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Späher

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Der junge Soldat blickte sich um. Sein Leutnant stand an der Spitze des Zuges und beobachtete das vor ihnen liegende Feld mit einem Fernglas. Bis zum Horizont waren Felder zu sehen, dazwischen vereinzelte Bäume und kleine Hecken, teilweise mit Steinen verstärkt, ein so typisches Bild dieser Gegend. Es war rau und schön, und überall lauerte die Gefahr…

„Nichts zu sehen“, sagte ein alter Feldwebel. Vielleicht war er Ende zwanzig oder Anfang dreißig, doch das war alt. Viele andere Männer dieses Alters waren nicht mehr bei ihnen. Sie waren gefallen, verkrüppelt oder in Gefangenschaft.

„Sagen das Ihre Augen?“ zischte der Leutnant, selbst Anfang der Zwanziger. Wirklich erfahrene Offiziere wurden rar.

„Meine Augen funktionieren noch sehr gut, Herr Leutnant. Aber mein Bauch rumort.“

„Sie meinen, wir sollten auf ihren Bauch vertrauen?“

„Mein Bauch hat mir das Leben gerettet, als ich im Osten war, Herr Leutnant. Ich habe beim Betreten eines Hauses für einen Moment gezögert, habe noch einmal angehalten, und so verfehlte mich der Scharfschütze. Auch da war nichts zu sehen gewesen. Wir wollen ja auch unsichtbar sein. Die da drüben ebenfalls.“

„Unsichtbar?“ lachte ein Gefreiter. „Das sind so viele. Die brauchen nicht unsichtbar zu sein!“

„Nehmen Sie sich zusammen“, bellte der junge Leutnant und musterte den Gefreiten scharf: „Derartige Äußerungen dulde ich nicht in meinem Zug. Ist das deutlich genug?“

„Jawohl, Herr Leutnant.“

Während der Offizier sich mit seinem Feldwebel austauschte, setzte sich der junge Soldat auf einen Stein neben dem Weg. Vorsichtig tastete er nach dem Foto, das er in der Innentasche über seinem Herzen trug, und zog es heraus, um einen schnellen Blick darauf zu werfen.

„Deine Mieze?“

Er fuhr auf. Einer seiner Kameraden, vielleicht zwei Jahre älter als er, sah ihm über die Schulter.

„Mhm, ja…“

„Und wo hast du sie? Zu Hause?“

Zu Hause… Wo war er zu Hause? In der Hauptstadt seines Landes oder aber auf dem Landsitz hier in diesem feindlichen Land? „Ja“, murmelte er, „weit entfernt.“

„Tja, das sind locker tausend Kilometer oder so. Oder?“

„Ja.“ Es waren viel weniger, aber das musste der Kamerad nicht wissen.

„Und wie ist sie so? Na? Ist sie gut?“

Ist das das Einzige, was dich interessiert? Laut antwortete der junge Soldat: „Sie ist alles, was ich liebe.“

„Oh“, schürzte der Kamerad die Lippen, „dich hat’s aber schwer erwischt. Das ist nicht nur Spaß, was? Das ist Ernst?“

„Sehr Ernst.“ Und wie, grübelte er. Sie bekam sein Kind. Sie lebte in ständiger Todesgefahr.

„Entschuldige, Mann, dass ich so plump gefragt habe, aber hier, na ja, da wird man einfach unsensibler.“

„Das verstehe ich.“

„Hast du schon einen erschossen?“

„Wie bitte?“

„Na hast du einen von denen“, der Kamerad zeigte über die Felder, in die Richtung, wo sie den Feind vermuteten, „mal abgeknallt?“

„Nein“, schüttelte er den Kopf. „Ich bin neu hier. Ich hatte noch keine Feindberührung.“

„Sei froh. Es ist nicht schön.“ Der Kamerad nahm den Helm ab und strich sich über die schweißnasse Stirn. Dann beugte er sich vor und flüsterte: „Ich habe einen im Nahkampf abgestochen. Mit meinem Messer in den Bauch. Er hat gequiekt wie ein Schwein, hat nach seiner Mama gerufen. Sprichst du auch deren Sprache?“

„Ja“, nickte der junge Soldat. „Sehr gut.“

„Ich habe ihn dann erschossen, genau zwischen die Augen, damit er aufhört zu quieken.“

Ich will das nicht hören…

„Weißt du, was komisch ist?“

„Nein.“ Aber leider wirst du es mir gleich sagen, fürchte ich.

„Wir quieken alle gleich.“

Nun war die Aufmerksamkeit des jungen Soldaten geweckt. Vorsichtig richtete er sich auf und musterte den Kameraden: „Wie meinst du das?“

„Eine Mine hat meinem Nebenmann das Bein abgerissen, weißt du? Er hat auch gequiekt.“ Der Kamerad atmete tief durch.

„Du… du wirst die Bilder nicht los?“

„Nein.“ Der junge Mann vor ihm streckte sich. „Aber es geht ums Überleben. Wenn du nicht der Tote sein willst, muss es der von da drüben sein.“ Mit einem Kopfnicken wies der Kamerad wieder über die Felder vor ihnen.

„Weiter!“ drang die Stimme des Leutnants zu ihnen. „Wer hat hier was von Ausruhen gesagt?“

Eilig sprang der junge Soldat auf, bemühte sich, das Bild wieder in die Uniform zu stopfen, und schlug wie in einem Reflex die Hacken zusammen: „Verzeihen Sie, Herr Leutnant.“

„Hmmm, wir sind hier nicht auf dem Exerzierplatz. Achten Sie auf die Umgebung und weniger auf das Knallen ihrer Hacken.“

„Jawohl, Herr Leutnant.“ Er spürte, wie sein Herz schneller pochte und er den Drang unterdrücken musste, erneut die Hacken zusammenzuschlagen. Der Drill während der Ausbildung, obwohl nur kurz und beinahe oberflächlich, zeigte Wirkung. Das kann doch nicht sein! dachte er. Ich möchte nicht so werden wie die Menschen, die ich verachte.

„Ausschwärmen“, flüsterte der Feldwebel. „Sichern und in Deckung bleiben.“

Die Männer suchten sich, jeder alleine, einen Weg über das Feld. Es war nicht bestellt, und sie boten eine wunderbare Zielscheibe, säße auf der anderen Seite ein Heckenschütze. Der junge Soldat spähte zu der kleinen Steinmauer in gut 100 Metern Entfernung.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Leutnant zwei weitere Männer die Straße entlangschickte. Geduckt huschten sie ihren jeweiligen Zielen entgegen. Kein Schuss, niemand schoss. Ging es auch diesmal wieder gut?

Atemlos erreichten sie die kleine Steinmauer. Der Kamerad, mit dem er sich unterhalten hatte, streckte sich, um auf die andere Seite zu schauen: „Niemand hier, Herr Feldwebel!“

„Danke, und halten Sie ihr Maul“, zischte der Feldwebel zurück. „Sie wecken ja alles auf hier!“ Er deutete auf den jungen Soldaten und drei weitere Männer. „Sie sichern die andere Seite. Achten Sie auf die Sträucher. Überall kann jemand sein.“ Er schnaubte verärgert: „Niemand hier… Pah, was ich schon erlebt habe!“

Der gemaßregelte Kamerad lief rot vor Verlegenheit an.

Vorsichtig schoben sich die vier vorgeschickten Soldaten um die Mauer. Anders als auf der Gegenseite waren hier tatsächlich zahlreiche Büsche, in denen sich ein gegnerischer Soldat bestens verstecken konnte. Zwei von ihnen beobachteten das nächste Feld, er und ein weiterer Kamerad stachen mit ihren Gewehren in die Büsche.

„Niemand hier“, meldeten sie schließlich.

„Hier ist jemand“, grummelte der Feldwebel. „ Ich fühle das mit jeder Faser meines Körpers.“

Der junge Soldat sah die langgestreckte Kette seiner Kameraden, die bis zu der kleinen Straße rechts von ihnen reichte. Vier oder fünf Männer von ihm entfernt entdeckte er den Leutnant, der jedem einzelnen noch einmal Vorsicht einschärfte. Schließlich stand der Zugführer vor ihm.

„Halten Sie immer die Augen auf, nach irgendetwas Ungewöhnlichem. Egal was es ist.“

„Jawohl.“ Aus den Augenwinkeln sah er eine Kaninchenfamilie über das Feld vor ihnen hoppeln. Auch dieses Feld war nicht bestellt. Viele Felder waren in dieser Zeit nicht bewirtschaftet, und das durfte eigentlich nicht sein. Andererseits: Wäre es von Vorteil, sich durch hochgewachsene Getreidefelder zu kämpfen? Gut, man hatte bessere Deckung, aber man sah die anderen ebenso wenig.

„Welchen Weg, Herr Leutnant?“ erkundigte sich der Feldwebel.

„Wir sollen bis zu der Straße da vorne.“ Der Offizier zeigte auf ein dunkles Band hinter dem übernächsten Feld. „Dann machen wir Meldung.“

„Offenbar sind die doch abgehauen“, flüsterte ein Kamerad neben dem jungen Soldaten. Er beugte sich vor, um die Meter zwischen ihnen zu überbrücken.

„Die kommen wieder“, zischte der junge Soldat zurück.

„Dann müssen wir ihnen halt noch mal eins hinter die Ohren geben, oder?“

Natürlich. Noch waren Soldaten auf ihrer Seite da…

„Weiter, Leute, in zwei Linien.“

Jeder zweite Mann trat vor, und vorsichtig, aber zügig eilten sie nun über das nächste Feld. Wenig später folgte, etwas versetzt, die andere Kette. Der junge Soldat musterte den Boden vor sich, trockene Erde, ausgedörrt durch die Sonne der letzten Tage. Hier war nichts Außergewöhnliches, wenn man von dem Wissen absah, dass jederzeit ein Schuss fallen konnte, der einen von ihnen töten könnte.

Die nächste Hecke wurde erreicht, ein Gestrüpp aus Dornen und verwittertem Holz, aus dem in unregelmäßigen Abständen zusätzlich einige Bäume ragten. Ein, zwei Soldaten bemühten sich, über die Hecke zu klettern, mussten den Versuch aber abbrechen, da sie an den Dornen hängenblieben.

„Wir müssen sie umgehen“, flüsterte ein Soldat.

„Ein Schwert wäre nicht schlecht…“

„Oder eine Machete…“

Der junge Soldat sah, wie der Feldwebel längst ein Messer gezückt hatte und eine Schneise in das Gebüsch schnitt. Dann legte ein anderer Kamerad seine Uniformjacke auf die mittlerweile deutlich flachere Hecke.

„So, jetzt rüber“, zischte der Leutnant und winkte dreien seiner Männer zu, die nun erheblich leichter über die Hecke kamen. Inzwischen waren auch die beiden Soldaten, die der Straße gefolgt waren, auf der anderen Seite angekommen und hatten diesen Bereich zu sichern begonnen.

„Niemand da!“ kam es von drüben, und der Rest des Zuges, einer nach dem anderen, kletterte über die Hecke.

Zehn Minuten später hatten sie die andere Straße, ihr Ziel, erreicht. Eine Allee, beschattet von alten Bäumen, zog sich schier unendlich durch die Landschaft, sich wie eine Schlange um die Felder windend. Der junge Soldat nahm kurz seinen Helm ab und schaute zum Himmel. Mittlerweile waren die dunklen Wolken verschwunden, und die Sonne begann, ihre Kraft zu entfalten. Es würde sehr warm werden.

Über Funk gab der Leutnant ihre Position durch und meldete keine Feindberührung.

„Wo, zum Teufel, stecken die bloß?“ flüsterte ein Soldat.

„Willst du das wirklich wissen?“ gab ein anderer zurück.

„Wenn ich sie sehe, kann ich wenigstens was tun. Das Warten ist das Schlimmste…“

„Wer hat hier was von Pause gesagt?“ fauchte der Feldwebel, als er sah, wie einige Soldaten sich auf dem Boden niederließen. „Es geht weiter!“

Leise murrend erhoben sich die Männer, wagten aber nicht zu widersprechen. Einige Trinkflaschen kreisten, und auch der junge Soldat nahm einen gierigen Schluck kühlen Wassers. Die Sonne würde es in den Metallbehältern bald in eine widerwärtige warme Brühe verwandeln.

„Wir folgen nun dieser Allee, die uns in einem Bogen zu unserer nächsten Position bringen wird.“

Der Magen des jungen Soldaten knurrte, aber für Essen blieb keine Zeit. In einer langen Reihe folgten nun die Männer der Straße, gesichert auf beiden Seiten von jeweils zwei Kameraden, die in einigem Abstand über die Felder liefen und zur Seite spähten. Die Allee war kühl und schattig, traf bald auf einen kleinen Bach, der sie eine Weile begleitete und die Szenerie mit seinem leichten Geplätscher untermalte, bevor er nach Norden schwenkte, fort von ihnen.

Schweigend rückten die Männer vor, und bald hatte der junge Soldat jegliches Gefühl für die Wegstrecke verloren. Endlos wand sich die Straße durch die Landschaft, ein Baum nach dem anderen, ein Feld nach dem anderen. Er ertappte sich, wie seine Gedanken zeitweise abschweiften, zurückkehrten zu seiner Freundin.

Halte durch! ermahnte er sich. Nachlässigkeit konnte tödlich sein. Er hatte das Buch Im Westen nichts Neues gelesen, ein verpöntes Buch, so dass er es stets verborgen hatte, aber er mochte es. Der triviale Tod des Helden am Ende, inmitten der blutigen Schlachtfelder des letzten großen Krieges, hervorgerufen durch eine kleine Nachlässigkeit… Wie oft passierte dies auch in diesem Krieg Tag für Tag? Ihm durfte das nicht geschehen. Er würde zu seiner Freundin zurückkehren.

Begegnungen

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