Читать книгу Die Verlängerung - Theo Beck - Страница 14
6. Wer glaubt
ОглавлениеDr. Ewald Mohr war noch ganz erfüllt von den Gesprächen der Sitzung im Kirchenvorstand. Seine Gewissheit bestärkte ihn. Natürlich musste er davon niemandem berichten. Das hatte er nicht nötig. Aber die tiefgründigen Gedanken dort, die gesprochene Bedeutung, der heilige Ernst der Worte bedrängten sein Empfinden. Er konnte das nicht bei sich behalten. Es musste raus.
Angelas bewundernde Blicke, ihre Dankbarkeit, dass sie von ihm eingeweiht wurde, ließen ihn Stolz fühlen. Sie hörte, wie man seine Meinung bestätigt hatte, wie er sich durchgesetzt hatte und wie der Herr Pfarrer ihn bestärkt hatte in der Angelegenheit des Komapatienten, nachdem er ihnen von dem Verlangen der Tochter, der Patientenverfügung und der Mitgliedschaft in der „Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben“ berichtet hatte. Den Brief der Tochter, der ihn beschuldigte, nicht hinreichend dem Willen des Patienten gefolgt zu sein, hatte er geschildert. Er solle sich von dem Druck der Sterbeindustrie nicht beeinflussen lassen, hatte der Herr Pfarrer ihn gedrängt.
„In der heutigen Gesellschaft wird der Tod nur als Ende und nicht mehr als Abschied und Vollendung und schon gar nicht als Weg zu Gott gesehen“, hatte der gesagt und sich dabei aus seiner sonst oft gebeugten Haltung aufgerichtet. Die amtliche Sicherheit sprach aus seinen Mahnungen.
„Allzu oft wird ein Schreckensbild des Sterbenden gezeichnet, den die Gerätemedizin nicht in Ruhe und Würde seinen Weg zu Gott finden lässt. Dabei wird die Menschenwürde zu einem Abstraktum, das nichts mehr davon weiß, wie sehr wir in unserem Wollen von den Erfahrungen unserer kreatürlichen Existenz abhängen, insbesondere in der Konfrontation mit Leiden und Todesangst. Stattdessen glauben die Selbstmordvereine, über eine Lebenslage sicher urteilen zu können, von der sie aus eigenem Erleben nichts wissen. Unter diesen Vorzeichen müssen Wert und Grenzen von Patientenverfügungen gesehen werden. Schließlich können sie auch eine verkennende Willensbekundung sein, die auf der leider gesellschaftlich vorherrschenden Verdrängung von Leid fußt oder, schlimmer noch, der individuellen Erwartung des Umfeldes entsprechen. Der Achtung der Menschenwürde entspricht viel besser eine gemeinsame Entscheidung, zu der sich christlich gesinnte Betreuer und ärztliches Konsilium verantwortlich vereint verständigen können, also dem, was dem Willen des Patienten in seiner Lage gleichkommt.“
Aha! Das war es also! Dr. Mohr war beseelt von der mit christlichem Geist und ärztlicher Verantwortlichkeit erfüllten Sitzung. Es hatte ihn gedrängt, sich darüber mitzuteilen. Aber mir wäre es lieber gewesen, ich wäre von seinen Glaubensgewissheiten verschont geblieben. Sie infizieren meine Erinnerung durch die Bilder vom Grauen im Namen Gottes. Sie stehen sofort vor mir, ungerufen, unlöschbar. Sie drängeln sich einfach vor.
Immer wieder sehe ich die Szene vom Handabhacken im Gefängnis von Mekka vor mir. Oder das Bild von der Folterung des Cuautémoc, jene schrecklichen Quälereien durch die spanischen Missionare in Südamerika, oder die Unmenschlichkeiten der Inquisition. Ich erinnere mich an die Sammlung von Bildern und Zitaten von Päpsten und Kardinälen zum Gold der Kirche. Ihr Reichtum ist Blutgeld. Wie viel Gold sie wirklich besitzen, erpresst von Ureinwohnern, gestohlen oder erzwungen von allen, halten sie geheim. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts schrieb die italienische Presse, dass der Vatikan bereits einen Goldschatz von 10.000 Tonnen habe.
Auch Hans bekommt auf der Hinfahrt seiner bemerkenswerten Reise nach Sizilien etwas davon mit. In Rom hat er einen halben Tag Zeit, sich die Stadt anzusehen. Und da steht er nun und staunt.
Ich verstehe das. Wer würde sie nicht bewundern wollen, die Pracht dieser Kirche, „Santa Maria Maggiore“, in Rom. Ich glaube, sie ist eine der vier Papstbasiliken und zugleich Pilgerkirche und gehört dem Vatikan. Ich schätze etwa fünftes Jahrhundert. Die Tafel, die Hans da liest, sagt, sie sei ein Denkmal des Marienkultes und zugleich Grabstätte mehrerer Päpste. Und sie liegt ganz in der Nähe vom Bahnhof Termini, von dem er gekommen ist. Die Engelsburg und die Brücke über den Tiber, die Hans aus der Oper Tosca kennt, sind weiter entfernt. Aber auf dem Platz vor der Basilika steht die Mariensäule, die, wie er gelesen hat, aus dem „Forum Romanum“ stammt. Und dass der Campanile der Kirche zu den höchsten Glockentürmen Roms gehört, hat er auch gelesen. Aber auch das: „Mit dem ersten Gold aus der Süd-Amerika-Beute ließ Papst Alexander VI. die Decke von Santa Maria Maggiore in Rom verzieren und mit dem Symbol seiner Familie versehen.“
„Pharisäer!“
Was, wie Pharisäer? Was hast du dagegen? Mich beeindrucken die Kirchen. Ja, von außen betrachtet, sind sie oft etwas bröckelig, oder sagen wir mal renovierungsbedürftig. Aber innen, mit den vielen Bildern, Fresken oder Mosaiken als Zeichen des Glaubens, die Insignien und so weiter, die sind doch bewunderungswürdig.
„Was begeistert dich daran?“
Na, also, zum Beispiel die Kleider und Umhänge in den Vitrinen mancher Kirchen. Das sind alles alte Originale, sorgsam gehütet, über Jahrhunderte, und kostbar bestickt.
„Ja. Und von wem bestickt? Wer hat die schneidern und besticken müssen? Wer hat das Material dafür liefern müssen? Die Träger bestimmt nicht! Sie hängen sich das Zeug um, nur um Eindruck zu schinden, um etwas Besonderes zu sein, um ihre Macht zu demonstrieren! Imitiert haben sie das meiste! Der Habit, wie sie das nennen, hat sich aus der Arbeitskleidung der Bevölkerung im Italien des sechsten Jahrhunderts entwickelt. Der Habit war äußeres Zeichen der Armut und des einfachen Lebens, mit dem sie sich auf die gleiche Ebene jener Menschen stellten, die sie überzeugen wollten. Der Habitus hat etwas mit Gesinnung und Verhalten zu tun. Der Träger dieser Kleidung brachte damit seine innere Einstellung zum Ausdruck. Wie früher die Mönche. In den Kirchen täuschten sie damit vor, sie seien so etwas wie Franziskaner oder Benediktiner. Aber von deren Vorbild der Einfachheit und Armut ist nicht mehr viel verblieben. Heute schmücken sich die vom heiligen Geist befruchteten Herren mit farbigen Umhängen als Rangabzeichen wie die Garde in einem Karnevalsverein, gefertigt und bezahlt von ihrem Fußvolk.“
Na, na! Und die Krone, die Mitra, Brustkreuz oder Krummstab, die Ringe, die sind doch alle echt, die ich da in der Vitrine gesehen habe.
„Ja, vermutlich. Nur auch hier: Wer hat sie so kunstvoll gefertigt? Die Bischöfe bestimmt nicht. Und von wem kommt das Gold? Jetzt schmücken sie sich damit, als wären es ihre Leistungen oder die ihrer Kirchen. Glaubst du, die Besitzer haben es ihnen freiwillig geschenkt? Man hat sie bestohlen und erpresst! Hieronymus, Bischof von Breslau‚ soll gesagt haben: ‚Wir brennen wahrhaftig vor Geldgier, und indem wir gegen das Geld wettern, füllen wir unsere Krüge mit Gold, und nichts ist uns genug.‘“
Und was war mit dem Handabhacken?
„Ich mag das nicht gerne erzählen, sieh doch selbst hin.“