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7. Hand ab
ОглавлениеJa, den kenn ich, das ist Alfred Wessel. Er war Storekeeper auf der „MS Usambara“, ein spindeldürrer Mann von mittlerer Größe und etwa 45 Jahre alt. Als Storekeeper war er Vorgesetzter der Mannschaft, die zur technischen Besatzung gehört, also der Reiniger, Schmierer, Heizer und so weiter. Er und seine Leute wohnten nicht mittschiffs wie die nautischen und technischen Offiziere und ihre Assistenten, sondern achtern, unter der Poop. Sie hatten dort zusammen mit dem Bootsmann, Zimmermann und der übrigen Decksmannschaft eine Mannschaftsmesse, in der sie von den Schiffsjungen bedient wurden. Und sie alle mochten den Storekeeper, weil er gut erzählen konnte.
Alfred Wessel fuhr schon lange zur See, sagte er, eigentlich seitdem er zu den Erwachsenen zählte. Aber er hat immer wieder mal eine Pause eingelegt, einen Zwischenstopp für Abenteuer, sagte er. Wenn sich ihm die Chance bot, irgendwo auszusteigen, an einem Ort oder in einem Land, das ihn interessierte, hat er das getan, sagte er. Und das war die Ursache, warum er viel zu erzählen hatte. Zur Freude der Schiffsjungen. Und eine Geschichte war die vom Handabhacken. Er hatte ein handgebundenes, schmales Heft darüber verfasst, DIN A4, mit einem blauen Pappeinband und auf blauem Luftpostpapier in Schreibmaschinenschrift beschrieben. Dieses Erlebnis konnte er also vorlesen. Das fiel ihm leichter.
„Das Gefängnis von Mekka ist ein großer, viereckiger Bau ohne Fenster nach außen. Es ist ein Ringgebäude, das man durch ein eckiges, schmuckloses, eisernes Tor betritt, durch das man in den großen, sandigen Innenhof kommt. In den allermeisten Fällen fährt man durch das Tor. Auch mich hat man hierhergefahren. In einem Polizeiwagen. Der hielt dann direkt vor dem Gebäudeeingang an der Innenseite, so nahe, dass die Gefangenen nicht gesehen wurden, die angeliefert wurden. Vermutlich war das Absicht, denn die Insassen hingen häufig vor ihren vergitterten Fenstern und sahen auf den Hof. Ich auch.
Es war eine schmutzig-graue, bröckelige Fläche, eine Kreisfläche von etwa sechzig Metern Durchmesser in der Mitte, eher einem ungepflegten Spielplatz ähnlich als einem Gefängnishof. Einmal am Tag, meistens abends, konnten ausgewählte Gefangene den Platz betreten und dort spazieren gehen. Natürlich nicht alle. Das wären zu viele gewesen. Ich schätzte sie auf vierhundert. Aber genau wusste ich es auch nicht, als ich dort eingesperrt war. Man hatte mich erwischt.
Es war mein schon lange gehegtes Ziel gewesen, einmal nach Mekka zu pilgern. Die Stadt liegt, wie man weiß, in Saudi-Arabien, in der Region Hedschas, und sie ist die heiligste Stadt der Muslime. Jedes Jahr pilgern mehrere Millionen von ihnen dort hin. Und das wollte ich auch. Ich hatte mir die landessüblichen Kleider besorgt und saß auf der Ladefläche eines Pickups, der mich von der Küste aus in die Stadt mitnehmen sollte. Bezahlen musste ich ihn gleich am Anfang. Da hatte der Fahrer mich bereits danach gefragt und ich hatte ihm versichert, dass ich Muslim bin.
Ich war in Dschidda ausgestiegen, hatte mir die Stadt angesehen. Es ist eine große Stadt und eigentlich wollte ich wieder an Bord. Aber Dschidda ist seit dem siebten Jahrhundert das Tor nach Mekka und für alle Religionen offen. Im Gegensatz zu Mekka. Und zu der Zeit war gerade Hadsch. Das war nicht zu übersehen. Im Hafen kamen Tausende und Abertausende an, in Schuten, Booten, Bussen, Transportern und anderen Fahrzeugen, und suchten Fahrgelegenheiten für die etwa achtzig Kilometer bis Mekka. Da hatte ich die Idee, das auch zu machen. Das war mal was Besonderes, dachte ich.“
Storekeeper Wessel sieht kurz von seinem Buch auf, als wollte er sich versichern, dass auch alle gut zuhören.
„War das auch. Kurz vor Mekka stand ein großes Schild quer über der Autostraße. ‚Muslims only‘ war geradeaus, ‚For non muslims‘ ging rechts ab. Mein Fahrer fuhr geradeaus. Da war es zu spät für mich umzukehren.
Natürlich war mir bekannt, dass Mekka eine verbotene Stadt ist. Was ich nicht wusste, war, wie ernst das gemeint war. Da in der Gegend nimmt man ja auch anderes nicht immer so genau, dachte ich mir. Vor der ersten Straßensperre kroch ich unter die Plane, die die Ladung abdeckte. Es waren Kartons mit Wasserflaschen. Viele. Wenige Minuten nachdem wir weitergefahren waren, hielt der Fahrer auf einem kleinen Platz, wo nicht so viele Leute waren, und ließ mich aussteigen. Ihm war die menschliche Fracht wohl nicht ganz geheuer.
Von da ab ging alles ganz einfach. Ich brauchte nur den Menschen zu folgen. Es wurden immer mehr. Man konnte gar nicht mehr raus aus der Menge. Als es dunkel wurde, beobachtete ich, was die anderen machten. Viele hatten ein Quartier, in das sie gingen, einige aber, die im Freien schlafen wollten, hatten eine Unterlage. Ich nicht. Also setzte ich mich etwas abseits mit dem Rücken an eine Mauer, um etwas zu schlafen. Bis jemand an mir rüttelte. Da war es geschehen. Ich war einem von den vielen Aufsehern aufgefallen. Meine Schuhe hatten vorne kein Loch, waren geschlossen, was verboten war für den Ihram, den Weihezustand beim großen Hadsch. Und so landete ich im Gefängnis.
Gleich am ersten Tag hörte ich den Lärm. Eine Gruppe von Männern führte einen Gefangenen in die Mitte des Sandplatzes. Richtiger gesagt, sie schleppten ihn dahin, denn er kreischte, wehrte sich, schrie vor Schmerz, wenn sie ihm die Arme auf dem Rücken noch weiter hochdrehten, damit er in Bückhaltung zur Platzmitte kroch.
‚Er ist dran mit Handabhacken‘, sagte mein Mitgefangener.
‚Warum?‘, fragte ich und starrte durch die Gitterstäbe auf die grausame Szene.
‚Ich weiß es nicht‘, sagte er, ‚vielleicht hat er gestohlen. Unsere Religion schreibt dafür Handabhacken vor. Aber kann auch was anderes sein. Wer die Kirchengesetze nicht befolgt, wird bestraft. Auspeitschen, Handabhacken und so.‘
Mir zog sich der Magen zusammen.
‚Sie machen das immer auf dem Platz da. Damit alle das mitkriegen.‘ Dann sah er nach draußen.
Ein dicker Hauklotz stand dort und ein rostiges Fass, unter dem man ein Feuer gemacht hatte. Einer der Wärter war für das Abhacken verantwortlich. Andere für die Gewalt, um den Gefangenen zu fixieren. Gleich nachdem die Amputation erfolgt war, steckten sie den Arm in das Fass. Das Geschrei des Mannes war nicht zu ertragen. Dann fiel er in eine gnädige Ohnmacht. Ich sah meinen Mitgefangenen an.
‚Da ist kochendes Öl drin‘, erklärte er. ‚Zur Desinfektion. Damit er nicht stirbt. Allah ist groß und mächtig.‘“
„Und was war mit dir?“, fragt der dicke, blonde Matrose aus Husum.
„Ich war auch erst für Handabhacken vorgesehen. Aber dann haben sie mich laufen lassen. Der Agent von unserer Reederei hatte genügend Freunde und was man sonst noch so braucht. Den Hadsch habe ich aber nicht mitmachen können. Ich hab auch nie geglaubt, dass ich das wirklich wollte. Bin ja nur aus Versehen da hingekommen.“
Alfred Wessel ist noch kleiner und schmaler geworden während seiner Lesung. Der Zimmermann, der an der anderen Seite der Back sitzt, schüttelte immer leicht den Kopf. Er steht schon kurz vor der Rente. Jetzt ist es ein deutliches Kopfschütteln.
„Wie viele Verbrechen hat es gegeben im Namen von Religionen seit Menschengedenken? Von Menschenopfern über Handabhacken bis Blendung. Früher brauchte man Götter im Dutzend, um seine Irrtümer zu erklären. Heute genügt einer in jeder Region. Und alle wissen, dass ihrer der einzig richtige ist.“
„Na, nun backt mal ab“, sagt der Bootsmann zu den Decksjungen. „Wir ändern die Welt nicht mehr. Die wartet nicht auf uns. Aber die Arbeit. Es ist Zeit.“
Nun stehen alle auf und gehen aus der Messe. Nur die beiden Jungs sieht man noch Backschaft machen.
Der eine war höchstens vierzehn. Harald hieß der, glaube ich. Aber den hat Hans erst viel später kennengelernt. Hier auf der Straße mit dem Grünstreifen in der Mitte und den neu gepflanzten, biegsamen Alleebäumen ist Hans ja noch ein Junge in ganz kurzen Hosen.