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Die Tücke mit dem Fondue
ОглавлениеVon Stund‘ an fanden Wanderungen nur noch zu Zweit statt. Sebastian war die Tage im Wesentlichen damit beschäftigt, Julia auf der Straße des Ortes auf und abzufahren, was spätestens nach zwei oder drei Durchgängen höchst eintönig wurde. Sie machten Urlaub auf einem Berg, die Möglichkeiten für eine Frau an Krücken waren erheblich eingeschränkt. Matthias war versucht, an die vielen Bücher zu erinnern, die sie dabei hatten, er sah aber davon ab. Lesen war schön, wenn man die Option hatte, nicht jedoch, wenn man es musste.
Die Stimmung im Appartement war angespannt. Caroline und Matthias dehnten ihre Wanderungen weiter aus, um die Zusammenkünfte möglichst kurz zu halten. Die Paare begannen, sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen. Objektiv betrachtet konnte niemand etwas dafür, denn Julia hatte sich den Bänderriss mit Sicherheit nicht absichtlich zugezogen, aber ein Berghotel, zudem mit schmaler Reisekasse, war nicht der optimale Aufenthaltsort für fußkranke Personen.
Caroline und Matthias machten weiterhin wunderschöne Bergtouren, erlebten unfassbare Momente der Natur. Das Wetter war gnädig, es gab Sonne, Sonne und ansonsten Sonne. Im Hotel verzichteten sie auf große Erlebnisberichte, um den Frust bei Sebastian und Julia nicht zu groß werden zu lassen. Aber nach einer Weile fanden sie alle zurück zu Aktivitäten zu viert. Hinter dem Hotel war eine Bocciabahn, man konnte auch auf der Wiese dort am Pool liegen. Alles wird gut, dachte Matthias. Eigentlich, so fand er, lief der Urlaub gar nicht so schlecht, und er übersah Spannungen zwischen Caroline und Julia. Der Lagerkoller war keineswegs so fern. Zwei Paare, die sich eigentlich blendend verstanden, stiegen einander aufs Dach. Auch das war ein Lerneffekt fürs Leben.
Schließlich überprüften sie ihre Finanzen. Sie hatten sehr kostenbewusst gelebt, und so konnten sie sich nicht nur ein, nein, sogar zwei Abendessen im Hotelrestaurant leisten. Das eine würde ein Fondueabend sein, und sie beschlossen, danach noch ins Tal zu fahren, da dort ein Konzertabend mit Brahms (seinen Stücken, nicht dem Komponisten daselbst!) stattfinden würde.
Schick zurechtgemacht (diesmal gab es keine Nagellack-Affären, auch Männer waren durchaus lernfähig) und vollkommen ausgehungert kamen sie in den Saal, nahmen zwischen den anderen Gästen Platz. Keiner von ihnen hatte jemals ein Käsefondue genossen. Sie kannten es ausschließlich aus Asterix, zitierten, als Bildungsbürger, die entsprechenden Stellen aus dem passenden Band und fragten sich, ob der Käse tatsächlich derartige Fäden ziehen würde, wie es dort dargestellt war.
Der Topf wurde vor ihnen platziert, auch bekamen sie ihren Wein. Sie wollten es krachen lassen, selbst wenn es der preiswerteste Tropfen war! Die Brotstücke lagen vor ihnen, sofort schlugen sie zu, stachen hinein, tunkten es an der langen Gabel in den Brei, zogen das Brot heraus…
Keine Fäden!
Nicht einmal Ansätze davon!
Was machten sie verkehrt?
Das Brot schmeckte entsetzlich. Von Käse war nichts zu spüren, nur beißender Alkoholgeschmack, als ob man das Brot direkt in Schnaps geworfen hätte. Wie konnten Menschen das nur gut finden? Die spinnen, die Schweizer! überlegte Matthias. Sie waren enttäuscht, aber hungrig. Außerdem hatten sie viel Geld dafür bezahlt. Sie quälten sich Brotstück um Brotstück hinein.
„Die anderen essen gar nicht!“ lachte Sebastian, und sie spähten zu den anderen Tischen. Tatsächlich saßen alle anderen Gäste vor ihrem Topf und machten scheinbar gar nichts.
„Die bekommen gar nicht mit, dass das Essen da ist!“ amüsierten sich die Vier. „Schweizer halt. Langsam!“
Der Alkohol des Weines und aus dem Topf benebelte ihre Sinne. Sie waren sternhagelvoll, ohne es bemerkt zu haben. Caroline klagte über Magenprobleme, bekam von Julia einen Birnenschnaps aufgedrängt, der die Situation aber nicht verbesserte. Längst dachte niemand mehr an den Brahmsabend. Allein der Rückweg zum Zimmer würde ein Abenteuer werden, und wie sollte man da noch Auto fahren? Die Frauen waren satt, jedoch mächtig unzufrieden mit dem kulinarischen Genuss. Fondue? Ekelhaft.
Die Männer rührten noch ein wenig im Topf, spürten einen Widerstand! Der Käse! Er wurde sämig! Das Brot zogen Fäden, es war Fondue! Und… es schmeckte! Sie waren Asterix!
Die anderen Gäste hatten mittlerweile auch mit ihrem Essen begonnen. Offenbar, so merkte es sich Matthias für die Zukunft, musste man warten, bis man begann, aber dafür war es nun zu spät. Immerhin konnten Sebastian und er noch die Reste genießen, während es Caroline und Julia zusehends schlechter ging.
„Ah“, sagten Sebastian und Matthias, „das ist wirklich lecker!“
„Danke, kein Bedarf“, röchelte Caroline zurück, und Julia nickte stumm, mit zusammengepresstem Mund, dazu.
Matthias hatte keine Erinnerung an den Rückweg ins Zimmer, als er mitten in der Nacht wach wurde. Er musste sofort eingeschlafen sein. Immerhin, sagte er zu sich, ich liege in meinem Bett, und es gibt keine Rebellion in Magen oder Kopf. Ich habe den Abend überstanden. Unten, aus der Toilette, hörte er eindeutige Geräusche, und er wusste sofort, dass dort Julia war, die ihren ganz persönlichen Kampf mit dem Fondue auskämpfte. Er drehte sich um, tastete nach Caroline, fand sie neben sich, sitzend. Sitzend? Es war mitten in der Nacht!
„Hey“, flüsterte er, „da hat einer aber das Fondue gar nicht vertragen.“
„Mir wäre es lieb, wenn sie endlich fertig wäre.“
„Klar“, sagte er, „besonders appetitlich klingt es nicht gerade.“
„Das meine ich nicht“, raunte Caroline zurück, „ich muss auch da hin! Dringend!“ Selbst im Dunkeln nahm Matthias ihren verzweifelten Blick zur Balkontür wahr. Die große Terrasse vor dem Zimmer als letzten Ausweg… Allerdings waren die Etagen leicht gestuft. Bilder entstanden in seinem Kopf, Flugkurven und Windkraft, die herabstürzende Käsefonduereste bedrohlich vom freien Fall ablenken könnte. Er schüttelte sich innerlich. Das brauchte er nicht.
Irgendwie musste er wieder eingeschlafen sein, denn von dem Rest der Nacht bekam er nichts mit, und die Frauen waren einfach zu erschöpft, als dass sie ihren Freunden (auch Sebastian hatte blendend geschlafen) deshalb einen Vortrag gehalten hätten.
Dann aber, am nächsten Morgen – selbstverständlich bei blendendem Sonnenschein, wie immer in diesem Urlaub nach den Anlaufschwierigkeiten – betraten Caroline und Julia den Balkon, um einen tiefen Zug Morgenluft zu nehmen. Langsam gewannen ihre Wangen Farbe, und in ihren Mundwinkeln waren erste Zeichen eines Lächelns zu sehen. Matthias trat hinzu, und da hörten sie von unten ein „Oh“ und ein „Aaaah“ und ein „Hmmm, sieht das lecker aus!“ Der Duft von Gebratenem stieg zu ihnen empor, und die Frauen verzogen angewidert das Gesicht.
Matthias beugte sich vorsichtig über die Brüstung, sah den Teil eines Tisches unter ihnen und darauf mehrere Teller mit einer scheinbar bereits durchgekauten, undefinierbaren Masse. Eine Familie rührte in diesem schleimigen Zeug auf ihren Tellern und genoss die olfaktorische Attacke in ganzen Zügen. Julia blickte zu Caroline und flüsterte: „Ob die es merken würden, wenn ich ihnen jetzt direkt auf den Teller kotze?“
Der Urlaub neigte sich dem Ende zu, nur noch ein paar Tage hatten sie vor sich. Julia war Expertin im Krückensport, Sebastian konnte einen Rollstuhl steuern, ohne den Fahrgast auf die Straße zu kippen, Caroline lief die Berge auf und ab wie eine Gämse, und Matthias, er fühlte sich, trotz des zwischenzeitlichen Chaos, durchaus gut erholt. An einem der letzten Abende feierten sie Sebastians Geburtstag, abermals im Hotelrestaurant und diesmal ohne Fondue und ohne Katastrophen.
Für den letzten Tag hatten sie ein Resteessen beschlossen. Sie hatten sogar noch ein wenig Geld übrig, kauften sich Schnitzel, die – so ließ der Preis vermuten – mit einer leichten Goldschicht belegt sein mussten. Stolz stand Julia am Herd, Matthias freute sich auf das Essen, saß in der Nähe, las in einer Zeitung.
Es zischte, unverkennbares Zeichen, dass die Schnitzel in der Pfanne gelandet waren und das heiße Öl um sie herum Blasen schlug. Es würde lecker werden. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.
„Boah“, vernahm er Julia, „was ist denn das?“
Ein erneutes Zischen folgte und ein ungläubiges Schnaufen.
„Was ist denn das für ein Öl?“
Abermals zischte es, und diesmal wabert eine Wolke vom Herd zu Matthias herüber. Tränen stiegen ihm in die Augen. Es biss, er musste sich Flüssigkeit aus dem Gesicht wischen. Was tut sie da? dachte er. Er konnte nicht kochen, aber er kannte den Geruch von Essig!
Er sprang auf, sah schon Caroline heranhechten, und auch Sebastian war im Anflug. Sie alle rissen Julia die Essigflasche aus der Hand, versuchten, die Schnitzel abzuwaschen.
„Oh“, macht Julia, „Essig? Die Flasche sah aus wie Öl.“
Da hatte sie schon Recht. Die Flasche sah einer Ölflasche, die in Berlin erhältlich war, verdächtig ähnlich, so dass jeder von ihnen verstehen konnte, dass fälschlicherweise ein Schuss Essig in die Pfanne gegeben wurde, aber Essig verdampfte schlagartig auf einer heißen Pfanne, und man roch ihn sofort. Wie konnte sie, dachte Matthias, nur zweimal Essig nachkippen, weil sie dachte, das Öl würde verdampfen?
Caroline war wütend, verdrängte Julia vom Herd, bemühte sich, mit Tonnen an Gewürzen zu retten, was noch zu retten war. Allein, der Essiggeschmack war bereits in das Fleisch eingezogen. Es würde ihr nur noch gelingen, unter Einsatz von Unmassen von Gewürzen das teure Essen halbwegs genießbar zu machen. Eigentlich war es bereits verdorben.
„Was soll’s?“ zuckte Sebastian die Schultern. „Wenn wir schon wegen des Essens weinen müssen, können wir es uns auch gemütlich machen. Wir essen unten vor dem Swimmingpool.“
Sie blickten nach unten. Der Pool war in der dritten Etage, sie selbst im zehnten Stock.
„Kein Problem. Wir machen alles in der Pfanne heiß, tragen es dann damit runter.“
Matthias fand die Idee anarchisch, Julia machte mit, Caroline war es peinlich, aber sie kapitulierte vor dem Überschwang der anderen. Schnell hatten sie Teller und Besteck gepackt, und Matthias ging zum Fahrstuhl. Es gab zwei Kabinen in diesem Hotel, die eine für vielleicht acht, die andere für zwölf Personen, und üblicherweise gab es keine langen Wartezeiten. Doch heute stand er mit seinen Tellern ewig.
Der eine Fahrstuhl öffnete sich, hocherfreut wollte er hinein, aber vor ihm stand eine Wand älterer Leute, ängstlich nach draußen spähend, offenbar nicht im richtigen Stockwerk angekommen. Matthias überlegte, sie darauf aufmerksam zu machen, dass sie nur das vordere Drittel der Kabine einnähmen, dass er noch problemlos hineinpassen könnte, jedoch kapitulierte er vor der Panik, die sich im Gesicht der Fahrgäste widerspiegelte. Der Fahrstuhl schloss sich, fuhr dorthin, wo er auch hin wollte…
Des Fahrstuhls Zwilling erreichte Matthias‘ Etage, aber welch‘ Überraschung, ein ähnliches Bild! Auch hier standen einige Fahrgäste direkt vorne und blockierten den Zugang. Wenig später war der erste Fahrstuhl zurück. Waren da immer noch die gleichen Leute drin? Matthias war sich nicht ganz sicher. Entweder wurde er gerade Zeuge einer modernen Variante der Völkerwanderung, oder es war eine ganze Reisegruppe führerlos in zwei Fahrstühlen dieses Hotels ausgesetzt worden.
Nun, sagte Matthias zu sich, als er auch nach der fünften Ankunft keine Verbesserung der Transportsituation feststellen konnte. Nun, dann gehe ich halt zu Fuß. Ich bin ja noch jung, und so schwer sind die Teller und die Bestecke auch nicht. Abwärts ging die Sache auch ganz gut, doch wenig später musste er wieder nach oben laufen, da die Fahrstühle offenbar als Unterkunft an ebenjene Reisegruppe vermietet worden waren. Im sechsten Stock, dort, wo sich die Rezeption befand, sah er einen großen Bus vor dem Hotel stehen. Vermutlich befand sich dessen Inhalt nun für alle Ewigkeit in den Fahrstühlen…
Caroline und Julia amüsierten sich über die Blockade, doch nun mussten die Vier mit der heißen Pfanne nach unten, so rasch wie möglich, oder sie hätten kaltes Essen: Schnitzel, in Essig gebraten und verwürzt. Die Aussicht auf diesen einmaligen Genuss ließ sie eine neue Strategie entwickeln: Sie standen vor den Fahrstühlen, und als die erste Tür aufging – waren das wirklich noch die gleichen Personen wie beim ersten Mal? Matthias konnte und wollte es nicht ausschließen -, stießen sie mit der noch leicht brutzelnden Pfanne vor. Erschrocken wich die menschliche Mauer vor ihnen zurück an die Rückwand. Sie hatten Platz für die Pfanne, Julias Krücken und sich selbst!
Über den Genuss des Essens wurde nicht gesprochen. Man aß es, weil man hungrig war und viel Geld dafür ausgegeben hatte. Schnitzel-Sauerbraten mit Bohnen und sonstigen Resten würde niemals ein Leckerbissen werden. Immerhin, der Platz am Schwimmbad hob die Nachteile auf, und der Blick auf die Viertausender war unbezahlbar.