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3. In der Heide

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Zugegeben, die Begrüßung in diesem sorgfältigen Haus ist professionell gewesen, da konnte man nicht meckern. Man hatte mich auf der Trage in die Notaufnahme geschoben und zunächst auf dem Flur abgestellt. Die Mitarbeiter dort hatten viel zu tun, wie immer am Samstag, nachts, wenn die Penner kommen. Aber schon bald kam eine Pflegerin zu mir, um die Ersteinschätzung vorzunehmen. Schließlich musste man zunächst feststellen, ob ich ein dringender oder ein unwichtiger Fall war. Und das war schwierig. Ich war ein Problemfall, da man nicht mit mir reden konnte. Ich hörte zwar die mehrfach wiederholten Fragen, aber leider war ich nicht in der Verfassung, sie zu beantworten. Der junge Mann von der Administration, der normalerweise den Empfang tätigt, fand das auch problematisch. Wichtige Fragen zur Person, wie etwa die nach dem Kostenträger oder Adressen von Kontaktpersonen, blieben unbeantwortet. Aber immerhin konnten die Rettungsassistenten ihm meinen Namen und meine Anschrift mitteilen. Damit musste er nun weitersuchen. Der Pflegerin hatten sie auch keine Hilfestellung geben können. Nur, dass ich nicht mehr ansprechbar gewesen sei, hatten sie ihr gesagt. Als sie der Rettungsleitstelle mein baldiges Eintreffen in der Notaufnahme anmeldeten, konnten sie nur „unklare Bewusstseinslage“ angeben. Dabei hatte ich für solchen Fall doch vorher schriftlich das Wichtigste festgehalten. Dass man im Ernstfall die Mappe vom Nachttisch mitnehmen soll zum Beispiel. Und meinen Haustürschlüssel? Den hatten sie wohl vom Pflegedienst, denke ich.

Wie schon gesagt, in dem Krankenhaus gingen sie professionell vor. Die Pflegerin maß Blutdruck, Temperatur und Puls, Sauerstoffsättigung auch, obwohl ich ruhig atmete. Auch den Blutzuckerspiegel wollte sie wissen. Von daher hätte meine Ohnmacht rühren können, meinte sie. Und einen Port oder eine Braunüle legten sie an, aus der auch gleich Blut für Untersuchungen im Labor abgezapft wurde. Wenn sie mir da wenigstens ein Schmerzmittel reingetropft hätten.

Da keine auffälligen äußeren Verletzungen erkennbar waren, entschieden sie sich für den internistischen Bereich. Ich wurde in ein Behandlungszimmer geschoben und durfte warten. Ihre Messungen hatten keinen Anlass für eine akute Lebensgefahr ergeben. Die kleine Beule an meinem Hinterkopf wurde verständlicherweise übersehen. Meine füllige Künstlerfrisur verdeckt eben nicht nur innere, sondern auch äußere Unebenheiten. Die Behandlungspause tat gut. Die Bilder und Geräusche in meiner Umgebung hatten mich in der letzten Stunde geängstigt, die drängenden Fragen waren mir unangenehm gewesen. Mit aller Kraft wollte ich sie beantworten, aber es kam kein Ton heraus. Immer wieder fragten sie. Immer wieder sollte ich mich anstrengen. Umsonst. Nun war endlich Ruhe, da hätte ich abschalten können, wenn die Schmerzen im Kopf nicht gewesen wären.

Die sehr tüchtigen Angestellten in der Notaufnahme vermuteten schon bald, dass mir ein Gehirnschlag zu schaffen machen könnte, die Folge eines Schlaganfalles oder so. Obwohl sie gar nicht dabei gewesen waren, erkannten sie es an meinem ungewollten Schweigen. Und daran, dass ich ihre Anweisungen nicht befolgte, ihnen nicht behilflich war bei meiner Rettung. Natürlich hätte ich die Wünsche des Arztes gern erfüllt, der immer wollte, dass ich seinen Übungen folge, Hand heben, Bein heben und so weiter, und dass ich ihm erzähle, was passiert sei. Ich hätte ihm gern berichtet. Davon, dass ich sehr oft nachts zur Toilette gehe, wegen des Blasendrangs, schon lange, aber zuletzt immer öfter, dass es mir deshalb unangenehm sei, außer Haus zu schlafen. Auf meine Augentrübung sei nachts auch Verlass. Und mein rechtes Bein schmerze bei Belastung fast immer. Aber ich schaffte es nicht, ihnen behilflich zu sein. Sie waren mir auch nicht böse deswegen. Sie ließen mir Zeit. Hier im Krankenhaus hatte ich viel Zeit. Zu viel Zeit.

In dem Zimmer, das kleine Bild oben rechts meine ich, ging es mir ganz gut. Moment, ich zoom das mal raus, sieht aus wie Intensivstation. War ich dort nicht erst später? Ist ja egal. Viele Erinnerungen habe ich dazu nicht. Ziemlich hell war es da. Die Deckenlampe blendete und ich konnte leider den Kopf nicht zur Seite drehen. Ich konnte überhaupt nichts drehen. Für meine Augen mit Milchglasblick war das nicht gut. Und dann die Geräusche! Da nervte mich anfangs ein penetrantes, regelmäßiges Knacken. Ein immer wiederkehrendes Geräusch, das mir vorkam, als würde es immer lauter. Später, nachdem die weißen Damen mich besichtigt hatten, zur Kontrolle, wie sie sagten, als hätten sie befürchtet, ich könnte weggelaufen sein, und meine Kurven mitgenommen hatten, später hatte ich es als einigermaßen akzeptabel empfunden, das Knacken. Da wusste ich, dass es von dem nervösen Datenschreiber mit der penetrant schleichenden Papierrolle kam. Der mickrige kleine Stift, der die Linien zeichnen sollte, flitzte dauernd hektisch rauf und runter. Aber in meine tiefe innere Ruhe passte das Geräusch nicht. Es wurde auch immer lauter. Ich empfand es als lästig, schließlich störend, immer lauter, selbstverstärkend, ja, beängstigend. Tack, tack, tack, tack, tack, tack!

Ach, da kommt wieder der Junge ins Bild. Da war er noch kleiner, gerade sechsjährig, denke ich, wie er in das Haus rennt. Ein kleines, einfaches Haus aus roten Ziegeln mit Spitzdach. Das Maschinengewehr eines Tieffliegers knattert mit kurzen Unterbrechungen, immer lauter knallt es, wirbelt Dreck auf. Da steht der Hans, zitternd vor Angst, in der Haustür. Was ist es damals gewesen, das mit dem Jungen geschah?

Und wo war das noch, das neue Bild da mit den krummen Birken, die vor dem Jungen buckeln? Das muss die Landstraße sein. Na klar, der wäre da schon gern mal mit einem Auto gefahren. Aber wie das? Nein, Hans kann sich noch nicht einmal erinnern, dass ihn dort auf seinem Rückweg von der Schule jemals ein Auto auch nur überholt hätte. Wer hatte schon ein Auto? Die waren alle im Krieg. Aber ein Pferdefuhrwerk schon. Lange bevor es bei ihm wäre oder er sehen könnte, ob es vielleicht ein Bekannter ist, der ihm den Fußweg abkürzen könnte, würde er es hören. Das Geratter der stahlbereiften Holzräder auf dem Kopfsteinpflaster ist viel lauter als die Hufe der Pferde. Auch wenn das Gespann in dem Fahrstreifen mit dem losen Sand neben der Straße fährt, ist es noch laut. Irgendetwas quietscht oder klappert immer an den Leiterwagen.

Sein Weg von der zwei Kilometer entfernten Schule in Seppensen ist endlos und langweilig. So langweilig wie die Schule. Er hat seinen Platz dort in der ersten Reihe, wie alle Erstklässler. In der Reihe dahinter sitzt die zweite Klasse. Acht Reihen gibt es in dem Klassenraum der Dorfschule. Sein Platz ist ganz links, direkt vor dem Katheder. Der Lehrer ist hoch über ihm und sieht immer über ihn hinweg. Die Tafel kann er nur halb sehen. Und wenn es dann endlich vorbei ist, kommt wieder dieser lange Weg zurück. Es ist langweilig, stinklangweilig. Meistens jedenfalls. Immer auf dem Sandweg neben der Straße. Es sei denn, es gibt Fliegeralarm. Dann muss er den Umweg durch den Wald nehmen. Die Tiefflieger haben es immer auf die Munitionszüge abgesehen, die auf der Bahnstrecke nach Norden fahren, parallel zur Straße, nur eine schmale Tannenwaldfläche an der Seite seines Weges liegt dazwischen.

Da vorne, wo der Wald endet, steht das bescheidene Bauernhaus, in das sein Vater ihn mit seiner Mutter und seinen Geschwistern wegen der Luftangriffe in der Stadt einquartiert hat. Aber es liegt etwas zurück, nicht gleich an der Straße. Für einen Erstklässler ist sogar die Hofauffahrt bis zum Haus ein langes Stück Weg. Und auch auf diesem letzten Teil des Schulweges passiert nie etwas. Hier gibt es keinen Hund, der ihn hätte begrüßen können, keine Kuh, kein Pferd, nur stumme, unverrückbare Birken und trostloses Grün entlang der ungepflasterten, weichsandigen Einfahrt zum Haus.

Von Tante Beuße, der das Haus gehört und deren Mann im Krieg ist, ist auch nichts zu sehen. Die ist vormittags meist auf dem Feld. Oder sie arbeitet in dem großen Garten, der hinter dem Haus liegt. Aber da ist sie auch nicht.

Das Einzige, das ihn an diesem heißen, späten Frühlingsmorgen noch interessieren kann, ist die Pumpe. Direkt gegenüber dem Hauseingang, aber abseits, an der Grundstücksgrenze, steht die Schwengelpumpe, betagt, etwas schief, wackelig und rostig. Sie schreit beim Pumpen immer nach Farbe, die es in der Zeit nicht gibt. Trotzdem liefert sie das ganze Wasser für das Essen, die Wäsche und das Plumpsklosett. Und für das Schwein, dessen Stall direkt am Haus ist.

Aber bevor Hans zur Pumpe geht, sieht er erst zum Himmel. Das macht er jetzt immer, seit letzter Woche, als, während er Wasser pumpte, der Tiefflieger, dieses hässliche, dunkelgrüne Ungeheuer, auf ihn zuraste und sein Maschinengewehr abfeuerte. Ganz plötzlich ist er da gewesen, lautlos, und dann hat er die Lokomotive beschossen und seine Munitionsspur nur wenige Meter neben der Pumpe entlanggezogen. Hans hatte ihn vorher nicht gehört. Es ist schon schwer genug, den Schwengel mehrmals hoch- und runterzuziehen, bevor dann endlich der ungleichmäßige Schwall kommt, etwas bräunliches, nach Eisen schmeckendes Wasser, kalt und frisch, das er mit der Hand in den Mund schöpft.

Auch das Quietschen der Pumpe hat keine Bewegung in das Haus gebracht. Also ist seine Mutter auch nicht da, obwohl die Tür geöffnet ist. Aber die war eigentlich immer offen. Noch nicht einmal der Hahn nimmt Notiz von ihm, sondern kratzt am Rand des Misthaufens weiter. Hans kann also nur das Schwein begrüßen und reißt dazu einen Büschel Löwenzahn neben der Pumpe als Begrüßungsgeschenk raus. Das stinkt hier, denkt er. Die Johannisbeerbüsche haben eine Gießrinne bekommen, die frisch mit Jauche gefüllt worden ist. Aus dem Schuppen hinter dem Haus meldet eine Henne ihren Erfolg. Wenigstens einer sagt hier was, stellt Hans fest.

Fast das ganze Bein hatte der dem Heizer abgeschossen. Die Lok hatte noch versucht den Zug in das Waldstück zu ziehen. Aber der Tiefflieger war schneller gewesen. Mit ungeheuerlichem Lärm war er über den Kopf des Jungen hinweggedonnert, hatte schon lange vorher sein MG spucken lassen, die Munition erst in die Erde gerammt und dann in der Lok versenkt, war hochgezogen und hatte, um ganz sicher zu sein, nach einem scharfen, kurzen Kreis das Ganze noch einmal gemacht. Aber da war Hans schon ins Haus gelaufen. Zitternd hatte er gesehen, wie der Flieger wieder angerast kam, aufheulend vor Hass und Wut. Mit aufgerissenem Mund hatte er in der Haustür gestanden, geglaubt, dass der Angriff des Fliegers ihm galt, noch einmal kam, weil er ihn eben nicht getroffen hatte. Erst später haben die Leute von dem Zug erzählt. Aber es war ein Personenzug gewesen, ohne Güterwagen dran. Sonst hätte der Flieger sicher auf die Güterwagen geschossen, wegen der Munition, die damit transportiert wurde, und nicht auf die Lok, meinten die Leute. Dann hätte der Heizer noch gelebt und wäre nicht verblutet. Aber vielleicht wäre dann das ganze Haus mit Hans in die Luft geflogen und der ganze Zug.

Hans legt sein Ränzel auf den Tisch und geht wieder raus. Hinten im Garten ist auch keiner. Er geht bis ganz an das Ende, wo eigentlich ein Zaun sein sollte, aber, weil es keinen Draht gibt, keiner ist. Er schlendert über die Brache dahinter, bis weit hinaus zu den Weiden, wo der Bach seinen Weg zum Moor sucht. Er folgt ihm, sucht immer mal wieder, ob irgendetwas Lebendes zu sehen ist, was man fangen könnte oder wenigstens beobachten. Hier sind keine Gleise, keine Straße, kein Weg. Hier gibt es keine Gefahr. Nur vor den halbhohen Pflanzen muss er sich in Acht nehmen. Er hat die übliche kurze Hose an, eine Lederhose mit der praktischen Klappe vorn, und seine nackten Beine sind empfindlich ungeschützt.

Hans folgt dem Bach in den Laubwald. Ganz hinten sieht er es heller werden. Irgendwo dort müsste das Sumpfgebiet mit der Pfefferminze liegen. Da könnte er einen Arm voll pflücken und mit nach Hause bringen. Aber als er ins Freie tritt, ist er an eine endlos weite Wiese gekommen, die abschüssig irgendwohin geht. Aber wohin? Er geht am Waldrand entlang, sieht dabei dem kreisenden Bussard nach, pflückt im Gehen eine dünne Gerte und versucht mit ihr die Löwenzahnblüten zu köpfen.

Warum hat der den Heizer erschossen? Der hat ihm doch gar nichts getan. Fuhr da nur die Leute nach Norden, nach Buchholz. Alle sagten, dass der Krieg bald zu Ende sei. Die Tommys seien nicht mehr weit weg.

Da, plötzlich, stürmen zwei Jungen hinter zwei Büschen raus, sind mit zwei, drei Sprüngen bei ihm, drehen ihm die Hände auf den Rücken und schieben ihn auf eine kleine, geschützte Lichtung im Wald. Er will sich noch wehren, aber da drehen sie ihm die Arme so weit um, dass er nur noch gebückt gehen kann. Einer schwingt einen Stock vor seiner Nase.

„Schön friedlich, mein Lieber, oder willst du den mal schmecken? Und wehe du schreist! Dann brennt dir der Arsch!“

Am Rand der Lichtung steht ein kleines Zweimannzelt, zu dem sie ihn hindrängen.

„Rein da!“, herrschen sie ihn an. Er kriecht in sein Gefängnis. Seine Wärter bleiben draußen. Er wartet, ihm scheint es, als wäre schon lange Zeit vergangen, als sich der Zelteingang etwas bewegt.

„Bleib schön ruhig da liegen“, sagt einer der beiden, „du bist unser Gefangener. Wenn du nicht friedlich bist, fesseln wir dich mit Brennnesseln.“

Hans sagt nichts. Er lauscht und wartet. Er hat ihnen nichts getan. Er kennt sie auch nicht. Sie müssen von einem anderen Dorf sein. Ist er in ihr Revier gegangen? Immer wieder lauscht er, ob sich etwas bewegt. Holen die vielleicht noch ihre Freunde? Ganz weit in der Ferne hört er ein Rummeln und Motorbrummen. Das muss das Militär sein. Schließlich traut er sich, vorsichtig durch den Eingangsschlitz des Zeltes zu spähen. Von seinen Häschern ist nichts zu sehen. Immer mehr biegt er die Zeltwand auseinander, steckt den Kopf raus, schiebt den Oberkörper raus. Nichts passiert. Und dann spannt er sich. Mit einem Satz springt er ins Freie und rennt wie wild davon. Als ihm die Luft ausgeht, bleibt er stehen und dreht sich um. Keiner folgt ihm. Er ist allein. Jetzt hat er Zeit und beruhigt sich. Auch sein Atem wird ruhiger. Schade, jetzt geht der Junge aus dem Bild. Aber immer noch nicht in Richtung Heimweg. Wohin will er denn nun noch? Hat er noch nicht genug erlebt?

Also, bei mir blieb es immer, dieses Gefühl von Atemnot, es blieb alle Jahre mein Begleiter. Immer war sie der Bremser. Die Leistungsgrenze als Marathonläufer zum Beispiel. Und später habe ich dieses Gefühl eines Sauerstoffmangels schwächer, aber viel öfter bemerkt. Immer häufiger waren die Anfälle mit der Zeit geworden. Schon lange weiß ich, dass das die Extrasystolen sind, Herzrhythmusstörungen. Kenne ich nun wirklich lange genug. Habe mich schon daran gewöhnt. Dr. Freitag, mein Internist, hat mir bei den regelmäßigen Untersuchungen immer gesagt, man müsse nichts unternehmen. Mein Befinden sei maßgebend. Das ging so lange, bis er eine Verengung in der Halsschlagader entdeckte. Aber auch dann war nur eine tägliche Pille zur Blutverdünnung erforderlich, ein Aggregationshemmer, sagte er. Er war Herzspezialist und hatte natürlich recht, dass mein Befinden mein Maßstab sein müsse. Das kann ich auch heute noch bestätigen. Jetzt, wo ich mich da immer noch liegen sehe. Ich empfinde jetzt eigentlich nichts mehr, außer dieser herrlich wohltuenden Ruhe, dem angenehmen hellen Licht um mich herum, dem klaren, kein bisschen diffusen Bild. Nur die Freiheit fehlt mir, das Glück, unabhängig vom Willen der Menschen zu sein.

Na klar. Bei dem Wort Freiheit drängt sich sofort der Hans wieder auf meinen Bildschirm. Er ist ein Synonym für Freiheit. Natürlich kenne ich auch den Grund dafür. Er war nicht besonders ängstlich, im Gegenteil, meistens auf Abenteuer und Wettkampf aus. Nehmen wir zum Beispiel seine Zeit in den Trümmern. Sein Häuserblock war der erste, der wieder aufgebaut worden war. Das war nach dem Umzug nach Hamburg. Warum waren sie denn schon wieder umgezogen?

Ach ja, der Chef seines Vaters. Der Zweigstellenleiter der Reichsbank. Ein richtiger Widerling. Er ärgerte und schikanierte seinen Vater, so oft es ging. Heute würde man das Mobbing nennen. Es ärgerte ihn wohl, dass sein Vater einen guten Ruf in der Zentrale hatte. Er war nach bestandener Prüfung der damals jüngste Angestellte im gehobenen Dienst der ganzen Deutschen Reichsbank. Aber er war sensibel und nicht besonders ehrgeizig, hatte schon früh ein Herzleiden bekommen und versäumte deshalb, den nächsthöheren beruflichen Abschluss zu machen, der Grund dafür, dass ihm nun ein Vorgesetzter aus dem Rheinland das Leben schwer machen konnte. Seine Frau sorgte sich um ihn. Er war zu defensiv, um zu kämpfen. Schließlich fuhr sie, ohne ihn zu informieren, in die Zentrale nach Hamburg und bat den damaligen Direktor, Dr. Clasen hieß der, um ein Gespräch. Sie liebte ihren Mann und ihre Kinder, und sie war mutig. Vielleicht hatte Hans einiges davon geerbt. Dr. Clasen hörte sich ihre Sorgen an und versprach ihr, ihren Mann nach Hamburg zu versetzen. So kam der Umzug.

Aber woher kam mein Umzug? Der aus meinem Bett in dieses hier? Das ist mir immer noch nicht eingefallen. Bis in die Kriegszeit kann ich sehen, aber nicht die wenigen Minuten vor dem Krankenhaus. Ärgerlich ist das! Vielleicht muss ich mich noch mehr anstrengen, mehr suchen, mehr nachdenken!

Da ist der Junge wieder, kommt aus der anderen Seite des Waldes raus und geht quer über die Wiese. Dort muss der Bach sein. Ist ja gut zu erkennen an den Pappeln, Erlen und anderen durstigen Seelen. Hans geht an ihm entlang und steigt in ein niedriges Gehölz aus Büschen und Laubhölzern. Ganz schön schwierig mit den kurzen Hosen. Aber irgendetwas treibt ihn. Immer weiter stapft er, dem Bach folgend, manchmal wie ein Storch im Salat, um den Brennnesseln zu entgehen, bis er sein Ziel, den kleinen Tümpel mit der Pfefferminze, erreicht hat. Er braucht sich die Pflanzen gar nicht näher anzusehen. Schon der Geruch dort macht ihn sicher. Na klar, das riecht sogar bis zu mir hier her! Von da aus kennt er den Weg genau. Da war er schon einmal. Ein paar Büschel reißt er aus, nimmt sie unter dem Arm mit, dann geht er in Richtung seines Hauses. Es wird auch Zeit. Man wird ihn schon vermissen. Er lässt das Bummeln, seine Schritte werden schneller. Er versucht zu laufen. Die Pfefferminze unter dem Arm stört ihn, muss aber mit. Sie ist ja die Begründung für sein Ausbleiben.

Eine Viertelstunde später hat er die drängende Zeit schon wieder vergessen. Ein Seitenweg lockt ihn vom Weg ab. Wo mag der hingehen? Erst ein paar Kurven, dann sieht er ein kleines, weiß gestrichenes Haus. Sieht aus wie ein Hexenhaus. Aber das schreckt ihn nicht. Leise geht er darauf zu, schaut nach rechts, erkennt eine kleine, grün angestrichene Holzhütte und als er auf die zugeht, bleibt er plötzlich stehen. Was stört ihn? Er müsste doch an die Zeit denken, die verrinnt, während er dort rumspökert!

Jetzt geht er zögerlich einige Schritte auf etwas zu, das ihn magisch anzieht. Da liegt vor ihm ein Bombentrichter. Aber nicht leer wie die meisten! Hans kennt die Bombentrichter. Er weiß, die sind dort gar nicht so selten. Im weiteren Umkreis der Stadt werfen die Tommys immer mal wieder ihre gefährliche Fracht vorzeitig ab, wenn sie merken, dass sie nicht zu ihrem Ziel kommen. Vielleicht weil die Flak zu gefährlich wird oder weil das Wetter schlecht oder der Treibstoff knapp wird. Hans weiß auch, dass man an den Bomben nicht spielen darf, einen weiten Bogen um sie machen muss. Sie könnten noch scharf sein. Und jetzt geht er doch in den Trichter! Steigt hinab in die Gefahr!

Was ist das? Ein Bombentrichter aus Papier? Hans setzt sich mitten hinein in diese bedruckte und unbedruckte Welt. Er bestaunt einen gewaltigen Papierhaufen, mit dem er als Erstklässler noch nicht viel anfangen kann. Aber spannend ist es, sich die Blätter anzusehen, sie hochzuwerfen in den Wind, sich von ihnen beregnen zu lassen. Natürlich denkt er nicht daran, dass unter ihnen vielleicht noch eine Bombe liegen könnte. Er springt vom Kraterrand hinein in die Papierwelt, mal im Schlusssprung, dann mit Anlauf und lässt sich von den Blättern, den Druckwerken und sogar von jungfräulichem Papier auffangen.

Hans, denk an die Zeit! Die warten doch schon auf dich! Das könnte Backpfeifen geben!

Da liegt er in den papiergewordenen Gedanken, wühlt sich hinein, bedeckt sich mit ihnen und träumt in die Sonne. Ein unbeschriebenes Blatt! Jetzt versinkt er ganz in dem Papier. Sein Gesicht ist von einem großen, aufgefalteten Bogen DIN A3 verdeckt.

Ich kann mich noch so sehr anstrengen, aber zu lesen, was da drauf steht, gelingt mir nicht. Doch, jetzt, in diesem Augenblick, in dem die Sonne darauf scheint, erkenne ich es – das ist ja meine Patientenverfügung! Die Freiheit! Die Urkunde zur Loslösung aus der Macht der weißen Götter hier, auf die ich sehnsüchtig gewartet habe. Meine Dokumentation vom Nachtschrank, in der die Patientenverfügung lag, deckt den Kopf des Jungen zu.

Eigentlich kann das gar nicht sein. Das bilde ich mir bestimmt nur ein. Die Papiere können nicht zugleich hier und da sein. Das wäre ja wie in der Quantentheorie. Aber warum sehe ich das dann?

„Habe ich dir schon einmal erklärt. Weil du das willst.“

Ist mir früher doch nicht passiert! Da habe ich auch nur das gesehen, was tatsächlich war!

„Glaubst du. Und früher! Früher hast du gelebt.“

Und jetzt? Sag mal, bin ich tot?

„Vielleicht. Das kommt drauf an. Herr Dr. Mohr zum Beispiel war eben der Meinung, dass du noch lebst. Angela aber glaubt, du seiest tot. Es gibt keine einheitliche Definition dafür. Es gibt viele Tode. Hirntod, Herztod, den Zelltod, den Tod durch die Desorganisation der Organe oder des Nervensystems. Das Sterben ist ein Prozess.“

Aha. Das dauert also. Und obwohl ich da in dem Bett wie tot aussehe, bin ich hier und sehe. Vielleicht bin ich da im Bett nur teiltot. Aber das müssten doch die Ärzte wissen.

„Auch sie glauben nur zu wissen. Und sie sind sich uneinig, je nach Land, Kultur, Religion und anderen Mythologien. Die Majorität der Menschheit glaubt an ein Weiterleben, wirkmächtig, bemerkbar oder unsichtbar.“

So wie du. Oder bist du auch teiltot?

„Ich habe nie gelebt.“

Weißt aber immer alles besser, nicht?

Die Verlängerung

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