hat’s aber gekracht“, ließ sich Matthias‘ Freundin vernehmen, und er sagte: „Der steht ja auf der verkehrten Seite.“ Wie war der Wagen nur über die breite Straße nach links gekommen?
Ein leichtes Unwohlsein machte sich in Matthias breit. Morgen würden sie fahren. Weit fahren. Viele Kilometer. An unzähligen Laternenmasten vorbei… Aber sie waren jung. Warum sollte ihnen das geschehen?
Beim Training trafen die vier wieder zusammen. Sebastian und Julia sahen noch deutlich erschöpfter aus als Caroline und Matthias, nur was tat man nicht alles für den Sport?
„Spät geworden?“ amüsierte sich der Trainer.
„Kann man so sagen“, lachte Matthias und stupste seine Freundin. „Aber morgen fahren wir in den Urlaub.“
Sebastian räusperte sich: „Äh, da ist ein Problem…“
„Sag‘ jetzt nicht, dass Ihr nicht mitkommt“, fuhr Caroline auf. „Das geht nicht. Wir haben gebucht. Maisonette für vier Personen. Wir können das nicht allein bezahlen…“
Julia räusperte sich nun auch: „Unser Auto…“
Die Erkenntnis traf Matthias wie ein Schlag. Das Auto! An der Laterne! Es war spät gewesen, der Fahrer eingeschlafen, quer über die Straße geschossen, nur noch aufgehalten von einer tapferen Laterne. Und er kannte Fahrer und Beifahrerin… Wenigstens gab es keine weiteren Verletzten als Fahrzeug und Mast.
Es half nichts. Sie würden also mit einem Auto fahren. Mit einem alten klapprigen Honda. Irgendwie werden wir das Gepäck für drei Wochen schon unterbringen, dachte Matthias, und er atmete tief durch. Irgendwie würde es schon gehen.
Abends trafen sie sich mit gepackten Sachen, schafften es tatsächlich, alle Koffer und Taschen unterzubringen. Zugegeben, viel Platz hatten die beiden auf dem Rücksitz nicht, und selbst der Fußraum des Beifahrers war gefüllt, aber wenigstens der Fahrer hatte die Möglichkeit, nicht mit den Knien an den Ohren zu sitzen, sondern sie immerhin noch vor der Brust halten zu können. Was soll’s, lachte Matthias innerlich, wir sind jung!
Er sah das Schmunzeln seiner Eltern, als sie am nächsten Morgen abreisten. Er am Steuer, etwas weiter vorne als bequem. Neben ihm Caroline mit einer heraufdämmernden Migräne, hinter ihnen Sebastian und Julia, kaum zu sehen zwischen diversen Taschen und einer gigantischen Kühlbox. Julia wurde nicht müde zu betonen, wie perfekt sie die Kühlbox gepackt hatte. Schließlich könnten sie so einige verderbliche Lebensmittel in die Schweiz mitnehmen – Wurst, Käse, Butter -, sparten so eine Menge Geld.
Es war heiß. Sehr heiß. Sie waren nicht die einzigen, die das alte West-Berlin verlassen wollten. Sie standen eine gefühlte Ewigkeit an der Grenze, um endlich im Transit durch die DDR reisen zu dürfen. Caroline, bleich wie ein Bettlaken, flüsterte Matthias zu: „Ich lasse die nicht fahren mit meinem Auto.“
„Wieso nicht?“
„Die fahren gegen Laternen.“
Matthias überlegte, wie er ihr vermitteln konnte, dass das übermüdete Fahren gegen Laternen vermutlich keine grundsätzliche Eigenschaft eines Menschen war und sich auch nicht viral von Freund zu Freundin übertrug, doch er erkannte an ihrem Gesicht, dass sie kein Interesse an einer Diskussion hatte. Außerdem – was sollte es? Es blieben immer noch sie und Matthias selbst. Zwei Fahrer.
Schon nach der Hälfte der Strecke durch die DDR war er völlig erschöpft. Matthias fuhr gerne, aber er war keine wirklich langen Strecken gewohnt. Es war heiß. Draußen war es heiß. Im Auto war es unfassbar heiß. Durch die halboffene Scheibe drangen glühender Fahrtwind und beißende Trabbidüfte, aber hätten sie die Scheibe nicht heruntergekurbelt, wären sie in ihrem eigenen Schweiß gekocht worden. Noch aber war die Stimmung gut. Sebastian und Julia hielten Matthias mit munteren Reden wach. „Hinter der Grenze, irgendwo in Hessen, machen wir Rast“, lächelte Julia. „Ich habe schließlich eine vollgepackte Kühlbox dabei. Und dann gibt’s eine Brotzeit.“
Ein Blick auf Caroline zeigte, dass Matthias bis dahin keine Chance haben würde, das Steuer an sie zu übergeben. Sie war gerade damit beschäftigt, nicht aus dem Leben zu scheiden. Ihr ging es überhaupt nicht gut. Die Migräne ist wohl wirklich echt, dachte Matthias. Was soll’s? sinnierte er weiter. Schließlich gibt’s auf der Transitstrecke keine Straßenlaternen, gegen die ich fahren kann…
Sie erreichten einen Parkplatz im Nirgendwo, irgendwo in Hessen. Der Asphalt dampfte. Warum schlägt der keine Blasen? grübelte Matthias. Er fühlte sich wie ein Ertrinkender, als er halb, steif wie ein trockenes Stück Leder, aus dem Auto rollte. Er war vollkommen fertig, schweißgetränkt, müde, starr durch die unbequeme Haltung. Er sah eine Art Leiche auf der anderen Seite aus dem Auto taumeln, und schließlich falteten sich zwei weitere Gestalten aus dem Fahrzeug. Sebastian und Julia lachten, während sie damit begannen, sich zu strecken und die Kontrolle über ihre Glieder zurückzuerlangen.
„Jetzt die Kühlbox“, freute sich Julia. „Die habe ich nämlich gepackt, und da passt kein Fitzelchen Luft mehr rein.“
Die Leiche neben Matthias knurrte. Immerhin, dachte er, Caroline nimmt akustische Signale noch wahr…
Fünf Minuten später war der gesamte Inhalt der Kühlbox in die Mülltonne gewandert. Kühlboxen erfüllten durchaus ihren Zweck und diese spezielle Kühlbox war auch definitiv perfekt gepackt gewesen, nur machte das alles physikalisch keinen Sinn, wenn man die Kühlaggregate nicht mit hineinsortierte. Julia schwieg mit hochrotem Kopf, die Leiche knurrte immer noch, Sebastian machte Späße zur Ablenkung. Hungrig schlängelte sich Matthias hinter das Steuer. Ihm war klar, dass er dort auch den Rest der Fahrt bis zum ersten Ziel verbringen würde. Ich muss mich zusammenreißen, feuerte er sich selbst an, und die Erschöpfung vergessen.
Am Abend trafen sie in Franken ein. Ein großes Familienfest erwartete sie in einem zünftigen fränkischen Gasthaus. Sie wurden erfreut begrüßt von Bekannten und Unbekannten, es war laut, es war fröhlich, es war deftig. Die Leiche neben Matthias knurrte längst nicht mehr, war in ihrem bedauernswerten Zustand in eine Art Starre verfallen. Matthias selbst hatte mittlerweile auch starke Kopfschmerzen, wollte eigentlich nur noch ins Bett. Schließlich entließen die Verwandten ihre Gäste, und das Quartett erreichte das Hotel. Caroline entwickelte eine überraschende Dynamik, sprang aus dem Fahrzeug, rannte vorneweg. Matthias schaute ihr nachdenklich hinterher: Ich weiß, ich sollte mir Zeit lassen, bis ich das Zimmer betrete, wenn ich nicht mitbekommen möchte, was sich gerade im Badezimmer abspielen dürfte.
Ein Kleidersack auf der Rückablage war verrutscht, und während Matthias das darunter liegende Köfferchen für die Fahrtenübernachtungen griff, vergaß er in seinem Zustand, diesen Kleidersack zurückzulegen. Erst auf dem Zimmer entdeckte er ihn in seiner Hand, hing ihn in den Kleiderschrank und suchte nach den sterblichen Überresten Carolines.
Der nächste Morgen hatte der Migränegeplagten neues Leben eingehaucht. Sie war zwar schwach und abgespannt, aber Kopfschmerzen und die Übelkeit schienen wie fortgeweht. Trotzdem blieb das Autofahren abermals an Matthias hängen, diesmal von Franken nach Baden-Württemberg, zu Freunden von Sebastian und Julia. Immerhin, auch diesmal wurden sie sehr gastfreundlich aufgenommen, und wenigstens geschah diesmal nichts Dramatisches. Weder auf der Fahrt, noch am Zielort. Matthias atmete tief durch und war überzeugt: Nun kann der Urlaub richtig kommen! Nur noch eine kurze Fahrt! Eine nicht mehr allzu lange Strecke!
Wieder fuhr Matthias, diesmal am Bodensee vorbei. Die vier Freunde genossen die Landschaft, die ersten Berge erhoben sich vor ihnen, Matthias verkündete Weisheiten über das Urlaubsziel, versprach ein fantastisches Panorama der Viertausender vor ihrem Fenster. Für einen Moment dachte er an Julias Kühlboxen-Missgeschick, doch was sollte nun noch schiefgehen? Die Viertausender sind einfach da, ermunterte er sich, werden auch für die nächsten Jahrtausende da sein, und sie können nicht vergessen werden wie Kühlaggregate.
Es war immer noch heiß, doch die Vier begannen, endlich abzuschalten und sich zu erholen. Bisher waren sie durch Verwandte und Bekannte verköstigt worden, und die Reisekasse war knapp, sie waren alle überzeugt: Wir werden schon irgendwie sparsam leben können. Erst einmal am Ziel ankommen und dann sehen, wo man günstig einfache Lebensmittel einkaufen kann. Kommt Zeit, kommt Rat.
Dass sie alle in dem nicht klimatisierten Auto schwitzen wie in der Sauna, war mittlerweile einfach so. Sie hatten keinen Platz, aber die Körper passten sich nach und nach irgendwie dem geschrumpften Raum an. Menschen waren anpassungsfähig, staunte Matthias und lachte innerlich. Bald würde alles aus dem Auto ausgeladen sein, und sie hätten ein geräumiges Appartement…
Die Sonne brannte, der Fahrtwind wehte, sie erreichten den ersten Alpentunnel. Licht anschalten, Augen an die Dunkelheit anpassen… Sie unterhielten sich, lachten, freuten sich auf die viele Freizeit vor ihnen. Sie hatten nicht mehr viele Kilometer zu fahren. Das Ende des Tunnels nahte, doch zu Matthias‘ Erstaunen war das Licht vor ihnen irgendwie merkwürdig. Es war nicht richtig hell, als ob jemand die Sonne abgedimmt hätte, und ehe er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, war er wieder im Freien.
Ich bin blind! Dachte er. Schlagartig! Jemand hat weiße Milch auf die Windschutzscheibe gekippt! Und irgendetwas prasselte von allen Seiten gegen das Auto. Die Autos, die komplette Landschaft um sie herum, alles war verschwunden. Matthias umklammerte das Lenkrad, bis seine Handknöchel weiß wurden. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Muss ich bremsen? Fährt dann der Hintermann auf mich auf? Oder soll ich einfach weiterfahren? Doch wenn der Fahrer vor mir bremst? Ich sehe überhaupt nichts!
Nach einer gefühlten Unendlichkeit schaffte er es, den Scheibenwischer zu betätigen. Mühsam rieben die Gummis den Sturzregen von der Scheibe und hinterließen braune Schlieren des über Hunderte von Kilometern angesammelten Straßenstaubes, der nun zu einer viskosen Masse wurde. Niemand im Auto sagte etwas, die Zeit schien stehengeblieben zu sein. Unbewusst hatte Matthias den Fuß vom Gas genommen, langsam verloren sie Geschwindigkeit. Autos zogen links an ihnen vorbei. Matthias entdeckte das Frontende ihrer eigenen Motorhaube wieder, und allmählich schimmerten rötliche Lichter vor ihnen durch Nebel und Regen, Lichter, die sich von ihnen zu entfernen schienen.
Matthias war nervös. Der Schreck saß ihm in den Gliedern. Er fühlte sich überfordert, während ihm bewusst wurde, dass sie ein schleichendes Hindernis waren. Wenn jemand mit großer Geschwindigkeit von hinten käme, würde er sie rechtzeitig sehen? Wie groß waren die Abstände wirklich? Ihm wurde klar, dass sie alle großes Glück gehabt hatten, dass die Autobahn hinter dem Tunnel schnurgerade zu verlaufen schien. An der nächsten Ausfahrt, die schemenhaft vor ihnen auftauchte, fuhr er ab. Lieber folgte Matthias einer engen kurvigen Straße um einen See herum, als dass er die Geschwindigkeitsrallye weiter mitmachte. Caroline, Julia und Sebastian waren einverstanden, hatten eh keine andere Wahl, und es war nicht mehr weit. Bald begann der Aufstieg zum Hotel, einen Berg empor. Matthias kannte die Gegend, auch wenn er hier nie am Steuer eines Autos gesessen hatte. Er kannte das Panorama, den See im Tal, die Viertausender gegenüber… Nichts davon war zu sehen.
13 Kilometer lagen noch vor ihnen. Eine unendliche Rampe. Kurve an Kurve auf einer engen Bergstraße. Bei normalem Licht konnten sich zwei Lastwagen problemlos passieren, doch nun sah Matthias, während er fuhr, kaum die Wegbegrenzungen links und rechts. Seine Fingerknöchel waren abermals weiß vor Anspannung, während er sich bemühte, das Lenkrad nicht loszulassen. Ab und zu huschte ein Auto, vom Berg kommend, an ihnen vorbei. Matthias seufzte: Anscheinend können alle besser sehen als ich!
Dann ein Hupen! Er fuhr zusammen, denn er wusste sofort, was ihnen nun entgegen kam! Der Postbus, und dieser war wirklich groß. Matthias Herz raste. Treffen wir ihn in einer der engen Kurven? Trifft er uns dann in die Flanke, stürzen wir in den Abgrund? Niemand sprach, alle lauschten in atemloser Spannung, und erleichtert atmeten sie auf, als der Bus ihnen an einer geraden, breiten Strecke begegnete.
Wenig später, so wusste Matthias, hatten sie den winzigen Bergort erreicht. Ein paar Häuser, ein paar verstreute Hotels, eine Sesselliftstation, ein kleiner Einkaufsladen, das war alles. Gebäude krochen schemenhaft an ihnen vorbei, bis Matthias an ein paar Fahnenmasten vor ihnen zu erkennen glaubte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. Er stieß in einen Parkplatz und stellte den Motor ab.
Julia fragte: „Was ist?“
Matthias sagte: „Wir sind da.“
„Wo da?“
„Am Hotel.“
Unwilliges Schnaufen schallte zu ihm zurück. Caroline schwieg, Sebastian hielt den Mund. Matthias spürte die einhellige Botschaft. Wohin, zur Hölle, hat der uns verschleppt? Wo sind wir? Vorsichtig tappten sie über die Straße zu den Fahnenmasten, zu der Stelle, an der Matthias den Eingang zum Hotel vermutete, eigentlich ein großes Gebäude von mehr als zehn Stockwerken, direkt in den Berghang gebaut. Die Rezeption befand sich im sechsten Stock, während das Gebäude dahinter zum Hang hin abfiel.
Eine Schiebetür öffnete sich zischend vor ihnen, ohne dass das Quartett sie wirklich sah, Nebelschwaden zogen an ihnen vorbei und dann standen sie plötzlich in der großen, hellen, freundlichen Hotelhalle.
Sie lachten und freuten sich: Wir haben es geschafft, wir haben es überlebt! Der Nebel kann uns nichts anhaben. Die Neuankömmlinge freuten sich auf ihre schicke Maisonette-Wohnung, checkten schnell ein, entluden das Auto, störten sich nicht mehr an dem Milchvorhang vor dem großen Panoramafenster. Der Blick steil ins Tal zum See und zu den Bergen auf der anderen Seite, den Matthias so oft und eindrücklich versprochen hatte, musste noch warten.
Die Vier überlegten, was sie essen könnten, doch bis auf ein paar Brühwürfel hatten sie nichts mehr. Ein Gang in den kleinen Laden kam nicht in Frage, weil dort Lebensmittel, wie Matthias es ausdrückte, nur mit Goldbarren bezahlt werden konnten. Gleiches galt für das hoteleigene Restaurant. Also schlürfte das Quartett heißes Wasser mit Geschmack. Sie grinsten sich an und bestätigen sich: Wir sind noch gut gesättigt von den vorherigen Tagen, sind noch nicht am Verhungern.
Dann holte Matthias eine letzte Tasche aus dem Auto. Grabesstille begegnete ihm bei seiner Rückkehr. Zwei Frauen blickten ihm mit ernsten Augen entgegen. Irgendetwas war geschehen, er wusste es sofort. Mindestens ein Todesfall, wenn nicht Schlimmeres.
Dann öffnete sich Carolines Mund. Matthias hing an ihren Lippen, kannte sie lange genug, so dass er wusste, dass nun Unangenehmes folgen würde. Sie sagte nur einen einzigen Satz, allerdings sollte dieser für den Rest des Urlaubes von entscheidender Tragweite sein: „Wo ist eigentlich der Kleidersack mit unseren Wetterjacken?“
Ein Stromstoß jagte durch Matthias‘ Körper. Der Kleidersack! Der war noch in Franken! Im Hotel! Er hatte ihn in den Kleiderschrank gehängt und dort einfach vergessen. Er hatte keine andere Wahl. Er beichtete sein Vergehen und ihm wurde die vollständige weibliche Verachtung zuteil. Es fielen nicht viele Worte, aber es war die Behandlung seiner Person, die ihm zu wissen gab, dass der Verlust der Wetterjacken ihm sämtliche, in der Beziehung sorgsam über Jahre erarbeiteten Privilegien streichen würde. Er verdrehte innerlich die Augen. Ich muss wieder von vorne anfangen, wenn es überhaupt ein „von vorne“ geben kann. Es sind bekanntlich schon unendlich viele Beziehungen an Wetterjacken gescheitert!
Sein müdes Gehirn kam immerhin auf den glänzenden Einfall, im fränkischen Hotel anzurufen. Gut, dachte er, allein dieser Anruf von einem Schweizer Hotel in ein deutsches Hotel dürfte das Budget für die Lebensmittel eines ganzen Tages aufbrauchen, aber es ging um die Zukunft seiner Beziehung, wenn nicht sogar um sein Leben! Und eine höhere Macht meinte es an diesem Tag noch einmal gut mit Matthias: Der Kleidersack war da, und ein Verwandter seiner Freundin würde ihn nachschicken. Tage später würde er die Vier tatsächlich heil und unversehrt erreichen, doch noch Jahre später würde Caroline, wenn sie besonders wütend auf Matthias war, diesen Kleidersack erwähnen. Das Vergessen des Kleidersackes war, so lernte Matthias an jenem Tag, ganz offenbar gleichbedeutend mit Kindermord oder einem schweren Raubüberfall. Immerhin, seine Privilegien wurden ihm nach und nach, wie vermutet verteilt über die nächsten Jahre, wieder zugestanden.